7,99 €
Claire Zachanassian kehrt als Milliardärin nach Güllen zurück, ihr Heimatdorf, in dem ihr einst das Herz gebrochen und die Ehre geraubt wurde. Nun will sie sich rächen und bietet der Güllener Bevölkerung eine Milliarde dafür, dass ihr damaliger Liebhaber Ill für sein einstiges Vergehen mit dem Tod bestraft wird. Ein Angebot, das die Bürger entrüstet zurückweisen. Zunächst.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 127
Friedrich Dürrenmatt
Der Besuch der alten Dame
Eine tragische Komödie Neufassung 1980
Diogenes
Es ging mir, im Gegensatz zu den verschiedenen Fassungen, die vorher einzeln im Arche-Verlag erschienen sind, bei den Fassungen für die Werkausgabe nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen. Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten: Außer den Komödien, die ich nur für die Theater schrieb, Play Strindberg und Porträt eines Planeten, die Übungsstücke für Schauspieler darstellen und die ich als Regisseur schrieb, gebe ich im Folgenden – die ersten Stücke tastete ich nicht an – die dichterische Fassung wieder, eine Zusammenfassung verschiedener Versionen.
F.D.
Eine tragische Komödie Neufassung 1980
Die Besucher
Claire Zachanassian, geb. Wäscher, Multimillionärin (Armenian-Oil)
Ihre Gatten VII–IX
Der Butler
kaugummikauend:
Toby
Roby
blind:
Koby
Loby
Die Besuchten
Ill
Seine Frau
Seine Tochter
Sein Sohn
Der Bürgermeister
Der Pfarrer
Der Lehrer
Der Arzt
Der Polizist
Bürger:
Der Erste
Der Zweite
Der Dritte
Der Vierte
Der Maler
Erste Frau
Zweite Frau
Fräulein Luise
Die Sonstigen
Bahnhofsvorstand
Zugführer
Kondukteur
Pfändungsbeamter
Die Lästigen
Pressemann I
Pressemann II
Radioreporter
Kameramann
Ort: Güllen, eine Kleinstadt
Zeit: Gegenwart
Pause nach dem zweiten Akt
Geschrieben 1955
Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 29. Januar 1956
Glockenton eines Bahnhofs, bevor der Vorhang aufgeht. Dann die Inschrift: Güllen. Offenbar der Name der kleinen Stadt, die im Hintergrund angedeutet ist, ruiniert, zerfallen. Auch das Bahnhofgebäude verwahrlost, je nach Land mit oder ohne Absperrung, ein halbzerrissener Fahrplan an der Mauer, ein verrostetes Stellwerk, eine Türe mit der Aufschrift: Eintritt verboten. Dann, in der Mitte, die erbärmliche Bahnhofstraße. Auch sie nur angedeutet. Links ein kleines Häuschen, kahl, Ziegeldach, zerfetzte Plakate an der fensterlosen Mauer. Links Tafel: Frauen, rechts: Männer. Alles in eine heiße Herbstsonne getaucht. Vor dem Häuschen eine Bank, auf ihr vier Männer. Ein fünfter, aufs unbeschreiblichste verwahrlost, wie die andern, beschreibt ein Transparent mit roter Farbe, offenbar für einen Umzug: Willkommen Kläri. Das donnernde, stampfende Geräusch eines vorbeirasenden Schnellzuges. Vor dem Bahnhof der Bahnhofsvorstand salutierend. Die Männer auf der Bank deuten mit einer Kopfbewegung von links nach rechts an, daß sie den vorbeirasenden Expreß verfolgen.
DER ERSTE
Die ›Gudrun‹, Hamburg–Neapel.
DER ZWEITE
Um elfuhrsiebenundzwanzig kommt der ›Rasende Roland‹, Venedig–Stockholm.
DER DRITTE
Das einzige Vergnügen, das wir noch haben: Zügen nachschauen.
DER VIERTE
Vor fünf Jahren hielten die ›Gudrun‹ und der ›Rasende Roland‹ in Güllen. Dazu noch der ›Diplomat‹ und die ›Lorelei‹, alles Expreßzüge von Bedeutung.
DER ERSTE
Von Weltbedeutung.
Glockenton.
DER ZWEITE
Nun halten nicht einmal die Personenzüge. Nur zwei von Kaffigen und der Einuhrdreizehn von Kalberstadt.
DER DRITTE
Ruiniert.
DER VIERTE
Die Wagnerwerke zusammengekracht.
DER ERSTE
Bockmann bankrott.
DER ZWEITE
Die Platz-an-der-Sonne-Hütte eingegangen.
DER DRITTE
Leben von der Arbeitslosenunterstützung.
DER VIERTE
Von der Suppenanstalt.
DER ERSTE
Leben?
DER ZWEITE
Vegetieren.
DER DRITTE
Krepieren.
DER VIERTE
Das ganze Städtchen.
Zuggeräusch, der Bahnhofsvorstand salutiert. Die Männer verfolgen den Zug mit einer Kopfbewegung von rechts nach links.
DER VIERTE
Der ›Diplomat‹.
DER DRITTE
Dabei waren wir eine Kulturstadt.
DER ZWEITE
Eine der ersten im Lande.
DER ERSTE
In Europa.
DER VIERTE
Goethe hat hier übernachtet. Im ›Gasthof zum Goldenen Apostel‹.
DER DRITTE
Brahms ein Quartett komponiert.
Glockenton.
DER ZWEITE
Berthold Schwarz das Pulver erfunden.
DER MALER
Und ich habe mit Glanz die Ecole des Beaux-Arts besucht, doch was treibe ich jetzt? Inschriftenmalerei!
DER ZWEITE
Höchste Zeit, daß die Milliardärin kommt. In Kalberstadt soll sie ein Spital gestiftet haben.
DER DRITTE
In Kaffigen die Kinderkrippe und in der Hauptstadt eine Gedächtniskirche.
DER MALER
Von Zimt, dem naturalistischen Schmierer, ließ sie sich porträtieren.
DER ERSTE
Die mit ihrem Geld. Die Armenian-Oil besitzt sie, die Western Railways, die Northern Broadcasting Company und das Bangkoker Vergnügungsviertel.
Zugsgeräusch. Links erscheint ein Kondukteur, als wäre er eben vom Zuge gesprungen.
DER KONDUKTEUR mit langgezogenem Schrei
Güllen!
DER ERSTE
Der Personenzug von Kaffigen.
Ein Reisender ist ausgestiegen, geht von links an den Männern auf der Bank vorbei, verschwindet in der Türe mit der Anschrift: Männer.
DER ZWEITE
Der Pfändungsbeamte.
DER DRITTE
Geht das Stadthaus pfänden.
DER VIERTE
Politisch sind wir auch ruiniert.
DER BAHNHOFSVORSTAND hebt die Kelle
Abfahrt!
Vom Städtchen her der Bürgermeister, der Lehrer, der Pfarrer und Ill, ein Mann von fast fünfundsechzig Jahren, alle schäbig gekleidet.
DER BÜRGERMEISTER
Mit dem Einuhrdreizehn-Personenzug von Kalberstadt kommt der hohe Gast.
DER LEHRER
Der gemischte Chor singt, die Jugendgruppe.
DER PFARRER
Die Feuerglocke bimmelt. Die ist noch nicht versetzt.
DER BÜRGERMEISTER
Auf dem Marktplatz bläst die Stadtmusik, und der Turnverein bildet eine Pyramide zu Ehren der Milliardärin. Dann ein Essen im ›Goldenen Apostel‹. Leider reicht es finanziell nicht zur Beleuchtung des Münsters und des Stadthauses am Abend.
DER PFÄNDUNGSBEAMTE kommt aus dem Häuschen
Guten Morgen, Herr Bürgermeister. Grüße recht herzlich.
DER BÜRGERMEISTER
Was wollen Sie denn hier, Pfändungsbeamter Glutz?
DER PFÄNDUNGSBEAMTE
Das wissen Herr Bürgermeister schon. Ich stehe vor einer Riesenaufgabe. Pfänden Sie mal eine ganze Stadt.
DER BÜRGERMEISTER
Außer einer alten Schreibmaschine finden Sie im Stadthaus nichts.
DER PFÄNDUNGSBEAMTE
Herr Bürgermeister vergessen das Güllener Heimatmuseum.
DER BÜRGERMEISTER
Schon vor drei Jahren nach Amerika verkauft. Unsere Kassen sind leer. Kein Mensch bezahlt Steuern.
DER PFÄNDUNGSBEAMTE
Muß untersucht werden. Das Land floriert, und ausgerechnet Güllen mit der Platz-an-der-Sonne-Hütte geht bankrott.
DER BÜRGERMEISTER
Wir stehen selber vor einem wirtschaftlichen Rätsel.
DER ERSTE
Alles von Freimaurern abgekartet.
DER ZWEITE
Von den Juden gesponnen.
DER DRITTE
Die Hochfinanz lauert dahinter.
DER VIERTE
Der internationale Kommunismus zieht seine Fäden.
Glockenton.
DER PFÄNDUNGSBEAMTE
Finde immer etwas. Habe Augen wie ein Sperber. Spähe mal bei der Stadtkasse nach. Ab.
DER BÜRGERMEISTER
Besser, er plündert uns jetzt als nach dem Besuch der Milliardärin.
Der Maler hat seine Inschrift beendet.
ILL
Das geht natürlich nicht, Bürgermeister, die Inschrift ist zu intim. Willkommen Claire Zachanassian, muß es heißen.
DER ERSTE
Ist aber Kläri.
DER ZWEITE
Kläri Wäscher.
DER DRITTE
Hier aufgewachsen.
DER VIERTE
Ihr Vater war Baumeister.
DER MALER
So schreib ich einfach: Willkommen Claire Zachanassian auf die Hinterseite. Wenn die Milliardärin dann gerührt ist, können wir ihr immer noch die Vorderseite zudrehen.
DER ZWEITE
Der ›Börsianer‹, Zürich–Hamburg.
Ein neuer Expreßzug kommt von rechts nach links.
DER DRITTE
Immer exakt, die Uhr könnte man nach ihm richten.
DER VIERTE
Bitte, wer hat hier schon noch eine Uhr.
DER BÜRGERMEISTER
Meine Herren, die Milliardärin ist unsere einzige Hoffnung.
DER PFARRER
Außer Gott.
DER BÜRGERMEISTER
Außer Gott.
DER LEHRER
Aber der zahlt nicht.
DER MALER
Der hat uns vergessen.
Der Vierte spuckt aus.
DER BÜRGERMEISTER
Sie waren mit ihr befreundet, Ill, da hängt alles von Ihnen ab.
DER PFARRER
Sie sind auseinandergegangen damals. Ich hörte eine unbestimmte Geschichte – haben Sie Ihrem Pfarrer etwas zu gestehen?
ILL
Wir waren die besten Freunde – jung und hitzig – war schließlich ein Kerl, meine Herren, vor fünfundvierzig Jahren – und sie, die Klara, ich sehe sie immer noch, wie sie mir durchs Dunkel der Peterschen Scheune entgegenleuchtete oder mit nackten Füßen im Konradsweilerwald durch Moos und Laub ging, mit wehenden roten Haaren, biegsam, gertenschlank, zart, eine verteufelt schöne Hexe. Das Leben trennte uns, nur das Leben, wie es eben kommt.
DER BÜRGERMEISTER
Für meine kleine Rede beim Essen im ›Goldenen Apostel‹ sollte ich einige Details über Frau Zachanassian besitzen. Er zieht ein Notizbüchlein aus der Tasche.
DER LEHRER
Ich forschte die alten Schulrodel durch. Die Noten der Klara Wäscher sind leider, leider herzlich schlecht. Auch das Betragen. Nur in der Pflanzen- und Tierkunde genügend.
DER BÜRGERMEISTER notierend
Gut. Genügend in der Pflanzen- und Tierkunde. Das ist gut.
ILL
Da kann ich dem Bürgermeister dienen. Klara liebte die Gerechtigkeit. Ausgesprochen. Einmal wurde ein Vagabund abgeführt. Sie bewarf den Polizisten mit Steinen.
DER BÜRGERMEISTER
Gerechtigkeitsliebe. Nicht schlecht. Wirkt immer. Aber die Geschichte mit dem Polizisten unterschlagen wir besser.
ILL
Wohltätig war sie auch. Was sie besaß, verteilte sie, stahl Kartoffeln für eine arme Witwe.
DER BÜRGERMEISTER
Sinn für Wohltätigkeit. Dies, meine Herren, muß ich unbedingt anbringen. Es ist die Hauptsache. Erinnert sich jemand an ein Gebäude, das ihr Vater errichtete? Würde sich in der Rede gut machen.
DER MALER
Kein Mensch.
DER ERSTE
Soll versoffen gewesen sein.
DER ZWEITE
Die Alte lief ihm davon.
DER DRITTE
Starb im Irrenhaus.
Der Vierte spuckt aus.
DER BÜRGERMEISTER schließt sein Notizbüchlein
Ich für meinen Teil wäre vorbereitet – das übrige muß Ill tun.
ILL
Ich weiß. Die Zachanassian soll mit ihren Millionen herausrücken.
DER BÜRGERMEISTER
Millionen – das ist genau die richtige Auffassung.
DER LEHRER
Mit einer Kinderkrippe ist uns nicht gedient.
DER BÜRGERMEISTER
Mein lieber Ill, Sie sind seit langem schon die beliebteste Persönlichkeit in Güllen. Ich trete im Frühling zurück und nahm mit der Opposition Fühlung. Wir einigten uns, Sie zu meinem Nachfolger vorzuschlagen.
ILL
Aber Herr Bürgermeister.
DER LEHRER
Ich kann dies nur bestätigen.
ILL
Meine Herren, zur Sache. Ich will vorerst mit der Klara über unsere miserable Lage reden.
DER PFARRER
Aber vorsichtig – zartfühlend.
ILL
Wir müssen klug vorgehen, psychologisch richtig. Schon ein mißglückter Empfang am Bahnhof kann alles verteufeln. Mit der Stadtmusik und dem gemischten Chor ist es nicht getan.
DER BÜRGERMEISTER
Da hat Ill recht. Es ist dies schließlich auch ein wichtiger Augenblick. Frau Zachanassian betritt den Boden ihrer Heimat, findet heim, gerührt, Tränen in den Augen, erblickt Altvertrautes. Ich werde natürlich nicht hemdärmlig dastehen wie jetzt, sondern in feierlichem Schwarz mit Zylinder, neben mir die Gattin, vor mir meine zwei Enkelkinder, ganz in Weiß, mit Rosen. Mein Gott, wenn nur alles in Ordnung kommt zur rechten Zeit.
Glockenton.
DER ERSTE
Der ›Rasende Roland‹.
DER ZWEITE
Venedig–Stockholm elfuhrsiebenundzwanzig.
DER PFARRER
Elfuhrsiebenundzwanzig! Wir haben noch fast zwei Stunden, uns sonntäglich herzurichten.
DER BÜRGERMEISTER
Die Inschrift ›Willkommen Claire Zachanassian‹ heben Kühn in die Höhe und Hauser. Er zeigt auf den Vierten. Die andern schwenken am besten die Hüte. Doch bitte: Nicht schreien wie voriges Jahr bei der Regierungskommission, der Eindruck war gleich Null, und wir haben bis jetzt noch keine Subvention. Nicht übermütige Freude ist am Platz, sondern innerliche, fast Schluchzen, Mitgefühl mit dem wiedergefundenen Kind der Heimat. Seid ungezwungen, herzlich, doch muß die Organisation klappen, die Feuerglocke gleich nach dem gemischten Chor einsetzen. Vor allem ist zu beachten …
Das Donnern des nahenden Zuges macht seine Rede unverständlich. Kreischende Bremsen. Auf allen Gesichtern drückt sich fassungsloses Erstaunen aus. Die fünf auf der Bank springen auf.
DER MALER
Der D-Zug!
DER ERSTE
Hält!
DER ZWEITE
In Güllen!
DER DRITTE
Im verarmtesten –
DER VIERTE
lausigsten –
DER ERSTE
erbärmlichsten Nest der Strecke Venedig–Stockholm!
DER BAHNHOFSVORSTAND
Die Naturgesetze sind aufgehoben. Der ›Rasende Roland‹ hat aufzutauchen in der Kurve von Leuthenau, vorbeizuflitzen und, ein dunkler Punkt, in der Niederung von Pückenried zu verschwinden.
Von rechts kommt Claire Zachanassian, zweiundsechzig, rothaarig, Perlenhalsband, riesige goldene Armringe, aufgedonnert, unmöglich, aber gerade darum wieder eine Dame von Welt, mit einer seltsamen Grazie, trotz allem Grotesken. Hinter ihr das Gefolge, der Butler Boby, etwa achtzig, mit schwarzer Brille, ihr Gatte VII (groß, schlank, schwarzer Schnurrbart) mit kompletter Angel-Ausrüstung. Ein aufgeregter Zugführer begleitet die Gruppe, rote Mütze, rote Tasche.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Bin ich in Güllen?
DER ZUGFÜHRER
Sie zogen die Notbremse, Madame.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Ich ziehe immer die Notbremse.
DER ZUGFÜHRER
Ich protestiere. Energisch. Die Notbremse zieht man nie in diesem Lande, auch wenn man in Not ist. Die Pünktlichkeit des Fahrplans ist oberstes Prinzip. Darf ich um eine Erklärung bitten?
CLAIRE ZACHANASSIAN
Ich bin doch in Güllen, Moby. Ich erkenne das traurige Nest. Dort drüben der Wald von Konradsweiler mit dem Bach, wo du fischen kannst, Forellen und Hechte, und rechts das Dach der Peterschen Scheune.
ILL wie erwachend
Klara.
DER LEHRER
Die Zachanassian.
ALLE
Die Zachanassian.
DER LEHRER
Dabei ist der gemischte Chor nicht bereit, die Jugendgruppe!
DER BÜRGERMEISTER
Die Kunstturner, die Feuerwehr!
DER PFARRER
Der Sigrist!
DER BÜRGERMEISTER
Mein Rock fehlt, um Gottes willen, der Zylinder, die Enkelkinder!
DER ERSTE
Die Kläri Wäscher! Die Kläri Wäscher! Er springt auf und rast ins Städtchen.
DER BÜRGERMEISTER ruft
Die Gattin nicht vergessen!
DER ZUGFÜHRER
Ich warte auf eine Erklärung. Dienstlich. Im Namen der Eisenbahndirektion.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Sie sind ein Schafskopf. Ich will eben das Städtchen mal besuchen. Soll ich etwa aus Ihrem Schnellzug springen?
DER ZUGFÜHRER
Madame. Wenn Sie Güllen zu besuchen wünschen, bitte, steht Ihnen in Kalberstadt der Zwölfuhrvierzig-Personenzug zur Verfügung. Wie aller Welt. Ankunft Güllen einuhrdreizehn.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Der Personenzug, der in Loken, Brunnhübel, Beisenbach und Leuthenau hält? Sie wollen mir wohl zumuten, eine halbe Stunde durch diese Gegend zu dampfen?
DER ZUGFÜHRER
Madame, das wird Sie teuer zu stehen kommen.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Gib ihm tausend, Boby.
ALLE murmelnd
Tausend.
Der Butler gibt dem Zugführer tausend.
DER ZUGFÜHRER verblüfft
Madame.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Und dreitausend für die Stiftung zugunsten der Eisenbahnerwitwen.
ALLE murmelnd
Dreitausend.
Der Zugführer erhält vom Butler dreitausend.
DER ZUGFÜHRER verwirrt
Es gibt keine solche Stiftung, Madame.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Dann gründen Sie eine.
Der Gemeindepräsident flüstert dem Zugführer etwas ins Ohr.
DER ZUGFÜHRER bestürzt
Gnädige sind Frau Claire Zachanassian? Oh, pardon. Das ist natürlich etwas anderes. Wir hätten selbstverständlich in Güllen gehalten, wenn wir nur die leiseste Ahnung – Sie erhalten Ihr Geld zurück, gnädige Frau – viertausend – mein Gott.
ALLE murmelnd
Viertausend.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Behalten Sie die Kleinigkeit.
ALLE murmelnd
Behalten.
DER ZUGFÜHRER
Wünschen gnädige Frau, daß der ›Rasende Roland‹ wartet, bis Sie Güllen besichtigt haben? Die Eisenbahndirektion würde dies mit Freuden billigen. Das Münsterportal soll sehenswert sein. Gotisch. Mit dem Jüngsten Gericht.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Brausen Sie mit Ihrem Zug davon.
GATTE VII weinerlich
Aber die Presse, Mausi, die Presse ist noch nicht ausgestiegen. Die Reporter dinieren ahnungslos im Speisewagen vorne.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Laß sie weiterdinieren, Moby. Ich brauche die Presse fürs erste nicht in Güllen. Und später wird sie schon kommen.
Unterdessen hat der Zweite dem Bürgermeister den Rock gebracht. Der Bürgermeister tritt feierlich auf Claire Zachanassian zu. Der Maler und der Vierte auf der Bank heben die Inschrift ›Willkommen Claire Zachanassi …‹ in die Höhe. Der Maler hat sie nicht ganz beendet.
DER BAHNHOFSVORSTAND hebt die Kelle
Abfahrt!
DER ZUGFÜHRER
Wenn gnädige Frau sich nur nicht bei der Eisenbahndirektion beschweren. Es war ein reines Mißverständnis.
Der Zug beginnt sich in Bewegung zu setzen. Der Zugführer springt auf.
DER BÜRGERMEISTER
Verehrte, gnädige Frau. Als Bürgermeister von Güllen habe ich die Ehre, Sie, gnädige, verehrte Frau, als ein Kind unserer Heimat …
Durch das Geräusch des davonrasenden Zuges wird der Rest der Rede des Bürgermeisters, der unentwegt weiterspricht, nicht mehr verstanden.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Ich danke, Herr Bürgermeister, für die schöne Rede.
Sie geht auf Ill zu, der ihr etwas verlegen entgegengetreten ist.
ILL
Klara.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Alfred.
ILL
Schön, daß du gekommen bist.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Das habe ich mir immer vorgenommen. Mein Leben lang, seit ich Güllen verlassen habe.
ILL unsicher
Das ist lieb von dir.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Auch du hast an mich gedacht?
ILL
Natürlich. Immer. Das weißt du doch, Klara.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Es war wunderbar, all die Tage, da wir zusammen waren.
ILL stolz
Eben. Zum Lehrer Sehen Sie, Herr Lehrer, die habe ich im Sack.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Nenne mich, wie du mich immer genannt hast.
ILL
Mein Wildkätzchen.
CLAIRE ZACHANASSIAN schnurrt wie eine alte Katze
Wie noch?
ILL
Mein Zauberhexchen.
CLAIRE ZACHANASSIAN
Ich nannte dich: mein schwarzer Panther.
ILL
Der bin ich noch.
CLAIRE ZACHANASSIAN