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Frühsommer in Südtirol: Der Bozener Commissario Matteo Zanchetti sieht seine Chance gekommen, den Mafiapaten Enzo Saffione endlich vor Gericht zu bringen. Doch die langen Arme des Verbrechens reichen bis in den Polizeiapparat: Eine Informantin wird gekidnappt, Zanchettis Kollegin, Commissario Sonja Schwarz, gerät in einen Undercover-Einsatz, und auf einer Schutzhütte am Rittner Horn werden zwei Bergsteiger ermordet. Zanchetti und Schwarz ermitteln.
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Seitenzahl: 403
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Corrado Falcone
Tödliche Stille
Kriminalroman
Blutige Vendetta Matteo Zanchetti, Commissario bei der Kripo in Bozen, sieht nach jahrelanger Ermittlungsarbeit seine Chance gekommen, den Mafioso Enzo Saffione festzusetzen. Doch kaum in Bozen angekommen, wird der Gefangenentransporter überfallen. Eine Befreiungsaktion oder ein Anschlag? Wie man hört, ist Saffiones Neffe Michele Lagagna drauf und dran, die Macht in der Famiglia an sich zu reißen. Kurz darauf wird der flüchtige Mafiapate auf einer Schutzhütte am Rittner Horn gesehen. Dort liegen nach einer nebligen Nacht die Leichen von zwei Bergsteigern, mehrere andere Wanderer werden verletzt aufgefunden. Zanchetti nimmt den Fall persönlich: Hat die Mafia all dieses Grauen inszeniert, um sich an ihm und seiner Kollegin, Commissario Sonja Schwarz, für diverse Ermittlungserfolge zu rächen? Immerhin hat die Patin von Bozen, Giulia Santoro, ihm vor kurzem mit Blutrache gedroht. Zanchetti und Schwarz müssen nun nicht nur den flüchtigen Saffione finden, sondern sich auch selbst schnellstens aus der Schusslinie bringen.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Luca Bravo / unsplash
ISBN 978-3-8392-7322-7
Sonja breitete die Wanderkarte vor sich auf dem Küchentisch aus. Es wurde bereits dämmrig, die Konturen der Weinberge draußen vor dem Fenster verschwammen. Wieder hatte sie einen langen Tag auf der Questura verbracht; es kam nicht oft vor, dass aus Commissario Schwarz einfach nur Sonja wurde. Die Schüsse auf Giulia Santoro, die in Bozen die Geschäfte der Mafia führte, hielten sie und die Kollegen nach wie vor in Atem. Und nicht nur, weil eine Polizistin auf Santoro geschossen hatte. Ohne dass Gefahr in Verzug gewesen wäre. Sondern vor allem, weil nichts vorbei war. Santoro hatte, bevor sie das Bewusstsein verlor, mit dem eigenen Blut ein »V« auf Commissario Matteo Zanchettis Hemd geschrieben. Wenn die Mafia ihm Blutrache schwor, steckte Sonjas engster Kollege bis zum Hals in Schwierigkeiten.
Seufzend bemühte sich Sonja, ihren Blick wieder auf die Wanderkarte zu richten. Sie wollte ihrer Tochter Laura eine Tour vorschlagen, zwei, drei Tage hoch über dem Eisacktal, mit Übernachtungen auf Berghütten und dem unverstellten Blick in einen atemberaubenden Sternenhimmel. Es war nur so, dass Sonja nicht so recht an diesen Ausflug glaubte. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Zeit, solange die Sache mit den Schüssen auf Giulia Santoro nicht geklärt war. Alle, die dabei gewesen waren, mussten bei der Staatsanwältin aussagen, neben ihr also auch Matteo, ihr Kollege Jonas Kerschbaumer – und Sofia Lanthaler, die geschossen hatte. Zu allem Überfluss standen sie noch vor dem Problem, dass Jonas und Sofia ein Paar waren. Beziehungen unter Polizisten wurden ungern gesehen, und nun war zudem herausgekommen, dass die Polizistin Sofia Lanthaler eine Informantin der Mafia war. Sie hatte Santoro wochenlang, wenn nicht länger, vom Stand der Ermittlungen berichtet. Kein Wunder, dass die Mafia den Beamten immer einen Schritt voraus zu sein schien …
»Na? So spät noch am Arbeiten?« Laura wirbelte herein.
»Arbeit würde ich das nicht nennen. Komm, setz dich zu mir.«
Laura ging zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Wein heraus. »Magst du auch?«
»Klar, warum nicht.«
Laura goss zwei Gläser voll. »Wir kommen leider viel zu selten dazu, unseren eigenen Wein zu genießen«, sagte sie grinsend. »Grüße von Luca übrigens.«
Sonja nahm einen Schluck Wein. Sie musste bedachtsam vorgehen. Vielleicht war jetzt der richtige Augenblick, um das große private Problem anzugehen, das sich gegen den erhofften Wanderausflug stemmte?
»Laura, was hältst du davon, wenn wir beide eine Tour unternehmen? Mal raus aus allem?«
»Raus aus allem?« Laura setzte sich neben ihre Mutter. »Du? Ich bitte dich, kann es das geben?«
»Natürlich!« Sonja versuchte, alle Überzeugung in dieses eine Wort zu legen. »Wie lange ist es her, dass wir in den Sarntaler Alpen unterwegs waren? Mindestens ein Jahr, oder?«
»Ha! Mehr als zwei. Es war unsere erste Rucksacktour nach Papas Tod.«
Sonja fühlte einen Stich im Herzen. Thomas … Immer noch konnte sie nicht an ihn denken, ohne sich unzulänglich, erschöpft, schuldig zu fühlen.
»Ja, das stimmt.« Sie spürte Lauras mitfühlenden Blick auf sich.
»Es ist immer noch so unglaublich, oder?« Laura sah Sonja direkt an. »Dass er nie mehr wiederkommt. Ich weiß, dass es so ist, aber manchmal hofft mein Herz trotzdem.«
»Das geht mir genauso.« Sonja stellte ihr Glas ab. »Es tut gut, darüber zu reden.«
»Finde ich auch.«
»Weißt du, ich denke, wenn wir gemeinsam ein paar Tage wandern, finden wir endlich mal wieder Zeit, ausführlich über alles zu sprechen.«
Es stand so viel im Raum. Laura, Sonjas Schwiegermutter Katharina und Sonja selbst hatten einiges an Schlägen hinnehmen müssen, seit Thomas bei einem Attentat getötet worden war. Es war erst wenige Monate her, dass sich ein betrügerischer Verwalter bei ihnen auf dem Weingut verdingt hatte und um ein Haar mutwillig die Ernte des Jahres zerstört hätte. Beinahe wären sie in die Insolvenz gerutscht.
Schon wieder hielten ihre Gedanken Sonja gefangen. Sie merkte zu spät, dass Laura bereits zum Angriff übergegangen war.
»Okay, es ist bestimmt eine gute Idee, mal wieder zu reden. Warum habe ich bloß das Gefühl, dass es dir in Wirklichkeit um was anderes geht?«
»Was meinst du?«
»Tu doch nicht so scheinheilig!« In ihrer direkten Art nahm Laura kein Blatt vor den Mund. »Du willst mich unbedingt von der Reise mit Luca abbringen.«
»Nein, das ist Unsinn, Laura.«
Laura stieß geräuschvoll die Luft aus. »Von wegen! Du hast immer von Neuem damit angefangen, dabei bin ich volljährig, und ich will nichts anderes als mit meinem Freund durch Italien trampen.«
»Dein Freund ist …«
»Jaja, du wiederholst es gebetsmühlenartig, die Forlanis haben Beziehungen zur Mafia. Na und? Luca ist kein Krimineller.«
»Das weiß ich ja. Du bist erwachsen, Laura, bitte denk nicht, dass ich dir die Reise verbiete, das will ich doch gar nicht, selbst wenn ich könnte.« Sie sah, wie ihre Tochter die Augenbrauen hochzog und wie ähnlich sie ihrem Vater war, wenn die Empörung aus ihr herauswollte.
»Na, immerhin haben wir das geklärt.«
»Versteh doch, die Sache mit Giulia Santoro …«
»Was habe ich mit einer Mafiosa zu tun? Meinst du, die nimmt an mir Rache, weil eine Polizistin sie angeschossen hat? Außerdem: Hast du nicht gesagt, sie ist noch nicht wieder bei Bewusstsein?«
»Ja, das stimmt, wir konnten sie noch nicht vernehmen. Die Ärzte haben sie in ein künstliches Koma versetzt. Sie hat schwere Verletzungen, und der behandelnde Arzt nimmt an, dass es länger dauern wird, bis sie sie aufwecken.«
»Umso besser, wenn es so weit ist, sind Luca und ich von unserer Reise längst zurück.« Lässig zuckte Laura die Achseln.
»Das ist kein Spiel, Laura!« Sonja hatte nicht laut werden wollen. Jetzt passierte es trotzdem. »Dir ist der Ernst der Lage nicht bewusst. Matteos Wagen wurde in die Luft gejagt, erinnerst du dich? Das ist noch nicht so lange her. Wir hatten Polizeischutz auf dem Weingut.«
»Es geht gegen Matteo. Nicht gegen uns.«
»Nein, hör mir zu. So denkt die Santoro nicht. Menschen von ihrem Schlag holen immer weit aus. Sie wird Rache nehmen, und du, Katharina und ich stehen genauso im Fadenkreuz. Alle, an denen Matteo etwas liegt, sind in Gefahr.«
»Ich werde ja nicht in Bozen sein«, entgegnete Laura trotzig.
»Aber wenn ihr in den Süden fahrt, Luca und du … Es ist unmöglich einzuschätzen, wie weit seine Familie zu gehen bereit ist.«
»Du meinst, die legen mich um? Komm schon.« Laura stand auf, ging zur Spüle, wo sie ihr Glas abstellte. »Wir fahren morgen Abend mit dem Nachtzug nach Bari. Luca und ich.«
Sonja atmete ein paarmal tief durch. Diese Diskussion war fruchtlos, ging ihr an die Nieren, verschwendete ihre Zeit und Energie. Sie hätte es wissen müssen: Laura konnte stur wie Strudel sein.
Frustriert faltete sie die Wanderkarte zusammen, nachdem ihre Tochter sich mit knallender Küchentür verabschiedet hatte. Zu diesem Ausflug würde es nicht kommen. Jedenfalls nicht allzu bald.
Fünf Tage später
»Immer noch nichts?« Sonja erreichte das Krankenhaus zehn Minuten später als verabredet und stürmte in den Gang vor der Intensivstation.
Ihr Capo, Commissario Matteo Zanchetti, und der Kollege Jonas Kerschbaumer, ebenfalls Commissario, standen bereits mit angespannten Gesichtern da und machten keinen Hehl daraus, dass sie genervt waren, weil Sonja zu spät kam.
»Du bist ja früh dran«, schnappte Matteo statt einer Begrüßung.
»Tut mir leid, ich stand im Stau.« Das war nur die halbe Wahrheit. Sie hatte am Abend vorher x-mal versucht, Laura zu erreichen. Seit sie am Donnerstag mit Luca zu ihrer großen Italientour aufgebrochen war, hatte sie nichts von sich hören lassen. Sonja machte sich Sorgen. Um wenigstens ein bisschen runterzukommen, hatte sie allein eine halbe Flasche Wein geleert und anschließend eine Diskussion mit ihrer Schwiegermutter geführt, die ihr vorwarf, zu besitzergreifend zu sein. Laura sei erwachsen, sie habe ein Recht darauf, mit ihrem Freund zu verreisen. Sonja hatte zähneknirschend zugestimmt und ihre größte Angst für sich behalten: Die Mafia war auf Rache aus. Nicht nur am Capo. Es ging um das ganze Team, und damit auch um ihre Familie.
»Du solltest dich daran gewöhnt haben, dass der Verkehr in Bozen immer irrer wird. Wenn demnächst Hauptsaison ist, verstopfen auch noch die Touristen unsere Straßen. Fahr das nächste Mal einfach zehn Minuten früher los, okay?«, knurrte Matteo sie an.
Sonja tauschte einen kurzen Blick mit Jonas. »Was ist denn?«
Matteo fuhr sich durchs Haar. »Die Ärzte halten Giulia Santoro weiterhin im künstlichen Koma. Wir kriegen erst mal keine Aussage. Wahrscheinlich bis Ende der Woche. Heute früh hatte ich schon die Staatsanwältin am Handy. Wegen der Schüsse auf Santoro. Elena Pedrotti will uns dringend sprechen. Alle drei.«
»Können wir sie noch ein paar Tage hinhalten?«, fragte Sonja.
»Ich habe ihr gesagt, wir sind zu sehr in die aktuellen Ermittlungen eingebunden. Da bleibt keine Zeit. Aber die Ausrede zieht nicht mehr lang, fürchte ich.«
Jonas trat von einem Fuß auf den anderen. »Gerade darüber wollte ich mit euch sprechen. Sofia ist nach wie vor in Haft. Ihr müsst aussagen, dass in dem Moment, als wir zugriffen, die Santoro ihre Hand in die Tasche gesteckt hat. Diese Bewegung hat Sofia als Griff nach einer Waffe interpretiert. Deshalb hat sie geschossen. Um Schlimmeres zu verhindern.«
»Du spinnst wohl, Jonas!«, fuhr Matteo auf. Die Tür zu einem Krankenzimmer ging auf, ein Bett wurde herausgeschoben. Er senkte die Stimme. »Wir wissen alle, dass es nicht so war. Also sagen wir das nicht aus, und du auch nicht, verstanden?«
»Sofia wird von der Mafia erpresst!«, widersprach Jonas.
Sonja, die die Verzweiflung in seinen Augen sah, legte eine Hand auf seinen Arm.
»Hör zu, Jonas, wir sind Kollegen, wir stehen füreinander ein. Aber als Polizisten dürfen wir die Wahrheit nicht zurechtbiegen. Sonst stehen wir ganz schnell auf der falschen Seite.«
Die Tür zur Intensivstation öffnete sich, ein Arzt hastete an ihnen vorbei. Kurz erhaschte Sonja einen Blick auf den abgedunkelten Korridor hinter der Tür, die sich automatisch wieder schloss. Irgendwo dort lag Giulia Santoro. Ausgeknockt für den Moment, doch sobald sie wieder bei Kräften war, würde sie ihre mörderischen Pläne weiterbetreiben. Dass der Anschlag auf Capo Matteo Zanchetti auf Santoros Konto ging, war ihr sonnenklar. Leider stellte sich die Beweislage schwierig dar. Es gab nämlich keinen einzigen gerichtsfesten Beweis, und sie hatten auch keinen Schimmer, wo sie einen herbekommen sollten. Blieben nur die Aussagen. Auch die der Santoro.
Ihr Handy gab Laut. Zeitgleich piepte das von Matteo.
»Merda! Wir müssen los!« Matteo rannte schon den Gang entlang.
Sonjas Blick klebte noch fassungslos auf dem Display ihres Handys, während sie zugleich den jungen Kollegen instruierte: »Jonas, du bleibst hier und bewachst die Santoro, bis du abgelöst wirst. Niemand darf zu ihr, außer dem Krankenhauspersonal. Sie ist die Einzige, die uns sagen kann, wer wirklich für den Anschlag auf den Capo verantwortlich ist.«
»Ja, klar«, knurrte Jonas. »Was ist eigentlich los?«
»Der Mann mit dem Feuermal ist gesehen worden. Auf einer Berghütte am Passo di Giau. Eine Streife hat sich gemeldet.«
»Der, der das Auto vom Capo in die Luft gejagt hat?«
»Nicht nur das. Ciao.«
Sonja spurtete los und prallte dabei fast mit einem Essenswagen zusammen, den ein Pfleger über den Gang schob.
Sonja raste über die Passstraße. Vor den Kehren bremste sie ab, um sofort wieder zu beschleunigen.
»Verdammt, wir sind viel zu langsam«, stöhnte sie.
»Das klappt schon!« Matteo trommelte mit den Fingern auf die Türverkleidung. »Die Carabinieri blockieren den Weg. Noch fühlt er sich sicher, sie haben einen Beamten auf die Terrasse der Berghütte geschickt, der ihn beobachtet.«
»Solche Typen riechen den Braten!« Sonja hielt an, als ihnen ein Wagen entgegenkam. Beide Fahrzeuge schafften es gerade um ein Haar aneinander vorbei. Sonja beschleunigte wieder. Wenn sie den Mann, der am Passo di Giau gesehen worden war, festsetzen und zu einer Aussage bringen konnten, sähe die Beweislage im Fall des Bombenanschlags auf den Capo gar nicht mehr so schlecht aus. Sie schwitzte. Fuhr das Fenster herunter. Kühle, nach Latschenkiefer duftende Luft strömte ins Auto. Sonja gab Gas. Kurz darauf ließen sie das bewaldete Gebiet hinter sich. Die steilen Hänge bestanden nun nur noch aus Gras und Steinen. An etlichen Stellen lagen Schneereste. Der Winter hatte in diesem Jahr lange nicht weichen wollen. Die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel.
»Weißt du eigentlich, dass man sich über 1.000 Meter grundsätzlich duzt?«, fragte Matteo.
Sonja warf ihm einen verblüfften Blick zu. »Wir sind schon deutlich höher. Und außerdem duzen wir uns doch.«
»Was ist los mit dir?«
»Mit mir? Nichts. Wieso?«
»Du wirkst angespannt.«
Sonja bremste vor der nächsten Haarnadelkurve.
»Ich will verdammt noch mal zu dieser Hütte. Ich will nicht wieder zu spät sein.«
»Das allein ist es aber nicht, oder?«
»Machst du dir keine Sorgen um Jonas? Er wollte uns zu einer Falschaussage bewegen.«
»Er ist verzweifelt. Da sagt man manchmal Blödsinn.«
»Nanu, so milde!«
»Was hast du, Sonja? Ich brauche deine volle Aufmerksamkeit für den Einsatz. Du bist abgelenkt. Das gefällt mir nicht.«
Sonja schaltete einen Gang runter. »Laura ist vor ein paar Tagen mit ihrem Freund zu ihrer lang ersehnten Italienreise aufgebrochen.«
»Und?«
»Sie wollen nach Bari. Luca Forlanis Familie stammt ursprünglich aus Apulien.«
»Verdammt.«
»Genau. Ich konnte sie nicht abhalten. Aber es gefällt mir nicht. Um ehrlich zu sein: Ich mache mir große Sorgen. Gestern Abend habe ich etliche Male versucht, sie anzurufen. Sie ging nicht ans Handy.«
»Wie lange wollen sie in Bari bleiben?«
»Nur ein paar Tage, anschließend soll es nach Rom gehen«, antwortete Sonja.
»Na gut. Anzunehmen, dass in der kurzen Zeit nicht gleich der große Sturm losbricht.«
»Meinst du, wir sollten hoffen, dass die Santoro noch länger im Koma liegt?«
»Oder umgekehrt. Dass sie bald aufwacht. Ich glaube, wir sind da!«
Ein Streifenwagen stand quer auf der Passstraße.
Matteo ließ das Fenster herunter. »Ist was Auffälliges passiert?«, rief er.
Ein Beamter war ausgestiegen und schritt eilig auf Sonjas Wagen zu. »Nichts, bisher kam nicht ein Fahrzeug vorbei. Unser Mann sitzt immer noch auf der Hütte, das Zielobjekt hat sich da nicht wegbewegt.«
»In Ordnung. Lasst uns durch, dann sperrt die Straße wieder ab. Er darf uns nicht entkommen.«
»Keine Sorge, das ist der einzige Zufahrtsweg.«
Der Streifenwagen fuhr ein Stück beiseite und Sonja steuerte ihren Wagen durch die Lücke.
»Langsam jetzt.« Matteo blickte angestrengt durch die Windschutzscheibe, während er nach einem Fernglas griff. »Hier. Fahr links ran.«
Sonja stellte den Motor ab. Sie standen unterhalb der Berghütte, im Schatten des Generatorenhäuschens. »Wir müssen vorsichtig sein. Er kennt uns beide.«
»Wenn er es ist.«
Sie stiegen aus und bewegten sich in einem Halbkreis auf die Hütte zu. Neben der Berghütte mit der weitläufigen Terrasse befand sich ein Kuhstall, daneben eine Tränke. Matteo und Sonja blieben in ihrem Schutz stehen.
Matteo spähte durch das Fernglas. »Er ist es. Das Feuermal ist deutlich zu erkennen. Er sitzt allein ganz am Rand der Terrasse. Weiter vorn ist eine große Wandergruppe. Und der Kollege in Zivil.«
»Ich gehe in die Wirtsstube und bitte die Bedienung, die Gruppe reinzuholen. Hundertprozentig ist er bewaffnet, das wird zu gefährlich mit so vielen Leuten ringsum.«
»Gut. Ich gehe obenrum. Pass auf dich auf.«
»Du auch auf dich.«
Vitale hockte jetzt seit zwei Stunden auf der Terrasse dieser armseligen Berghütte. Hatte erst Speckknödel gegessen und anschließend einen Kaffee bestellt. Tat so, als würde er die Aussicht bewundern. Er traute keinem.
Er hatte Giulia Santoro zu dem Geschäftstreffen begleitet, das am Ende aus dem Ruder gelaufen war. Zu dem Zeitpunkt hatte sie ihn schon weggeschickt. Deswegen war er nicht Zeuge geworden, wie eine Polizistin seine Chefin niedergeschossen hatte. Sie hatte dafür gesorgt, dass er in Sicherheit war, und das bedeutete: Es war jetzt seine Aufgabe, die Situation zu beobachten und notfalls Hilfe aus dem Süden zu organisieren. Er wusste, wen er anzurufen hatte. Bis es so weit war, saß er allerdings in den Bergen fest, die er immer weniger mochte. Ihre Kargheit machte ihm zu schaffen, er kam sich vor wie in einer unwirtlichen Mondlandschaft. Weiter ins Tal wagte er sich nicht vor, aus Angst, erkannt zu werden. Zwar hatte er sein Feuermal mit einem Schal einigermaßen verdeckt, doch er musste damit rechnen, allein wegen dieses Merkmals früher oder später erkannt zu werden. Zudem wusste er nicht, was das Krokodil unternehmen würde. Santoros undurchschaubarem Bodyguard traute er nicht über den Weg. Womöglich machte der kurzen Prozess mit ihm. Also hatte Vitale einem Touristen den Rucksack geklaut, lebte von dem darin befindlichen Bargeld und wanderte seit Tagen von Hütte zu Hütte. Die lange Tour hatte ihn Kraft gekostet, dazu kam die Unsicherheit. Ein Verbindungsmann hatte ihn vor dem Wochenende noch auf dem Handy erreicht, als er ausnahmsweise mal Empfang gehabt hatte. Die Santoro lag immer noch im Koma, und in Bari gerieten die Dinge außer Kontrolle. Wenn er ehrlich war, hatte er Angst. Er hatte die Santoro einmal hintergangen. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben.
Er war sich ziemlich sicher, dass wegen der Autobombe nach ihm gefahndet wurde. Das und die Bedrohung durch das Krokodil hinderten ihn daran, in den Süden zu verschwinden. Es war einfach zu gefährlich.
Über die Passstraße kamen zwei Crossmaschinen angefahren. Zwei junge Frauen brachten ihre Bikes zum Stehen, nahmen die Helme ab. Blondes und braunes Haar wehte im Wind. Merda, dachte Vitale. Von einer Frau konnte er nur noch träumen. Die beiden unterhielten sich. Lachten. Kramten in ihrem Gepäck. Frustriert wandte Vitale sich ab.
Gerade als er überlegte, noch einen Kaffee zu bestellen, sah er, wie die Kellnerin mit der Wandergruppe sprach. Nach und nach standen die Leute auf und gingen in die Hütte. Sofort war Vitale auf der Hut. Es herrschte blendender Sonnenschein, gab überhaupt keinen Grund, nach drinnen zu gehen. Der einzelne Wanderer am unteren Tisch saß immer noch ungerührt da und las in seinem Buch. Vitale spähte zu der Gruppe hinüber. Witterte. Eine Frau warf ihm einen ängstlichen Blick zu.
Verdammt!
Vitale sprang auf. In Bruchteilen von Sekunden sah er sich um. Von der Bergseite bewegte sich jemand auf die Terrasse zu. Jemand, der sich große Mühe gab, nicht gesehen zu werden. Zanchetti! Du verfluchter Wurm, dachte Vitale, während er nach seiner Waffe griff, eigentlich solltest du längst tot sein! Schon sprintete er los, sprang über die Umzäunung der Terrasse und lief Richtung Straße. Er sah eine Frau vom Generatorhäuschen auf sich zukommen. Sie war ihm viel näher als Zanchetti. Das Sonnenlicht blitzte im Stahl ihrer Pistole auf. Vitale schlug einen Haken, feuerte hinter sich. Rannte den Hang hinunter und stieß dabei die blonde Bikerin zu Boden. Der Zündschlüssel steckte noch. Er ließ die Maschine an und raste los. Ohne hinter sich zu blicken. Er hatte es schon oft geschafft. Typen wie er landeten immer wieder auf den Füßen.
Sonja registrierte den Abgang ihres Zielobjekts erst, als die Wandergruppe hektisch in die Wirtsstube drängte. Sie hatte sich bereitgehalten und stürmte jetzt auf Vitale zu, sah, wie er die Motorradfahrerin zu Boden stieß und das Bike startete. Der Abstand zwischen ihr und dem Mann mit dem Feuermal betrug kaum hundert Meter, doch er war einfach ein paar Sekunden schneller gewesen. Raste auf dem Bike davon, schlingerte, als er mit seiner Waffe zielte. Sonja warf sich auf den Boden. Die Kugel schlug nicht weit von ihr ins Gras.
»Porca miseria!«, schrie Matteo, der neben ihr auf dem Bauch landete. »Nimm das Auto!«
Schon war er wieder auf den Beinen, Sonja rappelte sich auf, rannte ihm nach. Ihr Kollege schnappte sich das Motorrad der zweiten Bikerin.
Sonja erreichte ihren Wagen und verbrauchte wertvolle Augenblicke, um auf der schmalen Straße zu wenden. Längst war der Flüchtige weit voraus. Sie gab Gas, in ihrer Erregung riss sie das Steuer zu weit herum, kam dem steilen Abhang gefährlich nah. Als sie kurz darauf um die Kehre bog, wo die Streife stand, lag das Bike auf dem Boden. Sie trat auf die Bremse. Ihr Herz hämmerte in einem wilden Stakkato.
»Er ist den Hang hoch!«, schrie der Beamte, der mit gezogener Waffe hinter dem Polizeiwagen kauerte.
Sonja sah den Mafioso hoch über ihr am Hang entlanglaufen. Bevor sie begriff, woher das Motorengeräusch kam, das sie hörte, schoss Matteo auf dem Motorrad über die Hügelkuppe. Erdklumpen spritzten.
Um Himmels willen, dachte Sonja, das wird ein Todeskommando. Sie folgte ihm, immer gewahr, dass der Flüchtige schießen würde, auf sie, auf Matteo. Seine einzige Chance, zu entkommen, bestand darin, die Verfolger auszuschalten. Der Grasbewuchs endete, Felsbrocken lagen im Weg. Matteo kam mit dem Bike nicht mehr voran. Er sprang ab, ließ es fallen, rannte.
Der Verbrecher hatte hier zu viele Möglichkeiten, sich zu verschanzen. Matteo war ihm nun dichter auf den Fersen, Sonja versuchte, ihm von unten kommend den Weg abzuschneiden. Hinter sich hörte sie einen der beiden Streifenpolizisten den Hang hochrennen … Ein Schuss fiel. Sie stürzte, stieß sich das Knie an einem Stein. Vor Schmerz wurde ihr kurz schwarz vor Augen.
»Runter!«, brüllte Matteo und feuerte.
Sonja zog den Kopf ein. »Nicht! Wir brauchen Informationen von ihm. Wir brauchen ihn lebend!« In ihren Ohren hallte der Schuss, doch sie hatte den Mann aus den Augen verloren. »Warte, Matteo! Siehst du ihn noch?«
Matteo blieb stehen, blickte sich um.
»Zum Henker!« Frustriert spie er eine Serie italienischer Flüche aus.
»Vorsicht. Auf drei Uhr!« Sonja drückte das Gesicht auf den Boden. Als sie es wieder wagte, hochzublicken, erkannte sie, dass Matteo unwissentlich an ihrem Zielobjekt vorbeigerannt war. Der Mann hatte hinter einem mannshohen Felsen gekauert und kroch jetzt hervor, stand in Matteos Rücken. Hob die Waffe. Sonja sah das Feuermal an seinem Hals, sah, wie sein Finger über dem Abzug zuckte. Matteo merkte nichts von der Gefahr hinter ihm. Er glaubte immer noch, den Flüchtigen weiter entfernt suchen zu müssen.
Für Bruchteile von Sekunden schien die Welt stillzustehen.
Sie zielte und schoss.
Der Mann wurde zurückgerissen, die Waffe fiel aus seinen Händen, er selbst stürzte auf die Felsen. Sein Kopf schlug hart auf.
Matteo, aufgeschreckt durch den Schuss, fuhr herum und fing an zu rennen. Sonja war schon bei dem Mann, kickte seine Waffe weg.
»Shit, er blutet stark.« Verzweifelt riss sie ihm den Schal vom Hals und drückte ihn auf die blutende Wunde am Oberschenkel.
»Du hast die Arterie getroffen. Rufen Sie einen Rettungshubschrauber!«, rief er dem Uniformierten zu, der zu ihnen aufgeschlossen hatte.
»Wer ist Santoros Auftraggeber?«, schoss Sonja ihre wichtigste Frage ab. »Wer hat ihr befohlen, den Capo umzubringen?«
Der Mann starrte sie benommen an. Seine Augen waren gerötet. Das Blut pulste aus der Wunde, der Schal war bereits durchtränkt.
»Reden Sie!«
»Dem könnt ihr nichts anhaben«, murmelte der Mann kaum hörbar. Er dämmerte weg.
»Nein! Nicht!«, schrie Sonja. »Augen auf! Bleiben Sie bei uns!«
Matteo ging neben ihr in die Hocke. »Für wen sollten Sie mich töten?«
»Es hat keinen Zweck. Er stirbt!« Sonja packte den Kopf des Mannes, sah ihm in die Augen.
Er murmelte etwas. Matteo hielt das Ohr an seine Lippen.
Die Augen des Mannes brachen. Sonja ließ ihn los.
»Was hat er gesagt?«, fragte sie Matteo.
»Saffione«, flüsterte Matteo schockiert. »Enzo Saffione.«
Wie so häufig stand der Verkehr auf der Brücke über dem Talferbach still. Jonas ließ das Fenster herunter, doch statt frischer Luft schlugen ihm Abgase entgegen. Es war heiß heute, trotz der frühen Stunde. Tatsächlich wurde Bozen in seinem Talkessel – bei Südwind und dem entsprechenden Luftdruck – viele Male im Jahr zur heißesten Stadt Italiens. Er stellte den Motor ab. Ignorierte das entnervte Hupen der Autofahrer vor und hinter ihm. Zu viel ging ihm durch den Kopf. Seinen trüben Gedanken konnte er einfach nicht entkommen.
Die Sache mit Sofia und ihm – das war was Ernstes. Jonas hatte sich im Verlauf der vergangenen Ermittlungen in Sofia verliebt und sie sich in ihn, es war ganz schnell gegangen, wie von selbst, plötzlich waren sie ein Paar gewesen. Die gemeinsamen Stunden mussten sie sich bei ihren ausgedehnten Arbeitszeiten freischaufeln, das war nicht immer einfach, doch umso mehr genossen sie die unbeschwerte Zeit miteinander. Im Fall der Entführung der achtjährigen Juna war es ihm und Sofia sogar in einem unkonventionellen Einsatz geglückt, den wahren Täter zu entlarven und so nicht nur das kleine Mädchen zu retten, sondern auch Unschuldige vor falschen Beschuldigungen zu bewahren. Er war stolz auf Sofia gewesen, aber dann kam es zu diesem unseligen Aufeinanderprall in den Bergen. Die Santoro hatte aus dem Kidnapping geschäftliche Vorteile gezogen, indem sie sich die Firma von Junas Vater überschreiben ließ, ohne überhaupt an der Entführung beteiligt zu sein. Zugleich hatte Sofia ihre ganz persönliche Rache geschmiedet und unmittelbar in die Tat umgesetzt. Jonas sah die Szenerie noch vor sich: Er mit Capo Zanchetti und Sonja, die Santoro, ihr Wagen, in dem ein Notar mit einem Packen Papiere hockte, der Vater des entführten Kindes, hin- und hergerissen zwischen Angst um seine Tochter und Wut auf Santoros Finte. Da war plötzlich Sofia aus dem Kofferraum gekrochen, hatte ihre Dienstwaffe auf Giulia Santoro gerichtet und abgedrückt …
Kaltblütig war sie ihm vorgekommen, grausam, aalglatt. Die Santoro war getroffen zu Boden gesunken, Jonas erinnerte sich noch an ihren Gesichtsausdruck. Erstaunen hatte in ihrem Blick gelegen, sie hatte die Hand auf die Wunde in ihrer Seite gepresst, das Blut war hindurchgesickert …
Ein Hupen riss ihn aus seinen Grübeleien. Die Schlange vor ihm bewegte sich. Rasch startete er den Motor und fuhr im Schritttempo bis zur Kreuzung weiter, wo er abbog und vor dem Landeskommando der Carabinieri parkte. Die paar Meter zur Strafanstalt, wo Sofia inhaftiert war, ging er zu Fuß. Er wollte seiner Freundin positiv gestimmt gegenübertreten, Optimismus verbreiten. Dazu passten seine verzagten Überlegungen überhaupt nicht; doch selbst der kurze Spaziergang vermochte seine Stimmung nicht zu heben.
Er meldete sich am Eingang, zeigte seinen Ausweis, gab das Handy ab und ließ sich von einem Vollzugsbeamten in den Besucherraum führen. Die grauen Wände und der schäbige Tisch mit den beiden Stühlen, das einzige Mobiliar, machten ihn nur noch niedergeschlagener. Durch das vergitterte Fenster sah er unter dunstigem Himmel die Gipfel der Nonsberggruppe. Unerreichbar, erst recht für Sofia. Als seine Freundin endlich hereingeführt wurde, sprang er auf.
»Sofia!«
»Hoi, Jonas!«
Sie hatte abgenommen. Das blonde Haar hing ihr strähnig ins Gesicht.
»Wie geht es dir?« Fürsorglich nahm er ihre Hände in seine, bevor er sie umarmte und fest an sich drückte.
»Geht so. Danke, dass du gekommen bist.«
»Du sitzt schon viel zu lange hier fest.« Jonas senkte die Stimme. »Matteo und Sonja versuchen, die Anhörung noch etwas rauszuzögern. Vielleicht wacht die Santoro aus dem künstlichen Koma auf und kann ihre Aussage machen.«
Sofia befreite sich aus Jonas’ Umarmung. »Für mich spielt das keine Rolle. Ich sage aus, was war.«
»Hör zu.« Eifrig drückte Jonas Sofia auf den einen Stuhl und setzte sich auf den anderen. »Bei der Anhörung musst du sagen, dass es Notwehr war.«
»Unsinn. Es war keine Notwehr, das weißt du genau.«
»Aber dann werden sie dich verurteilen!«
»Und wenn schon! Was ich getan habe, habe ich getan.« Sofia drehte sich weg.
»Gib nicht auf, Sofia, ich bitte dich! Du nimmst die Konsequenzen von etwas auf dich, wofür du keine Schuld trägst. Womit erpresst dich Giulia Santoro?«
»Lass mich in Ruhe, Jonas, wir haben hundertmal darüber gesprochen. Ich werde es dir nicht sagen.«
Jonas unterdrückte einen Seufzer. »Ich weiß, du willst deine Familie schützen …«
»Wenn du es weißt, warum respektierst du es nicht?« Sofia stand auf, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. »Wir sehen uns bei der Anhörung, nicht wahr?«
Verzweifelt sah Jonas ihr nach, als sie aus dem Raum geführt wurde.
Sonja bestand darauf, selbst zu fahren. Sie musste sich ablenken. Vor wenigen Stunden hatte sie einen Menschen erschossen. Den, der zweimal versucht hatte, Matteo zu töten – einmal heute und einmal vor Monaten mit einer Autobombe. Einen von Santoros Schergen.
Matteo saß schweigend neben ihr. Es wurde bereits Abend, lange hatte es gedauert, bis der Leichenwagen den Pass hochgekommen, die Spurensicherung abgeschlossen war. Sie erreichten die Baumgrenze. Schatten nisteten sich auf der engen Straße ein. Sonja war kalt, sie schloss das Fenster. Zugleich sehnte sie sich nach frischer Luft, ließ es wieder herunter. Spürte Matteos fragenden Blick von der Seite.
»Willst du drüber reden?«, fragte er.
»Nein.«
»Er hätte mir in den Rücken geschossen und danach dich ins Visier genommen. Du konntest nichts anderes tun.«
»Das weiß ich.« Ein Teil von Sonja fühlte sich völlig taub an. Sie spürte Matteos Mitgefühl. Ging innerlich auf Abstand. Sie kam zurecht. Sie kam immer zurecht.
»Könnte sein, dass ich für ein paar Tage wegmuss.«
»Was?« Sonja starrte Matteo verdattert an, fuhr viel zu schnell auf eine Haarnadelkurve zu und musste unvermittelt bremsen. Sie wurden in die Gurte geschleudert.
»Ein familiärer Notfall«, sagte Matteo.
»Du spinnst. So kommst du mir nicht bei.«
Matteo erwiderte nichts.
Sonja konzentrierte sich auf die Straße. Der Wald lichtete sich, sie fuhren durch einen winzigen Weiler. Eine Katze huschte vor ihnen über die Straße.
»Enzo Saffione?«, fragte sie schließlich. »Ist er dein familiärer Notfall?«
»Könnte sein.«
»Hilf mir auf die Sprünge: Wer ist Enzo Saffione und was hast du vor?«
»Saffione ist eine große Nummer in Bari. Der Kopf der Famiglia, seit Jahrzehnten hält er die Fäden in der Hand.«
»So viel weiß ich auch. Weiter.« Sonja wich einem Motorrad aus.
»Ich vermute, dass er Santoros Ziehvater ist. Die Person, die sie gefördert und an die Stelle verfrachtet hat, wo sie jetzt sitzt, nachdem wir Rossi sozusagen entfernt haben.«
»Die Mafia weiß immer noch nicht, dass Rossi in Rom in einer Zelle sitzt?«
»Ich nehme es nicht an, aber selbst wenn – die Sache zwischen Saffione und mir ist privat.« Matteo seufzte. »Du weißt, dass ich nicht erst seit meinem Dienstantritt hier in Bozen mit der Mafia in Berührung gekommen bin, sondern schon vorher.«
»Saffione hat eine Rechnung mit dir offen? Aus deiner Zeit als Mafiajäger?«
»Er ist der Pate von Bari. Nur logisch, dass ich ihm in die Quere gekommen bin.«
»Ich verstehe das nicht. Auch in der Famiglia haben sich die Zeiten geändert, es wird nicht mehr alles mit Mord gelöst.«
»Geld zieht bei mir eben nicht. Außerdem geht es um was anderes.« Matteo starrte auf die allmählich breiter werdende Straße. »Meine Ohren knacken. Dieses ewige Rauf und Runter!«
»Lenk nicht ab. Du hast ein ganz spezielles Hühnchen mit Saffione zu rupfen?«
»Kann man so sagen. Es geht um seine Tochter.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie ist tot.« Auch Matteo ließ nun sein Fenster herunter, die Luft hier unten war angenehm mild.
»Hast du sie umgebracht?«
»Natürlich nicht.«
»Sondern? Wer?«
»Es ist besser, wenn du nicht zu viel weißt.«
»Verdammt. Matteo, wir sind Kollegen!«
»Es ist eine Sache zwischen Saffione und mir. Wenn er Santoro den Auftrag gegeben hat, mich umzubringen, wird er nicht lockerlassen, nachdem ich wundersamerweise überlebt habe.«
Sonja schlug genervt mit einer Hand auf das Lenkrad. Ihr Mann Thomas war durch eine Kugel brutal aus dem Leben gerissen worden. Eine Kugel, die Sonja gegolten hatte … Und nun redete Matteo davon, dass die Mafia nicht zögern würde, ihn umzubringen. Was man eben am Passo di Giau gesehen hatte. Wenn sie nicht auf Vitale geschossen hätte … Nur leider war damit der einzige Mensch tot, den sie zu der Autobombe hätten befragen können.
Sie saßen schweigend nebeneinander, bis Sonja im Zentrum von Bozen vor der Questura hielt, wo Matteos Wagen stand.
»Die Presse wird Fragen stellen«, sagte er. »Sie haben wegen der Schüsse auf Santoro schon überall herumgeschnüffelt. Und nun diese Sache …«
»Ich komme klar.«
»Wenn du was brauchst«, begann Matteo, die Hand schon am Türgriff.
»Ich komme klar.«
Sie wusste, dass er wusste: Sie hatte vor ein paar Stunden einen Mann getötet, ihre innere Balance war in Auflösung begriffen, und dazu kamen Matteos kryptische Hinweise auf ein persönliches Motiv für den Anschlag auf ihn …
»Pass auf dich auf, Principessa!« Matteo nickte ihr zu. »Und noch etwas: Ruf Jonas an und sag ihm, was passiert ist. Er sollte es von uns hören.«
Sie beobachtete, wie er zu seinem Wagen ging, einstieg, den Motor anließ und losfuhr.
Alles ganz normal. Nichts explodierte. Niemand starb.
Aufseufzend lehnte sie den Kopf zurück und griff nach ihrem Handy. Wählte Lauras Nummer.
Hallo, hier ist Laura. Für schlechte Nachrichten ruft jemand anderen an. Gute Nachrichten nach dem Signalton.
»Hoi, Laura, sei so lieb, melde dich doch mal. Ich habe überhaupt nichts von euch gehört. Geht es euch gut? Bitte, gib einfach mal Laut oder schicke eine Nachricht, okay? Ciao.«
Seufzend legte Sonja ihr Handy in die Mittelkonsole. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis es klingelte.
»Laura?«, rief sie aufgeregt.
»Hier spricht Katharina. Wo steckst du, Sonja?«
Noch jemand, der sich Sorgen macht, dachte Sonja. Seit Laura zu ihrer Reise aufgebrochen war, schuftete ihre Schwiegermutter allein auf dem Weingut.
»Ich fahre jetzt los. Von der Questura.« Das war nicht einmal gelogen. »Hat Laura sich bei dir gemeldet?«
»Deine Tochter ist mit ihrem Freund auf einer romantischen Reise durch Italien. Sie wird Besseres zu tun haben, als ihre Mutter oder Großmutter anzurufen.«
»Ich mache mir einfach Sorgen.«
»Sie wird sich schon melden. Komm erst mal nach Hause. Ich habe Lasagne vorbereitet. Hast du heute schon was Vernünftiges gegessen?«
»Nein«, gab Sonja zu und spürte, wie hungrig sie war. »Ich hatte einen verdammt miesen Tag. Musste im Dienst auf jemanden schießen.«
Stille in der Leitung. Schließlich sagte Katharina:
»Jetzt komm erst mal heim. Ich schiebe die Lasagne in den Herd.«
»Gut.«
»Bis dann, Sonja.« Katharina legte auf.
Die Wärme und Freundlichkeit in ihrer Stimme brachen beinahe Sonjas Selbstbeherrschung. Was ihre Schwiegermutter ihr wie nebenbei gesagt hatte, spürte sie selbst: Sie machte sich ständig Sorgen um andere. Um Laura. Um Matteo. Um Katharina, deretwegen sie zusätzlich ein schlechtes Gewissen hatte. Katharina litt an einem schwachen Herzen, dennoch arbeitete sie von früh bis spät, um das Weingut am Leben zu erhalten. Das Gut war Thomas’ Traum gewesen, und Katharina tat alles, damit das Erbe ihres Sohnes fortbestand. Doch geschäftlich stand es auf der Kippe. Erst recht nach den Schäden, die der betrügerische Verwalter vor einigen Monaten angerichtet hatte.
Sorgen. Sonja drückte kurz die Stirn auf das Lenkrad. Laura, Katharina, Matteo, das Weingut. Sofia und Jonas nicht zu vergessen! Sie kam aus dem Grübeln nicht heraus. Neulich hatte Katharina sie gefragt, ob sie nicht endlich wieder anfangen wolle, so etwas wie ein Leben zu führen. Und Laura hatte sich vor nicht allzu langer Zeit ähnlich ausgedrückt. Aber wie fing man ein Leben an? Hatte sie wirklich lange genug um Thomas getrauert? Würde diese Trauer überhaupt je ein Ende nehmen?
Der Morgen war noch klar und kühl. Die Berggipfel im Westen des Tals wurden allmählich von der Sonne berührt. Schnell würde das Licht an den Wänden herabwandern, bis das ganze Tal in goldenen Schein getaucht wäre. Ein Moment, den Matteo magisch fand und liebte, seit er nach Bozen gekommen war.
Während er am Gate auf das Boarding wartete, sah er sich immer wieder unauffällig um. Kaum vorstellbar, dass Saffiones Leute seine Abreise nicht mitbekommen würden. Hundertprozentig hatten sie auch am Flughafen in Bozen ihre Informanten. Manche spitzelten für Geld, andere, wie Sofia, wurden gezwungen. Matteo hatte die halbe Nacht gegrübelt. Elena Pedrotti, die Staatsanwältin, würde sich nicht mehr lange hinhalten lassen. Die Schüsse auf Giulia Santoro mussten geklärt werden, einige Presseleute hatten ätzende Artikel vom Stapel gelassen. Von wegen Polizeiskandal. Es fehlte nicht mehr viel, und man würde den Beamten vorwerfen, eine Straftat zu verschleiern. Durch die sozialen Medien geisterten bereits Namen. Seiner, natürlich, und auch Sonjas. Man munkelte von Strafvereitelung im Amt. Bisher war es ihnen gelungen, Sofia aus der Schlammschlacht herauszuhalten. Dennoch: Wenn Sofia nicht auspackte, was die Mafia gegen sie in der Hand hatte, zahlte sie einen zu hohen Preis.
Matteo scrollte durch die Nachrichten in seinem Newsfeed. Doch er war nicht bei der Sache, dachte an Jonas, dessen Leben durch Sofias Tat außer Kontrolle geraten war. Als Kollege schlug er sich tapfer, aber wie lange noch? Sollte Sofia am Ende verurteilt werden … Seufzend steckte er das Handy weg. Sein Flug wurde aufgerufen. Er trug nur eine kleine Tasche mit dem Nötigsten bei sich. Alles andere würde ihn bloß behindern. Für ein paar Tage hatte er sein Leben in Bozen auszublenden, sich in die Vergangenheit zu begeben, musste noch einmal nachempfinden, was ihn in den Augen des alten Paten Enzo Saffione zu dessen Todfeind gemacht hatte. Zu einem Todfeind, der ausgemerzt werden sollte. Dabei war Matteo überzeugt – Saffione würde vor Sonja und deren Familie nicht haltmachen. Er würde Matteo die schlimmste aller Strafen zuteilwerden lassen: einem Menschen etwas antun, an dem ihm etwas lag. Oder mehreren Menschen.
Er fand seinen Sitz, schob die Tasche ins Gepäckfach und setzte sich. Der Flug war nur mäßig gebucht.
Der Kerl mit dem Feuermal war bereit gewesen, ihm in den Rücken zu schießen. Ohne Sonja wäre er, Matteo, nicht mehr am Leben. Sowieso ging ihm seine Kollegin mit dem Temperament und den Locken nicht mehr aus dem Kopf. Genaugenommen seit Monaten. Oder seit er hier war. Ihrer beider Leben waren miteinander verbunden, und nicht erst, seit ihr Mann Thomas getötet worden war. Gestern hatte Sonja sein Leben gerettet.
Der Pilot begrüßte die Passagiere. Matteo blickte auf das Rollfeld. Als die Maschine sich zur Startposition bewegte, sah er immer noch Sonja vor sich, gestern, am Passo di Giau. Wie sie langsam die Waffe sinken ließ, wie sie den Schal auf die blutende Wunde drückte.
Sie ahnte, was er in Bari vorhatte. Er konnte ihr nichts vormachen.
Doch es gab etwas, wovon sie nichts wusste. Nichts wissen konnte. Noch nicht!
Der Lärm der Turbinen hallte in Matteos Kopf. Enzo Saffione … Er musste diese Sache endlich zu Ende bringen. Danach sollte Sonja von ihm alles über seine neuen Pläne erfahren.
Er fühlte den Ruck, als das Fahrwerk die Piste verließ. Das Flugzeug stieg in den Himmel.
Sonja war so zeitig aufgestanden, dass sie Katharina aus dem Weg gehen konnte. Ihre Schwiegermutter war normalerweise der frühere Vogel. Doch an diesem Morgen brauchte Sonja ein paar Momente für sich. Ohnehin hatte sie kaum ein Auge zugetan, war nur wenige Stunden in einen unruhigen Schlummer gefallen. Die Szene oben am Pass gestern hielt ihre Gedanken gefangen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass Matteo längst am Flughafen war, um die Morgenmaschine nach Bari zu erwischen. Sie hatte gestern noch gegoogelt, wann sie startete. Hatte den Gedanken hin und her gewälzt, zum Flughafen zu fahren, ihn abzupassen und von seinem Vorhaben abzubringen.
Natürlich hatte sie sofort von der Idee Abstand genommen. Sie würde sich unmöglich machen und letzten Endes nichts erreichen. So war Matteo. Wenn sie ehrlich war: Sie selbst würde ihm genauso wenig Einfluss über ihre Entscheidungen zugestehen.
Wenn nur … Laura! Mehrmals hatte sie gestern noch die Handynummer ihrer Tochter gewählt, aber stets nur die Ansage auf der Mailbox gehört. Katharina mochte ja recht haben: Eine junge Frau, die zum ersten Mal mit ihrem Freund unterwegs war, sollte die Zeit genießen, anstatt mit ihrer Mutter zu telefonieren. Aber wenigstens eine kurze Nachricht, ein Bin gut angekommen – das sollte doch drin sein!
Sie stellte die Bialetti auf den Herd, ging unter die Dusche, und als sie nach zehn Minuten wieder in die Küche kam, war der Caffè fertig. Sie trank ihn im Stehen, spülte die Kanne aus. Hörte, wie Katharina oben ins Bad ging. Griff nach ihrer Tasche und verließ das Haus.
Im Auto koppelte sie das Handy mit der Freisprechanlage. Langsam fuhr sie los. Die Luft war kühl, und ein paar dünne Wolkenschleier trieben durch Eppan. In der Nacht musste es geregnet haben, die Straße war noch nass. Sie schaltete das Radio ein. Nachrichten auf Radio Südtirol. Die Neuigkeiten aus der Politik gingen an Sonja vorbei, doch die letzte Meldung konnte sie nicht ignorieren.
Am Passo di Giau hat es gestern einen Schusswechsel gegeben. Ein flüchtiger Krimineller griff einen Polizeibeamten an. Ein zweiter Beamter gebrauchte seine Schusswaffe und erschoss den Flüchtigen. Nähere Umstände sind noch nicht bekannt.
Genervt schaltete Sonja das Radio leise. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Presse auf den Zusammenhang dieser unglücklichen Aktion am Passo di Giau mit den Schüssen auf Giulia Santoro stürzen würde.
Kaum hatte sie die Hauptstraße erreicht, klingelte ihr Handy. Die Staatsanwältin.
»Frau Schwarz? Ich brauche Ihren Bericht zum gestrigen Schusswaffeneinsatz.«
»Habe ich fast fertig«, log Sonja. »Geht noch heute Vormittag an Sie.«
»Gut. Ist damit Ihre Fahndungsaktion abgeschlossen? Ich warte immer noch auf Ihre Aussagen zu den Schüssen auf Giulia Santoro.«
»Natürlich, es sieht so aus – fürs Erste.«
»Fürs Erste?«
»Signora Santoro liegt im künstlichen Koma im Klinikum.«
»Das weiß ich. Ich brauche zunächst Sie, Zanchetti, Jonas Kerschbaumer und Sofia Lanthaler.«
»Der Punkt ist: Matteo Zanchetti musste Bozen in einer dringenden Familienangelegenheit verlassen. Wenn …«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Elena Pedrotti lachte rau. »Da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen.«
»Nein, er ist heute Morgen abgeflogen. Ein Notfall.«
»Damit kommen Sie mir nicht. Wenn ich nicht spätestens in zwei Tagen Sie alle miteinander befragen kann, und zwar persönlich, muss ich über Konsequenzen nachdenken. Und die werden das ganze Team betreffen, Commissario.«
»Natürlich. Selbstverständlich.« Sonja legte auf. Sie musste dringend mit Jonas sprechen. Er durfte auf keinen Fall eine Falschaussage machen.
Während sie in Bozen an einer roten Ampel stand, suchte sie Lucas Nummer in ihrem Handy. Laura hatte sie ihr irgendwann einmal gegeben, widerwillig. Sie fühlt sich von mir beobachtet, dachte Sonja. Ich hätte in ihrem Alter nicht anders reagiert. Die Ampel sprang auf Grün. Sie fuhr an. Erst als sie bei der Questura parkte, drückte sie mit dem Anflug eines schlechten Gewissens auf »Anruf«.
»Pronto?«, tönte eine verschlafene Stimme aus dem Telefon.
»Hallo, Luca, gut, dass ich dich erreiche. Hier ist Sonja Schwarz. Es tut mir leid, dass ich so früh anrufe. Ich mache mir Sorgen, weil ich schon ewig nichts von Laura gehört habe. Geht es euch gut? Wo seid ihr?«
»Also – ja, im Prinzip … alles okay.«
»Seid ihr noch bei deiner Familie in Monopoli?«
»Na ja … Der Punkt ist, ich bin wieder in Bozen.«
»Was? Und Laura?«
»Ehrlich gesagt, es ist nicht so gut gelaufen. Wir haben uns gestritten. Während der ganzen Reise schon. Und auch, als wir bei meinen Leuten in Monopoli waren. Deswegen habe ich vorgeschlagen, wieder heimzufahren. Irgendwie passte die Stimmung nicht.«
»Wo ist Laura jetzt, Luca?« Sonja spürte, wie ihre Stimme grell wurde, und bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Was nicht funktionierte. »Ich muss wissen, wo sie ist!«
»Sie hat gesagt, sie lässt sich von mir nicht die Reise verderben, auf die sie sich so lange gefreut hat. Also ist sie wie geplant nach Bari weiter.«
»Verdammt!«
»War nicht meine Entscheidung.«
Weil Laura ein Sturkopf ist. So wie ich, dachte Sonja. Neben ihr parkte Peter Kerschbaumer, Jonas’ Vater, ein. Wie immer trug er Uniform. Er nickte ihr kurz zu.
»Weißt du, wo sie in Bari wohnt?«
»Keine Ahnung. Wir hatten nichts geplant. Ist ja noch nicht Hauptsaison, da findet man immer eine Unterkunft.«
»Hast du mal versucht, sie zu erreichen?«
»Ich glaube nicht, dass sie scharf drauf ist, mit mir zu sprechen«, murmelte Luca niedergeschlagen.
»Melde dich bei mir, wenn du von ihr hörst, ja?« Das klang schärfer als beabsichtigt.
»Mache ich. Aber Laura ruft mich bestimmt nicht freiwillig an, jedenfalls nicht so bald.«
Sonja beendete das Gespräch. Sie blieb noch eine halbe Minute sitzen, um ihre Gedanken zu sortieren. Vielleicht war es ihr ja lieber so. Lauras Beziehung zum Spross einer Familie, die mit der Mafia im Bunde war, hatte ihr ohnehin einige schlaflose Nächte bereitet.
Als sie ausstieg und auf die Questura zuging, trat Kerschbaumer neben sie. Als hätte er auf sie gewartet.
»Guten Morgen, Commissario Schwarz. Ist alles in Ordnung?«
»Nicht ganz. Laura … Sie und Luca haben sich auf ihrer Reise nach Apulien getrennt und sie ist allein nach Bari weiter.«
Kerschbaumer sah Sonja mitfühlend an. »Das macht Ihnen Sorgen, nicht wahr?«
Sonja senkte die Stimme. »Der Capo ist auch in Bari. Er hat eine Rechnung mit Enzo Saffione offen. Behalten Sie das für sich, bitte.«
»Natürlich.«
»Und noch eine Sache: Könnten Sie mit Ihrem Sohn sprechen? Jonas ist völlig durch den Wind. Er will eine Falschaussage machen, um Sofia aus der Sache mit Santoro rauszuhauen. Damit bringt er uns alle in Schwierigkeiten, und sich selbst am meisten.«
»Ich habe so etwas befürchtet. Dachte aber, das sei vom Tisch.«
»Da bin ich mir nicht sicher. Er ist wirklich verzweifelt. Das ist verständlich, nur können wir nicht die Wahrheit an unsere Bedürfnisse anpassen.«
»Ich rede mit ihm«, versprach Kerschbaumer. Auf seiner Stirn war eine steile Falte erschienen.
Der Pilot flog in einem weiten Bogen über die Stadt und setzte aus südlicher Richtung zur Landung an. Matteo genoss die kurze Gelegenheit, die in der gleißenden Sonne weiß glänzende Stadt vor dem türkisblauen Meer zu bewundern. Der Anblick rührte ihn, eine beinahe vergessene, bittersüße Sehnsucht stieg in ihm auf. Mit Bari verband ihn zu viel. Trauriges wie Freudiges. Schon geriet die Stadt außer Sicht, die Maschine sank, Gebäude und struppige, vertrocknete Büsche rasten vorbei. Mit einem Ruck setzte das Flugzeug auf. Er machte sich keine Illusionen: Entweder waren die, die es auf ihn abgesehen hatten, längst da – oder er hatte einen Vorsprung. Einen, der groß genug war, um unbemerkt an Saffione heranzukommen. Nicht sehr wahrscheinlich. Doch immerhin verfügte Matteo über diese eine Chance. Sollten sie bereits auf ihn warten, bestand immer noch die Möglichkeit, sie abzuschütteln.
Ein Bus brachte die Passagiere zum Terminal. Kurz darauf eilte Matteo bereits durch die Ankunftshalle. Am Taxistand sah er sich unauffällig um, wartete ab, bis die ersten beiden Taxis in der Schlange Kunden aufnahmen, und stieg in das nächste. Nannte dem Fahrer eine Adresse in der Innenstadt.
Die Wagenfenster standen offen, es roch nach Meer, nach Abgasen, nach dem Süden. Aus dem Autoradio sang Franco Battiato. »Voglio vederti danzare.«
»Er ist gestorben«, sagte der Fahrer und nestelte an dem Lederband um seinen Hals.
»Wer?«
»Battiato.«
»Habe ich nicht mitgekriegt.«
»Nicht in Bari gewesen?«
»Nein.«
»Urlaub?«
»Ja. In Tirol.«
»Seltsame Ecke da oben. Nichts für mich. Ich brauche das Meer.« Er setzte den Blinker und bog ab. Schon steckten sie im Murat-Viertel mit seinen rechtwinklig angeordneten Straßenzügen im Verkehr fest. Es wurde gehupt, gestikuliert, geflucht. Matteo musste grinsen. Wie sehr er diese verrückte Stadt vermisst hatte … mit Worten gar nicht auszudrücken! Ab und zu warf er einen Blick in den Rückspiegel. Die Hitze drückte.
»Hier sind wir.« Das Taxi holperte auf den Gehsteig.
Matteo riss sich aus seinen Tagträumen. »Danke.« Er zahlte, stieg aus, ging um ein paar Ecken.
Er war ganz in der Nähe der Universität ausgestiegen. Zu gern hätte er den üppigen Garten auf der anderen Seite des Prachtbaus besucht, sich im Schatten der Palmen ausgeruht und sich den Erinnerungen an alte Zeiten hingegeben.
Es war zu gefährlich. Vorsichtig sah er sich um. Es war heiß. Er schwitzte, war die schwere Luft nach Süden, nach Meer, nach Frangipani nicht mehr gewohnt. Die Tasche in seiner Hand wurde langsam schwer.
Niemand folgte ihm. Er hielt ein anderes Taxi an und ließ sich zu einem außerhalb liegenden Kongresshotel in Strandnähe bringen. Beinahe bedauerte er, die Stadt schon wieder zu verlassen. Links glitzerte das Meer, während sie über die Ausfallstraße fuhren. Der Fahrer war nicht sehr gesprächig. Matteo hatte den Eindruck, er würde ihn von Zeit zu Zeit misstrauisch beäugen. Die Baresi rochen, wenn Gefahr im Verzug war. Und einen wie Matteo in einem Taxi herumzuchauffieren, bedeutete, früher oder später Ärger zu bekommen.