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Ausgehend von der formalen und inhaltlichen Differenz von Chor- und Sprechpartien innerhalb der Tragödie bietet dieser Band eine ausführliche Interpretation und Einordnung aller chorischen Äußerungen in den sieben erhaltenen Tragödien des Sophokles. Das Phänomen 'Chor' wird dabei zunächst in seiner lebensweltlichen und literarischen Bedeutung verortet, bevor mit den im Titel genannten Punkten "Person, Reflexion, Dramaturgie" die Maßstäbe der Interpretation abgesteckt werden. Der Fokus liegt auf der Gestaltung der einzelnen Partien, ihrer Einordnung sowie den damit verbundenen dramaturgischen Absichten. Dabei kann gezeigt werden, dass zwischen der chorischen dramatis persona, den spezifischen Reflexionsstrategien der einzelnen Lieder sowie der dramaturgischen Funktionalisierung des Chors ein innerer, wesensmäßiger Zusammenhang besteht. Neben einem vertieften Verständnis der einzelnen Chorpartien sowie der Tragödien bezüglich Struktur und Wirkabsicht bietet der Band eine Gesamtschau des sophokleischen Chorgebrauchs.
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Seitenzahl: 1581
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Bastian Reitze
Der Chor in den Tragödien des Sophokles
Person, Reflexion, Dramaturgie
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0051-9
in memoriam amici
Marc Baum
1985–2014
Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung der gleichnamigen Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie, die dem Fachbereich 07 Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im November 2015 vorgelegt wurde; das Promotionskolloquium fand im Juli 2016 statt.
Es ist mir eine freudige Pflicht, an dieser Stelle einer Reihe von Personen meinen Dank auszusprechen. Allen voran danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Jochen Althoff (Mainz), der das Entstehen dieser Arbeit sowie meine Studien im Ganzen stets mit besonderem Interesse, persönlichem Einsatz sowie Rat und Hilfe begleitet und gefördert hat.
Frau PD Annemarie Ambühl (Mainz/Leiden) danke ich für die Übernahme des Korreferats sowie manchen wertvollen Hinweis. Auch den weiteren Gutachtern, den Mainzer Professoren Wilhelm Blümer, Tamara Choitz und Ulrich Volp, gilt mein besonderer Dank.
Herrn Prof. Bernhard Zimmermann (Freiburg) danke ich sehr für die unkomplizierte Aufnahme der Arbeit in die DRAMA-Reihe; dem Narr Verlag Tübingen, im Besonderen Herrn Tillmann Bub, bin ich für die reibungslose Zusammenarbeit bei der Realisierung des Buchs, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses sehr dankbar. Mein Dank gilt zudem allen ehemaligen Lehrern, Freunden und Bekannten, die mir beim Korrekturlesen der Arbeit geholfen haben.
Besonders verbunden bin ich darüber hinaus dem Gymnasium an der Stadtmauer, Bad Kreuznach, den Damen und Herren Karl-Ulrich Nordmann, Johannes Th. Thormaelen, Etta Engelmann, Dr. Hans Lier, Renate Peukert, Gunthard Müller und Benedikt Kloppenborg – sowie freilich dem ganzen Mainzer ‚Seminar für Klassische Philologie‘, im Besonderen Frau Dr. Rebekka Schirner, Frau Simone Arzt sowie meinen collegis maioribus und Freunden Günter Böckeler und Dr. Wolfram Brinker.
Für ihren Rat, ihren Zuspruch und ihre Freundschaft (weit über die Angelegenheiten des Verfahrens hinaus) danke ich einer Reihe lieber Menschen, im Besonderen Tobias Chr. Weißmann, Jacqueline Beisiegel und Ina Maria Theile.
Von Herzen danke ich schließlich meiner Mutter Claudia Reitze sowie meiner Frau Johanna Reitze, ohne deren Unterstützung, Geduld und Rückhalt dieses Buch, wie so vieles, nicht hätte entstehen können.
Gewidmet ist die Arbeit dem Andenken meines Schul- und Studienfreundes Marc Baum. Nur allzu gerne würde ich mit ihm noch einmal über Literatur, Philosophie und die Gegenstände dieses Buches sprechen. Sein Humor, sein wacher Verstand und sein unglaublich feines Gefühl für Sprache und Dichtung bleiben mir unvergessen.
Mandel, im Juni 2017 Bastian Reitze
In dieser Einleitung soll mit dem tragischen Chor das Thema der Untersuchung, das der Interpretation zu Grunde liegende Konzept sowie die im Hauptteil angewandte Methode vorgestellt werden. Aufgabe dieser Einleitung ist es dabei einzig, den Rahmen der eigentlichen Untersuchungen abzustecken; sie ist dementsprechend möglichst kurz gehalten und verweist regelmäßig auf weitere Forschungsliteratur, die bei weitergehenden Fragestellungen oder dem Wunsch nach thematischer Vertiefung im Einzelnen konsultiert werden kann.
Der Forschungsabriss (II) sucht dabei, die vorliegende Arbeit innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung zu verorten und benennt grundlegende Ansichten und Konzepte, die dieser Arbeit zu Grunde liegen. Im Sinne einer thematischen Hinführung soll der folgende Abschnitt (III) zunächst die Verankerung des Phänomens „Chor“ in der griechischen bzw. attischen Lebenswelt, dann die Eigenheiten der chorischen Dichtung, schließlich die Verbindung zwischen Chor und Tragödie kurz aufzeigen. Mit dem Chor als festem Formteil der Tragödie, wie sie uns vorliegt, beschäftigt sich der letzte Unterabschnitt.
In Abschnitt IV sollen daraufhin die für die Einzelanalysen zentralen Konzepte chorischer Reflexion und ihrer basalen dramaturgischen Funktionalisierung ausgeführt werden, bevor der die Einleitung beschließende Abschnitt V konkret das Ziel und die Methode der Arbeit formuliert und einige praeliminaria angibt.
In ihrer „Introduction“2 gibt KITZINGER einen kenntnisreichen und konzisen Überblick der neuesten (hauptsächlich der angelsächsischen Forschung entstammenden) Positionen hinsichtlich des Chors und seiner Verwendung in der attischen Tragödie. Entsprechendes leistet GRUBER in seinem umfangreichen Methodenkapitel mit speziellem Blick auf die deutschsprachige Forschung.3 Eine besonders weite Perspektive nimmt GOLDHILL in seinem Abriss zur modernen Forschungsgeschichte ein.4 Auf diese Überblicke sei hier besonders verwiesen. Einen speziellen Fokus auf die Aufarbeitung des neunzehnten Jahrhunderts legt SILK5, der sich mit Hegel und Nietzsche einem über die eigentliche altphilologische Beschäftigung hinausgreifenden Rahmen zugewendet hat.
Als prägend für die allgemeine Beschäftigung mit dem Phänomen „Chor“ innerhalb der Tragödie (und dort im Besonderen für die deutsche Forschung) hat sich die auf KRANZ zurückgehende Angabe dreier „Funktionen“ des Chors erwiesen.6 Dem Chor, so die von MÜLLER zitierte Version, wird dabei zugeschrieben, „erstens Person des Stücks zu sein, zweitens Instrument zur Begleitung, Gliederung, Vertiefung und drittens ‚Organ des dichterischen Ich‘“.7 Auch wenn diese griffige Dreiteilung weder der Komplexität des Phänomens „tragischer Chor“ noch der umfangreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung gerecht zu werden vermag,8 bietet es sich an, an ihr als einem Leitfaden einige wesentliche Deutungsansätze auszuführen und die vorliegende Arbeit im Kontext der Sekundärliteratur zu verorten.9
Es erscheint ratsam, die von KRANZ als letzte aufgeführte Funktion des Chors hier in aller Kürze als erstes zu behandeln: Die auf im Wesentlichen Schlegel und Schiller zurückzuführende Anschauung des Chors als „Sprachrohr des Dichters“ bzw. als „idealisiertem Zuschauer“10 trennte die lyrischen Partien des Chors vom eigentlichen Handlungsverlauf. Als Sprecher der innerhalb der Deutung auf ihr reflektorisches Moment reduzierten Chorpassagen erscheint dabei letztlich der Dichter selbst, der qua Chor zu seinem Publikum spricht, es ermahnt oder unterweist und ihm so den gedanklichen Rahmen zum Verständnis des jeweiligen Stücks (und darüber hinausgehender Sachverhalte) an die Hand gibt. Wenn auch dieses Verständnis der reflektorischen Qualität einzelner Chorlieder gerecht zu werden scheint, läuft es dennoch Gefahr, in einer methodisch nicht haltbaren Weise Aussagen des Chors für Äußerungen des Dichters zu halten. Rekonstruktionen der Anschauungen des Dichters, gar seiner Theologie anhand der Chorpartien einer bestimmten Tragödie sind daher mit äußerster Vorsicht zu handhaben; dem Verständnis des Einzelstücks als eines dramatischen Kunstwerks dienen die Ansätze der Sprachrohr-Theorie nur selten.
Den Chor (nur) als Mitspieler der Tragödie zu sehen, war und ist innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Tragödien Ausgangspunkt vielfältiger Arbeiten: Zu erweisen, inwieweit der Chor als ein Mitspieler, ein Akteur im dramatischen Gefüge bezeichnet werden kann, ob und wie sein spezifischer Charakter ausgeformt ist, inwiefern dieser Charakter konsistent ist und in welchem Verhältnis schließlich der so als Mitspieler verstandene Chor zu den anderen Akteuren sowie den Geschehnissen steht, kurz: die Untersuchung des Chors als dramatis persona ist die selbstgesteckte Aufgabe zahlloser Analysen.11 Besonderen Rückhalt erhält diese Aufgabenstellung dabei durch die Bemerkung des Aristoteles zum richtigen Gebrauch des Chors12, die man so zu untermauern sucht.13
Als umfassendere Studien in diesem Bereich zu mehreren bzw. allen erhaltenen Tragödien unseres Autors verstehen sich dabei die Arbeiten von GARDINER14 und PAULSEN15. So konstatiert erstere eine Fehlentwicklung, die sich bei der ausschließlichen Beschäftigung mit den poetischen Qualitäten der analysierten Chorpartien einstelle:
Yet in these examinations of the lyrics the chorusʼ character has been largely neglected, to such an extent that the odes often seem to take on an existence apart from the chorus that sing them.16
Die Aufgabe ihrer Arbeit charakterisiert sie demnach folgendermaßen:
This investigation therefore attempts to redress the existing imbalance between the study of poetry and the study of character by analyzing the roles of the chorus in each of Sophoclesʼ extant tragedies and determining the extent to which he meant the audience to perceive the chorus as a character in the play.17
Auch PAULSEN sieht das Hauptanliegen seiner Studie mit Rückgriff auf die oben ausgeführte funktionale Dreiteilung
[…] in einer Untersuchung der ersten der genannten Funktionen. Es soll bewiesen werden, daß der Chor Mitspieler und Person des Stückes ist und somit den Schauspielern vergleichbar.18
Eine besonders radikale Position vertritt dabei MÜLLER: Er kommt zunächst, vornehmlich ausgehend von seiner Interpretation der Antigone, zu dem Ergebnis „1. Der Chor ist eine konsequent denkende Person. 2. Alle Äußerungen des Chors dienen dem Dichter dazu, Gestalt und Größe der Protagonistin herauszuarbeiten“.19 Er sieht damit das aristotelische Postulat vom mitspielenden Chor verwirklicht20 und wagt die vorsichtige Generalisierung: „Es ist zu vermuten, daß der Chor in den anderen Tragödien des Sophokles keine grundsätzlich andere Funktion hat“.21
Im Gegensatz dazu steht der leitende Gesichtspunkt seines Antigone-Kommentars: Dort will MÜLLER gerade aus den Aussagen des als einer dramatis persona verstandenen Chors dennoch die Stimme des Dichters erschließen und so auf Basis des gefundenen „Doppelsinns“ den „theologischen Sinn der Tragödie“ herausarbeiten.22 Die genuin dramaturgische Komponente der einzelnen Partien zu untersuchen, liegt ihm allerdings fern. Während er es rundheraus ablehnt, in den Aussagen des Chors die eigene Meinung des Dichters zu sehen23 – also dem Chor die dritte Funktion vollständig abspricht –, glaubt er dennoch, durch die Annahme des Zweit- und Drittsinns geradezu e negativo die Ansichten des Dichters sowie dessen Einschätzung des Geschehens aus den Chorpartien herausarbeiten zu können.24 Die Ergebnisse – gerade in seiner Interpretation der Antigone – sind im Einzelnen allerdings zweifelhalft.25
Einen ähnlichen Zugang wie GARDINER und PAULSEN beschreitet bereits KIRKWOOD,26 wenn er auch einen für diese Untersuchung entscheidenden Gesichtspunkt hinzufügt. Einer simplen Gleichsetzung der Reflexionen des Chors mit denen des Dichters erteilt er dabei zunächst eine Absage;27 für ihn steht vielmehr der Personencharakter des Chors im Vordergrund. So gibt er an, die Aussagen des Chors untersuchen zu wollen als
utterances by characters in plays – strange characters, no doubt, with a penchant for lyrics and abstraction, but characters nevertheless, neither omniscient nor stupid, but limited like other characters by the natural limitations of their position and their interest in the action.28
Dass damit nicht das gesamte Spektrum der chorischen Präsenz abgedeckt werden kann, gesteht er ein: „We shall find that this approach is not altogether sufficient in itself and that there is a degree of abstraction in some odes that does not reflect the personality of the particular choral group“.29 Ausgehend von der spezifischen Wirkung der kontrastiv vor der entscheidenden katastrophalen Wendung positionierten Lieder im Aias (zweites Stasimon), der Antigone (viertes Stasimon) und dem Oidipus Tyrannos (drittes Stasimon) hält er zunächst fest: „They are integral and contributing parts in the dramatic structure“,30 bevor er schließlich ganz zu Recht verallgemeinert:
[…] these odes are not isolated phenomena but simply the most striking examples of a customary Sophoclean technique in which the choral odes influence the rhythm of the play by a contrast or some similar structural effect.31
Während KIRKWOOD so die Sprachrohrfunktion des Chors ablehnt, verortet er sich im Rahmen der von KRANZ eröffneten Trias zwischen der ersten und zweiten Funktion des Chors.
Gemein ist den aufgeführten Ansätzen dabei, dass sie von einer durchgängig kohärenten Charakterzeichnung des Chors ausgehen, der so als ein Akteur unter anderen am dramatischen Geschehen partizipiert und dem Dichter als zusätzlicher Schauspieler zur Verfügung steht. Inwiefern sie dabei einerseits dem aristotelischen Postulat, andererseits der Realität der Tragödien gerecht werden, bleibt indes fraglich.32 Die der reinen dramatis persona-Theorie verhaftete Ausdeutung hat daher in der Forschung einigen Widerstand hervorgerufen.
Besonderen Fokus auf die eher strukturellen Momente des Chors und damit den zweiten der von KRANZ aufgeführten Punkte legt dagegen BURTON,33 der als Ziel seiner Untersuchung angibt:
[…] to determine their [d.h. der Chorlieder] different kind of relevance, their functions as instruments of dramatic irony, […] and their effects upon the minds and emotions of audience and reader as required by the dramatist at each stage in the movement of his plots.34
Er geht dabei von einer fundamentalen Differenz zwischen Chor und Akteuren aus: „In its role as singers the chorus is distinct from the actors“35 sowie:
[…] the chorus as singers are kept distinct from the other dramatis personae and […] this distinction is due mainly to their being a group, not an individual.36
Hinsichtlich der Kohärenz der Person des Chors ergeben sich aus dieser Einsicht besondere Schlussfolgerungen:
Further, since the chorus has a group personality, we do not expect from it the same consistency or coherence of character as we expect from an individual.37
Gegen das strenge Diktum des Chors als reinen Mitspielers betont BURTON so die dramaturgische Einbindung der Chorlieder als Strukturmoment der Tragödie; gelegentliche Inkongruenzen in der Zeichnung des Charakters nimmt er dabei mit Blick auf die vom Dichter intendierten dramaturgischen Implikationen – meines Erachtens zu Recht – in Kauf.38
Dieser eher formale Ansatz, der die verschiedenen Formteile der Tragödie im Einzelnen beleuchtet und damit einen Beitrag zum Verständnis des jeweiligen Stücks leisten möchte, ist mit Blick auf Sophokles – abgesehen von Kommentaren zu einzelnen Tragödien39 – in der Folgezeit etwas in den Hintergrund getreten.40 Die neuere, vor allem angelsächsische Forschung, hat – bedingt durch ein verstärktes Interesse an den performativen Komponenten des antiken Dramas – einen anderen Ansatz gefunden, der im Besonderen die rituellen Dimensionen der chorischen Präsenz innerhalb der Tragödie betont und diese im politischen Kontext der Gattung sowie einem generell soziokulturellen Rahmen zu verorten sucht.41 Entscheidenden Anstoß bei dieser Rekontextualisierung gaben dabei WINKLER und ZEITLIN.42
GOULD sucht im Anschluss daran ganz allgemein den Chor als ein zentrales Moment der Tragödie43 und „des Tragischen“44 neu zu denken und betont im Besonderen die „Andersartigkeit“ („otherness“) des Chors, die er allerdings nicht nur auf den bereits von BURTON entwickelten Gegensatz zwischen den Einzelakteuren und dem Kollektiv „Chor“ beschränkt, sondern sozio-politisch ausdeutet:
[T]he ‘otherness’ of the chorus, its essential role within the tragic fiction, resides indeed in its giving collective expression to an experience alternative, even opposed, to that of the ‘heroic’ figures. […] That ‘otherness’ of experience is indeed tied to its being the experience of a ‘community’, but that community is not that of the sovereign (adult, male) citizen-body.45
Diese Präsenz einer in einer größeren sozialen Gemeinschaft gegründeten Gruppe „Chor“46 kontextualisiere dabei „das Tragische“47 durch Rückgriff auf ererbte Geschichten sowie ererbte gnomische Weisheit eines kollektiven sozialen Gedächtnisses und der mündlichen Tradition.48 Dass diese allgemeine Einsicht erst in der Auseinandersetzung mit den einzelnen Stücken wirkliche Erkenntnisse liefern kann, ist GOULD bewusst:
For the ‘othernessʼ of the chorus, we must acknowledge, takes no single form, and no one formula will define it for us. It can only be defined in terms of the very variety of the different perspectives which the playwright may impose upon his tragic fiction. […] The collective experience and the collective voice of the chorus may oppose that of the individual tragic agent in an almost bewildering variety of ways.49
Dass der Chor dabei allerdings ein Akteur des Geschehens bleibt, steht für GOULD außer Frage; seine allgemeinen Bemerkungen zur „Rolle“ des Chors und dessen Einbindung ins dramatische Geschehen50 sowie seine Absage an die Gleichsetzung „Äußerung des Chors = Äußerung des Dichters“51 sind dabei im Wesentlichen so zentral wie bekannt. Seine Ausführungen zur dauernden Präsenz des Chors als eines zentralen Moments52 sind dabei größtenteils nachvollziehbar.53GOULD zieht daraus folgende Konsequenzen:
After the opening scene […] nothing is spoken, nothing experienced […] except in the presence of that collective, emotionally involved witness. There is no privacy in that world, and even the silence of the choral presence can exert a palpable force.54
Dies scheint mir allerdings zweierlei zu verkennen: Zum einen nimmt sich der Chor (wie die Einzelanalysen der sieben Sophokles-Tragödien zeigen werden) oft genug aus dem eigentlichen Bühnengeschehen völlig zurück und ist zwar physisch präsent, übt jedoch kaum einen wirklichen Einfluss auf das dramatische Handeln der Akteure aus. Zum anderen bildet gerade die Gesprächssituation Protagonist-Chor oft eine besonders intime Szenerie, in der erst das volle Seelenleben der Figur seinen Ausdruck findet.55
GOLDHILL56 legt in seiner Beantwortung des Aufsatzes von GOULD einen etwas anderen Fokus: Mit Blick auf die soziokulturellen Implikationen sowie die kultisch-politischen Momente57 will er GOULDs Ansatz weiterdenken und ausführen. Im Besonderen fragt er nach der Autorität des Chors und seiner „Stimme“58 angesichts der von GOULD hypostasierten „Marginalität“ der Person des Chors in sozialer Hinsicht. Sein Fazit bleibt vor dem Hintergrund der entfalteten Details allerdings sehr allgemein:
The chorus both allows a wider picture of the action to develop and also remains one of the many views expressed. The chorus thus is a key dramatic device for setting commentary, reflection, and an authoritative voice in play as part of tragic conflict.59
Besonderen Widerhall finden die Ausführungen von GOULD und GOLDHILL in den theoretischen Ansätzen, die konkret nach der Autorität („authority“), d.h. der Verlässlichkeit chorischer Aussagen in verschiedenen Kontexten fragen. So postuliert SILK60 ausgehend von einer Unterscheidung der Stilebenen in verschiedenen Chorpartien das Vorhandensein mehrerer „Stimmen“ („voices“), deren Gesamtheit den Chor einer jeweiligen Tragödie ausmacht.61 Diese „Polyphonie“ des Chors gibt ihm dabei Anlass zur berechtigten Warnung, dem Chor in seinen Aussagen generell mehr Kohärenz zuzuschreiben als ihm innewohnt:
[W]e must, of course, listen to each play, and each lyric, to decide how much coherence and how much uniformity there actually is – and we must be prepared for the degree of coherence and uniformity to vary from play to play, as also within each play.62
Festzuhalten bleibt, dass die Ansätze von GOULD (und GOLDHILL) im Wesentlichen nachvollziehbar sind und gerade das bereits bei BURTON herausgestellte Moment der „otherness“ als Gegenmoment der reinen dramatis persona-Theorie für die vorliegende Untersuchung von einiger Bedeutung ist. Allerdings bleibt zu betonen, dass gerade die von den Autoren gefällten Generalaussagen über den Chor, die Tragödie und das Tragische dazu neigen, ein zu einheitliches Bild der besonders komplexen und reichhaltigen Phänomene zu zeichnen. Dass sich zu einzelnen Kernaussagen dabei immer wieder konkrete Gegenbeispiele finden lassen und von den Autoren auch eingeräumt werden,63 muss im Ergebnis dazu führen, die allgemeinen Thesen mit einiger Vorsicht anzunehmen und sie gegebenenfalls an den Werken selbst zu überprüfen. Die vorliegende Arbeit stellt, wenn auch unter anderen methodischen Vorzeichen und mit einer anderen Zielsetzung, womöglich eine Basis für dieses Vorgehen dar.
Die Frage der Performanz des antiken Dramas und im Besonderen der Tragödie verfolgen schließlich GOLDHILL/OSBORNE64 und die in ihrem Sammelband vertretenen Wissenschaftler weiter. Von gewisser Bedeutung für die vorliegenden Studien sind dabei die Ausführungen von HALL65 zur Darbietung lyrischer Partien durch die Schauspieler. Sie sieht in diesem Phänomen eine besondere soziologische Komponente,66 die eine zeitgeschichtliche Deutung der Gattung Tragödie und ihrer Formen herausfordert.67
In Auseinandersetzung mit Schlegels These vom Chor als idealisiertem Zuschauer68 versucht CALAME,69 das Wesen des tragischen Chors innerhalb eines komplexen theoretischen Rahmens zu bestimmen:
In those textual games played by word and action on gender and on the mask, in the many dimensions in which its voice plays a part, does the figure of the tragic choros coincide principally with the ideal spectator or with the actual spectator, with the virtual author, or, as performer, with the real author, or just with the figure of a (masked) actor engaged in a dramatic plot?70
In der Folgezeit haben die referierten theoretischen Ansätze zum Teil eine auf Sophokles bzw. einzelne Stücke konkretisierte Anwendung gefunden.71KITZINGER wählt im Anschluss an die ausgeführten theoretischen Ansätze in ihrer Studie zu den Chören der Antigone und des Philoktet einen differenzierten und im Ganzen nachvollziehbaren Ausgangspunkt. Ihrer Untersuchung stellt sie dabei zwei Grundannahmen voraus: Während sie zunächst postuliert
that, in Sophokles, the words of the chorusʼ songs provide evidence for a consistent choral perspective, from play to play and from scene to scene within a play, however much the song is also integrated into the particular circumstances of the chorusʼ character and of the plot,72
stellt sie im Anschluss an BURTON und GOULD mit Nachdruck fest: „that the chorusʼ function cannot be understood by analogy with the actors“.73 Zwischen den Akteuren und dem Chor herrsche vielmehr „essential difference“,74 die weder die Beteiligung des Chorführers an den Sprechszenen noch das Vorhandensein gesungener, d.h. lyrischer Partien der Akteure aufhebe, sondern sich vor allem im Wechsel von Epeisodien und Stasima verwirkliche75 und Ausdruck einer unterschiedlichen Sicht auf die Welt darstelle.76 Ihr Interesse gilt dabei vor allem der Sprache der Chorpartien,77 in der sie – zusätzlich zu Musik, Gestik und Tanz – die Differenz zwischen Chor und Akteuren besonders realisiert sieht.
Den Versuch, die Gattung Tragödie, konkret den Oidipus auf Kolonos, dezidiert mit den Begriffen und Methoden der Narratologie zu interpretieren, unternimmt im Anschluss an GOWARD78 schließlich MARKANTONATOS.79 Unter den Gesichtspunkten der vorliegenden Arbeit lässt sich festhalten: MARKANTONATOSʼ feinsinnige Interpretationen einzelner Chorpassagen sind besonders gewinnbringend.80 Sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung mit seinem Konzept einer „dramatischen Narratologie“ als auch bei der Analyse des Dramas selbst spielen dabei beispielsweise mit dem Tempo der „Erzählung“,81 der Frage nach der Lokalisation der „dramatisch erzählten“ Handlung82 und dergleichen gewisse Momente eine bedeutende Rolle, denen auch in der vorliegenden Arbeit besondere Aufmerksamkeit gilt. Einen übergeordneten, theoretischen Standpunkt zum Chor, etwa eine „Narratologie des Chors“ entwickelt er dabei (noch) nicht.
Zu einer konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen Dramen des Sophokles, ihrer Dramaturgie bzw. ihrer dramatischen Faktur kommt es bei den referierten, teilweise sehr theoretischen Ansätzen und Studien nur am Rande. Anders gesagt: Die Ablösung des dem Text verpflichteten werkästhetischen Standpunkts durch die vielfältig ausgestalteten performativen, soziokulturellen bzw. rezeptionsästhetischen Kategorien lässt eine vertiefte Fokussierung auf die Tragödie als dramatische Komposition geraten erscheinen. In derselben Weise glaube ich, die von GRUBER in Folge der „performativen Wende“ eingeforderte „Rekontextualisierung“83 der Tragödie um ein entscheidendes Moment erweitern zu können – schließlich ist auch die Wissenschaft nach der performativen Wende der Notwendigkeit nicht enthoben, nach den inneren Gesetzen einer Gattung, eines einzelnen Dramas zu fragen.
Während ferner mit der Studie von HOSE84 eine umfassende Interpretation der euripideischen Chorlieder vorliegt und sich die Arbeit von GRUBER85 den Chorpartien der aischyleischen Tragödien (freilich unter einem genuin rezeptionsästhetischen Standpunkt) nähert, gibt es in der Nachfolge von BURTON keine Gesamtschau der sophokleischen Chorlieder, deren Fokus auf einer textnahen Interpretation der Chorpartien sowie ihrer dramaturgischen Funktionalisierung läge.86
Es ist im Wesentlichen das Verdienst der philologischen und historischen Forschung im Anschluss an den performative turn der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die historischen, soziokulturellen und politischen Begleitumstände des Phänomens „Chor“ erneut in Erinnerung gerufen und es so innerhalb der Lebenswelt der griechischen Antike rekontextualisiert zu haben. Mit Blick auf die bereits im Forschungsabriss erwähnten Arbeiten im Allgemeinen sowie im Besonderen auf GRUBERs einleitende Ausführungen zur Einordnung des Chors in der griechischen song-and-dance culture und – mit einigen der speziellen Intention geschuldeten Abstrichen – seine Bemerkungen zum Chor als „Boden der Tragödie“1 kann sich der folgende Abriss in aller Kürze auf einige entscheidende Punkte beschränken. Dabei ist nicht intendiert, eine umfassende Einordnung der angesprochenen Phänomene zu geben oder größere historische Entwicklungslinien nachzuzeichnen, sondern einzig einige Aspekte, die zum Verständnis des methodischen Rahmens dieser Arbeit sowie der Einzelanalysen notwendig sind, ins Bewusstsein zu rufen.
Chor, Chorgesang und (chorischer) Tanz waren bereits seit frühester Zeit2 ein gemeingriechisches, im Alltag fest verankertes Kulturphänomen;3 anders gesagt: Das Phänomen „Chor“ ist konstitutiver Bestandteil der als song-and-dance culture passend umschriebenen griechischen Gesellschaftsordnung. Als fester Bestandteil rituell-kultischer Anlässe und Handlungen kann besonders die Bedeutung des Chors für die griechische Religiosität kaum überschätzt werden:4 Als Repräsentation eines kultischen Kollektivs kommt ihm dabei eine besonders integrative und identitätsstiftende Rolle zu, der zudem das Moment der Öffentlichkeit innewohnt.5 Die Zuordnung gewisser Chöre und Formen chorischer Dichtung zu bestimmten kultischen Festen und ihre Assoziierung mit den entsprechenden Gottheiten ist dabei konstitutiv und prägt die Chorlyrik, der sich der folgende Abschnitt etwas genauer widmen wird, maßgeblich.
Die solchermaßen im kulturellen Horizont verorteten Chöre waren dabei nach Kriterien wie Geschlecht und Alter der Choreuten homogen zusammengesetzt und rekrutierten sich aus fest umrissenen Segmenten der Gesellschaft. Vor allem Knaben- bzw. Heranwachsenden- sowie Mädchenchöre waren dabei innerhalb der Erziehung und Bildung der Jugend von enormer Bedeutung.6GRUBER betont dabei im Besonderen die Rolle der Erziehung zur „Ordnung“ (τάξις), die durch die chorische (bei jungen Männern: proto-militärische) Ausbildung geleistet wurde; er geht dabei soweit, anzunehmen, dass man die Begriffe „Chor“ und „Ordnung“ „im Verständnis der Antike […] fast gleichsetzen kann“.7
Es nimmt angesichts dieser Bündelung entscheidender sozialer und religiöser Dimensionen nicht wunder, dass die Chorkultur auch im politischen Kontext der griechischen Stadtstaaten, d.h. in der Polis-Kultur, institutionalisiert und instrumentalisiert wurde.8 Mit Blick auf die dramatischen Formen, deren Ursprung in den chorischen Gattungen zu suchen ist, ist die Förderung und Institutionalisierung des Dionysoskults im sechsten Jahrhundert von entscheidender Bedeutung:9 Diese zunächst in Korinth, später in Athen durchgeführten religionspolitischen Maßnahmen etablierten im Besonderen die Gattung des Dithyrambos in einem politischen Umfeld und verankerten die Chorkultur als elementaren Bestandteil der institutionellen Selbstvergewisserung und -inszenierung der Polis im Rahmen verschiedener kultischer Feste und Rituale.10
Wir dürfen also davon ausgehen, dass das (der Moderne meist fremde) Phänomen „Chor“ in der Lebenswirklichkeit der Autoren und Rezipienten der uns vorliegenden Tragödien einen entscheidenden Platz einnahm und in besonderer Weise mit einigen für das Selbstverständnis des Einzelnen und das der politisch-kultischen Gemeinschaft zentralen Assoziationen verbunden war.
Die früheste uns fassbare literarische Ausprägung der griechischen Chortradition stellen im Wesentlichen die überlieferten Reste der Dichtungen von Alkman, Stesichoros und Ibykos aus dem siebten bzw. sechsten Jahrhundert v. Chr. dar.1 Die für die frühe griechische Lyrik ohnehin typische schlechte Überlieferungslage erlaubt es nicht, sich ein wirklich umfassendes Bild von den einzelnen Dichtern, den Gattungen oder dem literarischen Umfeld zu machen. Am greifbarsten ist uns das Genre der Chorlyrik daher erst in Form der beiden herausragenden Dichter Pindar2 (geb. 522 bzw. 518, gest. nach 446) und Bakchylides3 (Lebensdaten umstritten), die als geringfügig jüngere Zeitgenossen des Aischylos (525/24–456/55) parallel zum attischen Tragödienschaffen wirkten.
Als literarisch geformte Gebrauchsdichtung im besten Sinne war die Chorlyrik geprägt von einer Vielzahl verschiedener Gattungen und Formen, die je nach Anlass, religiös-kultischer Verortung, Darbietungsweise sowie Inhalt und Grad der Emotionalisierung des Liedes differenziert waren. Für uns sind diese vielfältigen Gattungen der Chorlyrik (z.B. Linos, Paian, Threnos, Hymenaios, Hyporchema, Embaterion, Hormos, Hymnos, Prosodion, Dithyrambos, Parthenion) nur noch in Ansätzen trennscharf zu greifen; das klarste Bild lässt sich auf Basis der Werke der beiden Dichter Pindar und Bakchylides vom Genos des Epinikions entwerfen, wohingegen andere Genera für uns reine Namen bleiben. Wir dürfen allerdings davon ausgehen, dass sowohl Dichter als auch Publikum der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts mit den verschiedenen Charakteristika der einzelnen Gattungen auf Grund ihrer Verortung in der kulturellen Lebensrealität vertraut waren.
Die attische Tragödie ist sowohl kultisch, gattungstechnisch als auch hinsichtlich ihrer Stellung innerhalb des sozialen Gefüges der Polis aufs Engste mit der Chorlyrik verknüpft – mehr noch: Sie ist selbst für Aristoteles eine genuin chorische Gattung.4 Dass sich die dramatischen Formen in Griechenland auf Grundlage der chorischen (Dionysos-)Dichtung entwickelt und von der Gegenüberstellung eines Vorsängers und des zugehörigen Chors ihren Anfang genommen hat, galt bereits Aristoteles als gesichert.5 Auch wenn dabei die genaue Rekonstruktion möglicher „protodramatischer“ Gattungen sowie die Zwischenstufen zwischen reiner Chorlyrik und bereits etablierter dramatischer Form im Einzelnen schwer nachzuvollziehen sind,6 ist es auch heute noch communis opinio, in kultischen, ursprünglich narrativen Dionysos-Gesängen, im Besonderen in den Dithyramben, die Keimzelle der attischen Tragödie zu sehen.7
Dabei spielt für das Anliegen dieser Untersuchungen weniger die detaillierte Entwicklung dieser Gattung eine Rolle. Festzuhalten bleibt, dass spätestens mit Thespis in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts8 der tragödientypische Dualismus von (Chor-)Gesang und Sprechpartien etabliert wurde.9 Der Übergang vom narrativ-reflektierenden Gestus der (frühen) Chorlyrik zu einer nachahmenden, dramatischen Form der Darstellung, in der dem Chor selbst eine gewisse Rolle zukommt, war damit geleistet.10
In der weiteren Entwicklung der Tragödie hat dann – vor allem durch Aischylos als erste zentrale Figur – die Ausweitung der Sprechpartien, die Einführung eines zweiten Schauspielers11 und die damit verbundene Kürzung der Chorpassagen das (für uns nach Aristoteles) charakteristische Profil der Tragödie als einer durch die Nachahmung von Handlungen bestimmten Bühnenform geprägt.12 Das fünfte Jahrhundert markiert dabei mit den Eckdaten 499/98 (erste Teilnahme des Aischylos am Agon) und 405 (Tod des Sophokles) bzw. 401 (posthume Aufführung des Oidipus auf Kolonos) den chronologischen Rahmen dieser Entwicklung und zugleich ihre Blütezeit. Ihren Sitz hatte diese neue Kunstform – komponiert in Tetralogien, bestehend aus drei Tragödien und einem Satyrspiel13 – innerhalb der Agone an bestimmten Dionysosfesten Athens: den Lenäen sowie den Großen (Städtischen) und den Kleinen (Ländlichen) Dionysien.14 Die tragischen Agone blieben nichtsdestoweniger im offiziellen Verständnis chorische Aufführungen, was sich an der Nomenklatur der entsprechenden Vorgänge zeigt.15
Dabei hat die Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik diese keineswegs vollständig absorbiert. Gerade im angesprochenen und anderenorts16 wesentlich ausführlicher beleuchteten institutionellen Rahmen der mit den attischen Dionysosfesten verbundenen Wettkämpfe hatte die Chorlyrik weiterhin ihren festen Platz: Am ersten Festtag der Großen Dionysien, also am Vortag des Tragödienagons,17 fand die Dithyrambenkonkurrenz der die Phylen repräsentierenden Chöre statt. Zudem fällt, wie bereits angesprochen, das Wirken der beiden herausragenden Lyriker Pindar und Bakchylides zum Teil mit der Schaffenszeit des Aischylos zusammen; die uns greifbarste Ausprägung der auftragsgebundenen Chorlyrik fällt dementsprechend in die Blütezeit der attischen Tragödie.
Auch hinsichtlich der Aufführungsbedingungen greifen Chorlyrik und Dramatik eng ineinander: Die Tragödien- und Dithyrambenchöre wurden in klassischer Zeit nicht durch professionelle Sänger, sondern von Bürgern (bzw. angehenden Bürgern) der Polis Athen gestellt;18 ein fester Schauspieler- bzw. Choreutenberuf bildete sich erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts heraus, während Sophokles der Überlieferung zufolge in seinen frühen Stücken noch selbst mitgespielt haben soll.19
Mit Chorlyrik und Dramatik haben wir es demnach mit zwei Ausprägungen der kultisch und politisch fest institutionalisierten (Gebrauchs-)Literatur zu tun, die miteinander in engstem Zusammenhang stehen. Das mit der Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik begründete generische Verhältnis der beiden Großgattungen erschöpft sich nicht in einem Nacheinander in sich abgeschlossener literarischer Phänomene. In geradezu sublimierter Weise hat die Gattung der Tragödie vielmehr mit dem für sie konstitutiven Chor ihre Keimzelle in sich integriert und, wie noch zu zeigen sein wird, transformiert. Gerade das institutionalisierte Nebeneinander der beiden Genres konstituiert dabei einen Rahmen gegenseitiger Beeinflussung und Nutzbarmachung. So verwundert es einerseits nicht, dass tragische Dichter auch Chorlyrik verfasst haben sollen (Sophokles wird die Autorschaft von Paianen zugeschrieben), andererseits ist ein Reflex der „Neuen Musik“, wie sie die Komposition der Dithyramben ab einem gewissen Zeitpunkt geprägt hat, in den Tragödien des Euripides zu finden.20
Auch dem tragischen Chor haften so trotz seiner Überführung und Implementierung in eine andere Gattung entscheidende Charakteristika der selbstständigen Chorlyrik und damit des kulturellen Phänomens „Chor“ an. Anders gesagt: Mit dem Chor ist ein den Zuschauern zutiefst vertrautes Moment der sie umgebenden und ihren Alltag maßgeblich prägenden song-and-dance-culture konstitutiver Bestandteil der Tragödie. Für den Rezipienten erfahrbar wird dieser Umstand in der eigentlichen Performativität des tragischen Chors, die in vielen Punkten der eines realen, d.h. der Lebenswirklichkeit entstammenden Chors entspricht: Der tragische Chor singt Lieder, die hinsichtlich ihres Inhalts oder ihrer (musikalischen) Form an real existierende Gattungen und Genres der Chorlyrik angelehnt sein können, er tritt als homogenes Kollektiv auf,21 seiner Performanz haftet im Rahmen des darzustellenden Mythos das Moment der Öffentlichkeit an, er ist mit einiger Regelmäßigkeit Träger gewisser angedeuteter oder ausgeführter Rituale (im Besonderen: Anrufung von Gottheiten) und hat „Zugang zum Bereich der Erinnerung“,22 d.h. kann sich gegebenenfalls Einsichten des kulturellen und gemeinschaftlichen Gedächtnisses der Polis bzw. der Gesellschaft zu eigen machen.23
Für das ursprüngliche Publikum war das Phänomen Chor also sowohl in seiner rituell-lebensweltlichen Ausprägung als auch in seinen literarischen Formen (und demnach auch innerhalb der Tragödie) kein den Seh- und Lebensgewohnheiten fremdes Phänomen; vielmehr lässt sich mit LEY formulieren: „For Athenians, the tragic chorus was a part of their lives“.24 Als der Alltagskultur entspringendes Moment ist der Chor für GRUBER ein besonderes Identifikationsmoment, das geradezu eine Brücke zwischen der den tragischen Mythos zeigenden Heroenwelt und dem Erfahrungsbereich der Rezipienten darstellt;25 zwischen Chor und Zuschauer bestehe dementsprechend eine „natürliche Nahbeziehung“.26
Mit dieser performativen Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft zum (dionysischen) Chor der song-and-dance-culture ist ein Pol der von ZIMMERMANN sogenannten „janusköpfigen Natur“27 des tragischen Chors bezeichnet. Inwieweit der so verstandene Chor nun innerhalb der Tragödie selbst verankert ist, wird der folgende Abschnitt zeigen.
Den tragischen Chor unterscheidet ein zentraler Umstand vom realen Chor, wie er zentraler Bestandteil der Lebenswirklichkeit der attischen Bürger war: Dem Chor kommt in jeder Tragödie eine je eigene, im Personenspektrum des Stücks verortete Rolle zu. Innerhalb der dramatischen Fiktion tritt der Chor demnach nicht als anonymer (dionysischer) Ritualchor auf, sondern nimmt an der Nachahmung der Handlung als (kollektive) dramatis persona teil.1 Als solche kann er klar benannt werden, steht zu den übrigen Personen des Stücks in einem konkret zu bestimmenden Verhältnis, kann über sich selbst sprechen und sich innerhalb seiner Ausdeutung der Situation verorten.2
Bereits in seiner Poetik formuliert so auch Aristoteles die Forderung, dass der tragische Chor ein den Schauspielern analoger Bestandteil des Dramenganzen sein soll:
καὶ τὸν χορὸν δὲ ἕνα δεῖ ὑπολαμβάνειν τῶν ὑποκριτῶν καὶ μόριον εἶναι τοῦ ὅλου καὶ συναγωνίζεσθαι μὴ ὥσπερ Εὐριπίδῃ ἀλλ’ ὥσπερ Σοφοκλεῖ. τοῖς δὲ λοιποῖς τὰ ᾀδόμενα οὐδὲν μᾶλλον τοῦ μύθου ἢ ἄλλης τραγῳδίας ἐστίν· διὸ ἐμβόλιμα ᾄδουσιν πρώτου ἄρξαντος Ἀγάθωνος τοῦ τοιούτου. (1456 a 25f.)
Den Chor aber muss man wie einen der Schauspieler behandeln, er muss Teil des Ganzen sein und an der Handlung beteiligt sein, nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie. Daher sind die gesungenen Partien bei ihnen <bloße> Einlagen. Der erste, der damit begann, war Agathon. 3
Die geradezu vorbildliche Verwirklichung seiner Forderung sieht Aristoteles so in besonderem Maß bei Sophokles gegeben, dessen Chortechnik er nicht nur einerseits von der des Euripides, andererseits von der Praxis „anderer Dichter“ abgesetzt, sondern damit implizit empfiehlt und so zur nachahmenswerten Norm erhebt.
Damit ist das Spannungsfeld des tragischen Chors eröffnet, wie es sich hinsichtlich seiner Genese sowie seiner Verortung in der Tragödie selbst ergibt: Das aus der Lebenswirklichkeit sowie der an ihr orientierten (Gebrauchs-)Dichtung stammende Phänomen Chor bildet als konstitutiver Bestandteil der Gattung Tragödie nicht nur ihren literarischer Ursprung, sondern ist gänzlich in die dramatische Struktur eingepasst, selbst dramatisiert und somit in einer übergreifenden Ordnung geradezu aufgehoben.
Was lässt sich im Rahmen der hier zu gebenden Einführung zur Einbindung des Chors als einer kollektiven dramatis persona in den darzustellenden Mythos und die jeweilige Einzeltragödie festhalten?4
Im Bereich der mythologischen Tragödie, die den Anteil der tragischen Dichtungen mit zeitgeschichtlichem5 oder frei erfundenem Inhalt6 überwogen haben wird, bietet die Besetzung des Chors dem Dichter die nahezu größten Gestaltungsmöglichkeiten.7 So sind die zentralen Figuren der Handlung bei einem mythologischen Stoff bereits mehr oder minder vorgegeben, die Rollenzuweisung an den Chor jedoch unterliegt ausschließlich der dichterischen Gestaltung. Zwei grundlegende Möglichkeiten, den Chor einer Tragödie mythischen Inhalts zu besetzen, führt HOSE auf:8 Entweder stelle der Chor die Verkörperung einer vom Mythos bereits gegebenen und in ihm notwendigerweise handelnden Gruppe dar (z.B. die Freier der Penelope in einer Tragödie, die Odysseusʼ Heimkehr und Rache inszeniert), oder er bestehe aus Personen, „die in der jeweiligen Sage nicht explizit erscheinen, jedoch leicht aus dem Bereich, in dem die Sage angesiedelt ist, ergänzt werden können“.9 Dass in den überlieferten Tragödien die auf die zweite Art gebildeten Chöre weitaus überwiegen, ist auf Grund der von HOSE aufgeführten dramaturgischen Schwierigkeiten eines dem Mythos bereits immanenten Chors nachvollziehbar.
Die geplante Aussageabsicht der Tragödie, das intendierte Verhältnis der Personen zum Chor und die gesamte dramaturgische Komposition fließen so bei der Konzeption des Chors zusammen. Konkret gesagt: Indem Sophokles beispielsweise seinen Philoktet – im Gegensatz zu Aischylos und Euripides – auf einer völlig unbewohnten Insel sein Dasein fristen lässt, prägt er den Mythos gemäß seiner Konzeption der Tragödie und muss daher auch dem Chor eine speziell für diese Komposition passende Rolle zuweisen.10 Im Gegenzug kann man sich vorstellen, dass die Antigone eine völlig andere Tragödie wäre, wenn der Chor nicht aus dem politisch und religiös in das Leben der Polis eingebundenen Rat der Alten, sondern zum Beispiel aus den Frauen der Stadt Theben bestünde (vgl. die Konstruktion in der Elektra). Nicht nur das Verhältnis der Choreuten zur Protagonistin und zu Kreon, sondern auch die Gedankenwelt der chorischen Reflexion, ja sogar die Sprache innerhalb der Chorlieder und damit die ganze dramaturgische Komposition wären andersartig.11 Eine ähnliche Überlegung ergibt sich, wenn wir uns eine Aiastragödie vorstellen, in der nicht wie bei Sophokles die Schiffsleute des Protagonisten, sondern die des Odysseus oder sonstige griechische Soldaten den Chor bildeten.12
Im uns überlieferten Werk des Sophokles lassen sich hinsichtlich der Rollenidentität der Chöre zweckmäßiger Weise drei Kategorien bilden, die sozusagen das Spektrum der vom Chor dargestellten dramatis personae umfassen: So stellt der Chor in zwei Tragödien wehrfähige Männer13 dar (Philoktet14 und Aias), ebenfalls in zwei Tragödien Frauen (Trachinierinnen und Elektra) sowie in drei Stücken Greise (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos und Antigone). Diese drei Gruppen eignen sich besonders gut dazu, als Kategorisierungsmoment die Reihenfolge der Einzelinterpretationen im Hauptteil zu bestimmen.15
In der Regel hat der Chor zudem zu einer (oder mehreren) Person(en) eine herausgehobene Beziehung: Während dabei in einigen Fällen ein emotionales Nah- bzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chor und dem entsprechenden Akteur vorliegt (vgl. das Verhältnis von Aias zu seinen Schiffsleuten), stehen sich andernorts Chor und Bezugsperson in unausgesprochener oder gar betonter Distanz gegenüber. Gerade der Gesprächssituation Chor-Bezugsperson kommt so bei der Interpretation der Tragödie besondere Bedeutung zu (vgl. im Besonderen die Gesprächssituation Protagonistin-Chor in der Elektra). Nicht in allen Fällen ist dabei die primäre Bezugsperson des Chors auch der Protagonist der Tragödie: Von besonderem Interesse ist in diesen Fällen die Verortung des Chors in seiner gegebenen Rollenidentität zwischen zwei (oder mehreren) Akteuren des Stücks (vgl. Philoktet oder Antigone).
Die Interpretationen des Hauptteils werden versuchen, auf Grundlage der jeweiligen Rollenidentität bestimmte für die einzelne Tragödie prägende Muster innerhalb der sprachlichen Gestaltung der Chorpartien, der Gesprächssituationen zwischen Chor und Akteuren und der Verortung des Chors im Personenspektrum herauszustellen. Im Folgenden soll daher ein rascher Überblick einige formale Gegebenheiten der chorischen Präsenz in Erinnerung rufen, um die jeweils konkrete Ausgestaltung des Wechselspiels von Chor und Akteuren im Einzelstück genauer untersuchen zu können.
Die attische Tragödie als eine zur Zeit des Sophokles innerhalb der Polis sowie der Lebenswirklichkeit der Athener fest verankerte Institution präsentiert sich in ihrer uns vorliegenden Gestalt als im besten Sinne „hybride literarische Form“,1 die aus verschiedenen (mehr oder minder selbstständigen) Genera und Formteilen zusammengesetzt ist. Sie unterliegt dabei einer Reihe von teilweise rigiden Konventionen, die teils ihrer Entstehungsgeschichte, teils ihrem institutionellen Rahmen, d.h. ihrem Sitz im Leben der Polis, teils gattungsinternen Gegebenheiten geschuldet sind.2 Obwohl aber die Gattung bestimmten Konventionen unterlag, gehen die einzelnen Dichter innovativ und kreativ mit diesen Regeln und Formgesetzen um, was auch den gelegentlichen Bruch mit einzelnen Konventionen einschließt.3 Anders gesagt: Man wird nicht fehlgehen, den Kompositionsprozess einer Tragödie gerade hinsichtlich ihrer formalen Struktur als kreative Auseinandersetzung mit den bestimmenden Polen von „Tradition und Innovation“ zu verstehen.4
Angesichts der Formung, die die einzelnen Bestandteile der Tragödie entweder in ihrem eigenständigen kultischen bzw. literarischen Umfeld oder im Rahmen der Gattung Tragödie erlangt haben, sowie der Institutionalisierung der Tragödie und ihrem Bezug zur Lebenswelt der Rezipienten wird man davon ausgehen können, dass das Publikum mit den basalen Formteilen und Konventionen der Gattung bekannt war.5 Darunter verstehe ich kein poetisches Spezialwissen, sondern eine an den Sehgewohnheiten geschulte Vertrautheit und Erwartungshaltung, die durch die konkrete Gestaltung des Dichters entweder erfüllt oder konterkariert wird.6
Wenn auch der Entwicklungsprozess der Gattung nicht mehr im Einzelnen nachzuvollziehen ist, bleibt eine Betrachtung der einzelnen Formteile von entscheidender Wichtigkeit.7 In Vorbereitung auf die Analyse der Einzeldramen, wie sie der Hauptteil dieser Arbeit bietet, sollen hier einige Bemerkungen8 folgen, um den Rahmen der im Wesentlichen unter formalen Gesichtspunkten stehenden Interpretation anzudeuten.
Die Tragödie, wie sie im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, ist auf Grund ihrer historischen Entwicklung formal besonders vielfältig, und diese Vielfalt lässt sich zweckmäßig nach der Art der Darbietung des dramatischen Texts gliedern: Auf der einen Seite stehen die gesprochenen (freilich metrisch komponierten) Passagen, die größtenteils den eigentlichen Akteuren, d.h. den je eine Person der Handlung verkörpernden Schauspielern zukommen, auf der anderen die gesungenen, mit Tanz unterlegten lyrischen Abschnitte, deren Darbietung im Wesentlichen dem Chor obliegt. Als Zwischenform können die rezitierten Partien angesehen werden, die im Wesentlichen klar funktionalisiert sind9 und sowohl dem Chor wie auch den Akteuren zukommen können.
Während bereits die Sprechpartien einen gewissen Formenreichtum aufweisen, der sich im Besonderen hinsichtlich der metrischen Gestaltung10 sowie der Sprechersituation differenzieren lässt,11 ist die Bandbreite der lyrischen Formen sowohl hinsichtlich der Metrik als auch der innerhalb des Dramas verwendeten oder verarbeiteten (chorischen) Gattungen besonders umfangreich.
Dass dieser Dualismus und die mit ihm einhergehende Zuordnung (Sprechpartien: Akteure; lyrische Passagen: Chor) freilich kein trennscharfes Gesetz darstellt, beweist zum einen die Einbindung des Chors in die Sprechpartien, zum anderen die von Akteuren entweder unter sich (Monodien12 oder lyrische Duette13) oder im Austausch mit dem Chor dargebrachten lyrischen Abschnitte (Amoibaia14 bzw. epirrhematische Passagen).15
Der Chor legt so rein formal gesehen ein doppeltes Erscheinungsbild16 an den Tag: Neben den in dieser Arbeit im Vordergrund stehenden Liedern und lyrischen Wechselpartien tritt der Chor auch mit den Personen des Dramas in Dialog oder schaltet sich in die Unterhaltung mehrerer Personen ein und nimmt so an den ausgewiesenen Sprechpartien des Stücks teil. Dabei tritt höchstwahrscheinlich der Chorführer aus der Riege der restlichen Choreuten heraus,17 spricht sozusagen in deren Namen und bedient sich der konventionellen Sprechverse des Dramas (meist iambischer Trimeter). In zwei Fällen erscheinen dabei solche Einschaltungen des Chors geradezu standardisiert und klar funktionalisiert: Zum einen kündigt der Chorführer oft den Auftritt sich nahender Personen an18 oder kommentiert den Abtritt von Akteuren.19 Zum anderen kommt es mit einiger Regelmäßigkeit dem Chorführer zu, einen längeren Monolog einer Person mit einer kurzen, meist einen iambischen Doppelvers umfassenden Bemerkung zu kommentieren; inhaltlich reichen die Kommentare dabei von Bekräftigung des bzw. Zustimmung zum Gesagten20 über größtmögliche Ambivalenz21 bis hin zur Warnung vor anstößiger Rede und der Mahnung, Maß zu halten.22 Gerade in Konfliktstichomythien bilden die Kommentare des Chorführers nach bzw. zwischen den Rheseis der Antagonisten solche moderierenden Einwürfe, die sich teils durch eine besondere Wertschätzung beider Monologe, und damit durch besondere Ambivalenz, auszeichnen, oder aber allgemein zur Mäßigung aufrufen.23
In beiden Fällen kommt den Äußerungen des Chorführers eine das Drama bzw. die entsprechende Szene strukturierende Bedeutung zu. Dass dabei auch der Verzicht auf die standardisierten Kommentierungen und Einwürfe einen besonderen dramaturgischen Wert haben kann, wird die Einzeluntersuchung am Rande ad locum erweisen.
Die mit Musik und Tanz versehenen Lieder24 (Parodos, gegebenenfalls Epiparodos sowie Stasima) dienen dagegen formal und oberflächlich betrachtet zunächst als zwischen die (meist durch Auf- bzw. Abtritte gegliederten25) Szenen gesetzte reflektorische Passagen26 zur Trennung größerer Abschnitte („Akte“).27 Sie unterliegen in ihrer metrischen sowie sprachlich-motivischen Komposition in besonderem Maß dem Gestaltungswillen des Dichters,28 der dabei u.a. auf die Gattungen der Chorlyrik sowie deren Konventionen zurückgreift.29 So tragen einzelne Chorlieder innerhalb der Tragödie eindeutig strukturelle und inhaltliche Merkmale gewisser Gattungen der eigenständigen, in der Regel im kultischen Rahmen zu verortenden Chorlyrik.30 Dabei sind, wie schon bei den Werken der selbstständigen (Chor-)Lyrik, sowohl Musik als auch Tanzfiguren für uns im Allgemeinen verloren. Wir dürfen indes, ungeachtet aller Diskussion um antike Musik im Allgemeinen sowie bestimmte performative Momente der antiken Tragödie im Speziellen, davon ausgehen, dass die in den Liedern vorherrschenden Effekte und Emotionen auch in der Vertonung ihren Niederschlag gefunden haben und so die Bühnenwirkung des jeweiligen Stückes verstärkten.31
Während die vom Chorführer vorgetragenen Sprechverse (meist32) eine direkte Kommunikation mit den Personen des Dramas darstellen, steht der Chor während seiner Lieder allein im Zentrum der Aufmerksamkeit und hat keinen direkten Gesprächspartner, mit dem ein Austausch zustande käme.33 In der Regel befindet sich während eines Chorliedes keine Person mehr auf der Bühne. Andernfalls tritt diese in den Hintergrund oder agiert stumm, wobei die Kommentierung der Handlungen dem Chor zufällt.34 Die Chorlieder in den Tragödien unseres Autors werden dabei – grob gesagt – inhaltlich durch Reflexion, Deutung und Verarbeitung sowie Vorahnung der dramatischen Handlung bestimmt;35 sie stehen so der Handlung als solcher zunächst gegenüber und ergänzen sie. Zu zeigen, in welchem Verhältnis diese Passagen zur Handlung, zum dramatischen Geschehen und den einzelnen Personen stehen, ist Aufgabe der Einzelinterpretationen im Hauptteil der vorliegenden Arbeit.36 Der folgende Abschnitt wird sich mit verschiedenen Techniken bzw. Strategien dieser spezifisch chorischen Reflexion beschäftigen.
Innerhalb der Tragödie besteht, wie bereits festgehalten, zwischen Chor- und Sprechpartien1 nicht nur eine formale, für den ursprünglichen Rezipienten audiovisuell wahrnehmbare,2 sondern auch eine inhaltliche Differenz: Als im Wesentlichen reflektierende Partien eines Kollektivs3 stehen die lyrischen Abschnitte des Chors den eigentlichen dramatischen, d.h. die Aktion der Akteure darstellenden Teilen der Tragödie gegenüber.4
Da sich mit dem Chor ein im personellen Rahmen des dargestellten Mythos verorteter Sprecher, eine dramatis persona äußert, bilden den Gegenstand der Reflexion dabei allerdings letztlich das Bühnengeschehen bzw. mit ihm in Zusammenhang stehende Momente oder Phänomene. Auch wenn der Bezug der chorischen Partie zum dramatischen Rahmen nicht unmittelbar ersichtlich ist oder sich erst im Lauf des Liedes herauskristallisiert,5 ist bei unserem Dichter durchgängig ein Bezug der chorischen Reflexion zum Stückganzen bzw. zu entscheidenden Motiven festzustellen. Anders gesagt: Die chorische Reflexion steht immer in einem klar zu umreißenden Verhältnis zur eigentlichen Handlung oder zu ihr zu Grunde liegenden Motiven. Um den Nachweis der konkreten Anknüpfungspunkte und die Verortung der jeweiligen Chorpartien haben sich im Besonderen die dem (reinen) dramatis persona-Konzept verpflichteten Arbeiten verdient gemacht.6 Hinter die so deutlich vor Augen geführte Einbindung der chorischen Partien als Äußerungen einer dramatis persona zurückzufallen und, wie es die Sprachrohr-Theorie oder die Identifikation des Chors mit dem idealisierten Zuschauer insinuierte, die Chorpartien gänzlich von der Handlung zu trennen, ist auch angesichts der von der neueren Forschung betonten „otherness“ des Phänomens Chor und seiner Rekontextualisierung im politisch-kultisch-sozialen Umfeld nicht statthaft. Die Analysen des Hauptteils werden die chorischen Partien und ihre Reflexion dementsprechend immer als Äußerung der im Geschehen verorteten Choreuten verstehen.
Das Chorlied ist weiterhin, wie GRUBER formuliert, „der autonome Kommunikationsraum für die Lenkung der Perspektive des Zuschauers“.7 Dass den Liedern dabei genuin dramaturgische Funktionen wie die Steigerung oder Drosselung des dramatischen Tempos sowie die Gliederung und Strukturierung gewisser Abschnitte des Dramas oder des ganzen Stücks zukommen, ist folgerichtig; die Einzelinterpretationen des Hauptteils werden im Besonderen diese dramaturgischen Implikationen einer jeden Partie herauszustellen versuchen.
Bereits GRUBER gibt daraufhin einen kurzen Abriss verschiedener Punkte, die in der Reflexion des Chors eine Rolle spielen können: die Einblendung verschiedener Zeitebenen, die Eröffnung einer anderen Perspektive hinsichtlich des Handlungsraums sowie eine Interpretation des Geschehens nach „vertrauten Deutungsmustern“.8 Damit ist in aller Kürze bereits ein gewisses Panorama chorischer Reflexionsinhalte und -strategien umrissen, die sich auch bei unserem Autor finden. Um der tatsächlichen Fülle an reflektierenden Partien im Werk des Sophokles gerecht zu werden und angesichts der geradezu „chamäleongleiche[n] Multifunktionalität“, durch die sich nach WILLMS der Chor im attischen Drama auszeichnete,9 ist es geraten, der Untersuchung der einzelnen Dramen und Partien eine grundsätzliche Kategorisierung vorauszuschicken, die die zielgerichtete Untersuchung der Einzelpassagen und schließlich eine zusammenfassende Einordnung der behandelten Partien ermöglichen wird.
Mit den folgenden grundsätzlichen Überlegungen soll so ein theoretischer Rahmen eröffnet werden, der zum einen mögliche Vorgehensweisen chorischer Reflexion vorstellen, zum anderen ihre basale dramaturgische Funktionalisierung kurz anreißen wird. Mit Hilfe des so entwickelten Instrumentariums können die Analysen des Hauptteils die konkrete Ausprägung der hier allgemein entworfenen Sachverhalte untersuchen und ein detailliertes Bild der jeweiligen dramaturgischen Implikationen nachzeichnen.
Neben das bereits erläuterte und mit Blick auf die vorliegenden Tragödien konkretisierte Spektrum der Rollenidentität des Chors, in das die Person des Chors sowie seine Beziehung zu den Akteuren innerhalb des gesamten Stücks eingeordnet werden kann, treten dabei zwei weitere Spektren, die die Einordnung der Chorpassagen selbst ermöglichen sollen.
Unter „Reflexionsstrategien“ soll der je eigene Zugang verstanden werden, den die Chorpartie bei der Beschäftigung mit ihrem Gegenstand beschreitet und der so die Chorpassage nicht nur in Bezug auf die in ihr verhandelten Momente der Handlung, sondern auch mit Blick auf ihre eigene sprachliche und poetische Gestalt maßgeblich prägt. Anders gesagt: Mit Reflexionsstrategie soll im Wesentlichen der Ansatz gemeint sein, der für die entsprechende Partie oder einen Teil derselben programmatische Bedeutung hat.
Mit Blick auf die Vielfalt und Verschiedenheit der chorischen Reflexionen unseres Autors lässt sich guten Gewissens keine Einteilung in fest umrissene Typen oder Kategorien vornehmen.1 Vielmehr soll hier versucht werden, das weite Spektrum verschiedener Reflexionsstrategien bzw. -ansätze zunächst von seinen Enden her aufzuzeigen. Diese im Folgenden aufgeführten Randpunkte verstehen sich dabei als geradezu theoretische Extreme, die sich einerseits gegenseitig kontrastiv definieren, andererseits in der konkreten Verwirklichung nie in Reinform auftreten; es wird daher den Einzelanalysen des Hauptteils zukommen, die jeweiligen Partien innerhalb dieses so umrissenen Spektrums einzuordnen.
Als Rahmenpunkte des Spektrums der Reflexionsstrategien sollen hier das Konzept einer thematisch-begrifflichen von einer imaginativ-visualisierenden Reflexion unterschieden werden. Diese Distinktion erfolgt dabei zwar zunächst abstrakt, versteht sich aber als an der Realität der Chorpassagen entwickelt.2 Mit Blick auf die Interpretationen des Hauptteils sind der Beschreibung des jeweiligen Reflexionsansatzes zudem einige die Interpretation leitende Fragen beigegeben; diese Leitfragen konstituieren so den methodischen Rahmen der Einzelanalysen.
Unter thematisch-begrifflicher Reflexion verstehe ich eine chorische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen, der Handlung entspringenden bzw. mit ihr in Verbindung stehenden Gegenstand, die im Wesentlichen bestrebt ist, ein (oder mehrere) mehr oder minder abstraktes Thema (bzw. Themen) zu verhandeln. Ein solcher Ansatz bedient sich dabei gedanklicher und weitestgehend ungegenständlicher Konzepte: Geleitet von einer teils deskriptiven, teils argumentativen Logik versucht eine derartige Reflexion, durch den Aufweis von Gründen, Folgerungen, Einschränkungen, Beweisen u.Ä. das in Rede stehende Thema darzustellen, es argumentativ zu durchdringen und gegebenenfalls die Position des Chors dazu zu markieren.
Die Verbalisierung des Themas selbst kann dabei an verschiedenen Stellen innerhalb der reflektierenden Partie erfolgen, was den gedanklichen Aufbau der Passage wesentlich prägt. So kann eine Themenangabe durch ein Schlagwort bereits zu Beginn der Partie erfolgen,1 die Mitte der Ausführungen bilden oder das Ende der Reflexion markieren. Ebenso ist es möglich, geradezu leitmotivisch an verschiedenen Punkten der Passage das eigentliche Thema aufzurufen.
Das Thema selbst übt dabei wesentlichen Einfluss auf das Abstraktionsniveau und die sprachliche Gestaltung der Reflexion aus: So wird sich die Behandlung eines besonders unanschaulichen, spekulativen Themas (z.B. der Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals2 oder bestimmter menschlicher Grundeigenschaften3) von der eines dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung entnommenen Themas (z.B. der konkreten Unwirtlichkeit des Krieges4 oder der Schwierigkeiten des Überlebens unter widrigen Umständen5) hinsichtlich der gedanklichen Tiefe und der gewählten Formulierungen und Begriffe unterscheiden.
In welcher konkreten Beziehung das so behandelte Thema (und dementsprechend die gesamte Reflexion) zur dramatischen Handlung steht, kann dabei dezidiert ausgesprochen oder auch nur implizit angedeutet werden.6
Das Verständnis derartiger Reflexionen ist zunächst davon abhängig, das eigentliche Thema bzw. die Themen zu bestimmen bzw. zu umreißen. Die nachvollziehende Interpretation derartiger Partien legt ferner besonderen Wert auf das Verständnis der kausallogischen Verknüpfung der einzelnen Gedanken und das Erfassen der Gedankenbewegung, sowie gegebenenfalls auf die Rekonstruktion eines abstrakten, teils spekulativen Reflexionsrahmens, innerhalb dessen sich die konkrete Ausdeutung verorten lässt.
Anliegen eines imaginativ-visualisierenden Reflexionszugangs ist es dagegen, ein möglichst plastisches, figuratives Bild zu entwerfen. Der dem dramatischen Geschehen entnommene Gegenstand der Reflexion wird so in eine oder mehrere imaginative bzw. visualisierende Szenen umgesetzt, die entweder detailliert und umfassend ausgestaltet oder im Sinne eines Schlaglichts kurz angerissen sein können. Dabei kann ein bildlich ausgestaltetes Motiv für eine Passage programmatische Wirkung haben und verschiedene Szenen miteinander verbinden.2
Es ist dabei von Zeit zu Zeit hilfreich, innerhalb dieses Reflexionsansatzes etwas weiter zu differenzieren: Unter Visualisierung soll das konkrete Sichtbarmachen eines der eigentlichen Handlung zugehörigen, den Rezipienten – d.h. dem Theaterpublikum – aber nicht erfahrbaren, weil hinterszenischen3 oder zurückliegenden4 Geschehens verstanden werden. Imagination meint dagegen die bildhafte Ausgestaltung eines der Handlung entsprungenen oder mit ihr in Zusammenhang stehenden Moments, das allerdings kein eigentliches zum engen Rahmen der Handlung gehörendes Geschehen darstellt. So kann beispielsweise eine der dramatischen Situation innewohnende Stimmung durch den Chor in einem Bild illustriert werden5 oder aber die Imagination von Orten oder Personen außerhalb des Handlungsorts zur Kontrastierung mit dem eigentlichen Geschehen erfolgen.6
Die Interpretation der durch den imaginativ-visualisierenden Reflexionszugang geprägten Partien hat ihr Augenmerk demnach im Speziellen auf die Gestaltung der poetisch-bildhaften Details zu richten und den Einsatz besonders prominenter poetischer Mittel (v.a. die Personifikation bzw. Prosopopoiie, gegebenenfalls die Narrativik der Passage) zu untersuchen. Gerade der Einsatz von Adjektiven, die Verortung des aufgeworfenen Bildes in Zeit und Raum (in Relation zum eigentlichen Bühnengeschehen) und das je eigene Verhältnis einzelner Bildebenen sind bei der nachvollziehenden Interpretation von besonderem Interesse.
Dass den reflektierenden Chorpartien als Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit des Zuschauers genuin dramaturgische Funktion zukommt, ist oben bereits angemerkt worden. Diese Arbeit verzichtet bewusst darauf, ein (theaterwissenschaftlich-)theoretisch fundiertes, modernes Konzept von Dramaturgie zu entwerfen. Was mit dem Begriff „Dramaturgie“ und der damit zusammenhängenden dramaturgischen Funktionalisierung bzw. den dramaturgischen Implikationen verstanden werden soll, muss dennoch in aller Kürze umrissen werden.
Dramaturgie meint im Rahmen dieser Arbeit die mit Blick auf die Lenkung der Aufmerksamkeit des Rezipienten vorgenommene Anordnung der einzelnen Formteile der Tragödie sowie ihre absichtsvolle Gestaltung im Einzelnen.1 Ganz vom jeweils dargestellten Mythos, dem Plot der Tragödie ausgehend, fragen die unter dem Schlagwort „Dramaturgie“ subsumierten Ansätze daher sowohl nach der Struktur der Tragödie im Ganzen, der Komposition ihrer Teile sowie der damit einhergehenden bzw. durch sie konstituierten Dramatisierung der eigentlichen Handlung bzw. der mit ihr in Zusammenhang stehenden Phänomene und Momente.
Entscheidende Untersuchungsgegenstände sind dabei unter anderem die Steuerung des dramatischen Tempos, d.h. der bewusste Wechsel von Partien, die die Handlung beschleunigen, und solchen, die den Fluss des Geschehens verlangsamen, sowie der Einsatz bestimmter Formelemente zur Strukturierung des Dramas. Der besondere Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf den Chorpartien sowie der chorischen Präsenz im Ganzen. Deren dramaturgischen Wert für das jeweilige Einzelstück herauszustellen sowie den Versuch einer Gesamtschau über die uns überlieferten Tragödien des Sophokles zu umreißen, ist eine Hauptaufgabe der Untersuchung. Um den spezifischen dramaturgischen Wert einer untersuchten Chorpassage zu fassen, sollen dabei die durch ihre Gestaltung im Einzelnen sowie ihre Positionierung innerhalb des Stückganzen gegebenen dramaturgischen Implikationen aufgespürt werden. Konkret wird daher gefragt werden, wie einzelne poetische bzw. reflektierende Momente und Gestaltungsprinzipien dramaturgisch funktionalisiert werden. Im besten Fall lässt sich daraufhin die dramaturgische Funktion einer ganzen Partie möglichst konzise angeben.