Der Consul - Christian v. Ditfurth - E-Book
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Christian v. Ditfurth

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  • Herausgeber: dotbooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

“‘Hier hat offenbar der Täter gestanden, direkt vor Hitler. Dann hat er den Goethe genommen und ihn Hitler auf den Kopf geschlagen.‘ Ich spielte den Mörder und hob den Arm mit einer imaginären Statuette in der Hand.“ November 1932. Die Nazis scheitern bei den Reichstagswahlen. Kurz darauf wird Hitler erschlagen in seinem Hotel aufgefunden. Und er bleibt nicht die einzige Figur der NS-Führungsriege, die ein vorzeitiges Ende findet: Röhm, Strasser und Goebbels folgen ihm in den Tod. Mit den politisch brisanten Ermittlungen betraut wird der unpolitische Kommissar Soetting. Der hat plötzlich nur noch Feinde. Reichsregierung und Reichswehr, Polizei, SA und Kommunisten werfen ihm Knüppel zwischen die Beine. Am Ende muss Soetting um die Wahrheit kämpfen. Und um sein Leben. „Ein extrem spannender, toll erzählter historischer Politkrimi aus einer Zeit, die es so nie gab. Faszinierend.“ Brigitte Jetzt als eBook: „Der Consul“ von Christian v. Ditfurth. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 613

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Über dieses Buch:

November 1932. Die Nazis scheitern bei den Reichstagswahlen. Kurz darauf wird Hitler erschlagen in seinem Hotel aufgefunden. Und er bleibt nicht die einzige Figur der NS-Führungsriege, die ein vorzeitiges Ende findet: Röhm, Strasser und Goebbels folgen ihm in den Tod. Mit den politisch brisanten Ermittlungen betraut wird der unpolitische Kommissar Soetting. Der hat plötzlich nur noch Feinde. Reichsregierung und Reichswehr, Polizei, SA und Kommunisten werfen ihm Knüppel zwischen die Beine. Am Ende muss Soetting um die Wahrheit kämpfen. Und um sein Leben …

„Ein extrem spannender, toll erzählter historischer Politkrimi aus einer Zeit, die es so nie gab. Faszinierend.“ Brigitte

Über den Autor:

Christian v. Ditfurth, Jahrgang 1953,  ist Historiker, Lektor, Journalist und Autor. Seine Romane handeln von der deutschen Geschichte – teilweise mit einem alternativen Verlauf.

Christian v. Ditfurth veröffentliche bei dotbooks bereits Der 21. Juli.

Die Website des Autors: www.cditfurth.de

***

Neuausgabe November 2012

Copyright © der Originalausgabe 2003 Droemer/Knaur

Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: Bruce Marvin (rechtefreie Abbildung) via Wikimedia Commons

ISBN 978-3-943835-25-0

***

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Christian v. DitfurthDer Consul

Roman

dotbooks.

Inhalt

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

Epilog

Dank an

Lesetipps

I.

Wir waren drei. Kurt Rübezahl kroch hinter mir, Walter Berg hinter Kurt. Wir hatten die Koppelschlösser abgeschnallt und uns die Gesichter geschwärzt. Bewaffnet waren wir nur mit Seitengewehren. Wir hatten uns am Nachmittag zu diesem Spähtrupp verabredet, dem Zugführer Meldung gemacht, und als es dunkel war, gingen wir los. Es war im Juli 1918, westlich eines belgischen Kaffs namens Diskmuide. Wir wollten uns einen britischen Scharfschützen schnappen, der sich irgendwo vor der feindlichen Linie eingenistet hatte. Es war ein Nachtarbeiter. Seit fünf Nächten schoss er auf alles, was er bei uns sehen konnte. Vier Kameraden gingen auf seine Kappe, einem hatte er die Zigarette ins Gesicht geschossen. Wir hassten diesen Tommy. „Kann sein, dass es eine Falle ist“, hatte der Leutnant gesagt, als ich ihm unseren Plan meldete. „Aber geht mal, ist ja sonst nichts los, seit Ludendorff keine Lust mehr hat. Hatte auch schon dran gedacht, den Kerl auszuheben. Und wenn's geht, würde ich mit dem Mister gerne ein wenig parlieren.“ Er kaute auf der Pfeife. Sie hatten Ernst Baumbold als Leutnant der Reserve aus einem Gymnasium geholt. Er war kein Schinder.

Vor uns ein Aufblitzen, dann schoss eine Rakete aus dem britischen Graben in den Himmel. Drei weiße Kugeln standen einen Augenblick in der Luft, dann schwebten sie langsam hinab und beleuchteten fahl das Niemandsland. Der einzige Baum, den die Granaten noch nicht umgepflügt hatten, sah aus wie ein aus der Form gerissenes Riesenskelett. Er stand in einem Meer aus Trichtern, großen und kleinen, flachen und tiefen. Als die Leuchtkugeln dicht über dem Boden schwebten, warf das Baumskelett seinen verzweigten Schatten auf das Trichtermeer. Weit hinter den feindlichen Linien grummelte schwere Artillerie. Gleich würden die Granaten heranrauschen. Nichts Ernstes, nur ein Gutenachtgruß. Die Briten hatten ihre Geschütze schlecht gerichtet, die Geschosse schlugen weit hinter unserem Graben ein.

Wir pressten uns an den Boden, bis die Leuchtkugeln erloschen waren. Irgendwo weiter vorn, nahe der britischen Stellung, musste der Schütze sitzen. Dann war es still und dunkel, nur leises Geknatter weit weg. Ich kroch ein Stück in nördlicher Richtung und rutschte in einen Trichter. Kurt und Walter kamen nach und legten sich neben mich. Wir starrten in die Nacht. Jetzt hörte man irgendwo dumpfe Schläge, wir konnten nicht erkennen, ob sie von feindlichen oder eigenen Geschützen stammten. Die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Der Viertelmond färbte die Erdwüste um uns grau. Ich erkannte den Baum. Er streckte seine blattlosen Zweige in die Nacht. Wir lagen mehr als eine Stunde in dem Loch, den Scharfschützen sahen und hörten wir nicht. Ich überlegte, ob wir aufgeben sollten. Dann glitt ich aus dem Trichter und kroch näher an den britischen Graben heran, Kurt und Walter folgten. Nach etwa achtzig Metern stieß ich auf ein flaches Loch und kauerte mich hinein. Kurt und Walter legten sich links und rechts neben mich. Als der Schuss knallte, zuckte ich zusammen. Danach klickte es leise, der Engländer hatte repetiert. Kurt tippte mir an die Schulter und zeigte nach vorn. „Da ist er, vielleicht fünfundzwanzig Meter“, flüsterte er mir ins Ohr. Ich nickte. Der Scharfschütze lag gut einhundertzwanzig Meter vor der britischen Stellung. Ich zeigte auf Walter, dann beschrieb mein Zeigefinger einen sich nach links wölbenden Halbkreis. Walter nickte, er würde den Kerl links umgehen. Ich bedeutete Kurt, er solle Walter folgen. Dann zeigte ich auf mich und wies nach rechts, mein Zeigefinger beschrieb einen nach links gekrümmten Haken. Ich würde den Scharfschützen rechts umgehen und versuchen, ihm in den Rücken zu kommen. Mein Herz pochte, wir krochen dicht an die britische Stellung heran. Wenn die Posten uns hörten oder sahen, würden ihre MGs uns in Stücke schießen. Wir verließen den Trichter auf Ellbogen und Knien. Wenn ich Wurzeln greifen konnte, zog ich mich an ihnen vorwärts. Dann drückte ich mich tief in die Erde. Kurt und Walter verschwanden in der Nacht.

Ich kroch weiter. Plötzlich ein Schmerz in der linken Hand. Ich betastete die schmerzende Stelle. Etwas Scharfes steckte in der Haut, ein Granatsplitter oder eine Scherbe. Ich zog sie heraus und warf sie weg, dann krümmte ich vorsichtig die Finger. Es schmerzte, aber sie bewegten sich. Mit meinem Taschentuch verband ich vorsichtig die Hand.

Auf einmal wusste ich nicht mehr, wo ich war. Hatte ich den Scharfschützen bereits umgangen? Oder war ich der britischen Stellung schon zu nahe gekommen? Ich blieb liegen und versuchte mich zu orientieren. Angst kroch mir in die Glieder. Nicht allzu weit schlug eine Granate ein, wohl eine deutsche, sie spritzte Sandkörner auf mich. Warum schossen sie, die wussten doch, dass wir hier draußen waren? Ich legte mich auf den Rücken und starrte in den Himmel, als käme von dort ein Fingerzeig. Der Mond verschwand hinter einer Wolkenbank. Dann war es finster. Ich versuchte mich auf meinen Weg zu konzentrieren. Wo kam ich her, wo wollte ich hin? Ich drehte mich auf den Bauch und wollte weiterkriechen. Ich stützte mich auf Ellbogen und Knie, aber ich kam nicht voran. Als hätte mich jemand festgeklebt in der Erde. Ich war gelähmt. Dann hörte ich das Klopfen. Erst leise, dann immer lauter. Ich spürte, wie mein Mund sich öffnete, dann schrie ich. Das Klopfen übertönte meinen Schrei. Ich schloss die Augen. Die Briten hatten mich längst erkannt und würden gleich hier sein, um mich mit Bajonetten zu durchbohren. Ich sah den Stahl glitzern. Wo waren meine Kameraden? Es klopfte lauter, meine Ohren schmerzten. Ich schwitzte und zitterte.

Als ich die Augen öffnete, erkannte ich nichts. Dann hörte ich wieder das Klopfen. Ich lag auf etwas Weichem. Ich blinzelte, dann tastete ich mit meinen Händen die Umgebung ab. Es fühlte sich weich und warm an. Dann stieß ich auf etwas Hartes, es klirrte. Meine Nachttischlampe war heruntergefallen. Es klopfte weiter, ich hörte auch Rufe. Ich fluchte und stand auf. Es knirschte, der Schmerz zog hoch ins Bein, ich war in einen Splitter des Lampenschirms getreten. Ich humpelte zur Tür und knipste das Licht an, es blendete. Ich hob meinen rechten Fuß und sah Blut. Ich hinterließ eine Blutspur auf dem Teppich. Jemand hämmerte an die Tür. Ich schaute zur Wanduhr, es war fast drei Uhr am Morgen. Ich ging zur Tür und hörte die Rufe. „Herr Kommissar, machen Sie auf! Es ist dringend! Öffnen Sie!“ Die Stimme kannte ich, es war Egon Wohlfeld mein bester Kriminalassistent. Der Mann hat ein so rundes Vollmundgesicht, dass manche Kollegen Schlafstörungen befürchteten, wenn er sie länger ansah. Er war ein ruhiger Zeitgenosse und hatte nicht die Angewohnheit, nachts Vorgesetzte aus dem Bett zu trommeln. Als ich die Tür öffnete, fiel mir zuerst Wohlfelds bleiches Gesicht auf. „Herr Kommissar, es ist etwas Furchtbares geschehen. Sie müssen sofort aufs Präsidium. Schnell, der Herr Polizeipräsident wartet schon.“

Was war in Wohlfeld gefahren? „Nun fassen Sie sich mal, was ist passiert?“

Wohlfeld schaute mich erstaunt an, als müsste ich es wissen. „Hitler soll ermordet worden sein, in Weimar.“ Er stotterte. Ich hatte ihn noch nie stottern gehört.

Die Überraschung wich dem Ärger. Ich war sauer. Was interessierte mich dieser selbst ernannte Erlöser aus Österreich? „Haben die in Thüringen keine Polizei mehr? Hat nicht der formidable Herr Frick bei seinem braunen Intermezzo einen Haufen Nazipolizisten befördert? Und haben die nicht seit August eine richtig schicke Naziregierung mit dem nicht weniger formidablen Herrn Sauckel? Können die nicht selbst schauen, ob die Leiche ihr Führer ist? Was habe ich damit zu tun?“ Dann winkte ich Wohlfeld in die Diele und sagte: „Warten Sie, ich ziehe was an. Ach nee, kommen Sie mal mit.“ Ich humpelte ins Bad und setzte mich auf den Rand der Wanne. Dann hielt ich Wohlfeld meinen schmerzenden Fuß hin. „Da ist ein Splitter drin, holen Sie den raus! Beeilen Sie sich.“

Wohlfeld blickte auf den Fuß, dann auf mich und warf mir einen verwirrten Blick zu. „Mit was?“

Neben dem Waschbecken stand ein schmaler hoher Schrank. Er hatte oben eine Tür, unten vier Schubladen. Ich deutete auf die obere Schublade. „Darin liegt irgendwo eine Pinzette.“ Ich hoffte, dass Erika sie dagelassen hatte, als sie letzte Woche ihre Sachen packte.

Wohlfeld stöberte zaghaft in der Schublade, dann hatte er die Pinzette in der Hand. Er betrachtete meinen Fuß, wischte mit Klopapier das Blut weg und sagte: „Da ist er.“ Während Blut nachsickerte, zog Wohlfeld einen kleinen glitzernden Glassplitter aus der Haut. Er fand ein Pflaster in der Schublade und klebte es auf die Sohle, nachdem er zuvor noch einmal Blut weggewischt hatte.

Ich wusch mir das Gesicht, kämmte die paar grauen Haare, die mir geblieben waren, und zog mich im Schlafzimmer an. Wie jeden Morgen warf ich zum Abschied einen Blick auf das Foto von Elsbeth, das in einem Silberrahmen auf dem Nachttisch stand. Der Wecker zeigte auf kurz nach vier Uhr. Auf die Rasur verzichtete ich. Dann raste Wohlfeld mit mir zum Alexanderplatz in unserem schweren Horch 8, der aus dem beschlagnahmten Vermögen der Sklarek-Brüder stammte. Bis zum Alex brauchte er knapp zwanzig Minuten von der Zinzendorfstraße in Moabit, dort wohnte ich in einem alten fünfstöckigen Mietshaus im oberen Stockwerk. Die Straßen waren fast leer. Vor dem großen Krach hatte es nachts mehr Verkehr gegeben. Mein rechter Fuß glitschte im Schuh. Wohlfeld stieg hart in die Bremsen, als er den Eingang Alexanderstraße des mächtigen Gebäudes aus rotem Backstein erreichte, in dem der Kopf und die wichtigsten Glieder der Berliner Polizei residierten. Wir bildeten uns ein, dieser Bau sei gefürchtet unter den Ganoven der Hauptstadt. „Ich bringe nur schnell den Wagen weg“, sagte Wohlfeld und gab Gas, bevor ich ihn anschnauzen konnte. Mir gingen seine Bremsmanöver auf die Nerven und vor allem auf den Magen. Manchmal hatte ich den Verdacht, er wollte mich kotzen sehen.

Ich zündete mir eine Zigarette an und eilte die Treppen hinauf, den Homburg in der Hand. In der sechsten Etage drückte ich die Zigarette aus und öffnete die Tür zum Vorzimmers des Präsidenten. Selma Wieczorek saß an ihrer Schreibmaschine, als wäre es normal, morgens vor fünf Uhr an einer Schreibmaschine zu sitzen. Sie drehte sich kaum um und sagte: „Die Herren warten schon.“

Es waren zwei Herren. Der eine war der Polizeipräsident Kurt Melcher, im Juli erst vom Reichskanzler Papen ins Amt gerufen beim Preußenschlag, als die sozialdemokratische Landesregierung abserviert wurde. Papen hatte Melcher aus Essen importiert. Seine Glatze glänzte im Licht des Lüsters, der schwer von der Decke hing. Etwas abseits in der Ecke saß ein zweiter Mann, in der Uniform eines Oberleutnants der Reichswehr. Er nickte mir zu. Es war ein junger Mann.

Mich faszinierten immer wieder Melchers Ohren. Sie waren tief angesetzt, stießen fast an den steifen Hemdkragen. Seine kräftige Nase endete in einer tropfenförmigen Spitze. Ich war damals noch dabei, mir eine Meinung über Melcher zu bilden. Er war eingesetzt worden für den geschassten Grzesinski, und der war nicht nur Sozialdemokrat, sondern hatte auch bei den sittenstrengen Herren um den Reichspräsidenten verschissen, weil er zur Freude der Boulevardpresse seine Schauspielerfreundin mehr liebte als Ehefrau und Amt.

„Herr Kommissar, wir haben auf Sie warten müssen“, sagte Melcher mit fast tonloser Stimme.

Ich hätte am liebsten den Schuh ausgezogen und dem Herrn meinen blutigen Fuß auf den Schreibtisch gelegt. Aber ich sagte nur: „So schnell es ging, Herr Präsident.“

„Aha“, sagte Melcher und zog die schmalen Augenbrauen hoch. „Sie werden sich vielleicht fragen, wer dieser Herr ist.“ Er zeigte auf den Oberleutnant. „Herr Oberleutnant Rickmer ist im Auftrag des Herrn Reichswehrministers hier. Er ist gewissermaßen der inoffizielle Beobachter des Generals von Schleicher. Er wird Sie begleiten bei Ihren Ermittlungen und dem Herrn Reichswehrminister berichten.“

Er wandte sich an den Oberleutnant. „Und das ist einer unserer fähigsten Beamten, der Kriminalkommissar Soetting, Leiter der aktiven Mordkommission. Auf jeden Fall hat niemand mehr Belohnungen bekommen als Sie.“ Das klang wie ein Vorwurf. Dabei war es üblich, dass die Polizeiführung Gratifikationen verteilte, wenn man schwierige und wichtige Fälle löste. Manchmal zeigten auch Bürger ihre Dankbarkeit. Das erlebte ich zum ersten Mal, als ich kurz vor der Inflation dem Einbruchsdezernat zugeteilt war und Kowalski verhaftete. Eines seiner Opfer durfte mir mit Billigung des Dezernatsleiters zweihundert Mark schenken. Kowalski war der Zweite gewesen auf der mittlerweile lange Liste, der Kriminalanwärter Soetting war stolz gewesen. Wenige Jahre später hatte ich ihn wieder erwischt, als er eine Villa im Tiergartenviertel ausräumen wollte. Nachbarn hatten ihn gesehen, ich hatte Bereitschaft, und Kowalski wurde mein Stammkunde. Ich habe nie viel Sinn darin gesehen, Verhaftete fertig zu machen. Freundlichkeit führt meist schneller zum Ziel. Wie ich hörte, verdankte auch der alte Gennat dieser Methode einen Teil seiner legendären Erfolge. Seit den beiden Verhaftungen hatte Kowalski mir immer mal wieder einen Tipp gegeben, wenn ich ihn hin und wieder sah in einschlägigen Kneipen bei Razzien, begrüßte er mich freundlich, und ich kontrollierte ihn nicht. Als ich 1927 zur Mordinspektion versetzt wurde, brach der Kontakt ab.

Ich schaute zu Rickmer, der verzog keine Miene, nickte nur fast unsichtbar.

„Ich möchte nicht, dass Sie gegenüber der Presse etwas über diesen Fall sagen. Wenn einer was sagt, bin ich das. Ist das klar?“ Melcher schaute mich streng an.

Ich starrte einige Sekunden regungslos zurück, der Ton passte mir nicht. Dann sagte ich: „Jawohl, Herr Präsident.“

Ich spürte die Missbilligung in seinem Blick. Vielleicht hielt er mich für einen verkappten Grzesinski-Mann. Vielleicht wollte er mir den Auftrag gar nicht geben, musste es aber, damit ihm hinterher niemand etwas vorwerfen konnte.

Als hätte Melcher meine Gedanken geahnt, sagte er: „Seit dem Abgang unseres Kollegen Engelbrecht kommen für diesen Auftrag eigentlich nur Sie in Frage. Den Kollegen Gennat will ich mit solchen Fällen nicht behelligen. Er ist, sagen wir mal, nicht beweglich genug, womit ich natürlich seinen herausragenden kriminalistischen Fähigkeiten und Verdienste nicht in Abrede stellen will.“ Der Polizeipräsident ließ Missbilligung aufscheinen in seinem Gesicht. Der Chef der Mordinspektion, Kriminalrat Ernst Gennat, der Buddha der Polizei, hatte sich seit Jahren mit Torte vollgestopft, bis er keine Treppe mehr hochkam. „Ich bin natürlich sicher, dass Sie den Rat des Kollegen Gennat suchen werden. Genauso sicher bin ich, dass unser geschätzter Herr Exkollege Engelbrecht öffentlich feststellen wird, dass wir einmal mehr alles falsch machen und dass ihm diese Fehler nicht unterlaufen wären.“

Ernst Engelbrecht wurde seinerzeit in Ganovenkreisen der „Blitz“ genannt, wobei unklar blieb, ob er sich den Namen nicht selbst verpasst hatte. Der war abgehauen, hatte geschmissen, wollte sich als Schriftsteller versuchen, war ein Pfau. Ich wusste nie so recht, ob er seinen Ruf seinen Leistungen oder der Selbstbeweihräucherung verdankte, zu der ihn irgendetwas trieb. Immerhin, Engelbrecht hatte immer einen netten Spruch auf den Lippen gehabt, den etwa:

„Willst du beim Fachgenossen gelten,

Das ist verlor'ne Liebesmüh',

Was dir misslingt, verzeih'n sie selten,

Was dir gelingt, verzeih'n sie nie.“

Den Abgang hatten die Herren im preußischen Innenministerium Engelbrecht schon gar nicht verziehen.

„Jawohl, Herr Polizeipräsident“, sagte ich.

Er warf mir einen misstrauischen Blick zu. Dann sagte er: „Kommen wir zur Sache. Im Hotel Elephant in Weimar liegt eine Leiche. Laut Auskunft der dortigen Mordkommission handelt es sich um Adolf Hitler.“

Ich hätte gerne eine geraucht. Der Fuß schmerzte. Einen Moment keimte die Angst vor einer Blutvergiftung in mir. Ich war müde. Hitler war tot, schlecht für ihn.

„Das Thüringer Innenministerium hat sofort den Reichspräsidenten und die Reichsregierung unterrichtet. Der Reichsinnenminister hat eine Nachrichtensperre verhängt, vermutlich auf Druck von Sauckel. Die Nazis wollen sich wohl erst einmal überlegen, wie Sie auf das Ableben ihres Führers reagieren sollen. Ich werde gewiss nicht als illoyal geziehen, wenn ich behaupte, dass die Sperre keine vierundzwanzig Stunden hält. Wie mir mitgeteilt wurde, legt der Reichspräsident größten Wert auf die Aufklärung des Falls, ohne Ansehen der Person. Das preußische Innenministerium hat mich angewiesen, Sie mit den Ermittlungen zu beauftragen.“

Es klang nicht so, als wäre Melcher begeistert von dieser Weisung. Ich vermutete, ein Minister oder vielleicht sogar einer aus Hindenburgs Kamarilla hatte letzten Monat die Lobeshymne in der Berliner Zeitung gelesen. Ich hatte mich nicht dagegen gewehrt, als „Berlins modernster Kriminalist“ gepriesen zu werden. Aber es war Unsinn. Und die Freude meiner Kollegen war begrenzt. „Engelbrecht zwo“, lästerte Kühlbauer vom Einbruch in der Kantine. Und Wohlfeld hatte es mir gleich berichtet, mit einem kaum sichtbaren Grinsen im Vollmondgesicht.

„Sie fahren noch heute Morgen mit dem Kriminalassistenten Wohlfeld und dem Herrn Oberleutnant nach Weimar und übernehmen die Ermittlungen.“

„Eigentlich bin ich nicht zuständig.“ Es rutschte mir heraus.

Der Präsident schaute mich streng an aus seinem traurigen Gesicht. „Aber nur eigentlich. Es ist ja nicht das erste Mal, das wir Kollegen auf dem Lande Hilfestellung geben. Der Reichsinnenminister hat schon mit dem Herrn Sauckel telefoniert. Sagen Sie den Herren in Weimar, wenn es ihnen nicht passt, schicken wir eine Verfügung des Reichsinnenministers ans Staatsministerium hinterher. Oder, wenn das nicht reicht, eine Notverordnung des Reichspräsidenten.“

Ich muss ziemlich ungläubig geguckt haben.

„Sie haben offensichtlich nicht begriffen, um was es geht.“ Melcher schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wenn Hitler tot ist, dann droht ein Bürgerkrieg. Nicht wahr, Herr Oberleutnant?“

Rickmer nickte.

Ich verstand nichts. Glücklicherweise befasste ich mich nur mit Mördern und Leichen, nicht mit Politik.

„Es eilt. Wir dürfen uns auf keinen Fall dem Vorwurf aussetzen, wir wollten die Sache vertuschen oder würden uns vielleicht sogar freuen. Immerhin wollte Hitler die Macht für sich allein. Und noch etwas: Es dürfte sogar Ihnen bekannt sein, dass der Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser nun der mächtigste Mann in der NSDAP ist. Er ist wohl so was wie ein verkappter Sozi, war Hitlers Konkurrent. Und ist vermutlich der einzige, der die Partei nun führen kann. Er verbündet sich aber lieber mit der Kommune als mit Papen oder Hugenberg, zumal die Thälmanns neuerdings auf national machen. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass Göring und Frick mit Strasser nichts am Hut haben. Goebbels wohl auch nicht, aber der ist genauso wenig ein Busenfreund von Göring. Es sieht nach Kuddelmuddel aus in der Nazipartei und darüber hinaus. Der Bursche, der Hitler tötete, hat eine Lunte angesteckt. Und wir müssen sie austreten, wenn nötig, gemeinsam mit der Reichswehr.“

„Gegen Moskau haben wir nichts. Aber gegen Thälmann und Genossen umso mehr“, warf Rickmer ein. Er sah so aus, als wollte er den Satz wieder einfangen.

Jetzt begriff ich nichts mehr. Der Präsident musste es mir angesehen haben. „Das brauchen Sie jetzt nicht zu verstehen, fahren Sie nach Weimar. Sehen Sie zu, dass Sie den oder die Täter finden. Ich tippe mal, ein kommunistischer Kellner oder so was. Vielleicht auch eine Verschwörung der Kommune. Oder ein durchgeknallter Anarchist. Aber ich will Ihnen da nicht hineinreden.“

„Wer soll es sonst sein, wenn nicht einer von der Kommune?“, sagte Rickmer.

Melcher schlug mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch, ausladend, dunkel gebeiztes Eichenholz. Dann stand er auf. „Meine Herren, gute Reise!“

Rickmer lief zielstrebig zum Aufzug. Er war kleiner als ich, schlank und hatte einen geschmeidigen Gang. Ich wollte ihm meine Platzangst nicht eingestehen und hoffte, der Schweiß trat mir nicht auf die Stirn. Der Fuß schmerzte, er fühlte sich geschwollen an. War noch ein Splitter drin? Ich quälte mich in den Aufzug.

„Es ist warm hier drin“, sagte Rickmer und schaute auf meine Stirn. Er verzog sein Knabengesicht, vielleicht wollte er Mitleid zeigen.

Ich nickte.

Am Haupteingang stand Wohlfeld. „Ich habe schon vollgetankt und zwei Kanister in den Kofferraum gepackt. Da brauchen wir unterwegs nicht zu tanken.“ Er klang fröhlich, als wäre es ihm ein Vergnügen, mitten in der Nacht seinen Chef aus dem Bett zu trommeln und im anbrechenden Morgen stundenlang durch die Landschaft zu fahren.

Gestern früh hatte ich im Radio von der Wahlniederlage der Hitlerpartei gehört. Heute war Hitler tot. Da hatte er zweimal Pech gehabt. Es war der 8. November 1932, ein kalter und nasser Tag kündigte sich an.

II.

Der Oberleutnant saß auf dem Beifahrersitz, ich im Fond. Graue Soße löste die Nacht ab. Die Reifen des Wagen zischten auf der nassen Straße. Bis Beelitz fiel kein Wort, dann drehte sich Rickmer zu mir um und sagte: Ich dachte, der Staat ist pleite. Er klopfe auf die Rückenlehne des Fahrersitzes. Wir kutschieren in alten Hanomags durch die Gegend und die Polizei in solchen Luxusschlitten.

Den Wagen verdanken wir den Sklareks, erwiderte ich.

Die beiden Brüder, die fast den gesamten Berliner Magistrat geschmiert haben?

Genau.

Und warum wird der Wagen nicht verkauft?

Vielleicht wird er es noch, aber zurzeit kriegt man nichts für gebrauchte Luxuskarossen. Da ist es besser, wir benutzen sie. Normalerweise fahren wir mit unserem Mordauto zu Tatorten, das ist immerhin ein Maybach Zeppelin.

Rickmer drehte sich wieder um. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: Sie haben ja keinen schönen Beruf.

Weil ich so früh raus musste?

Nein, das müssen wir Soldaten oft. Waren Sie im Krieg?

Ich nickte.

Wegen der Leichen. Ich war auch im Krieg und habe mich nicht daran gewöhnt.

Komischer Offizier, dachte ich. Dann fiel mir ein, dass Rickmer damals kaum schon Offizier gewesen sein konnte.

War ich gewöhnt an Leichen? Ja und nein. Mir wurde nicht schlecht, wenn ich einen Toten sah. Aber ich fror innerlich. Und die Teilnahme an Leichenöffnungen würde nie zu meinen Lieblingsübungen zählen.

Und was machen Sie, wenn Sie sich nicht mit Herrn Hitlers sterblichen Überresten beschäftigen?

Rickmer grinste leicht. Ich bin so eine Art Mädchen für alles für unseren General Schleicher, z. b. V. Ich treibe mich recht selten im Busch herum.

Ihr Herr General soll ja so was wie der heimliche Herrscher der traurigen Reste des Deutschen Reichs sein, liest man jedenfalls immer mal wieder.

Rickmer lachte. Es gibt kein Volk auf der Welt, das Verschwörungstheorien so liebt wie wir Deutschen. Sagen wir es mal so: Die Reichswehr verhindert Putsche, ob rot, ob braun. Wir dürfen uns nicht gegenseitig totschießen, wenn wir Versailles loswerden wollen. Und das wollen doch alle, sogar die Erfüllungsexperten von der SPD.

Als ich über diese Äußerung nachdachte, fielen mir Argumente ein, die mir die Reichswehr nicht mehr so überparteilich vorkommen ließen. Aber ich sagte nichts. Ich glaubte zu begreifen, warum Rickmer mit nach Weimar fuhr. Und doch fühlte ich mich bespitzelt. Er schien ein passabler Bursche zu sein, mimte nicht den Überlegenen, der Zivilisten für Deppen hielt. Immer wenn ich an die Reichswehr dachte, Deutschlands Hunderttausendmannarmee, dann fiel mir der dürre, hochnäsige Seeckt ein, der diese Truppe zu einer Art Orden gemacht hatte, über den er monokelblitzend wachte, bis ihn vor ein paar Jahren seine Eigenmächtigkeit endlich den Chefposten kostete. Rickmer stammte offenbar nicht aus der Seeckt-Schule, jedenfalls hatte er nicht dessen bedeutungsschwangere Schweigsamkeit geerbt.

Als wir den Schießplatz bei Treuenbrietzen passierten, sagte Rickmer: Wir sollten mal sehen, ob wir demnächst irgendwo was zum Frühstück kriegen.

In Marzahna parkte Wohlfeld den Horch vor einer Gaststätte mit dem vielversprechenden Namen Zur Brezel.

Als ich ausstieg, zuckte mir der Schmerz durch den Fuß. Wohlfeld warf mir einen mitleidigen Blick zu. Aber dann ging es doch, und als ich die Gaststätte betrat, konnte ich fast normal auftreten. Der Fuß glitschte nicht mehr im Schuh, das Blut war getrocknet. Rickmer öffnete die Tür zum Gastraum, schon baute sich ein kleingewachsener Mann in einer fleckigen graublauen Schürze vor ihm auf. Erstaunlicherweise schlug er nicht die Hacken zusammen. Er starrte uns aus hervorquellenden Augen an, dann fragte er mit einer leichten Verbeugung: Was darf es sein, Herr Oberleutnant?

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