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Der Kriminalroman zur erfolgreichen ARD-Reihe mit über 5 Millionen Zuschauern pro Folge. Sonja Schwarz ist eine leidenschaftliche Ermittlerin aus Frankfurt. Aus Liebe zu ihrem Mann Thomas zieht sie nach Südtirol, auf das Weingut der Familie. Aber Sonja merkt schnell, dass die Postkartenidylle trügt. Als Provinzpolizistin in Bozen muss sie sich nicht mit Falschparkern und Weinpanschern herumschlagen, sondern mit Mord und Totschlag, Drogenschmuggel und der Mafia. Sie gerät an einen alten Fall, an dem ihre Familie zu zerbrechen droht: der Fund des Skeletts der Jugendlichen Evelyn Kronstadt. Die Spuren in diesem Fall führen Sonja immer wieder zu ihrem eigenen Mann Thomas. Was hat er damit zu tun?
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Seitenzahl: 425
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Sonja Schwarz ist eine leidenschaftliche Ermittlerin aus Frankfurt. Aus Liebe zu ihrem Mann Thomas zieht sie nach Südtirol, auf das Weingut der Familie.
Aber Sonja merkt schnell, dass die Postkartenidylle trügt. Als Provinzpolizistin in Bozen muss sie sich nicht mit Falschparkern und Weinpanschern herumschlagen, sondern mit Mord und Totschlag, Drogenschmuggel und der Mafia.
Sie gerät an einen alten Fall, an dem ihre Familie zu zerbrechen droht: der Fund des Skeletts der Jugendlichen Evelyn Kronstadt. Die Spuren in diesem Fall führen Sonja immer wieder zu ihrem eigenen Mann Thomas. Was hat er damit zu tun?
Der Kriminalroman zur erfolgreichen ARD-Reihe mit über 5 Millionen Zuschauer pro Folge.
Corrado Falcone ist das Pseudonym eines bekannten Autors.
Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Südtiroler Landesregierung
© 2017, Rundfunkanstalten der ARD und Merfee Film- und Fernsehproduktions GmbH, Lizenz durch Degeto GmbH
Edition Raetia, Bozen 2017
1. Auflage
ISBN 978-88-7283-591-3
ISBN Ebook: 978-88-7283-254-7
Projektleitung im Verlag: Eva Simeaner, Edition Raetia
Druckvorstufe: Typoplus
Lektorat: Joe Rabl, Helene Dorner
Cover: Philipp Putzer, Farbfabrik
Anregungen an [email protected]
Unser gesamtes Programm finden Sie unter www.raetia.com
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Einundfünfzig
Zweiundfünfzig
Dreiundfünfzig
Vierundfünfzig
Fünfundfünfzig
Sechsundfünfzig
Siebenundfünfzig
Achtundfünfzig
Neunundfünfzig
Sechzig
Einundsechzig
Zweiundsechzig
Dreiundsechzig
Vierundsechzig
Fünfundsechzig
Sechsundsechzig
Das Böse schlich mitten in der Nacht vom Schlern an ihrer Hütte vorbei hinunter ins Tal nach Kompatsch und Seis. Sie schlug die Augen auf. In langen Zügen atmete sie den Druck vom Herzen weg, während sich Schweiß auf ihre Stirn legte und sie in die Dunkelheit starrte. Längst hatten in ihrer Vorstellung die Schlernhexen als Verkörperung des Bösen ausgedient, denn es besaß weder eine Gestalt noch ein Gesicht. Das Böse schien ein Vagabund zu sein, ein Streuner. Es wohnte unter den Menschen und niemand wusste, wann es wieder zuschlagen würde, ohne Vorwarnung in der Nacht, aber auch am Tag. Sie hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn es sie diesmal mitnähme, denn es umgab sie schon zu lange, viel zu lange. Sie sehnte sich nur noch nach Ruhe. Das Böse war kalt und stumm wie ein Berggrat. Der einzige Laut, den sie jetzt vernahm, war das dumpfe Schlagen ihres Herzens, das ihr verriet, dass die Zeit entgegen ihres Gefühls im immer gleichen Takt verging. Gegen die Sehnsucht, die sie unablässig in jeder der mehr als sechstausend Nächte heimgesucht hatte, war kein Kraut gewachsen und kein Vergessen stellte sich ein. Nichts heilte die Zeit. Sie wusste nicht, ob sie sich eher eine schreckliche Gewissheit als eine zarte Hoffnung wünschen sollte, aber am meisten sehnte sie sich danach, endlich aus diesem Albtraum zu erwachen, ihn wie einen alten Lumpen abzustreifen. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass sie ohnehin nicht mehr in den Schlaf zurückfinden würde. Nicht hier, nicht in ihrem Bett. Zu oft hatte sie erlebt, dass sie sich vergeblich von der einen auf die andere Seite wälzte, gepeinigt von der Wachheit, um dann am Morgen wie geprügelt aufzustehen, um die Kühe zu melken, die sie gleichgültig aus ihren großen Augen anglotzten. Langsam erhob sie sich, fuhr in die Filzpatschen und schlurfte zur Tür, öffnete sie und trat auf den kleinen Flur. Sie war jetzt vierundfünfzig Jahre alt und bewirtschaftete seit vierunddreißig Jahren den Bergbauernhof, den sie von ihren Eltern geerbt hatte. Ihr ganzes Leben hatte sie hier zugebracht, wie sollte sie den Weg da nicht sogar bei geschlossen Augen finden? Ihre harte, rissige Hand berührte die abgegriffene Türklinke. Eigentlich wollte sie nicht mehr mitten in der Nacht hier stehen. Eigentlich wollte sie damit aufhören. Schluss machen! Eigentlich … Doch dann drückte sie wieder und wie immer sehr sanft und mit schlechtem Gewissen die Klinke nach unten, öffnete die kleine Holztür und betrat das Zimmer, während ihr Kopf Schutz und auch Vergebung zwischen ihren Schultern suchte. Nun spürte sie die Last der Schuld ganz. Während sie das Zimmer betrat, das nicht das ihre war, gab eine tiefschwarze Wolke den Mond frei und Licht floss in die kleine Stube, legte sich wie ein Grauschleier auf den kleinen Schreibtisch an der Wand, auf die Poster von den Männern und Frauen in Showkleidung, die Namen wie Whitney Houston, Jennifer Lopez, Britney Spears, Robby Williams trugen, Namen, die ihre Tochter erwähnt und die sie sich nie gemerkt hatte. Selbst den knallbunten Aufklebern auf dem schmalen Schrank, der sich zwischen Ecke und Tür langmachte, raubte das kalte Licht des Mondes die Farbe, als hätten sie zu lange im Wasser gelegen wie eine Leiche. Links von ihr stand das Bett, in das sie sich nun katzenhaft geschmeidig und überraschend schnell legte. Erleichtert stellte sie fest, sie nicht geweckt zu haben. Sanft kuschelte sie sich an, genoss die Nähe und hauchte mit ihrer harten, kantigen Aussprache: „Nacht, Evchen, Nacht. Und schlaf gut, schlaf gut.“
Ungeduldig trommelte Sonja Schwarz mit den Fingern der rechten Hand auf das Dach ihres blauen Tiguans, während die linke auf der geöffneten Fahrzeugtür lag, und verdrehte ihre schönen grünen Augen. „Mach schon, Laura!“ Ihr unrhythmisches Trommelstakkato ließ ahnen, dass es um ihre Musikalität nicht besonders gut bestellt war. Schließlich verlor sie die Geduld, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und betätigte zweimal die Hupe. Ein leichter, nach Frühsommer duftender Wind strich über die Weinberge und breitete sich über die Mauern des großen Gebäudes, das eher an ein kleines Schloss als an einen Winzerhof erinnerte. Der azurblaue Himmel blickte mit einer verblüffenden Unschuld, als habe er nicht bereits die schlimmsten Verbrechen gesehen, auf die Berge und Täler, auf Dörfer und Städte, auf Almen und Weiden herab.
Aus der großen, knarrenden Eichentür trat in diesem Augenblick ein Mädchen, das so anklagend schaute, wie man es nur mit fünfzehn Jahren konnte, wenn man die Welt als eine einzige Verschwörung gegen sich empfand. Für jeden erkennbar hatte sie sich nur wenig Mühe gegeben, das störrische Blondhaar zu bändigen. Sie trug eine Latzhose, ein grünes T-Shirt und eine pinke Windjacke mit rotem Reißverschluss. Wie ein Clown, absolut unmöglich, dachte Sonja beim Anblick ihrer Tochter. Lauras Miene sah man an, dass sie beschlossen hatte, alles, was ihr heute begegnen würde, als total uncool zu empfinden. Die demonstrative Langsamkeit der Tochter trieb Sonjas Blutdruck in die Höhe. „Beeil dich, Laura, du kommst zu spät zur Schule.“ Statt zu antworten verdrehte Laura nur ihre schönen großen braunen Kulleraugen, eine Geste, die ihre Tochter von ihr hatte, was es nicht besser machte. Doch Sonja beherrschte sich, denn gleichzeitig sagte sie sich, dass sie keine Zeit für den Streit hatte, auf den es ihre Tochter offensichtlich anlegte. Wenn es aus ihrer Sicht nottat, wusste Laura nur zu gut, wie sie Zeit herausschinden konnte, und wenn ihr dafür nur das Mittel blieb, ein kleines Geplänkel vom Zaun zu brechen.
„Meinst du, die warten auf dich?“
„Nö, tun sie nicht“, erwiderte sie kurz und entschieden.
„Willst du die Exkursion etwa verpassen?“
„Auf eine Exkursion in die Berge bin ich so scharf wie auf einen Pickel auf der Nase.“
„Ab ins Auto“, befahl Sonja barsch und stieg ein, zuckte gleich darauf unter dem lauten Knall zusammen, mit dem Laura die Tür zugeschlagen hatte.
„Die Tür kann nichts dafür!“, sagte Sonja missbilligend, während sie den Motor anließ und mit quietschenden Reifen anfuhr.
„Die Reifen auch nicht“, kam es postwendend von der Tochter zurück. Und nun ertappte sich Sonja dabei, die Augen zu verdrehen. Im Rückspiegel tauchte zu allem Überfluss auch noch ihre Schwiegermutter auf. In der Linken hielt sie eine Thermoskanne, in der Rechten ein Lunchpaket hoch. Sonja stöhnte über das zeitraubende Monument großmütterlicher Fürsorglichkeit auf, schaltete in den Rückwärtsgang und fuhr zurück. Katharina Schwarz öffnete die Tür auf der Beifahrerseite. „Hier, Madl, du fallst mir sonst ganz vom Fleisch.“ Laura lächelte ihre Großmutter dankbar an, allerdings nicht wegen der Verpflegung, sondern wegen des willkommenen Zeitverlusts.
„Legs auf den Rücksitz“, sagte Sonja kurz angebunden zu ihrer Schwiegermutter, die der Aufforderung freundlich und mit einer für Sonja enervierenden Langsamkeit nachkam. Dann brauste sie los und Katharina Schwarz schüttelte missbilligend den Kopf. „Mah, immer diese Hektik.“
„Willst du wirklich die Exkursion in die Berge verpassen?“, fragte Sonja mit leicht resigniertem Lächeln ihre Tochter.
„Sag bloß nicht, dass du dich plötzlich für die Berge interessierst.“
Tat sie auch nicht. Sonja Schwarz liebte das Meer und hatte immer davon geträumt, ein Segelboot zu besitzen. Auf See gelang es ihr stets, den Nullpunkt zu finden, runterzukommen, die schlimmen Bilder und Erinnerungen loszuwerden.
„Du weißt genau, weshalb wir hier sind“, sagte Sonja nun doch mit deutlichem Vorwurf in der Stimme.
Laura blickte missmutig vor sich hin, wirkte aber auf einmal weicher und zugänglicher. „Weil Oma nach Opas Tod das Weingut nicht mehr allein bewirtschaften kann.“ Doch dann regte sich der Trotz wieder in ihr. War es denn ihre Schuld? „Man hätte das Weingut auch verkaufen können!“
Das dachte auch Sonja, dennoch sagte sie: „Es hätte deiner Großmutter das Herz gebrochen und deinem Vater vermutlich auch.“
„Und uns? Fragt uns einer? Ach …“ Dann schwieg sie und auch Sonja verspürte keinen Drang, die Unterhaltung fortzusetzen. So wenig wie ihre Tochter Lust auf die neue Schule hatte, so wenig zog es sie auf das neue Revier.
Die Sonne blendete sie beim Fahren. Entnervt griff sie zur Sonnenbrille in der Ablage, wohl wissend, dass sie nur wenig Schutz gegen die von der Seite eindringende Helligkeit bot. Rechts von ihr schaute Schloss Sigmundskron von seinem Plateau herunter, während links in der Ferne sich der Schlern erhob und etwas weiter südlich der Rosengarten. Ihr kam der Werbeslogan in den Sinn, der Südtirol als Gottes Obstgarten pries. Viele würden sie beneiden, an einem so schönen Ort zu leben, selbst Thomas hatte ihr nicht die Plattitüde „Leben, wo andere Urlaub machen“ erspart, als er sie zu überreden versuchte, in Frankfurt die Zelte abzubrechen und nach Eppan zu gehen.
Sie bremste. Vor ihnen stand der Neubau des Walther-von-der-Vogelweide-Gymnasiums.
„Tschüss“, sagte Laura missmutig und stieg aus.
„Tschüss“, sagte Sonja. Sie wollte schon losfahren, schaute aber dann doch liebevoll ihrer Tochter hinterher. Man sollte sich nicht im Streit verabschieden, dachte sie und wollte schon aussteigen und ihr folgen, als Laura plötzlich stehen blieb, sich umdrehte und zum Auto zurücktrippelte. Auch wenn das als vollkommen uncool gelten musste. Fragend hob Sonja die Augenbrauen. Laura öffnete die Tür auf der Fahrerseite, grinste bis über beide Ohren und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange: „Viel Glück an deinem ersten Tag, Mama!“ Dann lief sie mit kurzen, schnellen Schritten zur Schule und verschwand im Gebäude.
Sonja startete den Wagen, kuppelte, legte den Gang ein und fuhr los. Richtig, heute war ihr erster Tag in der Questura.
Anfangs irritierten sie die größtenteils zweigeschossigen Häuser, die die Straße säumten. Häuser in Städten besaßen für Sonja Schwarz mindestens fünf Etagen. Sie bog links in die Freiheitsstraße, dann rechts in die Italienallee und schmunzelte. Am Ende der Freiheit stand also der Weg nach Italien. Und wenn ihre Geschichtskenntnisse ausgereicht hätten, hätte sie der wunderbare Widersinn erfreut, dass es von der Italienallee in die Drususallee ging, ausgerechnet Drusus, der römische Feldherr, der in Germanien gefallen war. Aber die Drususallee öffnete den Blick auf das Panorama des Schlerns, das sie jetzt doch berührte. Inzwischen lösten höhergeschossige Häuser die Zweietager ab, was sie ein wenig mit Bozen versöhnte. Auf der Marconistraße fuhr sie über die schöne Brücke, die über die Talfer führte, die wenig später in den Eisack floss. Dann war sie auch schon am Giovanni-Palatucci-Platz, an dem der imposante Gebäudekomplex der Questura stand, bullig, selbstbewusst, aber auch ein wenig selbstbezogen. Er wirkte auf sie, als müssten die Verbrecher zu ihm kommen, sich ordentlich anmelden, bevor man sich bereit fand, sich mit ihnen zu befassen. In der Questura hatte auch die Polizia di Stato Quartier bezogen und die Squadra mobile, die Ermittlungsabteilung. Sonja nahm ihre Sonnenbrille ab, packte sie ins Etui zurück und stieg aus dem Auto. Sie atmete tief durch die Nase ein, weil die Luft nach Blüten duftete. Als sie ihre schwarze Aigner-Umhängetasche aus Leder vom Rücksitz nahm, entdeckte sie Lauras Lunchpaket und die Thermosflasche und schüttelte grinsend den Kopf. Dann warf sie einen Blick in ihre Tasche, um sich zu vergewissern, dass sie auch alles dabeihatte. Das Grinsen spielte in ein süßsaures Lächeln hinüber, als sie die Trillerpfeife entdeckte, die sie von ihren Kollegen zum Abschied mit der Bemerkung bekommen hatte: „Die wirst du dort dringender als deine Dienstwaffe brauchen, Frau Commissario.“ Und alle hatten dazu gelacht und sie mit, natürlich, um dem Spott der Kollegen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sonja hängte sich die Tasche über die Schulter, verriegelte die Tür und beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.
Die große Tür, die hohen Fenster, die massiven Mauern, die in Goldgelb gehalten waren, flößten Respekt ein. Beim Eintreten tauchte sie in eine angenehme Kühle ein. Im Foyer herrschte ein Kommen und Gehen, aber auch ein undurchdringliches Halbdunkel. Ein großer, beleibter Polizist in Uniform kam ihr gemächlich entgegen. Sie sprach ihn auf Italienisch an. „Scusi, Signor Ispettore Capo, dove posso trovare …“
„Mit mir könnens Deutsch reden, Fräulein.“
„Mein Akzent verrät mich …“
„Nicht nur der … Wo möchten Sie denn hin, junge Dame?“
„Zu Commissario Capo Burger.“ Der freundliche Blick im dicken Gesicht des Polizeihauptmeisters erstarb und wurde undurchdringlich. „Sind Sie etwa Frau Commissario Schwarz?“
„Sì, Ispettore Capo.“
„Ich zeige Ihnen den Weg, Kerschbaumer, Peter Kerschbaumer. Wir werden noch öfter miteinander zu tun haben, ich wurde zur Ermittlungsabteilung abkommandiert.“
Sonja registrierte, dass er die Dienststelle auf Deutsch benannte, und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Der bullige Kopf bildete den Abschluss des massiven Gebirges seines Körpers. Unter der wulstigen Stirn lugten treu und brav zwei große, blaue Augen hervor, die ein wenig von unten, von den Plusterbacken bedrängt wurden. Unter der Nase, die sich den Namen Zinken redlich verdient hatte, zuckte ein erstaunlich kleiner Mund.
„Ich geh voraus, wenns recht ist.“
„Es ist recht.“
Kerschbaumer drehte ihr das gewaltige Rückenmassiv zu und steuerte auf die geschwungene Treppe zu. Wie das Land so die Leute, dachte sie sarkastisch.
Wenig später saß sie in dem etwas düsteren Büro einem sechzigjährigen Mann mit Halbglatze, die wie eine silberne Gloriole wirkte, gegenüber. Burger hatte sie jovial begrüßt.
„Schön, dass es geklappt hat, aber wir wollten auch dem Schwarz Thomas seine Rückkehrt in die Heimat ermöglichen.“ Sie spürte den Schlag in die Magengrube. Nicht wegen ihrer fachlichen Qualität hatte man ihre Bewerbung über Europol angenommen. Burger setzte ein breites Grinsen auf. „Wir sind hier alle halt ein bisserl familiärer. Das werden Sie schnell lernen, Frau Commissario.“ Alter Macho, dachte Sonja, die sich beherrschen musste. Der behandelte sie wie ein kleines Mädchen. Was sie richtig wütend machte, war, dass sie diese Art der jovialen und herzlichen Demütigung zunächst sprachlos machte. Doch dann fasste sie sich.
„Erzählen Sie mir etwas von den Delikten, die hier anfallen, und von deren Häufigkeit, Commissario Capo!“ Sie hatte es kühl, beinah in einem Befehlston gesagt. Burgers Lächeln gefror auf seinen dicken Lippen. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Sonja wandte sich um. Im Türrahmen stand ein junger Mann mit sportlicher Figur in Bluejeans, mit einem blauen T-Shirt unter einem Sakko von undefinierbarer Farbe, die zwischen verschiedenen Grautönen changierte.
„Wir haben einen Mord am Kalterer See.“
Burger erhob sich. „Commissario Kerschbaumer, Ihr neuer Kollege.“
„Kerschbaumer?“
„Ja, richtig, sein Vater hat Sie zu mir gebracht. Ich sagte es ja, wir haben es gern etwas familiärer. Das ist Commissario Schwarz, worauf wartet ihr?“ Sie hatte den Eindruck, als käme der Mord Burger wie gerufen, die Unterhaltung zu beenden.
Na dann, dachte sie fast beschwingt. Ein Mord ist immerhin ein guter Anfang. Sie folgte Kerschbaumer junior aus dem Dienstzimmer des Capos und rannte mit ihm die Treppe hinunter, obwohl die Eile, die er an den Tag legte, kaum der Dringlichkeit geschuldet war, an den Tatort zu kommen, den hatte mit Sicherheit die Polizei bereits abgesperrt, sondern dem Eifer des jungen Polizisten.
„Die Leiche wird uns nicht davonlaufen“, bremste sie ihn.
Er lächelte etwas schief über die freundliche Zurechtweisung. „Ja, na klar.“ Obgleich er sich bemühte, gelang es ihm nicht, das Tempo deutlich zu drosseln. Dabei hasste sie übereifrige Kollegen.
„Sagen Sie Jonas zu mir, Frau Commissario.“
Sie blickte ins gleiche Himmelblau der Augen, das ihr bei seinem Vater bereits aufgefallen war. Richtig, sie lieben es hier ja etwas familiärer.
„Sonja.“
Kerschbaumer junior sah sie etwas erstaunt an.
„Ich heiße Sonja.“ Und als Kerschbaumer junior immer noch nicht seine Begriffsstutzigkeit ablegte, versuchte sie es mit Humor: „Es gibt nichts Komischeres, als sich vor einer Leiche zu siezen, findest du nicht, Jonas?“
„Nein, natürlich.“
Auf dem Dienstparkplatz der Questura hielt er ihr die Tür eines dunkelblauen VW Golfs auf. Sie schaute ihn kühl an. „Das war das erste und das letzte Mal. Ich kann die Tür schon allein öffnen und schließen.“ Dann schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. „Gib mir die Schlüssel, ich fahre und du hilfst mir bei der Orientierung, dann lerne ich am schnellsten die Gegend kennen.“
Jonas Kerschbaumer reichte ihr mit einem leichten Widerwillen in der verhaltenen Bewegung den Wagenschlüssel, dann nahm er etwas kleinlaut auf dem Beifahrersitz Platz, während Sonja mit schnellen Handgriffen Sitz und Spiegel einstellte und dann losbrauste. Eine Leiche ist doch etwas Reales, dachte sie, ein guter Anfang. Sie war heilfroh, dass sie die Trillerpfeife stecken lassen konnte.
Eigentlich hätte ich gar nicht erst zum Revier fahren müssen, dachte Sonja, als sie durch Eppan kamen und ihr Blick auf die Weinberge ihres Gutes fiel, an denen vorbei es zum Kalterer See ging. Kein Wölkchen am Himmel. Die Kitschpostkartenlandschaft mit dem dazugehörigen Wetter nervte sie. Zu schön, um wahr zu sein. Ihren Wagen nicht durch Straßenschluchten, wie sie es ein halbes Leben lang getan hatte, sondern durch malerische Täler zu lenken, erschien ihr unwirklich. Die Nervosität ihres jungen Kollegen, der mit den Fingern der rechten Hand auf seinem jeansbekleideten Oberschenkel spielte, als wäre er ein Klavier, riss sie aus ihren Gedanken.
„Wie ist es denn bei der Kripo in Frankfurt? Hattet ihr oft Mordermittlungen?“, fragte er, ohne sie anzusehen.
„Ich war dort bei der Mordkommission. Frage beantwortet?“
„Ja, das weiß ich, dass du da der Capo warst. Aber hattet ihr auch viel zu tun?“
„Mehr als uns lieb war“, antwortete Sonja und dachte unwillkürlich an den Fall des ermordeten Teenagers, den sie gezwungen gewesen war, ungelöst an ihren Nachfolger zu übergeben, und der ihr deshalb auf der Seele brannte. Wie chronische Schmerzen überfiel sie immer von Neuem das Gefühl, das tote Mädchen verraten zu haben. Nie hatte sie darüber nachgedacht, warum sie nach dem Psychologiestudium zur Polizei gegangen war, musste sie auch nicht, denn jedes Verbrechen zerstörte die Ordnung der Welt, die sie mit der Lösung des Falls wieder herstellte. Die Gerechtigkeit ist an die Heilung des Rechts gebunden, hatte ihr Vater immer gesagt. Wird das Recht nicht mehr durchgesetzt, enden wir in einer Räuberhöhle. Ach Vater, dachte sie und der Gedanke versetzte ihr einen Stich ins Herz. Sie griff zu ihrem Handy und wählte eine gespeicherte Nummer, stellte auf laut und legte das Handy in ihren Schoß. Nach dreimaligem Läuten meldete sich eine kratzige Männerstimme mit leicht hessischem Akzent: „Gümpel.“
„Hallo Lutz“, flötete Sonja möglichst lässig.
„Ah, Sonja. Langweilst du dich bei der Verkehrskontrolle?“
„Bin auf dem Weg zu einem Mord.“
Jonas Kerschbaumer entdeckte eine kleine Unmutsfalte in ihrem Gesicht, auf dem ansonsten ein Lächeln aus Stahl lag.
„Ach was?“, konnte man Gümpels Grinsen fast vor sich sehen. „Wenn du einen fachmännischen Rat brauchst, es war der Ziegenbock des Nachbarn.“ Ein Glucksen, das vermutlich ein Lachen sein sollte, kam aus dem Lautsprecher des Handys. Sonja bereute bereits, dass sie angerufen hatte, und ihre hohe Stirn legte sich sanft in Falten, als kräuselte ein kalter Wind eine Wasseroberfläche, ohne dass dadurch die Maske professioneller Freundlichkeit beeinträchtigt wurde.
„Ich wollte nur wissen, wie ihr im Fall Leventzow vorankommt?“
„Sonja, Sonnchen“, stöhnte es im Handy, „du weißt doch: keine Ermittlungsergebnisse am Telefon!“
„Also nichts, ihr habt nichts und ihr seid nicht vorangekommen! Ihr tretet auf der Stelle, verdammte Scheiße noch mal!“
„Sonja … Sonja“, war die Stimme aus ihrer Selbstgefälligkeit gefallen und wurde zunehmend nervöser. Doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Habt ihr die DNA durch alle Datenbanken gejagt?“
„Sind wir denn Anfänger?“
Sonjas Kopf bewegte sich skeptisch hin und her. „Und? Nichts!“ Auf die Bezeichnung „ihr Deppen“ verzichtete sie.
„Nein, nichts!“
„Habt ihr das Handy gefunden?“ Ihre Stimme vereiste.
„Nein, noch nicht.“
„Wann wollt ihr es dann finden? Am Sankt-Nimmerleins-Tag! Ihr hattet eine Woche Zeit! Eine Woche und: nichts!“ Inzwischen hatte ihre Stimme eine Unerbittlichkeit angenommen, dass Jonas heilfroh war, nicht in diesem fernen Frankfurter Fall zu ermitteln.
„Setz deinen verdammten Arsch in Bewegung, Gümpel, und hör auf, in den Spiegel zu glotzen, wie du auf dem Chefsessel aussiehst.“ Gümpel atmete schwer. Schließlich brüllte er in reiner Notwehr durchs Telefon: „Du bist nicht mehr meine Chefin, Sonja. Schon vergessen?“, und legte auf.
„Arschloch!“, fluchte sie und trat aufs Gaspedal, dass der VW aufjaulte und von 90 auf 160 km/h sprang.
„Wir sind zu schnell!“, sagte Jonas mit dünner Stimme.
„Was?“
„Wir sind zu schnell, Commissario Schwarz.“
Sonja warf einen Blick auf den Tacho, dann bremste sie abrupt, dass Jonas nur der Gurt davor bewahrte, gegen die Frontscheibe zu knallen, und fuhr mit der alten Geschwindigkeit weiter.
„Waren wir nicht beim Du?“, fragte Sonja plötzlich sanft und grinste.
„Ja“, sagte Jonas kleinlaut. „Der Kalterer Berg.“
„Was?“
„Da rechts, das ist der Kalterer Berg. Da hinauf, zum Mendelpass, führt die berühmte Mendelbahn.“
„Aha. Du wolltest nicht zufällig Fremdenführer werden?“
„Nein, ich denk ja nur, falls ihr am Wochenende Zeit habt.“
Sie warf ihm einen belustigten Blick zu. „Du meinst nicht, dass mein Mann die Gegend auch ein bisschen kennen sollte? Auch wenn er lange fort war?“
„Ja, natürlich, der Schwarz Thomas kennt sich natürlich auch aus.“
„Kennst du meinen Mann?“
„Nicht gut, eigentlich gar nicht. Ich bin ja viel jünger, als ich eingeschult wurde, ging er schon aufs Gymnasium.“
„Aber du kennst ihn?“
Jonas zuckte mit den Schultern. „Wie sich hier alle irgendwie kennen.“
„Stimmt, ihr liebt es etwas familiärer.“
„Sagt mein Vater?“
„Sagt Burger.“
„Ach so“, winkte Jonas mit einem aufgesetzten Grinsen ab. „Jetzt links halten.“
Sonja bremste, prüfte mit schnellem Blick aus den Augenwinkeln, ob ihnen ein Fahrzeug entgegenkam, blinken und das Steuer herumreißen waren dann eins. So bogen sie von der Hauptstraße in die kleine Straße, die eher einem ausgebauten Weg glich, jedenfalls für deutsche Verhältnisse. Über die Wiese zum See hin schwebte ein hellgelber Schleier von Pollen.
„Wolltest du meine Reflexe testen?“
Jonas Kerschbaumer schüttelte den Kopf. „Was ist das für ein Fall da oben in Frankfurt?“
Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. „Scheußliche Sache. Die Annemarie Leventzow ist … war ein sechzehnjähriges Mädchen, ihr Mörder hatte sie nackt in einer Waldhütte im Hochtaunus abgelegt, nachdem er sie abgestochen hatte, einfach so.“
„Abgestochen“, schluckte Jonas.
„Dass sie ausgerechnet den Gümpel zu meinem Nachfolger gemacht haben! Den Dümmsten der Abteilung. Aber Chefs lieben die Unfähigen, sie sind keine Konkurrenz, machen alles, was man von ihnen will, vor allem fügen sie sich den politischen Bedürfnissen der Chefs und im Notfall geben sie problemlos das ideale Bauernopfer ab.“
„Und wie hast du es dann geschafft, Capo zu werden?“
Über Sonjas Gesicht ging ein breites Lächeln. „Quote. Die Frauenquote! Sie brauchten endlich auch im wirklichen Leben Frauen als Leiter von Mordkommissionen – und nicht nur im Fernsehen.“ Der Gedanke bereitete ihr kurz Vergnügen, bevor sie wieder nachdenklich wurde und bitter auflachte: „Früher ging es um handfeste Ermittlungsarbeit, heute um Politikslalom! Verstehst du, zu viel Politik in der Polizeiarbeit. Ach, auch egal!“
Sie trug zwei Eimer mit frisch gemolkener Milch von der Weide und hielt auf ihre Hütte zu. Auf halbem Weg blieb sie stehen, stellte die Eimer ab, machte den Rücken gerade und wischte sich den Schweiß ab. „Teifi auch!“
Ihr Blick blieb an der Schaukel rechts neben der kleinen Veranda hängen. Von zwei schweren Haken, die im Querbalken eines alten, inzwischen wackeligen Holzgerüsts, das stets im Wind knarrte, verankert waren, hing an zwei vom Wetter gegerbten Seilen ein Holzbrett, die Schaukel.
Im Frühjahr war es ihr Erstes, die Schaukel wieder anzuhängen, im Spätherbst ihr Vorletztes, die Schaukel abzunehmen und zu verstauen.
„Ja, mah“, dachte, sprach sie halblaut. Eigentlich war die Evelyn viel zu alt für das Schaukeln, aber sie liebte es doch so sehr, von klein auf, immer schon hatte sie schaukeln wollen.
„Ja, mah“, dachte, sprach sie halblaut. Das war eben sehr praktisch, wenn sie die Kühe melken musste, das zwei- oder dreijährige Madl in die Schaukel zu setzen, die damals noch ein Holzrahmen umgab, dass das Madl nicht herausfallen konnte. Sie hatte die Schaukel dann angestoßen, sie – und manchmal auch ihr Mann –, und das Madl hatte gelacht, wenn die Schaukel sich mit ihr bewegte. Und später, da brauchte sie keinen Rahmen mehr, nur noch das Schaukelbrett und es musste sie auch niemand mehr anschubsen. Sie schaukelte allein, aber sie lachte immer noch dabei, so schön und so frei.
Und etwas später sagte sie dann immer: „Weißt, Mama, das ist wie Fliegen.“
„Wie Fliegen, hat sie gesagt“, dachte, sprach sie. Sah noch einmal zur im Wind schwingenden Schaukel, nahm die Eimer wieder auf und ging zum Haus.
Wenn die Evelyn doch endlich nach Hause käme!, dachte sie und wischte sich mit der Schulter eine Träne aus dem Augenwinkel, wobei sie etwas Milch aus dem Eimer verschüttete.
„Ja, mah.“
Der Bus hielt auf einem Parkplatz unterhalb des Santners. Laura hatte ihre Kopfhörer auf und genoss den wummernden Beat mit geschlossenen Augen. Sie saß allein auf der Bank, den Kopf auf die Kopfstütze des Sitzes gelegt. Die Landschaft interessierte sie nicht, sie sehnte sich nach Frankfurt und nach ihrer alten Klasse. Plötzlich nahm ihr jemand die Kopfhörer ab. Empört riss sie die Augen auf, hob den Kopf und sah in das moppelige Gesicht ihrer Biologielehrerin. Die könnte zu Fastnacht auch ohne Maske als Hamster gehen, dachte sie boshaft.
„Wir steigen aus, Laura.“
Doch Laura antwortete nicht, nickte nicht einmal, verpackte aber ihre Kopfhörer in ihrem kleinen schwarzen Rucksack. Sie war die Letzte, die den kleinen Bus verließ. Die Lehrerin, eine kleine gedrungene Frau in Lederhosen und kariertem Holzfällerhemd mit energischem Auftreten, begann die Gruppen einzuteilen. Durch das Rauschen eines Gebirgsbachs brandete ihre quäkige Stimme an Lauras Ohr: „Ach Hansi, nehmt doch die Laura bei euch mit.“
Ausgerechnet in die Gruppe von Johannes Gnaister, der sie bereits an ihrem ersten Schultag angemacht hatte und den sie daraufhin laut einen Skilehrertyp für ganz, ganz Arme nannte, wurde sie gesteckt. Maria, die Klassenschönheit, Maxi Hinterlechner, der sich nur fürs Bergsteigen interessierte, und der wortkarge Matteo Bandinelli, Matteo der Schweiger oder nur Schweiger genannt, trugen auch nicht zu ihrer Erheiterung bei. So stellte sie sich wortlos zu ihnen.
„Dein erstes Mal? Ich meine, deine erste Bergwanderung?“, grinste Hansi anzüglich.
„Trockenwichser“, gab sie gelangweilt zurück.
„He! He!“, beschwerte sich Hansi.
„Also denkt daran, versucht so viele verschiedene Pflanzen für eure Herbarien zu finden wie möglich. Lieber mehr wie weniger“, trompetete die Lehrerin.
„Als!“, rief Laura.
„Bitte?“, riss die Lehrerin die Augen auf.
„Es heißt als, lieber mehr als weniger!“, dozierte Laura herablassend.
Die Röte, die der Lehrerin ins Gesicht stieg, machte ihrem Holzfällerhemd ernsthaft Konkurrenz. „In Südtirol sagt man wie, Madl!“, verteidigte sie sich.
Die Biologielehrerin hatte sich vorgenommen, aus den einzelnen Herbarien der Schüler ein großes Schlern-Herbarium zu erstellen. Laura, die sich nicht für Pflanzen interessierte, empfand das als Kinderkram. Aber es half ja nichts. So zogen sie los. Während sich Hansi, Maria und Maxi über ihre Diskoabenteuer und über den neuen Hit von Rihanna unterhielten, trottete Laura still hinterher, gefolgt von Matteo, der wie immer schwieg. Der Weg stieg deutlich an. Sie atmete tief ein und genoss den würzigen Geruch von Kiefernnadeln und Harz.
„Kommt, nehmen wir eine Abkürzung“, zeigte Hansi auf einen Pfad, der steiler anstieg als die sich windende Serpentine.
„Geil“, freute sich Maxi und fuhr mit beiden Händen durch seine Haare.
„Hübsch alle hintereinander“, bestimmte Maria vollkommen überflüssigerweise, denn der Pfad war so schmal, dass er ohnehin nur einem Platz bot.
„Na, hast du jetzt wieder dein wirkliches Alter erreicht?“, keuchte Laura von hinten.
„Was meinst du?“, japste Hansi.
„Diese Pfadfinderspielchen sind doch was für Zehnjährige.“
„Halts Maul!“, antwortete Hansi barsch, der ebenfalls außer Atem war und inzwischen selbst wusste, dass es keine so glänzende Idee gewesen war, den Hauptweg zu verlassen.
Etwas später stießen sie auf ein kleines Plateau, auf das der Weg mündete. Eine Felswand, die sich mitten im Wald erhob, machte ein Weiterkommen unmöglich.
„Endstation“, meinte Maxi resigniert. Maria blickte sich auf dem kleinen Plateau um. „Suchen wir eben hier nach Pflanzen.“ Sie ließ sich aber erst mal auf den Stamm eines vor Ewigkeiten umgekippten Baums nieder. „Okay“, brummte Matteo, nur um gleich darauf wieder zu verstummen. Er setzte sich neben sie und kurz darauf auch Maxi, der sein Jausenpaket auspackte. „Gute Idee!“, lobte Maria. Laura machte einen Schritt auf den Stamm zu, um sich danebenzusetzen.
„He, das ist der Bringer“, juchzte Hansi plötzlich auf und zog damit sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Auch Lauras. Er stand zwischen einem Baum und der Felswand. Laura ging zu Hansi, gefolgt von den drei Mitschülern, und sah nun auch, was er entdeckt hatte, einen breiten Spalt im Fels.
„Eine Höhle, eine richtige Höhle“, triumphierte Hansi.
„Krieg dich mal wieder ein, Pumuckl“, kommentierte Laura lässig.
„Pumuckl“, kicherte Maria erfreut.
Hansis Gesicht zog sich zusammen, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Die seltensten Pflanzen finden wir da drin. Also, wer traut sich rein?“ Mit diesen Worten kramte er eine kleine silberne Stabtaschenlampe aus seinem Rucksack und reichte sie Laura. „Oder hast du nur ’ne große Klappe?“
Mit geringschätzigem Lächeln nahm sie die Taschenlampe entgegen, ein wenig mulmig war ihr schon zumute, doch die Blöße zu kneifen, wollte sie sich vor diesen Hinterwäldlern nicht geben. Laura nahm ihren Rucksack ab, reichte ihn Matteo, schaltete die Taschenlampe ein und zwängte sich durch den Spalt. Ein modriger Hauch schlug ihr entgegen, so wie sie auch das Gefühl anwehte, alle Fröhlichkeit hinter sich zu lassen. Rechts und links an den Wänden krabbelten Insekten, Tausendfüßler, Spinnen, Asseln, um aus dem grellen Strahl der Taschenlampe wieder in die schützende Dunkelheit zu entkommen. Auf dem Boden hatten sich wie ein Teppich zerfallendes Pflanzenmaterial, Reste von Wurzeln auf das Gestein gelegt. Der Gang vor ihr weitete sich zu einer Grotte. Etwas griff kalt nach ihrem Herzen, etwas unendlich Trauriges. Sie hob die Taschenlampe und leuchtete die Felsenkammer aus, bis sie auf etwas stieß, das sie sich zunächst weigerte wahrzunehmen. Wie angewurzelt blieb sie stehen und starte auf das Unfassbare. Sie hatte die Wendung, dass jemandem das Blut in den Adern gefriere, immer für übertrieben, für uncool gehalten. Wer redet schon so? Doch jetzt gefror ihr das Blut in den Adern. Und dann befreite sich das Entsetzen aus ihrem Innern. Ein Schrei, der nach draußen drang und die anderen kalt erwischte. Unwillkürlich machte Hansi ein, zwei Schritte zurück, doch Matteo der Schweiger betrat kurz entschlossen die Höhle, gefolgt von Maxi. Während Hansi blass um die Nase zu Maria sagte: „Die blufft nur.“ Doch daran glaubte er nicht einmal selbst.
Vor den beiden Polizisten breitete sich eiförmig der Kalterer See mit seiner glatten Fläche aus, starr wie blaues Eis, weil in diesem Moment selbst der feinste Windhauch fehlte.
„Und wie ist es hier?“
Jonas zog die Mundwinkel nach unten. „Den letzten Mord hatten sie, noch bevor ich von der Polizeischule kommen bin. Seitdem nur Diebstahl und Betrügereien. Weißt schon, nichts Besonderes.“ Jetzt verstand Sonja die Nervosität ihres jungen Kollegen, es würde sein erster Mordfall werden.
„Aufgeregt?“
„Nein“, log er und setzte ein selbstbewusstes Lächeln auf, das lässig wirken sollte. Sie würde ein Auge auf ihn haben müssen, dass ihm im Übereifer keine Ermittlungsfehler unterliefen, die sich später im Gerichtssaal rächten.
Den See umgaben Weinberge, die den Berg hinaufkletterten, bis der dichte Wald ihrer unbeschwerten Ausbreitung Einhalt gebot und schützend die Ruine Leuchtenburg umgab, die mit ihrem rauen und gebieterischen Charme die Gegend und den See beherrschte, trotzig-trutzig wie ein Untoter, der in seinem Gewand aus grauschwarzem Gestein die Zeiten überdauerte.
Sonjas Aufmerksamkeit fesselte nun doch das Panorama des Sees, die anmutige Lage der Ansitze, die sich, umgeben von Weinbergen, bis zum See vorwagten. Sie spürte, wie der Anblick sie beruhigte, und zum ersten Mal, seit sie vor ein paar Tagen aus Frankfurt nach Südtirol gekommen war, ließ sie den Gedanken zu, dass sie hier vielleicht doch recht gut leben würde, auch wenn sie nur Berge und keine Hochhäuser um sich herum und auch kein Meer vor sich hatte.
„Jetzt wieder links“, rief ihr Jonas zu.
„Aber das ist kein Weg.“
„Und gleich neben der Straße halten, sonst versinken wir.“
Sonja parkte neben einem Wagen der Polizei, einem Škoda Citigo, grasgrün, und einem Notarztwagen. Während sie in geringer Entfernung zwei Polizisten dabei beobachtete, wie sie den Tatort absperrten, hörte sie Jonas zu. „Das Südufer ist ein Biotop. Der Boden ist weich bis sumpfig. Und das Schilf steht dicht am Ufer.“
„Aha.“ Sie näherten sich mit wenigen Schritten der Absperrung. Einer der beiden Polizisten, ein junger, der besser in eine der ewigen Volksmusiksendungen passte, schwarzes, glänzendes, gegeltes Haar, blauäugig, gut gebaut und mit dem einfältigen Gesichtsausdruck des Schnulzensängers, befestigte gerade das Absperrband an einem Eisenstab, den er vorher in den Boden gedrückt hatte. Er blickte lässig auf und grinste. „Grüß dich, Jonas, hast deine Freundin mitgebracht?“
Sonja nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass ihr neuer Kollege rot anlief. Sie holte ihren Ausweis aus der Innentasche der Lederjacke und hielt ihn dem Polizisten so dicht vor die Augen, als vermutete sie, dass er kurzsichtig sei. „Commissario Schwarz. Wo ist die Leiche? Agente Scelto?“
„Ludolfer.“
„Ich hoffe, Sie haben uns nicht den Tatort zertrampelt, Agente Scelto Ludolfer.“
„Sackra“, entfuhr es ihm. „Wo denkens hin? Na, na, hob i net. Aber kommens.“ Man spürte, dass Ludolfer innerlich stramm stand, jedenfalls stakste er stocksteif voran. Vielleicht wollte er auch nur demonstrieren, dass, wenn eine Spur am Tatort aus Unachtsamkeit zerstört worden war, dann nicht durch ihn. Sonja verkniff sich ein Grinsen.
„Singen Sie eigentlich in Ihrer Freizeit, Agente Scelto Ludolfer?“
„Ja? Warum?“, fragte er verblüfft.
„Dacht ichs mir“, stellte sie befriedigt fest. „Ein schönes Hobby für einen Polizisten.“ Dann ging sie schon weiter, zufrieden damit, den selbstgefälligen Polizisten verunsichert zu haben. Der andere zog weiter die Absperrung um den Tatort. Die Wiese stand in voller Blüte. Rosa leuchtete Rosmarinheide und blau die Akelei, gelb der Tragant und im zartesten Weißrosé die Schwanenblume, und in weiß-roten Tuffs stand der Mannschild, Pflanzen, die Sonjas Blick im Vorbeigehen streifte, und die sie sich bemühte, nicht zu zertreten, auch wenn sie von keiner den Namen kannte. Auf der Straße hatten inzwischen Autos gehalten, aus denen Menschen ausgestiegen waren. Sonja gab dem zweiten Polizisten ein Zeichen, der sogleich seine Absperrarbeiten unterbrach, zu seinem Auto ging, eine Kelle herausnahm und zur Straße ging.
Wenige Schritte nur, dann hatten Sonja und Jonas die kleine Gruppe erreicht, die aus einem weiteren Polizisten, einer fülligen, aber erstaunlich beweglichen, dunkelblonden Frau, einem etwas abseits stehenden Mann mit einer leichten grauen Jacke und Lederhosen, in denen Sonja Knickerbocker vermutete, was aber nicht sicher war, denn er steckte handbreit über den Knien in großen schwarzen Gummistiefeln. Die blonde Frau hatte sich über einen am Boden liegenden Mann gebeugt, von dem sie zunächst nur die hellbraunen Sohlen seiner Budapester zu sehen bekam. Unter ihren Füßen gab der Boden leicht schwingend nach, als ob man auf Schwämmen lief. Das Feuchtbiotop, erinnerte sie sich. Ein Eldorado für die Spurensicherung, dachte sie sarkastisch. Motorgeräusche, die von der Straße zu ihr drangen, informierten sie darüber, dass es dem Polizisten gelungen war, die Schaulustigen zu vertreiben.
Dann stand sie vor der Leiche, einem circa zwanzigjährigen Mann, im Hugo-Boss-Anzug mit weißem Hemd. An seiner linken Hand funkelte die Rolex in der Sonne, die nun nicht mehr für ihn schien.
Angeber, dachte sie.
„Aber das ist doch der Brunner Daniel!“, entfuhr es Jonas.
Ohne ihren Blick von der Leiche abzuwenden, fragte sie: „Du kennst ihn?“
„Sein Vater besitzt in Auer eine Kellerei.“
„Muss ja gut gehen“, sagte sie mit Blick auf die Kleidung und die Rolex.
„So gut auch nicht. Der Brunner Daniel hat überall Schulden. Selbst in der Kellerbar lässt er anschreiben.“
Sonja nickte leicht. Sie registrierte, dass ihr neuer Mitarbeiter eine Kellerbar besuchte, beschloss aber, ihn darauf nicht anzusprechen. Die Blonde, die über dem Toten kniete, erhob sich und grüßte die beiden mit einem gewinnenden Lächeln. Ihre glasklaren Augen leuchteten in einem unwahrscheinlichen Blau, deren Lachen mit dem ihrer knallroten Lippen wetteiferte. „Heidi Grüner. Ich bin die Pathologin.“
„Sonja Schwarz. Ermittelnde …“
„Ah, Sie kommen aus Deutschland, Commissario, ermittelnde Beamtin sagt hier nämlich keiner.“ Sonja konnte den Blick nicht von ihren Augen lassen, ein solches Ozeanblau hatte sie nie zuvor gesehen.
„Todeszeitpunkt?“
„Schwer zu sagen, die Leiche hat im Wasser gelegen.“
„Todesursache?“
„Wollen Sie Vermutungen oder Fakten?“
„Fakten und eine Prognose, denn erschossen hat man ihn offensichtlich nicht.“
„Nein, und auch nicht enthauptet, denn der Kopf ist ja noch dran.“ Die Pathologin schaute Sonja mit einem spöttischen Blick an, als ob sie fragen wollte: Genügt das als Prognose? „Also, was ich bisher sagen kann, ist, dass er ein Trauma an der linken Kopfseite hat. Sieht aus, als sei der Schlag seitwärts von oben geführt …“
Während Heidi Grüner sprach, war Sonja noch einen Schritt auf den Toten zugegangen und musterte ihn. „Dann müsste der Täter über zwei Meter fünfzig gewesen sein oder das Opfer war bereits auf den Knien, als der Schlag niederging.“
Heidi Grüner nickte. Es gefiel ihr, dass die neue Kommissarin offensichtlich ihr Handwerk verstand. „Außerdem habe ich Hämatome im Nacken gefunden.“
„Dann hat ihn jemand festgehalten“, schlussfolgerte Jonas schnell, bevor ihm jemand zuvorkam, schließlich war es auch sein Fall. Doch seine Sorge war unbegründet, denn Sonja schaute zum Schilf und zum See.
„Unwahrscheinlich“, sagte sie zu Jonas. „Es hat ihn jemand mit dem Kopf unter Wasser gedrückt.
„Damit könnten Sie recht haben, Commissario Schwarz, denn ich habe feinblasigen Schaum in der Nase gefunden.“
„Der entsteht meist durch den Hustenreflex nach unwillkürlichem Einatmen von Wasser“, erklärte Sonja dem neben ihr stehenden Jonas, der nun doch ein wenig unglücklich dreinschaute.
„Mehr sage ich aber erst, wenn ich den jungen Mann bei mir auf dem Tisch in der Pathologie gehabt habe …“ Weiter kam sie nicht, denn ihr Handy klingelte. Sie hatte kaum die ersten Worte gehört, als ihr Gesicht rot anlief. „Ja gut, da kann man halt nichts machen. Kurier dich erst mal aus, Theresa.“ Sie klappte ihr Handy zu, dann fluchte sie aus tiefstem Herzen. „Mist.“
„Ist etwas passiert?“
„Mein Babysitter hat mir gerade abgesagt. Ich muss meinen Mann ablösen, der hat in anderthalb Stunden einen wichtigen Termin“, sagte sie und lief zu ihrem Citigo.
„Und der Tote?“, rief ihr Sonja hinterher.
„Wird daran nicht sterben, wenn ich mich ihm später widme. Außerdem muss er sowieso erst in die Pathologie überführt werden“, antwortete sie, während sie in ihr Auto stieg und mit durchdrehenden Rädern losbrauste.
„Hier geht offensichtlich Privat vor Katastrophe“, resümierte Sonja missbilligend und ging kopfschüttelnd auf den Mann in den Knickerbockern zu, während ihr Ludolfer zuraunte, dass er der Finder der Leiche war.
„Sie haben also den Toten entdeckt?“, fragte sie den Endvierziger, der eine runde Hornbrille trug und dessen spärliches und dünnes aschblondes Haar in Strähnen an seinem ovalen Kopf klebte, während ihm der Schweiß von der Stirn triefte, den er regelmäßig mit einem großen weißen Taschentuch mit violettem Rand abwischte. Sonja versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal so ein klassisches, antik anmutendes Herrentaschentuch gesehen hatte. Der Mann machte eine leichte Verbeugung: „Olearius, Karsten Gerolf, Koleopterologe.“
„Bitte was?“, fixierte ihn Sonja.
„Käferforscher. Sehen Sie, junge Dame. Ich erforsche Käfer. Viele finden das lächerlich, aber genau genommen sind wir ja alle nur Käfer. Mich interessieren vor allem die Georissinae, diese kleinen, süßen, schwarzen Tunichtgute, die über das Wasser laufen und im Schilf ihren täglichen Mutwillen treiben. Oh, wollen Sie mal einen der entzückenden kleinen Racker sehen, ich habe da selbst …“, sagte er, während er an der ledernen Seitentasche, die an seinem Gürtel hing, nestelte. Doch Sonja hob nur abwehrend die Hände: „Sie haben also die Leiche gefunden.“
Olearius ließ ob so viel Desinteresses enttäuscht die Hände sinken und schaute aus seinen kleinen Augen Sonja an. „Ja. Stellen Sie sich vor, wie ich durchs Schilf brach, langsam, vorsichtig meine Schritte setzend, wir Koleopterologen sind ja Jäger und Sammler zugleich, um nicht die ganze Kolonie der …“
„… haben Sie die Leiche entdeckt.“
Verärgert darüber, dass sie seine Geschichte abkürzte, patzte er: „Ja, da schwamm der Kerl, auf dem Bauch. Ich bin zu ihm, habe ihn aus dem Wasser gezogen, durch das Schilf, aber er war schon tot. Das war eine doch allzu üppige Arbeit.“
„Käfer sind nicht so schwer“, sagte Sonja trocken.
Über das Gesicht des Käferforschers lief ein Lächeln. Er fühlte sich auf einmal verstanden. „Richtig, richtig. Ich hole also mein Handy aus meiner Handytasche, die übrigens meine Tante ihrem Lieblingsneffen aus reinem Ziegenleder genäht hat, und die zuvor an dem dafür vorgesehenen Ort in der Innentasche meines Sakkos …“
„… und haben die Polizei angerufen.“
„Ja, aber was mir dann widerfuhr, das glauben Sie nicht.“ Olearius machte ein wichtiges Gesicht und legte eine wohlberechnete Pause ein.
„Was denn?“, fragte Jonas.
Olearius schüttelte den Kopf. „Wirklich kaum zu glauben, wie im allerschlechtesten Film, aber ich musste eine ganze halbe Stunde warten, bis Ihre Kollegen endlich eintrafen, eine ganze halbe Stunde, allein mit der Leiche. Ich wäre fast gestorben vor …“
„Angst“, ergänzte Jonas voreilig. Doch Olearius schüttelte nur den Kopf und antwortete schmallippig: „Vor Zeitverlust, junger Mann.“
Sonja hatte längst nicht mehr zugehört, sie beschäftigte eine ganze andere Frage. „Warum hier? Für einen Mord gibt es sicher ein lauschigeres Plätzchen“, fragte sie laut.
„Das will ich nicht sagen. Im Schilf ist es doch recht lauschig und dann denken Sie nur an die lieben, kleinen Wasserkäfer … denken Sie nur an den Hydrous piceus oder an den süßen kleinen Berosus luridus und den drolligen Geotrupes stercorarius, aber der lebt ohnehin am liebsten im Mist. Wie der Name schon sagt – Mistkäfer. Nur schade, dass die Leiche noch so sehr, geradezu unanständig frisch und daher für die Wissenschaft unbrauchbar ist.“
„Wieso?“
„Der Piceus ist zwar ein Pflanzenfresser, aber seine Larven ernähren sich durchaus von Fleisch. Ein interessanter Prozess. Stellen Sie sich vor, sie wäre etwas älter und hätte den Larven sozusagen eine gute Heimstatt gegeben, reichlich Mahl und Schutz …“ Jonas spürte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen.
„Schön, das Schilfufer ist geschützt, aber die Landstraße ist, wie wir gesehen haben, befahren. Warum also hier?“
„Der See liegt nicht weit von Auer“, sagte Jonas unsicher.
Sie lächelte kurz. „Gut. Das ist ein Grund. Er könnte mit seinem Mörder entweder auf dem Weg zur oder von der Kellerei seines Vaters gewesen sei. Ach Jonas, lass dir von Herrn Olearius die Stelle zeigen, wo er die Leiche gefunden hat und fotografier mit deinem Handy Fundort und Umgebung. Vielleicht findest du auch was im Wasser.“
Jonas fielen fast die Augen aus den Höhlen. „Aber da muss ich doch durchs Schilf und in den See.“
„Ja, und?“
Er blickte an seinen Hosenbeinen runter auf seine leichten Treter, die er trug. „Ich habe keine Stiefel an.“
„Mordermittlungen sind nichts für Weicheier!“, rief ihm Sonja aufmunternd zu, bevor sie sich abwandte und zur Straße ging. Sie fragte sich, wo der Mörder den Wagen abgestellt hatte.
„Kommen Sie, Commissario, kommen Sie“, hörte sie in ihrem Rücken Olearius, der Jonas Kerschbaumer in den See führte, neidvoll schaute der dabei auf die Stiefel des Käferforschers. „Und lassen Sie bloß die Schuhe an, Sie könnten sich sonst im Schilf verletzen. Halten Sie sich an mich, immer schön dicht hinter mir …“
Ludolfer zeigte ihr eine tiefe Spur kurz vor dem Schilf, die von dem Wagen des Täters stammen könnte und die sie genau betrachtete und mit ihrem Handy aufnahm.
„Allradantrieb, sonst wär der steckengeblieben“, kommentierte Ludolfer das in den weichen Boden eingedrückte Profil.
„Sichern Sie die Spur und führen Sie nachher die Forensiker hierher. Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich.“ Sie tippte auf einen Audi, BMW oder Mercedes, jedenfalls auf einen schwereren Wagen. Dann klingelte ihr Handy. Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass ihre Tochter sie anrief. Auf ihre herben Züge fiel eine Weichheit. „Ja, mein Schatz.“ Beim Zuhören gefror allerdings ihre Miene. „Was? … Ich komme, ich bin auf dem Weg. Wo, sagst du? … Unterhalb vom Santner, in der Nähe vom Weißenbach? Okay. Ist jemand bei dir? … Okay, bleibt zusammen und rührt euch nicht vom Fleck.“ Sie wählte die Nummer der Carabinieri, stellte sich mehr schlecht als recht auf Italienisch als Polizistin vor, bat, sofort Beamte an den Tatort zu schicken und Pathologie und Forensik zu alarmieren, und gab die Handynummer ihrer Tochter durch, damit die Carabinieri sich exakt leiten lassen konnten.
„Sto arrivando.“ Dann wandte sie sich an den Polizisten: „Hören Sie, Ludolfer. Wir müssen dringend zu einem weiteren Fall. Sie sind mir verantwortlich, dass das Opfer ordnungsgemäß in die Pathologie überführt wird und dass die Spurensicherung in Ruhe ihrer Arbeit nachkommt. Achten Sie auf die Absperrung! Ich will nur befugte Personen am Tatort haben. Nehmen Sie die Aussage von Olearius auf, lassen Sie sich seine Adresse geben und fragen Sie ihn, wie wir ihn erreichen können, falls wir noch Fragen haben. Bekommen Sie das hin?“
Ludolfer nahm Haltung an und sah jetzt gar nicht mehr wie ein verkleideter Schnulzensänger aus. „Zu Befehl, Commissario.“
„Ich zähle auf Sie“, sagte Sonja und sah ihm dabei tief in die Augen, dann wandte sie sich ab und eilte zum Seeufer. Vor dem Schilf blieb sie stehen und brüllte: „Jonas! Komm! Beeil dich. Mach schon. Es brennt!“
Der Befehl ereilte Jonas just an der Stelle, an der Olearius die Leiche gefunden hatte. Fluchend tapste er so schnell es ging durch das Wasser, durch das Schilf und stand mit bis zu den Knien triefender Jeans am Ufer. Sonja erreichte im selben Augenblick das Auto. „Nun, beeil dich!“, rief sie ihm über die Wiese zu. Jonas Kerschbaumer stürmte zum Wagen, wobei er aufpassen musste, mit seinen nassen Tretern auf dem Gras nicht auszurutschen. Dann schwang er sich auf den Beifahrersitz.
„Nach Seis?“
„Rechts. Die Straße wieder zurück, nach Bozen …“ Er hatte sich noch nicht einmal angeschnallt, da war sie schon mit Vollgas losgebraust.
„Wie lange brauchen wir?“
„Eine Stunde.“
Sie benötigte keine Stunde, eine halbe Stunde später standen sie bereits auf dem Parkplatz, von dem der Wanderweg zum Santner hochging. Und Jonas war heilfroh, wohlbehalten und unversehrt aus dem Auto wieder aussteigen zu können. „Bist du mal Formel 1 gefahren?“
„Nur für den Fall, dass du zur Frankfurter Kripo wechseln willst – gehört dort zur Einstellungsvoraussetzung!“
Ein Carabiniere erwartete sie bereits auf dem Parkplatz. Sonja lief zu ihm und hielt ihm ihren Dienstausweis vor die Nase. „Commissario Schwarz.“
„Carabiniere Scelto Orlando Ragusi, Commissario“, salutierte der Polizist. Und fügte hinzu: „Seguitemi!“
„Folgen Sie mir“, übersetzte Jonas. Sonja verdrehte die Augen, so weit reichte auch ihr Italienisch noch. Auf dem Weg zur Höhle erstattete Ragusi Bericht. Eine Schulklasse des Walther-von-der-Vogelweide-Gymnasiums in Bozen habe einen Ausflug gemacht, wobei ein paar Schüler in einer Höhle einen grausigen Fund gemacht hätten. Sie verzichtete darauf, den Carabiniere darüber aufzuklären, dass die Meldung an seine Dienststelle von ihr kam und dass zur Gruppe der Schüler ihre Tochter gehörte. Sonja vermied es, Zeit durch überflüssige Diskussionen zu verlieren, weil sie so schnell wie möglich bei Laura sein wollte.
„Ma come si può essere così crudeli. Poveri bambini ad aver visto una scena del genere. Spero che la catturano sta bestia“, sagte der junge Polizist voller Abscheu. Sonja stürmte den Weg hoch, wurde jedoch von dem Carabiniere an die Stelle zurückgerufen, wo der kleine Pfad abzweigte. Dass sie nun hinter dem Polizisten herlief und nicht mehr das Tempo zu bestimmen, vor allem zu erhöhen vermochte, verdross sie.
Und dann erreichten sie endlich den Platz vor der Felswand. Fünf Carabinieri hatten den Fundort abgesperrt. Die Schüler saßen auf dem umgestürzten Baum, unter ihnen kalkweiß Laura. Als das Mädchen ihre Mutter sah, sprang es auf und lief ihr in die Arme. „Ist ja gut. Du musst nichts sagen. Nicht jetzt. Ich schau es mir erst mal an.“ Laura zog die Nase hoch, aber auch ihre Mitschüler wirkten blass.
„Ich bin gleich wieder bei dir.“ Dann trat sie in die Höhle, die inzwischen gut ausgeleuchtet war, weil die Spurensicherung ihre Arbeit bereits aufgenommen hatte. Auf einem fauligen, grünschimmernden Holztisch, der sie entfernt an einen altes IKEA-Modell erinnerte, lag ein Skelett. Wie auf einem Altar, schoss es Sonja durch den Kopf. Es wirkte wie drapiert. Etwas Goldenes erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie griff in ihre rechte Jackentasche und holte zwei Paar Handschuhe heraus, die sie überzog, und zwar übereinander, während sie zum Skelett ging. Mit spitzen Fingern griff sie nach dem Amulett, das sie musterte, bevor sie es in eine Beweismitteltüte gleiten ließ.
„Warum zwei Paar“, fragte Jonas verdutzt.
„Hat man euch das auf der Polizeischule nicht beigebracht? Beim Anziehen des ersten Paars überträgst du deine eigenen Spuren auf den Handschuh, erst beim zweiten schließt du die Gefahr aus, wenn du Handschuhe mit Handschuhen anziehst, capito?“
„Vorsicht, Commissario, zerstören Sie uns keine Spuren.“
„Ich sehe nichts.“
„Der Staub.“
„Der Staub?“
„Was er enthält, ist wichtig. Es hat den Anschein, dass es eine ungewöhnliche Konzentration von Blumensamen gibt.“
„Sie meinen, dass die Leiche von Blumen umrankt war?“
„Ja, aber das kann ich erst nach der Analyse im Labor sagen.“
Sie drehte sich zu Jonas um. „Eine Visitenkarte, bitte. Ich habe noch keine.“
„Ach so, ja, na klar.“
Sonja schrieb auf die Karte ihren Namen und reichte sie dem Forensiker. „Rufen Sie mich bitte sofort an, wenn Sie etwas haben.“ Der Mann nickte. Sie traten wieder aus der Höhle. „Bisschen viel auf einmal“, meinte sie. Jonas nickte. „Jahrelang nichts und dann gleich zwei Fälle auf einmal. Du scheinst den Mord anzuziehen, Commissario.“
Sie maß ihn mit einem langen Blick. „Warte hier.“ Sie ging ein paar Schritte von ihm weg, rief ihren Mann an, umriss kurz, was sich ereignet hatte, und bat ihn, Laura abzuholen. Dann ging sie zu ihrer Tochter und ließ sich von ihr und ihren Mitschülern berichten, wie es zu der Entdeckung kam. Die polizeiliche Routine half ihr, nicht darüber nachdenken zu müssen, dass sie ihre Tochter befragte.
„Hat dieser arme Mensch dort lange gelegen?“, fragte Laura.
„Mindestens neun oder zehn Jahre, aber wie lange und wer er war, werden erst die Ermittlungen ergeben.“ Sie nahm ihre Tochter in die Arme, die sich kurz anschmiegte, sich dann aber wieder frei machte. „Weißt du Mama, so schlimm ist es auch nicht, ein bisschen, denkt man sich die Höhle weg, wie im Naturkundemuseum. Und in unserem Biokabinett steht auch ein Skelett.“