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Die Wölfe der Vulkangarde sind beunruhigt: Eine Kältewelle ist über die Hinterlande hereingebrochen, die Karibuherden bleiben aus und es herrscht eine bittere Hungersnot. Außerdem verschwinden immer mehr Wölfe auf mysteriöse Weise. Faolan und Edme werden losgeschickt, um der Sache auf den Grund zu gehen - und machen eine unglaubliche Entdeckung: Ein selbsternannter Prophet schart Wölfe um sich. Und er scheint eine geheimnisvolle Macht über seine Anhänger auszuüben. Band 4 der abenteuerlichen Tierfantasy-Reihe von Bestseller-Autorin Kathryn Lasky!
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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHDeutsche Erstausgabe © 2014 Ravensburger Verlag GmbHCopyright © 2011 by Kathryn Lasky, All rights reservedPublished by Arrangement with SCHOLASTICINC., 557 Broadway, New York, NY 10012 USADie Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Wolves of the Beyond. Frost Wolf bei Scholastic Press.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Übersetzung: Ilse RothfussRedaktion: Franziska Jaekel Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie, Zürich, Dominic WilhelmVorsatzkarte: Wahed KhakdanAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47586-5www.ravensburger.de
Für Rachel Griffiths
Er hörte das Hämmern ihrer Herzen hinter sich. Die Rentiere, Junge wie Alte, kämpften sich durch den Schnee- und Hagelsturm. Die Wanderroute hatte sich tief in die Muskeln des alten Bocks eingegraben, der die Herde so lange Jahre geführt hatte. Er kannte den Pfad, so wie sein Vater vor ihm, und davor sein Großvater, und immer weiter zurück, bis zum Beginn der Zeiten. Seit einer Ewigkeit legten sie diese Wanderung zurück, aber jetzt war er verwirrt. Verwirrt und orientierungslos. Der alte Rentierbock führte die Herde seit Tagen im Kreis – seit der schreckliche Schneesturm eingesetzt hatte.
Alle üblichen Wegzeichen hatte das Unwetter verschluckt. Dabei waren sie zur rechten Zeit nach Norden aufgebrochen, im Mond der Neuen Geweihe. Dann war etwas schiefgegangen. Während die Herde nordwärts zog, wanderte die Jahreszeit rückwärts. Oder war der Winter nie gegangen? Aber warum fielen die Geweihe der Herde ab, wenn es nicht die Zeit der Frühlingsmonde war?
Dem alten Rentierbock schien es, als taumelte er mit seiner Herde am Rand eines Abgrunds. Er würde also nicht auf die gewohnte Art untergehen, von einem jüngeren, stärkeren Männchen besiegt. Das hier war nicht nur sein eigener Tod, sondern der seiner ganzen Herde. Er hörte sie blöken, ungläubig und verwirrt. Was tun wir hier? Wo sind die Flechten, wo ist das Sommergras? Wohin führst du uns nur?
Doch der alte Bock wagte nicht zuzugeben, dass er die Orientierung längst verloren hatte. Die grenzenlosen, kahlen Weiten der Hinterlande entglitten ihm und er irrte durch den Wald, immer im Kreis herum. Keine Spur von dem süßen Sommergras. Die saftigen Moose und Flechten der Sommerweiden verblassten zu einer fernen Erinnerung.
Sie hörte, wie die Bäume sich draußen in den Wind legten und vor Verzweiflung ächzten. Edme, die als Gardewölfin im Kreis der Vulkane diente, war noch nie in einem so dicht bewaldeten Landstrich gewesen. Und noch nie hatte sie sich so weit vom Glutschimmer des Vulkankreises entfernt, seit sie dort ihren Wachdienst angetreten hatte. Aber das hier waren besondere Zeiten. Und sie fragte sich, ob die Verzweiflung, die sie im Ächzen der Bäume hörte, wirklich nur in ihrer Fantasie existierte.
Über all diese Dinge dachte sie nach, während sie auf Faolans Rückkehr wartete. Eigentlich hätte sie schlafen müssen, damit sie ausgeruht war, wenn sie Faolan nachher ablöste, um draußen nach Spuren zu suchen. Nach den Fährten der Herden, die nie in die Hinterlande zurückgekehrt waren, nach Rentierherden oder einzeln umherziehenden Wanderern wie Elche oder Rothirsche. Aber die Tiere waren verschwunden.
Normalerweise hätten in diesem Mond mindestens ein Dutzend Herden das weite Gebiet des Vulkankreises durchquert und noch zehnmal mehr die gesamten Hinterlande. Aber bisher war nur eine Herde gesichtet worden. Die Wolfsclans mussten immer weiter fortwandern, wenn sie auf die Jagd gingen, denn der Fleischpfad schwand dahin. Was, wenn er irgendwann ganz versiegte?
Es war Sommer, die Zeit des Fleisches. Das war ja gerade das Unheimliche. Der Mond der Fliegen war da, doch selbst die Fliegen blieben aus. Das Wetter wechselte zwischen der bitteren Kälte der Wintermonde und den nassen, stürmischen Tagen der Eisbruchmonde, der ersten Frühlingsmonde. Der eine Tag brachte verheißungsvolle Wärme, der nächste Eisregen oder gar Schnee. Das Eis auf den Flüssen war erst im Mond der Neuen Geweihe aufgebrochen, viel später als sonst. Und selbst dann noch wollte das Eis nicht weichen. Der Mond der Neuen Geweihe brachte normalerweise warme Winde, doch in diesem Jahr überzog er das Land mit Eisstürmen, die bis in den Mond der Fliegen reichten. Dahinter kam eine Wetterfront, die einen schweren Schneesturm verhieß. Immer dichter ballten sich die Wolken zusammen und warfen ein düsteres Licht über die Hinterlande. Wo war die Sonne? War sie mit den großen Herden ins Nirgendwo gewandert?
Hin und wieder stießen die Wölfe auf ein einzelnes Rentier. Aber so ein Einzelgänger, der kaum die Größe eines Elchs oder Rothirschs hatte, lieferte bei Weitem nicht genug Fleisch für ein ganzes Rudel, geschweige denn einen Clan. Und überhaupt, warum zog ein Rentier allein umher? Rentiere waren doch Herdentiere.
Je mehr der Fleischpfad versiegte, desto öfter kam es unter den Wölfen zu kleineren Verstößen gegen die Clangrenzen. Und das Schlimmste war, dass einige Clans ihre Informationen nicht an die anderen weitergaben, wenn sie einzelne Tiere oder ganze Herden in der Nähe ihrer Grenzen sichteten. Das war unerhört. Und vielleicht war das der Grund für das seltsamste Phänomen, das Edme in den letzten Monden beobachtet hatte – dieses schreckliche Schweigen in den Hinterlanden. Der bloße Gedanke daran ließ sie erschauern.
Dabei hing das Wohl der Hinterlande von der Verständigung zwischen den Clans und den einzelnen Wolfsrudeln ab, die die Clans bildeten. Die Skrielin waren dazu da, Botschaften von Rudel zu Rudel zu heulen und beispielsweise den Durchzug einer Rentierherde anzukündigen. Oder einen Elch, den ein Bär erlegt hatte, falls der Bär bereit war, seine Beute mit Wölfen zu teilen. Aber das war vorbei. Jetzt herrschte tiefes, lähmendes Schweigen bis weit über die Hinterlande hinaus. Es war, als hielten alle Wölfe den Atem an, in der Hoffnung, dass endlich der ersehnte Ruf erschallen würde. Dass eine Skrielin das Eintreffen einer Herde verkündete, oder einer Hirschkuh, eines Elchs, was auch immer. Aber nichts störte die Stille. War den Skrielin etwa befohlen worden, nicht zu heulen, falls tatsächlich irgendwo Fleisch gesichtet wurde? Oder schnürte ihnen die Angst die Kehle zu, weil eine schlimme Hungersnot im Anzug war?
Edme schreckte aus ihren Gedanken hoch. Da war etwas direkt am Höhleneingang. Dann wich die Dunkelheit und eine glühende Gestalt tauchte im Eingang auf. Edme sog scharf die Luft ein. Es war ein Wolf, eindeutig, aber was für einer! Noch nie hatte sie so ein Wolfswesen gesehen. Riesig und strahlend, aber alt, steinalt. Eine Lochin! Edme stockte das Blut in den Adern. Im selben Moment zerriss ein ersticktes Bellen die eisige Luft.
„Urskadamus tine smyorfin masach!“
Edme wusste nicht, wem sie mehr trauen sollte – ihrem Auge oder ihren Ohren? Sie kannte nur einen Wolf, der nicht nur in der Sprache der Bären, sondern auch in der alten Wolfssprache fluchen konnte.
„Faolan?“
„Wer sonst, um Lupus’ willen? Was ist, Edme? Du starrst mich an, als hättest du einen Geist gesehen.“
„Hab ich ja auch. Mit dem ganzen Eis und Schnee auf deinem Fell siehst du haargenau aus wie eine Lochin.“
Faolon stieß ein abfälliges Bellen aus.
„Wirklich, Faolan, du müsstest dich mal sehen“, beharrte Edme. „Du hast Eiszapfen am Kinnfell hängen. Und dein Bauchfell sieht aus, als …“
„Ich weiß, ich weiß! Ich spür’s doch selber“, knurrte Faolan unwirsch.
„Uralt siehst du aus. Noch älter als die Sark.“
„Na toll – herzlichen Dank auch“, schnaubte Faolan.
„Und? Was hast du gefunden?“
„Kein Fleisch.“ Faolan verstummte.
„Also gut. Dann bin ich jetzt dran. Vielleicht hab ich mehr Glück auf meinem Erkundungsgang.“
Faolan zögerte einen Augenblick, dann sagte er kurz angebunden: „Ich komme mit dir.“
„Nein, warum? Du bist doch gar nicht an der Reihe.“
„Ich muss dir was zeigen, Edme. Etwas, das …“, wieder zögerte Faolan, „… das überhaupt keinen Sinn macht.“
Edme trat näher zu ihm und legte den Kopf schief. „Faolan, wovon redest du?“
„Es ist … unheimlich. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Aber du musst es sehen.“
„Und du musst dich ausruhen, Faolan. Wir haben seit gestern keinen Bissen Fleisch in den Magen bekommen. Der Schneehase, den wir gefangen haben, war ja kaum der Rede wert. Der hätte nicht mal für einen Welpen gereicht.“
„Ist doch egal“, fauchte Faolan. „Ich muss mitkommen, Edme. Wir müssen uns das gemeinsam ansehen.“ Er blickte direkt in ihr eines grünes Auge.
„Also gut, Faolan. Aber erst ruhst du dich ein bisschen aus.“
Der Mond hing wie ein Schmierfleck hinter der Wand aus wirbelndem Schnee, als sie zum Schattenwald an der südöstlichen Grenze zwischen den Hinterlanden und dem Königreich Ga’Hoole liefen. Es war noch kein ausgewachsener Blizzard, aber alle Zeichen deuteten darauf hin, dass bald einer kommen würde. Ein Schneesturm im Mond der Fliegen!
Edme und Faolan liefen in zügigem Schneepfotentempo dahin. Sie hatten die Zehen weit gespreizt, um nicht im Pulverschnee einzusinken. Ihre spindeldürren Beine schwebten geradezu über die wachsenden Schneewälle. Die Flocken fielen unablässig. Faolan lief nur wenige Schritte vor Edme und trotzdem verschwand er manchmal fast ganz im wirbelnden Schnee. Ein paar Sekunden lang verlor sie ihn völlig aus den Augen. Auch Faolan drehte sich immer wieder um oder spähte über die Schulter zurück. Und das Mark gefror ihm in den Knochen, wenn er Edme nicht sofort hinter sich sah. Es war wie ein Sturz ins Leere. Als wären die Hinterlande entzweigebrochen und sie purzelten in einen Abgrund grenzenloser Kälte.
Wenn sie sich wieder im Blick hatten, atmeten sie auf. Aber Faolan erschien Edme genauso unwirklich wie vorher, als er zu ihr in den Bau zurückgekehrt war. Wie ein Geist war er vor ihr aufgetaucht. Aber etwas anderes hatte sie noch viel mehr erschreckt. Trotz seiner gewaltigen Größe – Faolan überragte die anderen Wölfe um ein gutes Drittel – wirkte er gebrechlich. Ja, sogar alt.
Faolan ahnte nichts von Edmes Gedanken. Ihn beunruhigten die Spuren, die er entdeckt hatte. Der Bach, den sie überquerten, war zugefroren, auch wenn das Eis an manchen Stellen sehr dünn aussah. Dünn genug vielleicht, dass sie es aufbrechen und ein paar Fische fangen konnten? Die waren jetzt langsam, denn sie bewegten sich kaum unter dem kalten Gefängnis des Oberflächeneises.
Später, dachte Faolan und verbannte den Gedanken an ein fettes Fischmahl aus seinem Kopf. Nimm dir ein Beispiel an den Bären. Die spüren nicht den mindesten Hunger in ihrem langen Kälteschlaf. Ihr Herz schlug dann langsamer und ihr Geist verwirrte sich im Traum. Doch jetzt war Sommer. Was machten die Bären da? Wie sollten sie ein ganzes Jahr durchschlafen, ohne hungrig zu werden?
„Hier!“, rief Faolan plötzlich. „Halt!“
„Was?“
„Ich will nicht, dass du die Fährte verwischst.“
„Was für eine Fährte?“, fragte Edme.
Die Abdrücke waren schwach, aber erkennbar. „Das sind Rentierspuren. Und zwar viele!“, erklärte Faolan.
Edme hatte die Abdrücke jetzt auch entdeckt und hielt ihre Nase dicht an den Schnee, um der Fährte zu folgen. Schnüffelnd schwenkte sie den Kopf hin und her, während sie den schwachen Duft aufnahm. Faolan beobachtete sie. Nach kurzer Zeit kehrte sie zu der Stelle zurück, von der die Fährte ausging.
„Komisch“, sagte sie kopfschüttelnd. „Man könnte meinen, sie laufen in diesem Wald im Kreis herum.“
„Das tun sie auch. Jedenfalls bis jetzt“, gab Faolan zurück.
„Den Abdrücken nach wurden sie wahrscheinlich von einem alten Bock geführt. Und der scheint die Orientierung verloren zu haben.“ Edme hielt inne. „Aber dass er im Kreis herumläuft?“
„Ja, komisch, was?“
„Und wo sind sie hin?“, fragte Edme.
„Ich weiß es nicht. Die Fährte verschwindet einfach. Löst sich in Luft auf.“
Wie die Bäume, die verzweifelt in der Nacht ächzten, lag auch in den Hufabdrücken der Rentiere eine tiefe Angst. Das Schneetreiben hörte plötzlich auf und der Mond trat in blendender Helligkeit hervor. Die Rentierfährte zeichnete sich deutlicher ab, wurde fast unwiderstehlich. Faolan und Edme starrten darauf und das Wasser lief ihnen im Maul zusammen. Wenn die Spur doch nur irgendwohin führen würde – zu einer Herde oder einer geschwächten alten Kuh. Aber diese Fährte war wie ein grausamer Scherz. Ein alter, orientierungsloser Rentierbock, der seine Herde ins Nichts führte. Faolans und Edmes Mägen rumpelten.
Nachdem sie die Fährte eingehend untersucht hatten, lief Faolan in den Bau zurück, um sich auszuruhen. Edme setzte ihren Erkundungsgang allein fort. Vielleicht konnte sie noch mehr Rentierspuren ausmachen? Aber ihre Suche blieb erfolglos. Als am nächsten Morgen die Dämmerung heraufzog, brachen die beiden Wölfe zum Kreis der Heiligen Vulkane auf.
„Warte mal, Edme“, sagte Faolan. „Lass uns den Bach hier überqueren. Das Eis ist an manchen Stellen ziemlich dünn, vielleicht können wir ein paar Fische fangen.“
Edme willigte sofort ein. Bald hatten sie mit ihren Klauen das Eis aufgebrochen und fingen drei winterdünne Lachse.
„Ich weiß nicht … Irgendwie ist es nicht richtig, die Fische zu fangen, solange sie sich kaum bewegen können. Das ist kein anständiger Kampf. Und Fleisch ist auch nicht viel dran.“ Edme schüttelte beklommen den Kopf, nachdem sie das letzte Stück verschlungen hatte.
„Friss den Kopf, Edme. Bei Donnerherz musste ich immer den Kopf auffressen. Das ist der nahrhafteste Teil, hat sie gesagt.“
Edme schauderte. Einen Fischkopf verschlingen, igitt. Der bloße Gedanke drehte ihr den Magen um. Noch dazu, nachdem sie die verheißungsvolle Rentierfährte entdeckt hatten.
„Los, friss ihn“, knurrte Faolan.
„Du klingst ja fast schon wie ein Grizzly“, brummte Edme. Dann biss sie ein winziges Stück von dem Fischkopf ab.
„Na und? Was soll schlimm daran sein?“, lachte Faolan.
Die Grizzlybärin Donnerherz war seine zweite Milchgeberin gewesen. Sie hatte ihn gerettet und aufgezogen, nachdem er von seinem Clan als Malcadh ausgesetzt worden war. Donnerherz hatte ihn aus dem Fluss gezogen und trotz seiner gespreizten Pfote wie ihr eigenes Junges geliebt. Sie hatte ihn gesäugt und später jagen und fischen gelehrt – damals, in den goldenen Monden seines ersten Lebenssommers. Aber jetzt war sie fort, genau wie Faolans erste Milchgeberin. Nachdenklich kaute er seinen Fischkopf und sah zum Himmel auf. Es schneite wieder. Faolan richtete den Blick zum Sternbild der Wölfe und der Bären empor – zur himmlischen Höhle der Seelen und zu Ursulana. Er konnte zwar keine Sterne sehen, aber das machte nichts. Seine beiden Milchmütter waren dort oben, das wusste er. Sie saßen schön gemütlich in ihrem jeweiligen Himmel.
Der Wind frischte jetzt auf und fegte von Norden her, eisig und scharf wie eine Klinge. Faolan und Edme hätten die ganze Zeit gegen den Wind laufen müssen, um auf kürzestem Weg zum Vulkankreis zu kommen. Das war aber viel zu anstrengend mit den drei armseligen Fischen in ihren hungrigen Mägen.
„Also gut“, seufzte Faolan. „Bei diesem Wind ist es besser, wenn wir einen Umweg machen. Lass uns zur östlichen Grenze des MacNab- und MacDuff-Gebiets laufen. Komm schon, Edme. Nur nicht schlappmachen.“
Als sie den Schattenwald hinter sich ließen, schneite es nicht mehr. Überall türmten sich Schneewehen auf, aber sie waren nicht sehr dick und die beiden Wölfe konnten etwas Tempo zulegen. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und knallte erbarmungslos herunter. Wenn es so weiterging, würde sich bald ein Eisfilm auf dem Pfad bilden. Das Gehen wäre dann viel mühsamer. Edme schüttelte den Kopf. Was waren das für Zeiten, in der die Sommersonne mit Eisbildung einherging? Wie konnte die Welt sich so schnell verändern?, dachte sie, während sie hinter Faolan hertrottete.
Plötzlich bremste Faolan vor ihr ab und kam schlitternd zum Halten.
„Nicht jetzt schon!“, brummte Edme und schloss zu ihrem Freund auf. Vorsichtig verhakte sie die Klauen im verharschten Schnee, um nicht auszurutschen.
„Sieh mal, da vorne!“, rief Faolan. Es schneite wieder, diesmal noch heftiger. Eisige Böen peitschten ihnen die Flocken ins Gesicht. Und mit den Schneeböen kam noch etwas anderes zu ihnen – ein vertrauter Geruch. Der Wind flaute ab und hinter dem weißen Blizzardschleier ragte eine dunkle Gestalt auf. Ein Elch.
Ein verheißungsvoller Fleischgeruch erfüllte die Luft. Edme und Faolan wechselten einen Blick. Waren sie fähig, eines der größten Tiere der Hinterlande zu Fall zu bringen? Der Elch war nicht voll ausgewachsen, aber gefährlich konnte er ihnen trotzdem werden. Elche waren unberechenbar. So mancher Wolf hatte im Kampf mit einem Elch sein Leben gelassen. Die spitzen Geweihstangen waren tödliche Waffen.
Aber der Hunger war größer als die Angst. Die Mägen der beiden Wölfe knurrten. Neue Kraft durchflutete sie und sie folgten dem Elch windabwärts, bis sie in Angriffsweite kamen. Die Beute durfte auf keinen Fall vorzeitig ihre Witterung aufnehmen.
Jetzt!, kommandierte Faolan lautlos, indem er kurz seine Ohren herumschnellen ließ. Er scherte aus und jagte windaufwärts. Edme schoss durch das Weiß und zog eine wirbelnde Schneespur hinter sich her wie einen schmalen Pfad, der vom Fleischgeruch getränkt war. Der Elch nahm ihre Witterung auf und stürmte los. Er war zwar klein für einen Elch, aber trotzdem schnell. Faolan setzte sich an seine linke Flanke, um ihn mit einem klassischen Wendemanöver abzudrängen. Im nächsten Moment schoss Edme vor und schnitt der Beute den Weg ab. Jetzt schon?, dachte Faolan. Das war gefährlich. Der Elch könnte sich zu abrupt herumwerfen.
„Lass ihn gehen!“ Faolan heulte das Signal, mit dem die Jagd abgeblasen wurde. Aber Edme hielt nicht an. Der Elch erspähte sie aus dem Augenwinkel und stieß ein Brüllen aus, das den Sturmhimmel erbeben ließ. Im nächsten Moment würde er angreifen.
„Edme!“, schrie Faolan entsetzt. Dann flog etwas Kleines durch die Luft – und die Welt stand still. Alles hörte auf, außer dem Brüllen des Elchs, das die ganze Landschaft erfüllte. Er hieb auf etwas ein, das jetzt völlig mit dem wirbelnden Schnee verschmolz.
„Edme?“ Verzweifelt blickte Faolan sich um. Das Brüllen des Elchs verebbte in der Ferne. „Edme?“, rief er mit brüchiger Stimme.
Nach einer Weile regte sich etwas in einer kleinen Schneewehe vor ihm.
„Ich bin okay. Alles gut“, keuchte Edme, die wie ein Geist aus dem Schneehügel auftauchte. Ihre Beine wackelten ein bisschen, aber Faolan sah kein Blut an ihr.
Im ersten Moment brachte er kein Wort heraus. „Edme, warum machst du so was?“, stieß er schließlich hervor. „Das war cag mag! Wie konntest du nur? Ihm einfach vor die Füße springen!“ Faolans Augen waren ganz dunkel vor Angst.
„Ich weiß, Faolan … das war dumm von mir. Aber der Geruch – ich konnte nur noch an das Fleisch denken. Es war schrecklich. Nein, eigentlich wird mir jetzt erst bange, wenn ich mir vorstelle, was ich da gemacht habe … Aber ich hatte einfach solchen Hunger, verstehst du?“ Edme schaute Faolan an, der am ganzen Körper zitterte.
„Edme, wenn er dich getötet hätte …“
„Tut mir leid, Faolan. Ich wollte dir keinen Schreck einjagen.“ Eine grenzenlose Traurigkeit stieg in Edme auf. Zerknirscht trat sie zu Faolan und rieb sich an seiner Schulter. „Ich bin da, Faolan. Mir ist nichts passiert. Und ich mach das nie wieder, Ehrenwort.“
„Versprichst du es mir?“
Edme schwieg ein paar Sekunden. „Der Hunger hat mich verrückt gemacht. Auch ein vernünftiger Wolf kann mal den Verstand verlieren. Aber so weit lasse ich es nicht mehr kommen. Das verspreche ich dir, Faolan.“ Sie verstummte, dann fügte sie hinzu: „Ich hab was herausgefunden. Willst du es hören?“
„Ja, was denn?“
„Ich bin dem Elch so nahe gekommen, dass ich Milch an ihm gerochen habe – alte Milch.“
„Alte Milch? Du meinst …“
„Das war ein Elchkalb. Ein kleiner Bock. Er müsste bei seiner Mama sein. Elchkälber bleiben ganz dicht bei ihren Müttern und werden bis zum Beginn der Schneemonde gesäugt. Das weißt du doch.“
„Dann muss seine Mama tot sein“, erklärte Faolan.
„Ja, aber normalerweise hätte ihn eine andere Elchkuh angenommen, wenn er verwaist ist – eine zweite Milchgeberin.“
Faolan antwortete nicht gleich. „Dann ist er also der letzte Elch der Hinterlande.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Völlig ausgelaugt trafen Faolan und Edme am Vulkankreis ein. Sie gingen schnurstracks zu dem Bau, den sie miteinander teilten und der in der Nähe des Vulkans Sturmwind lag.
„Schau mal, wer da kommt“, seufzte Edme.
Faolan musste nicht hinsehen, um zu wissen, von wem die Rede war. Das konnte nur Banja sein, die rote Wölfin, die ständig auf Edme herumhackte. Banja war einäugig, so wie Edme, was sie aber kein bisschen milder stimmte. Faolan kochte manchmal vor Wut auf die gehässige Wölfin, sodass er sie am liebsten verprügelt hätte.
„Ihr kommt zu spät zu eurer Schicht, ihr beiden“, knurrte Banja. „Wir brauchen hier jeden Wolf, den wir kriegen können. Zu viele Cairns sind nicht besetzt.“
Cairns wurden die Knochenhügel genannt, die als Aussichtstürme um die fünf Vulkankegel aufgeschichtet waren. In der alten Wolfssprache hießen sie auch Drumlyns. Auf jedem Cairn hockte ein Wolf, um die magische Glut von Hoole zu bewachen und die räuberischen Grimalkin-Eulen zu vertreiben. Es war eine heilige Aufgabe, die den Wölfen vor über tausend Jahren von den Eulen des Großen Ga’Hoole-Baums anvertraut worden war. Die Zukunft der Hinterlande und des gesamten Hoole-Reichs hing davon ab. Die Glut durfte niemals in die Krallen einer Verräterin fallen. Doch je mehr die Hungermonde sich in den Sommer ausdehnten, desto häufiger wurden Gardewölfe abberufen, um auf die Jagd zu gehen. Und wenn die Wachmannschaften schrumpften, blieben die Cairns unbesetzt.
Collien, eine ohrlose silberne Wölfin, kam vorbei und hörte Banjas bissigen Kommentar.
„Was redest du da für dummes Zeug, Banja? Faolan und Edme waren vier Tage lang auf Erkundungsgang und müssen sich erst einmal ausruhen, um Lupus’ willen. Aber vorher will der Fengo sie noch sehen. In der Streunerburg.“
„Was? Sie werden in die Streunerburg gerufen?“, stieß Banja entrüstet hervor. „Aber der Oberste Gerichtshof tritt gleich zusammen. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin.“
„Genau wie ich“, gab Collien kühl zurück.
„Aber junge Wölfe dürfen nicht am Raghnaid teilnehmen. Das ist ein Verstoß.“
„Verstoß gegen was?“, fragte Collien spöttisch.
„Ein Verstoß gegen … gegen“, stotterte Banja. „Gegen die Ordnung.“
Collien, die für ihre Engelsgeduld bekannt war, legte den Kopf schief. „Banja, wir leben in einer schwierigen Zeit. Und wir sind mit Problemen konfrontiert, die wir uns nie hätten träumen lassen.“
„Gerade deshalb muss die Ordnung aufrechterhalten werden.“
„Die Ordnung wird dem Sinn nach aufrechterhalten, Banja. Wichtig ist nur der Geist, der die Regeln und Gesetze der Hinterlande lebendig hält.“ Damit drehte Collien sich um. „Kommt jetzt, ihr beiden“, sagte sie zu Faolan und Edme. Der Fengo erwartet euch.“
Als sie die Streunerburg betraten, erhob sich der Fengo Finbar von dem Felllager, auf dem er geruht hatte.
„Willkommen, Faolan und Edme. Bringt ihr Nachrichten von den Herden?“
„Keine guten, fürchte ich.“ Edme beschrieb kurz die Fährte der Rentierherde, die offenbar endlos im Kreis gewandert und dann auf unerklärliche Weise verschwunden war.
„Seltsam, sehr seltsam“, murmelte der Fengo. „Das heißt, sie ziehen auf ihrer üblichen Route nach Süden und verlieren dann plötzlich die Orientierung.“
„Ja, Herr. Aber das ist noch nicht alles.“
„Was denn noch?“, fragte der Fengo und legte die Ohren nach vorn.
Edme und Faolan erzählten abwechselnd von ihrer Begegnung mit dem jungen Elch. Als sie zu Ende geredet hatten, senkte sich tödliche Stille über die Streunerburg. Nach einer langen Pause legte der Fengo den Kopf zur Seite und wisperte ins Dämmerlicht der Höhle: „Alte Milch. Alte Milch.“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Ein einzelnes umherirrendes Kalb und nirgends eine Spur von einem Bullen oder einer Kuh, sagt ihr?“
Edme und Faolan nickten.
„So ist es, Herr“, fügte Faolan hinzu.
„Habt ihr kein anderes Wild gefunden? Ihr könnt doch nicht vier Tage lang ohne Fressen ausgekommen sein?“, sagte Banja in vorwurfsvollem Ton.
Faolan funkelte die rote Wölfin an. „Wir haben genommen, was wir kriegen konnten – so wie die anderen Kundschafter auch. Hin und wieder einen Schneehasen und einmal drei Lachse, die wir aus dem Bach gefischt haben. Aber wir mussten erst das Flusseis aufbrechen, um an sie heranzukommen.“
„Lasst uns jetzt keine Zeit mit solchen unwichtigen Fragen vergeuden“, mahnte der Fengo und warf Faolan und Banja einen strengen Blick zu.
Edme hatte nur mit einem halben Ohr auf das Gespräch gehört. Sie hielt nach Blink Ausschau, ihrer Taiga, aber die einäugige braune Wölfin war nicht zum Raghnaid erschienen.
„Ich habe diese Versammlung einberufen, weil uns schlimme Nachrichten von den MacDuncan erreicht haben. Ihr werdet euch sicher an Cathmor MacDuncan erinnern, die Gefährtin des verstorbenen Duncan MacDuncan. Cathmor ist nun selbst den Weg der Sternenleiter gegangen und wurde von Skaarsgard sicher hinaufgeleitet. Das Schicksal war ihr gnädig gesinnt, denn sie ist zur Zeit des Sternbilds des Großen Wolfs von uns gegangen.“
Zustimmendes Gemurmel stieg von den versammelten Wölfen auf.
„Ein Segen, in der Tat“, bemerkte Zwirbel.
„Du sagst es“, fügte ein anderer Wolf hinzu.
„Aber dann erhielten wir einen neuen Bericht“, fuhr der Fengo fort.
Die Atmosphäre in der Höhle veränderte sich und die Luft knisterte vor Spannung. Mit gesträubtem Nackenfell saßen die Wölfe da, schoben die Ohren vor und lauschten gebannt.
„Liam, der Sohn von Duncan MacDuncan und Cathmor, ist kein geborener Clan-Führer, das wissen wir alle. Er verfiel vor Trauer in eine tiefe Melancholie und wandert oft lange Zeit ziellos umher. Mit anderen Worten – die MacDuncan sind nicht nur vom Hunger bedroht, sie sind auch führerlos. Ein MacDuncan-Wolf wurde sogar verurteilt, weil er mit einem MacAngus-Wolf um Fleisch kämpfte. Der MacAngus-Wolf ist an seinen Wunden gestorben.“
Entsetzensrufe stiegen in der Höhle auf. Faolan schloss die Augen und stellte sich vor, dass Blutstropfen vom Himmel fielen statt Schnee.
Undenkbar, dass ein MacDuncan-Wolf so tief gesunken war.
„Die Wölfe verhungern langsam. Und jetzt auch noch das. Der Clan hat keine Führung mehr, wie ich schon sagte. Das wurde mir zumindest berichtet.“ Der Fengo senkte die Stimme. „Aber es kommt noch schlimmer. Die Blutwache ist in Gefahr. Es gab Fälle von Bestechung und Korruption.“
Faolan und Edme erschauerten. Die Blutwache sorgte dafür, dass die Clanlosen, die wildesten unter den Wölfen, hinter der Grenze in den Frostlanden blieben. Sobald sich ein Clanloser in die Hinterlande wagte, wurde er erbarmungslos getötet. Bestimmte Rudelwölfe wurden schon als junge Welpen für die Blutwache ausgewählt und trainiert. Es war ein harter Posten und die Wachmannschaft wurde in jedem neuen Mond ausgewechselt. Da die Aufgabe so wichtig war, standen meist genügend Reserven zur Verfügung, um die Blutwache aufzustocken, falls es nötig war.
„Ein paar der Blutwächter sind abseits gegangen“, fuhr der Fengo fort.
Die Taigas Malachy und Zwirbel schüttelten sorgenvoll die Köpfe. Ein Blutwächter, der sich heimlich davonmachte – das war unerhört.
„Edme und Faolan, wenn ihr euch ausgeruht habt, wartet der nächste Auftrag auf euch. Ihr müsst auf schnellstem Weg zu den MacDuncan laufen. Findet heraus, was in aller Dunkelwelt in diesem Clan vorgeht. Dann reist ihr zur Blutwache weiter. Wenn es wirklich so schlecht um sie steht, müsst ihr etwas dagegen tun. Holt mehr Wölfe zur Verstärkung oder bleibt selbst dort, wenn es sein muss. Eigentlich ist das Oberhaupt des MacDuncan-Clans für den Wachwechsel zuständig. Aber wie soll Liam das bewerkstelligen, wenn er selbst oft tagelang verschwindet? Nun, das war’s fürs Erste. Habt ihr alles verstanden?“
Faolan und Edme nickten ernst.
„Gut. Und natürlich müsst ihr euch heute Abend nicht bei der Wache melden.“
Die Wölfe verließen die Streunerburg. Als der letzte gegangen war, winkte der Fengo Edme zu sich. „Mir ist nicht verborgen geblieben, dass du dich nach deiner geliebten Taiga umgeblickt hast, Edme.“
Edmes Kiefer bebte.
„Blink ist todkrank. Du weißt ja, wie alt sie ist – einer der ältesten Gardewölfe überhaupt. Sie hat schon unter dem Fengo Hamisch gedient. Aber jetzt ist sie sehr schwach und ausgemergelt. Sie könnte gutes Fleisch gebrauchen, wenn es welches gäbe. Obwohl ich nicht glaube, dass ihr das wirklich helfen würde. Nur Lupus kann sagen, ob sie noch unter den Lebenden weilt, wenn ihr zurückkommt.“