Der Clan der Wölfe 5: Knochenmagier - Kathryn Lasky - E-Book + Hörbuch

Der Clan der Wölfe 5: Knochenmagier Hörbuch

Kathryn Lasky

4,0

Beschreibung

Faolans Gegenspieler Heep schart mit falschen Versprechen Wölfe um sich und bildet einen neuen Clan. Dann bricht ein Erdbeben aus, eine Flutwelle rollt über die Hinterlande hinweg und die Heiligen Vulkane brechen in sich zusammen. Faolan weiß, dass es nur einen Ort gibt, an dem er und seine Freunde sicher sind: das "Ferne Blau" hinter dem Meer. Doch der Weg bis zur Küste ist weit und schon bald nehmen Heeps Anhänger die Verfolgung auf ... Band 4 der abenteuerlichen Tierfantasy-Reihe von Bestseller-Autorin Kathryn Lasky!

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Zeit:3 Std. 54 min

Sprecher:Stefan Kaminski
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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHDeutsche Erstausgabe© 2015 Ravensburger Verlag GmbHCopyright © 2012 by Kathryn Lasky. All rights reserved.Published by Arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012 USADie Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Wolves of the Beyond. Spirit Wolf bei Scholastic Press.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Übersetzung: Ilse RothfussRedaktion: Franziska JaekelUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Dominic WilhelmVorsatzkarte: Wahed KhakdanAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47656-5www.ravensburger.de

Wieder fällt Dunkelheit, doch weiß ich jetzt,dass zwei Jahrtausende alter steinerner Schlafein Wiegenschaukeln zum Albtraum erweckt.Und welches Untier, dessen Stunde naht, schlurft, dass es geboren werde, gen Bethlehem. William Butler Yeats, Die Wiederkunft

Inhalt

Traumsplitter

Blutroter Regen

Ausgestoßen

Eine seltsame Stimme

Ein Wolfsschwanz, wie es noch keinen gab

Wasserflügel

Noch ein Schlag

Aus dem Chaos

Der ausradierte Vulkankreis

Der Cairn der Fengos

Fast so gut wie zwei Augen

Scherben

Irgendwo weit weg

Nein! Nein! Nein!

Jenseits der vertrauten Welt

Die lange blaue Nacht

Wölfe und Metall

Die neue Große Kette

Blut und Sterne

Die Zehe des Gletschers

Im Geisterwald

Der Wind ihrer Schwingen

Noch mehr Wunder

Bronka

Ein Blick auf das neue Leben

„Er lebt noch!“

Der Mondspalt

Der schönste aller Knochen

„Wer ist das?“

Die Kristallebene

Eine Wölfin namens Aliac

Caila!

Der letzte Bau

Nachwort der Autorin

Autoreninformation

Der silberne Wolf erhob sich in seiner Höhle, in der er geschlafen hatte. Etwas hatte ihn geweckt. Aber was nur? Ein leichtes Beben im Höhlenboden? Er schüttelte den Kopf, um seinen Geist zu klären. Er hatte etwas Wichtiges geträumt, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Der Traum war zu Splittern zerstoben und er spürte, wie diese Bruchstücke ihn näher zu dem Geheimnis zogen, das tief in seiner Seele verborgen war. Ein Geheimnis, das ihn schon seit Langem quälte und bis in seine Träume verfolgte.

Er hielt die Nase an den Boden, als könnte er so die Fährte der Traumsplitter erschnüffeln. Das war natürlich dumm, aber er konnte nicht anders. Im Traum war ihm ein Fell erschienen, silbrig wie sein eigenes, aber zerfetzt und zottig, wie das eines uralten Wolfs. „Das erste Fell“, nannte er es im Stillen, ohne wirklich zu wissen, was er damit meinte. Konnten Wölfe mehrere Felle haben? Aber die Worte „erstes Fell“ hallten in seinem Mark wider.

Faolans Angst wuchs, während er in der engen Höhle umherkreiste. Er schloss die Augen und eine dunkle Erinnerung an einen uralten, gebrechlichen Wolf stieg in ihm auf. Mit seiner missgebildeten Pfote scharrte er aufgeregt in der Erde, als wollte er sich noch tiefer in das Geheimnis wühlen. War dieser Wolf ein Bote? Ein paar Sätze aus seinem Traum gingen ihm durch den Kopf: Mein Dienst ist noch nicht vorüber. Ich bin in meinem ersten Fell in einer neuen Zeit.Kann das denn sein?

Faolan trat in den Höhleneingang. Draußen saßen seine beiden Schwestern und benagten im Schein des Vollmonds die Knochen ihrer Mutter Morag. Die fertigen Schnitzknochen würden später zu den anderen kommen, die Faolan angefertigt und zu einem Drumlyn aufgehäuft hatte. Hier, in der Einsamkeit der Stummelkrallen-Spitze. Faolan hatte diesen Ort mit Bedacht gewählt. In klaren Nächten konnte er den Drumlyn von seinem Wachposten am Vulkankreis sehen. Und von hier, auf dieser abgelegenen Landzunge, die wie eine verstümmelte Eulenkralle ins Meer ragte, konnte er den lodernden Flammenring über den Vulkankratern ausmachen.

Heute rauchten alle Vulkane. Fünf Feuerkronen erschienen wie ein Ring aus blutroten Rubinen am Sturmhimmel. Der Schnee auf der Landzunge war vom peitschenden Wind blank geschliffen, sodass die Erde unter einer schimmernden Eisschicht lag. Faolan trat hinaus und spürte ein Beben unter seinen Pfoten. Das Eis begann zu bersten. Ein Ruck lief durch das kleine Sternbild von Beezar, dem blinden, durch die Nacht stolpernden Wolf. Und dann zerschellte es. Die Sterne erschauerten, der Himmel geriet ins Wanken und die Erde wand sich in Krämpfen.

Mairie und Dearlea erstarrten. Ein tiefes Grollen drang aus dem Bauch der Erde, dann ein ohrenbetäubendes Krachen und die beiden Schwestern flogen rücklings auf den Boden. Hastig rappelten sie sich wieder auf, aber die Erde bebte weiter. Sie klammerten sich zitternd aneinander und blickten zum Himmel hinauf.

„Seht nur! Da!“, stieß Mairie mit geweiteten Augen hervor.

Lodernde Flammen schossen in der Dunkelheit auf.

„Das sind die Vulkane!“, schrie Dearlea.

Einer nach dem anderen verpufften sie wie sterbende Sterne und jagten Ströme von Feuer und Rauch in den Himmel.

„Was beim Lupus ist das?“, rief Mairie. „Seht mal da, im Osten!“

Erneut wurde die Erde von wilden Krämpfen erfasst. Ein gewaltiger Felsbrocken schoss in die Luft und krachte haarscharf an Faolan vorbei auf den Boden.

Dann drang ein neuer Laut an ihre Ohren. Ein Geräusch, das ihnen durch Mark und Bein ging – als risse sich etwas gewaltsam los. Entsetzt wirbelten die drei Wölfe herum. Ein gigantischer weißer Eisstrom, der mit gefrorenen Fängen gespickt war, donnerte von Norden her auf sie zu. Der H’rathgar-Gletscher! Jahrhundertelang war er fest mit dem Land verbunden gewesen, jetzt hatte er sich gelöst und pflügte durchs offene Meer. Wieder erbebte der Boden unter ihren Pfoten, sodass die Geschwister rücklings durch die Luft geschleudert wurden. Es war, als stülpte die Erde sich um, als kehrte sie ihr Innerstes nach außen.

Benommen lag Faolan auf dem Rücken und blickte zum Mond auf, der am flammenden Himmel umherhüpfte. Er spürte, wie er auf dem blanken Eis ins Rutschen kam, und scharrte schwach mit den Pfoten in der Luft – als wollte er Zeit gewinnen. Noch nicht! Unter ihm grollte und bebte die sterbende Erde. Ich schaukle in der Wiege meiner verlorenen Seelen. Das Sternbild des Großen Bären leuchtete über ihm auf und plötzlich erschienen auch Lupus und Skaarsgard wieder. Doch in diesem Mond hatten sie nichts am Himmel verloren. Die Erde hatte sich aus ihrer Verankerung gelöst. Alle Sternbilder standen schief am Himmel, ohne jeden Sinn und Zweck.

Mairie und Dearlea schrien auf und Faolan riss erschrocken den Kopf herum. Der Boden unter ihnen zerbarst. Die ganze Landspitze brach auseinander. Verzweifelt klammerten sich die beiden Wölfinnen fest, aber sie rutschten unaufhaltsam ins Meer hinunter. Dearleas schöne grüne Augen verdrehten sich vor Grauen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. So weiß wie die Gletscherfänge, die in rasendem Tempo durchs Meer pflügten. Dann waren Faolans Schwestern verschwunden.

Edme hatte ihre Wache am Vulkankreis beendet. Erschöpft und mutlos stieg sie von ihrem Knochenhügel herunter. Die letzten zwölf Monde waren hart gewesen, schlimmer als alles, was die Hinterlandwölfe je erlebt hatten. Die Rentierherden waren verschwunden, und damit ihre wichtigste Fleischquelle. Seitdem hungerten die Wölfe. Eine Zeit endloser Hungermonde war angebrochen, denn Frühling und Sommer blieben aus, genau wie die Herden. Es herrschten nur Eis und Kälte. Viele Wölfe waren gestorben. Zu allem Übel tauchte auch noch ein falscher Prophet auf, der die Wölfe auf Abwege führte. Er trug die Maske und den Helm von Gwyndor, einem berühmten Eulenkrieger, der im letzten Glutkrieg gefallen war. Doch statt die hungernden Wölfe zu retten, wie er ihnen weismachte, hatte er viele von ihnen in den Tod geführt.

Faolan und Edme hatten den Propheten gefangen und entlarvt, aber die Toten wurden davon nicht wieder lebendig. Danach war Faolan mit seinen Schwestern zur Stummelkrallen-Spitze gewandert. Er wollte ihnen den Drumlyn zeigen, den er zu Ehren ihrer Mutter errichtet hatte.

Edme war allein zurückgeblieben und sie vermisste ihre Freunde. Auch die, die für immer von ihnen gegangen waren. Als Erstes hatte Edme ihre Taiga Blink in der Hungersnot verloren, dann ihren Malcadh-Freund Tearlach. Und jetzt war sie ganz allein. Eine einsame Träne tropfte aus ihrem Auge, als sie am Fuß ihres Knochenhügels ankam.

Aber was war das? Edme spitzte die Ohren. Ein tiefes Grollen drang aus den Vulkankratern und eine hohe, schmale Flamme schoss in den Himmel empor. Wie eine Blutfontäne, dachte sie schaudernd. Im Flammenschein blitzte die Träne auf ihrer Wange rubinrot auf und Zwirbel, der gerade vorüberkam, blieb wie angewurzelt stehen.

„Was ist mit dir, Edme? Hast du dich verletzt?“, fragte er besorgt.

„Aber nein“, murmelte Edme verlegen. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.“

„Oh“, sagte Zwirbel kopfschüttelnd. „Ich hätte schwören können, dass aus deinem Auge Blut tropft, Edme. Aber es war nur das Licht, wie ich jetzt sehe. Was bin ich doch für ein dummer alter Kerl!“

Dann wandte er den Kopf zum H’rathgar-Vulkan. „Das alte Mädchen da drüben gefällt mir nicht, Edme. Sie spielt sich ganz schön auf in letzter Zeit. Und die vier anderen auch, wenn du mich fragst.“ Er hielt inne. „Nun ja, vielleicht werden sie ein bisschen schrullig. Aber trotzdem …“, er drehte sich wieder zu Edme um, „das hier sind merkwürdige Zeiten, oder? Wie war deine Wache?“

„Gut. Alles bestens.“

Ein ohrenbetäubendes Krachen erfüllte die Luft. Zwirbel geriet ins Stolpern. Dann zerbarst der Boden unter ihren Füßen und im nächsten Moment war der Taiga verschwunden. Die Erde bebte erneut, ein heißer Windschwall riss Edme in die Luft. Die Welt wurde schwarz und es regnete rote Glutbröckchen.

Der Vulkankreis stürzt ein. Die Glut ist dahin. Mein Dienst ist vorüber. Ich bin frei – frei, um allein zu sterben. Allein! Allein!

Das waren die letzten Gedanken, die Edme durch den Kopf gingen. Dann wurde es Nacht um sie.

Im Schattenwald, fernab vom Vulkankreis, kreiste Gwynneth, die Maskenschleiereule, über einer Blautanne. Es flog sich hervorragend in der glatten, samtigen Nachtluft. Der Baum war die Grabstätte ihres Vaters Gwyndor, die der falsche Prophet entweiht hatte. Aber Gwynneth hatte das Grab wieder in Ordnung gebracht und die Knochen ihres Vaters in einer Baumhöhle hoch oben versteckt, zusammen mit seiner Maske. Jetzt konnte Gwyndor in Frieden ruhen, nachdem die Freveltat des einstigen Oberhaupts des MacDuncan-Clans, Liam MacDuncan, wiedergutgemacht war. Liam hatte vor Hunger den Verstand verloren – das letzte Fünkchen Vernunft, das er je besessen hatte. Mit Gwyndors Maske getarnt, hatte er viele verzweifelte Wölfe in den Tod geführt.

Wunderbar, wunderbar!, wisperte die Stimme, die nicht wirklich eine Stimme war, als Gwynneth den letzten Knochen in die Höhle legte. Langsam erschien ein Geisterschnabel als dunstiger Nebel über ihr und schwebte durch die Äste des Baums.

Die Sark, die unten am Boden kauerte, hob ihre Schnauze zu Gwynneth empor. „Riechst du das? Nein, natürlich nicht. Ihr Eulen riecht ja nicht mal einen Haufen Rentierkacke, selbst wenn er direkt vor eurem Schnabel liegt.“

„Aber ich rieche es auch“, wisperte Liam und stürzte sich in die tiefste Unterwerfungshaltung. Sein Schwanz war so fest zwischen die Beine geklemmt, dass man ihn für schwanzlos hätte halten können.

Dann kam Wind auf. Der Geisterschnabel wurde zerfetzt und die Tanne erbebte bis in die Wurzeln. Die winzigen Wirbelknochen, die Gwynneth so behutsam in der Baumhöhle verstaut hatte, schossen heraus wie ein weißer Hagelschauer.

„Großer Glaux!“, kreischte Gwynneth, wie nur eine Maskenschleiereule kreischen konnte. Die Sark unter ihr torkelte hilflos umher. Ein riesiger Felsbrocken lockerte sich und polterte den Hang hinunter. Liam MacDuncan schrie gellend auf und im nächsten Moment zersplitterten seine Knochen unter dem Felsen.

„Lauft, Madame, lauft!“, schrie Gwynneth. Aber die Sark war verschwunden. Die Erde unter ihr war ein Bild der Verwüstung. Riesige Furchen klafften in der dicken Schneedecke, die so lange über den Hinterlanden und dem Schattenwald gelegen hatte. Die Blautanne krümmte sich fast bis zum Boden, sodass noch mehr Wirbelknochen aus der Höhle flogen. Nur Gwyndors Maske blieb an ihrem Platz.

„Die Maske gehört dorthin, komme was wolle“, wisperte Gwynneth. Der Baum war schließlich die Heldenmarke ihres Vaters.

Dann erzitterte die Luft um sie herum. Die Bäume ruckten und zuckten wie in einem uralten Tanz. Gwynneth, die hoch über allem schwebte, schaute voller Entsetzen zu, wie der ganze Wald entwurzelt wurde. Wie Rüben flutschten die Stämme aus dem Boden und flogen durch die Luft. Gwynneth spürte, wie ihre Flügel erlahmten.

Beim Glaux, ich krieg die Flügelstarre!

Ihr Magen flatterte vor Angst und ihr Fluginstinkt ließ sie im Stich. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzte die Blautanne um und Gwynneth blickte schaudernd zum Himmel, der vom Widerschein der lodernden Vulkanglut erfüllt war. Dann trudelte der Helm ihres Vaters herunter, langsam, ganz langsam, als kreiste eine rote Teufelseule durch die Nacht. Gwynneth legte die Flügel an und stürzte zu Boden.

Seit der Pfeifer in der Blutwache diente, schlief er meistens in der Höhle, die Faolan ihm vor über einem Mond gezeigt hatte. Es war ein sonderbarer Ort. Rätselhafte Zeichnungen prangten an den Wänden der weit verzweigten Gänge. Aber der Pfeifer fühlte sich wohl hier. Die Höhle erinnerte ihn an seinen besten Freund Faolan.

Der Pfeifer und Faolan kannten sich, seit Faolan nach seinem einsamen Jahr in der Wildnis zum MacDuncan-Clan zurückgekehrt war. Beide mussten dem Clan damals als Knochennager dienen, nachdem sie wegen ihrer Missbildungen als Malcadh ausgesetzt worden waren. Malcadh bedeutete „verflucht“ in der Wolfssprache.

Beim Pfeifer war fast nichts davon zu merken – nur wenn er sein Maul aufriss, um zu knurren oder zu sprechen. Er hatte ein zackiges Loch in der Kehle, das jeden Laut, den er von sich gab, in ein schrilles, heiseres Pfeifen verwandelte. Die Welpen in seinem Rudel hatten ihm immer „Zischschlange“ nachgerufen. Aber solche Dummheiten waren ihnen in den Hungermonden längst vergangen. Niemand brachte jetzt noch die Kraft auf, andere zu ärgern oder zu quälen.

Im vergangenen Mond war der Pfeifer in die Blutwache aufgenommen worden, was früher für einen Knochennager undenkbar gewesen wäre. Jetzt hütete er mit anderen Wölfen die Grenze zu den Frostlanden, dem Streifgebiet der gefürchteten Clanlosen. In der Blutwache war er einfach „der Pfeifer“, ein geachteter Wolf. Niemand beschimpfte oder misshandelte ihn. Er war sogar zum Leutnant aufgestiegen, dem zweithöchsten Rang der Blutwache.

Der Pfeifer hatte gerade eine Doppelschicht hinter sich und war hundemüde. Trotzdem konnte er nicht schlafen. Er vermisste seine Freunde, nicht nur Faolan, sondern auch Edme und Faolans Schwestern. Langsam trottete er durch die geräumige Höhle und sog die letzten Überreste der Duftspuren ein, die seine Freunde in ihrer gemeinsamen Zeit hinterlassen hatten. Endlich hatte er sich satt geschnüffelt und sein Blick fiel auf die Bilder an den Wänden. Er lief durch Gänge, die er vorher nie gesehen hatte, bis ihn eine Zeichnung besonders anzog. Sie zeigte einen Byrrgis, eine Jagdformation, die nach Osten glitt, mit einem gebrechlichen alten Wolf an der Spitze.

Das Bild hatte etwas Urtümliches, Majestätisches, das den Pfeifer zutiefst berührte. Als stünde er am Schnittpunkt zweier Welten und zweier Geschichten. Geschichten, die ihn in ihren Bann zogen, ihn ganz und gar einhüllten. Zum ersten Mal fühlte er sich gebunden, vom Clangeruch umfangen. Nur war das hier nicht der Geruch der MacDuncan, sondern der ferne, uralte Geruch längst vergangener Clans und Wesen aus grauer Vorzeit.

Der Pfeifer folgte den Bildern zu einem Durchgang, den er noch nie bemerkt hatte. Die Glimmerplättchen im Gestein waren die einzige Lichtquelle hier, aber er konnte die Einritzungen in den Wänden dunkel erkennen. Es war ein großes Bild und er musste zurückweichen, um die Szene als Ganzes zu erfassen. Er entdeckte ein Geschöpf mit Flügeln, eine Hoole, wie Eulen in der alten Wolfssprache genannt wurden. Die Eule schwebte über einem Berg, der sich jedoch bei näherer Betrachtung als Bär entpuppte. Ein riesiger Grizzlybär, der sich zum Schlafen eingerollt und die Schnauze unter den Vorderpfoten vergraben hatte.

Im Geist des Pfeifers blitzte etwas auf. Obwohl der Kopf teilweise verdeckt war, hatte der Bär etwas Vertrautes. Der Wolf schloss einen Moment die Augen und suchte in seiner Erinnerung.

Plötzlich ging ein Ruck durch die Höhle, der Boden brach auf und wirbelte den Pfeifer durch die Luft. Die Glimmerplättchen glitzerten vor seinen Augen wie Sternbilder, die vom Himmel schwebten.

Die Sternenleiter steigt herunter, aber ich kann nicht hinaufklettern. Meine Beine stecken fest. Skaarsgard, hilf mir! Hilf mir!

Dann wurde es dunkel um ihn.

Die zugefrorene Meeresbucht hatte sich in ein Chaos aus krachenden Wellen und Eistrümmern verwandelt.

Das Eis muss in dem Erdbeben geborsten sein, dachte Faolan, während er über eine glitzernde Platte schlitterte. Mit aller Kraft bohrte er seine Klauen hinein, um sich festzuklammern, und spähte verzweifelt über die reißenden Fluten.

„Mairie! Dearlea!“, heulte er aus vollem Hals, um das Krachen der Eisplatten und das Donnern der Erde zu übertönen.

Die Küstenlinie war verschwunden, so weit er sehen konnte. Alles war zerborsten, in tausend Stücke zertrümmert. Erdbrocken und Eisplatten türmten sich übereinander. Die hohen Berge mit den eisbedeckten Gipfeln waren völlig eingeebnet.

„Mairie! Dearlea!“, rief er wieder. Wie sollte er seine Schwestern jemals wiederfinden? Das Meer war ein Mahlstrom aus Eisflößen und Tierkadavern, die von dem Gletscher mitgerissen wurden.

Dann drang ganz schwach eine Stimme durch das Tohuwabohu. „Wir gehen unter, Mairie! Wir gehen unter!“

War das möglich? Faolan warf den Kopf herum. „Dearlea! Dearlea!“, brüllte er.

„Faolan! Hier drüben!“

Faolan sah eine Schwanzspitze aus der wogenden Flut ragen. „Urskadamus!“, fluchte er. Es war der Schwanz des toten Moschusochsen, den er auf dem Weg zur Stummelkrallen-Spitze gefunden hatte. Der Kadaver war ins Meer geschwemmt worden und seine Schwestern trieben auf ihm dahin wie auf einem kleinen Boot. Doch in der Flanke des Moschusochsen klaffte ein riesiges Loch, sodass er rasch sank.

„Ihr müsst schwimmen!“, brüllte Faolan. „Schwimmt zu mir. Los!“

„Die Wellen sind zu hoch!“, rief Mairie. „Unsere Hälse sind nicht lang genug, dass wir uns über Wasser halten können. Wir ertrinken doch!“

„Schwimmt!“, donnerte Faolan.

Aufgeschreckt von seinem Gebrüll, sprangen die beiden Wölfinnen von dem Kadaver, ehe er vollends unterging. Ihr Sprung war kraftvoll und sie landeten nahe beim Eisfloß. Faolan streckte seine Pfote nach Dearlea aus, die er gerade so erreichen konnte, um sie zu sich heraufzuziehen.

„Mairie, halte dich an Dearlea fest!“, schrie er seiner anderen Schwester zu. Ungeahnte Kräfte stiegen in ihm auf. Er nahm Dearleas Kopf in sein Maul, packte mit seiner freien Pfote Mairies Schnauze und zerrte beide zu sich hoch. Aber die Wölfinnen rutschten ab und ihre Augen verdrehten sich vor Angst.

„Festhalten!“, brüllte Faolan. „Mit Klauen und Zähnen! Und ja nicht loslassen, hört ihr?“

Mairie und Dearlea bohrten die Klauen ins Eis, bis ihre Muskeln zitterten. Mit letzter Kraft zogen sie sich über die Eiskante auf das Floß hinauf.

Entwurzelte Bäume schwappten an ihnen vorbei und Dinge aus Metall, die wohl aus der Werkstatt von Schmiedeeulen stammten und bald auf den Grund sinken würden. Wind und Strömung peitschten alles vorwärts, riesige Eisplatten rissen alles mit sich. Eine ganze Welt wirbelte an ihnen vorüber. Und in gewisser Weise war das eine willkommene Ablenkung, bis Faolan und seine Schwestern sich wieder gefangen hatten.

„Beim Lupus, was ist das?“, stieß Mairie staunend aus, als etwas Schlaffes, Aufgeweichtes an ihnen vorbeifegte.

„Eine Schriftrolle“, keuchte Faolan. „Ich glaube, das ist eine Schriftrolle. So nennen es jedenfalls die Eulen. Sie halten ihre Geschichten auf Papier fest.“

„Nicht auf Knochen?“, fragte Dearlea.

„Ich glaube nicht.“

„Bin mal gespannt, wo wir landen“, murmelte Mairie.

„Weiß der Lupus!“, erwiderte Faolan. „Bohrt eure Klauen ins Eis und klammert euch fest, was das Zeug hält.“

Faolan hockte nicht zum ersten Mal auf einem Eisfloß. Nach den Gesetzen der Wolfsclans musste ein neugeborenes Malcadh an einem Ort ausgesetzt werden, wo es dem sicheren Tod ausgeliefert war. Falls das Kleine dennoch überlebte und den Weg in seinen Clan zurückfand, durfte es dort als Knochennager bleiben. Der Ort der Aussetzung hieß Tummfraw und das Malcadh wurde von einer Obea dorthin gebracht. Die Obea wählte eine Stelle aus, an der das Junge schnell und möglichst schmerzlos zu Tode kam – einen Rentierpfad zum Beispiel, denn dort wurde es bald unter den Hufen der großen Tiere zerquetscht.

Faolan war in der kalten Zeit zwischen dem Ende der Hungermonde und dem Beginn der Eisbruchmonde zur Welt gekommen. Deshalb hatte ihn die Obea an ein Flussufer gebracht und auf einem Eissims ausgesetzt. Der Fluss war über die Ufer getreten und die Eisplatte hatte sich losgerissen. In wilder Sturzfahrt war Faolan den Fluss hinuntergeschossen, bis er sich wie durch ein Wunder an der Hinterpfote der Grizzlybärin Donnerherz verfangen hatte. Die Bärin trauerte um ihr Junges, das zwei Tage zuvor von einem Puma zerfleischt worden war. Ihr Milchfluss war noch nicht versiegt und so nahm Donnerherz den winzigen Wolfswelpen auf und wurde seine zweite Milchgeberin.

Jetzt trieb Faolan erneut auf einem Eisfloß dahin und seine Lage war nicht weniger brenzlig. Er war größer und viel stärker, aber sein Griff erschien ihm weniger fest. Warum nur? Wie konnte er schwächer sein als damals? Schwächer als ein Neugeborenes, dessen Augen noch geschlossen waren?

„Faolan, schau nur! Deine Pfote!“

Faolan erschauerte. Ein seltsames Gefühl regte sich tief in seinem Mark. Seine Pfote fühlte sich anders an, fremd, aber er wagte nicht hinzusehen. Wie war das möglich? Bedeutete es … nein, undenkbar.

Er dachte an die alte Wolfsprophezeiung: Wenn die Glut im Heiligen Vulkankreis erlischt, wird alles gerade, was krumm war, alle Gebrechen werden geheilt und alle Missbildungen verschwinden. Vorsichtig schaute Faolan auf seine Pfote, die nicht mehr gespreizt und hässlich war. Ihm wurde schwindlig und einen Augenblick zog es ihm den Boden unter den Füßen weg. Die ganze Welt hatte sich gerade umgestülpt und neu geordnet – und mit ihr seine Pfote. Seine verfluchte Pfote. Wie merkwürdig. Er war jetzt nicht mehr verflucht, aber war das wirklich ein Segen? Mit dieser neuen Pfote fühlte er sich seltsam unsicher. Und es versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er spürte einen Hauch von … von … was? Plötzlich fiel es ihm ein: Ich bin unvollständig. Als fehlte ihm etwas. Als sei ihm etwas Wesentliches abhandengekommen durch diese blitzartige Verwandlung.

Wenn die Glut im Heiligen Vulkankreis tatsächlich zerstört war, mussten die Wölfe dort von ihrem Wachdienst erlöst sein. Sonst wäre seine Missbildung nicht verschwunden, was natürlich auch für die anderen Knochennager in den Hinterlanden galt.

Verkrümmte Pfoten wurden gerade, fehlende Ohren, Augen oder Schwänze kehrten an ihren Platz zurück und Löcher in der Kehle wurden geflickt. Die Zeit der Großen Heilung war gekommen, jetzt, da die ganze Welt unterging.

„Halt dich fest!“, kreischte Dearlea, als Faolan wie gelähmt vor Entsetzen auf die Eiskante zuschlitterte.

Langsam kam der Pfeifer wieder zu sich. Er lag im Schummerlicht der geheimnisvollen Höhle an der Grenze zu den Frostlanden. Das schreckliche Beben hatte aufgehört. Er musste irgendwo in diesem Labyrinth gestürzt sein, hatte sich aber zum Glück nichts gebrochen. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er einen großen Felsblock, der gefährlich über ihm wankte. Er schrie auf und sprang aus dem Weg. Aber hatte er wirklich selbst geschrien? Oder stammte der Laut von einem anderen Wesen? Er hielt inne und lauschte. Der Atem, den er jetzt hörte, konnte unmöglich sein eigener sein. Sein Atem ging rau und winselnd. Und sein Schnarchen in der Nacht hörte sich an wie eine Steinlawine. Das sagten zumindest die anderen Wölfe. Aber dieser Atem hier war weich und gleichmäßig. Sonderbar.

„Hallo! Hallo da draußen!“, rief er und jetzt wurden ihm die Knie weich. Etwas Fremdes hatte von ihm Besitz ergriffen, denn das hier war nicht seine Stimme. Die Stimme des Pfeifers klang mehr wie ein Keuchen oder Zischen, obwohl er wunderschön heulte – schöner als alle anderen Wölfe. Das Loch in seiner Kehle fing die Luft auf eine besondere Weise ein. Sein Heulen gewann dadurch eine Tiefe, die alle erschauern ließ, die ihn hörten.

Heulen. Ja, das musste er ausprobieren. Der Pfeifer öffnete das Maul und spürte, wie die Luft in ungeahnter Weise durch seine Kehle strömte. Ein gutes Gefühl, obwohl er seine Stimme nicht mehr so perfekt beherrschte wie vorher. Das wird noch ein schönes Stück Arbeit, dachte er. Dann dämmerte ihm plötzlich, was geschehen war, und er setzte sich zurück. Mein Loch in der Kehle ist … geflickt! Wie war das möglich? Staunend öffnete der Pfeifer die Augen. Die Große Heilung – hat sie begonnen?

Mit einem Mal hatte er es eilig, aus der Höhle zu kommen. Aber alles war voller Trümmer und der Durchgang versperrt. Nur die Bilder waren heil geblieben, soweit er es beurteilen konnte. Seltsam. Die Zeichnungen hatten nicht einen Riss. Er dachte an die Szene mit dem alten Wolf, der Eule und dem Bären, die ihn so berührt hatte. Eine Geschichte, die wichtig war, das spürte er. Aber er konnte sich keinen Reim darauf machen und jetzt wollte er nur noch weg – raus aus der Höhle.

Ein Zittern lief durch seinen Körper. Sterben – ganz allein an diesem dunklen Ort? Nein! Der Pfeifer warf den Kopf zurück und heulte, heulte, bis seine frisch geflickte Kehle ganz wund war.

„Endlich bin ich heil, aber die Welt liegt in Trümmern. Wie kann das sein? Wie nur?“, schrie er.

Tief in den Frostlanden, der wilden Gegend, in der die Clanlosen umherstreunten, hausten zwei Rotten in einem Bau. Ihr Anführer, ein gelber Wolf namens Heep, lief in der Höhle hin und her und wedelte mit seinem neuen Schwanz. Er platzte fast vor Stolz und drehte ständig den Kopf, um nachzusehen, ob sein Wunderschwanz noch da war. Dieser edelste Teil eines Wolfs, den er eben erst wiedererlangt hatte, besiegelte seine Herrschaft über die anderen Frostlandwölfe.