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Der dritte Band der zwölf Afrika-Romane von Edgar Wallace spielt hauptsächlich in Großbritannien. Zwar gibt es Abstecher auf den dunklen Kontinent, aber Sanders spielt nur eine nebensächliche Rolle. Stattdessen lesen wir einen Kriminalroman. Die Hauptfigur Amber erinnert an Arsène Lupin des französischen Autors Maurice Leblanc oder auch an Flambeau den Gegenspieler von Pater Brown, des Autors Gilbert Keith Chesterton. Im Mittelpunkt steht ein ›Diamantenfluss‹, der zum Ziel der Begierde wird. Der Abstecher nach Afrika ist sehr kurz, wie bereits erwähnt. Stattdessen haben wir einen waschechten Kriminalroman, wie wir ihn von Edgar Wallace gewohnt sind. Seine Afrika-Romane sind ein Stück Zeitgeschichte und Kolonialgeschichte zugleich. Weit eindrucksvoller, als in den Geschichtsbüchern, beschreibt er die Zeit der kolonialen Inbesitznahme Afrikas aus Sicht der Kolonialmächte nachvollziehbar. Einen "politisch korrekten" Roman können Sie hier jedoch nicht erwarten. Es würde den Flair der Erzählung zerstören und ihn nicht mehr lesbar machen.
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Seitenzahl: 279
Edgar Wallace
Der Diamantenfluss
Die Afrika-Romane 3. Band
Scratch Verlag
Klassik
e-book 115
Erscheinungstermin: 01.06.2022
© Scratch Verlag
Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.scratch-verlag.de
Titelbild: Simon Faulhaber
Vertrieb: neobooks
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Vorgeschichte
Amber
Im Klub der Whistlers
Peter, der Romandichter
Lambaire braucht eine Karte
Amber gesteht seine Schuld
Auf der Straße
Amber begibt sich nach Scotland Yard
Francis Sutton stellt eine Frage
Amber sieht die Karte
Der Mann in Sträflingskleidung
Kapitän Ambrose Grey
Amber tritt die Ausreise an
Im Wald
Eine Handvoll Kiesel
Im Bett des Flusses
Amber und die Prospekte
Whitey hat einen Plan
Whitey am Werk
Amber reißt aus
Das Ende
Biographie
Vorwort
Der dritte Band der zwölf Afrika-Romane von Edgar Wallace spielt hauptsächlich in Großbritannien. Zwar gibt es Abstecher auf den dunklen Kontinent, aber Sanders spielt nur eine nebensächliche Rolle. Stattdessen lesen wir einen Kriminalroman. Die Hauptfigur Amber erinnert an Arsène Lupin des französischen Autors Maurice Leblanc oder auch an Flambeau den Gegenspieler von Pater Brown, des Autors Gilbert Keith Chesterton.
Im Mittelpunkt steht ein ›Diamantenfluss‹, der zum Ziel der Begierde wird. Der Abstecher nach Afrika ist sehr kurz, wie bereits erwähnt. Stattdessen haben wir einen waschechten Kriminalroman, wie wir ihn von Edgar Wallace gewohnt sind.
Seine Afrika-Romane sind ein Stück Zeitgeschichte und Kolonialgeschichte zugleich. Weit eindrucksvoller, als in den Geschichtsbüchern, beschreibt er die Zeit der kolonialen Inbesitznahme Afrikas aus Sicht der Kolonialmächte nachvollziehbar.
Einen „politisch korrekten“ Roman können Sie hier jedoch nicht erwarten. Es würde den Flair der Erzählung zerstören und ihn nicht mehr lesbar machen.
Die Vorgeschichte
Der Weg nach dem Alebi-Land führt durch den Busch. Er windet sich durch Wälder und Sümpfe, geht quer durch dichtes Gestrüpp und über üppig bewachsene Hügel; es ist ein kaum erkennbarer Pfad. Kein Nebenfluss des großen Stroms zeigt den Weg in das Alebi-Land, wo, wie die Kunde geht, wilde und unbekannte Stämme hausen, bei denen seltsame Zauber und absonderliche Bräuche zu finden sind. Durch dieses Land fließt der Diamantenfluss.
Einst brach einmal in dieses schlimme Land eine Expedition auf unter der Führung eines weißen Mannes. Sie war an einem Oktobermorgen mit einem Küstendampfer angekommen und hatte Träger und schwere Lasten mit Vorräten aller Art bei sich. Vier weiße Männer waren es, von denen einer höchstes Ansehen genoss, ein Mann mittleren Alters, hochgewachsen, breitschulterig, mit heiteren, freundlichen Mienen.
Einer der vier Männer machte kein Hehl daraus, dass er an der Expedition nicht teilzunehmen beabsichtigte. Auch er war ein großer Mensch, aber von schwererem Körperbau, und er hatte ein plumpes Gesicht. Während die Karawane mit Zurüstungen für den Marsch beschäftigt war, vertrieb er sich die Zeit dadurch, dass er riesige Zigarren rauchte und das Klima verfluchte.
Ein paar Tage vor dem Aufbruch der Expedition nahm er den Führer beiseite:
„Nun, Sutton“, sagte er, „die Sache hat mich einen Haufen Geld gekostet, und ich wünsche nicht, es durch eine Ihrer Torheiten zu verlieren – ich sage es Ihnen ganz offen, und Sie haben keinen Grund, zornig zu werden. Wenn Sie die Mine ausfindig gemacht haben, müssen Sie mit Proben zurückkehren, aber vor allem müssen Sie an Ort und Stelle genaue Messungen vornehmen. Wo sich der Fluss befindet, weiß ich nicht genau. Sie haben ja den skizzierten Plan erhalten, den uns der Portugiese gegeben hat –“.
Der andere unterbrach ihn mit einem nervösen, kurzen Lachen.
„Er ist natürlich nicht auf portugiesischem Gebiet.“
„Um des Himmels willen, Sutton“, sagte der große, starke Mann in einem aufgebrachten und stehenden Ton, erzürnt und bittend zugleich, „schlagen Sie sich doch diese portugiesische Grille aus dem Sinn! Ich habe Ihnen hundertmal gesagt, dass von portugiesischem Gebiet keine Rede sein kann. Der Fluss läuft durch britischen Grund und Boden –“.
„Wissen Sie, dass das Kolonialamt –“.
„Ich weiß alles“, unterbrach ihn der Mann rau, „ich weiß, dass das Kolonialamt ein Verbot erließ, und ich weiß, dass es eine schlimme Gegend ist, in die man sich mit äußerster Anstrengung hindurchkämpfen muss ... übrigens ... hier!“ – er zog aus seiner Tasche ein flaches, rundes Gehäuse und öffnete es – „benutzen Sie diesen Kompass, wenn Sie auf die erste Hügelkette gestoßen sind – haben Sie noch andere Kompasse? –“
„Ich habe zwei“, sagte der mit Sutton Angeredete verwundert.
„Geben Sie sie mir.“
„Aber –“
„Geben Sie sie her, mein Lieber“, sagte der Stämmige gereizt, und der Führer ging mit einem gutmütigen Achselzucken weg und kehrte einige Minuten darauf mit den zwei Instrumenten wieder. Er tauschte sie gegen den Kompass ein, den der andere in der Hand hielt, und dann öffnete er ihn.
Es war ein schönes Instrument, er hatte keine Nadel; die ganze Skala geriet in Bewegung, wenn man den Kompass drehte.
Das überraschte den Führer, und er erwiderte mit allen Zeichen des Unbehagens:
„Das ist merkwürdig; sind Sie sicher, dass der Kompass richtig ist? Norden muss genau über dem Flaggenmast auf dem Regierungsgebäude sein – erst gestern habe ich es von hier aus festgestellt –“
„Dummes Zeug!“, unterbrach ihn der andere laut. „Unsinn; dieser Kompass ist auf seine Richtigkeit geprüft; glauben Sie, ich wollte Sie irreführen – bei dem vielen Geld, das ich hineingesteckt habe?“
An dem Morgen, an welchem die Expedition aufbrechen wollte, gerade als die Träger ihre Lasten auf die Schultern genommen hatten, fand sich plötzlich ein sonnengebräunter Mann von kleinem Wuchs, der einen großen weißen Helm aus seiner Stirn zurückgeschoben hatte und eine kurze Peitsche in der Hand trug, auf dem Gestellungsplatz ein.
„Sanders, Regierungsamtmann,“ stellte er sich lakonisch vor. „Ich komme gerade aus dem Innern; tut mir leid, dass ich nicht früher angekommen bin: Sie wollen in den Busch?“
„Ja.“
„Diamanten, nicht wahr?“
Sutton, der Führer, nickte.
„Sie werden auf Ihrem Marsch teufelsmäßig viel Hindernisse antreffen, Hindernisse primitivster Art. Die Alebi-Männer werden mit Ihnen kämpfen, und das Otaki-Volk wird Sie sicher in Stücke reißen.“ Er stand nachdenklich da und fuchtelte mit seiner Peitsche hin und her.
„Vermeiden Sie Zusammenstöße“, sagte er, „ich möchte keine bewaffneten Konflikte auf meinem Gebiet haben – und halten Sie sich von der portugiesischen Grenze fern.“
Sutton, der Führer, lächelte.
„Wir werden dieser geheiligten Grenze weit aus dem Wege gehen – das Kolonialamt hat die Reiseroute gesehen und gebilligt.“
Der Amtmann nickte wieder und sah Sutton ernst an. „Viel Glück“, sagte er.
Am nächsten Tage brach die Expedition in der Morgendämmerung auf und verschwand in den Wäldern jenseits des Isisi-Flusses.
Eine Woche später segelte der Stämmige nach England.
Monate vergingen, und keiner kehrte zurück; weder durch einen Boten noch durch einen Missionsbericht traf irgendwelche Nachricht von der Expedition ein. Ein Jahr ging vorüber und noch immer kam keine Kunde.
Jenseits der Meere regten sich die Leute auf und wurden unruhig; Kabeltelegramme, Briefe, amtliche Depeschen liefen bei dem Regierungsamtmann ein und drängten ihn, nach der verloren gegangenen Expedition der weißen Männer, die den Diamantenfluss hatte finden wollen, zu suchen. Sanders von Bofabi schüttelte den Kopf.
In welcher Weise sollte die Nachforschung angestellt werden? In anderen Gegenden konnte ein flinker kleiner Dampfer, wenn er einem Dutzend Flussläufe folgte, in die von europäischem Einfluss unberührten Regionen eindringen, besonders wenn ein dickes Kanonenrohr über seinen Bug hinausragte; aber das Alebi-Land gehörte zum Busch. Zur Erkundung eines solchen Landstriches war eine bewaffnete Truppe nötig, und eine bewaffnete Truppe kostete Geld – der Regierungsamtmann schüttelte den Kopf.
Nichtsdestoweniger schickte er insgeheim zwei Späher in den Busch, zwei erfahrene und geschickte Jäger.
Sie waren drei Monate abwesend, und als sie zurückkehrten, führte der eine den andern.
„Die Wilden von Alebi fingen ihn und stachen ihm die Augen aus“, sagte der Führer ohne Erregung, „und in der Nacht, in der sie ihn verbrannt hätten, tötete ich seinen Wächter und trug ihn in den Busch.“
Sanders stand vor seinem einstöckigen Landhaus in dem grünen Mondlicht und blickte von dem Sprecher zu dem geblendeten Mann herüber, der geduldig und ohne zu klagen, dastand und mit seinen Fingern spielte.
„Bringt ihr Nachricht von den weißen Männern?“, fragte er schließlich, und der Sprecher, der sich auf seinen langen Speer stützte, wandte sich an den des Augenlichts Beraubten neben ihm.
„Was hast du gesehen, Messambi?“, fragte er ihn in seiner Eingeborenensprache.
„Knochen,“ jammerte der Blinde, „Knochen habe ich gesehen; Knochen, nichts als Knochen. Sie haben die weißen Männer auf einem großen Platz vor dem Haus des Häuptlings gekreuzigt, und keiner ist am Leben geblieben, so sagten die Männer.“
„Das dachte ich“, erwiderte Sanders ernst und machte seinen Bericht nach England.
Monate vergingen, die Regenzeit kam und dann die grüne Jahreszeit, die auf die Regenzeit folgt. Sanders war so tätig, wie er es als West-Zentralafrikanischer Regierungsamtmann sein musste, in einem Land, wo Schlafkrankheit und Stammesfehden beständig zum Prozentsatz der Sterblichkeit beitrugen.
Er war in den Busch gerufen worden, um den geheimen Künsten eines Zauberdoktors ein Ende zu machen. Er legte sechzig Meilen Wegs zurück auf den verschlungenen Pfaden, die in das Alebi-Land führen, und errichtete sein Tribunal in einem Flecken, M'Saga genannt. Er hakte zwanzig Houssas bei sich, sonst hätte er ungestraft nicht so weit gehen können. Er saß in dem strohgedeckten Geisterhaus zu Gericht und musste die unglaublichsten Geschichten anhören von Zauberkräften und Zauberformeln und von verzehrenden Krankheiten als Folge von schrecklichem Hokuspokus, welcher zwischen Monduntergang und Sonnenaufgang betrieben wurde.
Der Zauberdoktor war ein alter Mann, aber Sanders hatte vor grauen Haaren keinen Respekt.
„Es ist ganz offenbar, dass du ein böser Mensch bist“, sagte er, „und –“.
„Herr!“, unterbrach ihn der Kläger, ein Mann, dessen Körper von Krankheit und ausgestandenem Schrecken ganz abgezehrt war; er trat in den Kreis, den die Soldaten und die dumme Bevölkerung des Ortes bildeten.
„Herr, er ist ein böser Mensch –“.
„Sei ruhig“, befahl Sanders.
„Er übt Teufelszauber aus mit dem Blute weißer Männer“, schrie der Mann, als ihn zwei Soldaten auf einen Wink des Regierungsamtmanns ergriffen. „Er hält einen weißen Mann im Walde gefangen –“
„Ei!“
Sanders wurde munter und horchte auf. Er kannte die Eingeborenen besser als jeder andere; er konnte eine Lüge aufdecken – und er konnte, was noch schwieriger fertigzubringen war, er konnte die Wahrheit aufdecken. Er winkte jetzt das Opfer aus der dem Zauberer feindlichen Gruppe zu sich.
„Was sprichst du da von weißen Männern?“, fragte er.
Der alte Doktor sagte wütend etwas in leisem Ton, und der Kläger zögerte.
„Fahr fort“, sagte Sanders.
„Er sagt –“.
„Weiter!“
Der Mann zitterte am ganzen Körper.
„Im Walde ist ein weißer Mann – er kam vom Diamantenfluss – der Alte dort fand ihn und brachte ihn in eine Hütte, weil er sein Blut für Zaubereien braucht ...“.
Der Mann ging auf einem Waldpfad voran, hinter ihm schritt Sanders und, von sechs Soldaten begleitet, der alte Zauberdoktor mit zusammengebundenen Händen.
Zwei Meilen vom Dorf entfernt war eine Hütte. Das Elefantengras stand so hoch um sie herum, dass sie kaum zu sehen war. Ihr Dach war verfault und hatte sich in der Mitte gesenkt, das Innere war ekelerregend ...
Sanders fand einen Mann auf dem Boden liegend, der mit dem Bein an einen schweren Klotz gekettet war; er lachte leise mit sich selbst und redete wie ein gebildeter Mensch.
Die Soldaten trugen ihn ins Freie und legten ihn behutsam auf den Boden.
Seine Kleider waren zerfetzt, Haar und Bart lang, und an jedem Unterarm hatte er viele kleine Narben von den Wunden, die ihm das Messer des Zauberdoktors beigebracht, um ihm Blut zu entziehen.
„Hm –“, sagte Sanders und schüttelte den Kopf.
„... der Diamantenfluss“, sagte das Menschenwrack mit einem Kichern, „hübscher Name – was? Kimberley? Ei! – was, Kimberley ist damit verglichen nichts ... Ich glaubte es nicht, bis ich es mit meinen eigenen Augen sah ... Das Bett des Flusses ist mit Diamanten besetzt, und du hättest es niemals gefunden, Lambaire, mit deiner Karte und deinem Höllenkompass ... Ich habe ein Versteck mit Werkzeugen und Nahrung für ein paar Jahre zurückgelassen ...“
Er steckte seine Hand in sein zerlumptes Hemd und brachte ein Stück Papier zum Vorschein.
Sanders beugte sich herab, um es zu nehmen, der Mann aber steckte es mit seiner dünnen Hand wieder ein.
„Nein, nein, nein“, hauchte er. „Du nimmst mir Blut, das ist dein Geschäft – ich bin stark genug, dir standzuhalten – eines Tages werde ich weggehen ...“
Zehn Minuten später verfiel er in einen festen Schlaf.
Sanders fand das schmutzige Papier und steckte es in eine Tasche seiner Uniform.
Er schickte Männer nach dem Boot zurück, und sie brachten zwei Zelte mit, die sie in der Nähe der Hütte in einer Lichtung aufschlugen. Der Mann war in so erbarmungswürdigem Zustand, dass Sanders nicht wagte, ihn fortzubringen. Des Nachts, als das ganze Lager schlief und die beiden Negerweiber, denen der Amtmann befohlen hatte, bei dem kranken Mann zu wachen, schnarchten, erwachte das Menschenwrack. Verstohlen schlich es aus dem Bett und kroch in die sternenhelle Nacht hinaus.
Sanders wachte auf und fand eine leere Hütte und eine Handvoll Lumpen, die einstmals die Kleidung eines weißen Mannes waren, an den Ufern des winzigen Waldstroms, hundert Meter von dem Lager entfernt.
*
Der Zauberdoktor, der frühmorgens zu einem Verhör gerichtlich geladen wurde, kam in Fesseln und konnte über die Strafe, die ihn erwartete, nicht im Zweifel sein, denn im nahen Walde hatten die Houssas viele Todesopfer seiner Zauberei als Schuldbeweise ausgegraben.
„Herr“, sagte der Mann, als er dem starren Blick der grauen Augen begegnete, „ich lese Tod auf deinem Gesicht.“
„Das ist Gottes Wahrspruch“, sagte Sanders und ließ ihn aufhängen.
Amber
Amber saß in seiner Zelle im Wellboro-Gefängnis und pfiff sich leise ein Liedchen; mit seinen Füßen, die nur in Strümpfen staken, trommelte er auf dem Boden den Takt dazu. Er hatte seinen Stuhl so nahe an die raue Wand gerückt, dass er ihn nach hinten kippen und auf zweien seiner drei Beine im Gleichgewicht halten konnte.
Seine Augen wanderten kritisch in dem kleinen Raum umher.
Löffel und Schüssel auf dem Brett, vorschriftsmäßig dunkelgelber Gefängnisanstrich; das Bett sauber und ordentlich gemacht ... er nickte mehrmals langsam mit dem Kopfe und pfiff immer noch.
Über dem Bett, etwas nach links, befand sich ein kleines Fenster von derbem Glas, dessen unregelmäßige Struktur wohl das Tageslicht hereinließ, aber keinen Ausblick in die Außenwelt gestattete. Auf einem Brett über dem Bett lagen eine Bibel, ein Gebetbuch und ein schmutziges Bibliotheksbuch.
Er schnitt dem Buch eine Grimasse; es war eine überaus langweilige Erzählung einer ganz besonders langweiligen Missionarin, die zwanzig Jahre im Norden Borneos zugebracht hatte, ohne dort etwas anderes beobachtet zu haben, als dass es dort „sehr heiss war“ und dass die eingeborene Dienerschaft bei Gelegenheit „sehr schwierig“ sein konnte.
Amber hatte nie Glück mit seinen Bibliotheksbüchern. Vor fünf Jahren, als er zum ersten Mal Seiner Majestät Gefängnisse von innen sah, hatte er vorgehabt, Staatswirtschaftslehre und das Drama der Hellenen zu studieren, und er hatte um die einschlägige Literatur gebeten, seinen Studien obliegen zu können. Man hatte ihm ein Elementarbuch der griechischen Grammatik und einen schweizerischen Robinson, Familienlektüre, gegeben, die ihm beide nicht viel nützen konnten. Glücklicherweise endete seine Gefangenschaft früher, als er erwartet; aber er hatte sich damit vergnügt, die Abenteuer des tugendhaften Schweizers in lateinische Verse zu bringen, obgleich ihn die Aufgabe wenig befriedigte und er sie deshalb beiseitelegte.
Während seiner vierten Gefangenschaftsperiode hatte er ein langes Gesuch gemacht, Chemie studieren zu dürfen; aber auch hierin hatte er kein Glück; er kam nicht zu seinem Studium; ebenso gut hätte er sich das Darlehen eines Landedelmannes sichern können.
Amber war jetzt achtundzwanzig oder dreißig Jahre alt, etwas übermittelgroß und kräftig gebaut, obgleich er sehr schlank wirkte. Sein Haar war rötlich-blond, seine Augen grau, seine Nase gerade, Mund und Kinn fest; beim Lachen zeigte er zwei Reihen weißer Zähne, und er lachte gern. Der untere Teil seines Gesichtes war jetzt unrasiert, was seiner Erscheinung Abbruch tat, aber nichtsdestoweniger sah er sogar in der hässlichen Gefängniskleidung wie ein gebildeter, feiner junger Mann aus, den er nicht ableugnen konnte.
Er hörte das Geräusch eines Schlüssels an der Tür, und er erhob sich; der Schlüssel wurde zweimal umgedreht, und die Tür öffnete sich nach außen.
„75“, sagte eine befehlende Stimme, und er trat aus der Zelle auf den langen Flur, wo er stehen blieb.
Der Wärter, der die Schlüssel an einer blinkenden Kette trug, deutete auf die Schuhe des Gefangenen, die sauber nebeneinander vor der Zelle standen.
„Zieh sie an!“
Amber gehorchte, der Wärter beobachtete ihn.
„Warum diese Zudringlichkeit bei einer Sache so privater Natur, mein lieber Augustus“, fragte der knieende Amber.
Der Wärter, der gar nicht Augustus hieß, erwiderte nichts. Früher würde er ihn wegen Unverschämtheit angezeigt haben, aber man kannte jetzt die Überspanntheiten dieses musterhaften Gefangenen, der außerdem ein wenig Anspruch auf rücksichtsvollere Behandlung machen konnte, denn er war es gewesen, der den Hilfswärter Beit vor der Wut des Londoner Mob gerettet hatte. Dies hatte sich seinerzeit vor dem Gefängnis der Grafschaft Devizes ereignet; aber die Welt der Gefängnisse ist klein, und der Ruhm Ambers lief von Exeter nach Chelmsford, von Lewes nach Strangeways.
Er schritt mit seinem Wärter durch den Flur, eine polierte Stahltreppe hinab bis zur großen Halle und einen engen, gepflasterten Gang entlang bis zum Büro des Gefängnisdirektors. Hier wartete er einige Minuten und wurde dann in das Heiligtum eingelassen.
Major Bliß saß an seinem Schreibtisch; er war ein gebräunter Mann mit einem kleinen schwarzen Schnurrbart und schwarzem Haar, das an den Schläfen ergraut war.
Er entließ den Wärter mit einem Kopfnicken.
„75“, sagte er kurz, „Sie werden auf einen Befehl des Ministeriums des Innern morgen entlassen.“
„Wie Sie wünschen, Herr Direktor“, sagte Amber.
Der Direktor saß einen Augenblick schweigend wie in Gedanken und trommelte mit seinen Fingern geräuschlos auf seiner Schreibunterlage.
„Was werden Sie anfangen?“, fragte er plötzlich.
Amber lächelte.
„Ich werde meine Verbrecherkarriere weiter verfolgen“, sagte er heiter, und der Direktor runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
„Ich kann Sie nicht verstehen – haben Sie keine Freunde?“
Wieder das vergnügte Lächeln.
„Nein, mein Herr.“ Amber wurde noch heiterer als zuvor. „Niemand ist an meiner Entdeckung schuld als ich selbst.“
Der Major blätterte in den Aktenbogen, die vor ihm lagen, las darin und runzelte wieder die Stirn.
„Zehn Vergehen!“, sagte er. „Ein Mann mit Ihrer Veranlagung – ich meine, mit Ihren Fähigkeiten hätten Sie können –“
„O nein, ich hätte nicht können“, unterbrach ihn der Verbrecher, „die Richter extemporieren gern so, aber es ist nicht wahr. Daraus, dass einer ein geistvoller Verbrecher ist, folgt nicht, dass er als Architekt Bombenerfolge haben würde oder dass er, weil er einen Scheck fälschen kann, sein Glück bei einer „Gründer“-Gesellschaft gemacht haben würde. Ein ganz gewöhnlicher intelligenter junger Mann kann immer als Verbrecher vorwärtskommen, weil er mit den wirklich schwachköpfigen und unwissenden Kollegen vom Handwerk im Wettbewerb steht.“
Er machte einen Schritt vorwärts und lehnte sich auf den Rand des Schreibtisches.
„Sehen Sie, mein Herr, Sie erinnern sich meiner von Sandhurst her; Sie waren in meinem Alter. Sie wissen, dass ich pekuniär von einem Onkel abhängig war, der unerwartet starb. Was sollte ich machen, als ich nach London kam? Die erste Woche schien es recht hübsch zu gehen, denn ich hatte eine Zehnpfundnote, mit der ich weiterleben konnte; aber in einem Monat litt ich Hunger. So verfiel ich auf den Betrug spanischer Gefangener, ich spekulierte auf die Begierde der Leute, die meinen, sie könnten ein ungeheures Vermögen erwerben, wenn sie nur eine kleine Auslage machten – so kam ich leicht zu Geld.“
Der Direktor schüttelte wieder den Kopf.
„Ich habe seitdem allerhand Betrug verübt,“ fuhr 75 zu lügen fort. „Ich habe die verschiedensten Kunststückchen fertiggebracht,“ er lächelte wie jemand, der sich einer heiteren Erinnerung überlässt. „Es gibt beim Spiel keinen Kniff, den ich nicht kenne; es gibt in London keinen Bösewicht, dessen Biographie ich nicht schreiben könnte, wenn ich wollte. Ich habe keine Freunde, keine Verwandten, niemanden auf der Welt, um den ich mich auch nur einen Deut zu scheren brauchte, und ich bin ganz glücklich: und wenn Sie sagen, ich sei zehnmal im Gefängnis gewesen, so sollten Sie richtiger sagen: vierzehnmal.“
„Du bist ein Narr“, sagte der Direktor und drückte auf eine Klingel.
„Ich bin ein abenteuernder Philosoph“, sagte 75 behaglich scherzend, als der Wärter hereinkam, um ihn nach seiner Zelle zurückzuführen ...
Gerade ehe die Gefängnisglocke den Gefangenen das Zeichen gab, zu Bett zu gehen, brachte ihm ein Wärter ein sauberes Bündel Kleider.
„Sieh nach, 75, und kontrolliere alles“, sagte der Beamte freundlich. Er händigte dem Gefangenen eine gedruckte Liste ein.
„Werd' mich plagen“, sagte Amber, als er die Liste nahm. „Ich traue eurer Ehrlichkeit.“
„Kontrolliere!“
Amber knotete das Bündel auf, entfaltete seine Kleider, schüttelte sie aus und legte sie auf das Bett.
„Ihr hebt den ganzen Plunder besser auf als die in Walton“, sagte er beifällig, „keine Brüche im Rock, die Beinkleider hübsch in die Falten gelegt – hallo, wo ist mein Monokel?“
Er fand es in der Westentasche, sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt, und war voll des Lobes für die Gefängnisverwaltung.
„Ich werde morgen früh einen Mann hereinschicken, der Sie rasiert“, sagte der Wärter zögernd.
„75“, sagte er nach einer Pause, „kommen Sie nicht mehr hierher zurück!“
„Warum nicht?“
Amber blickte auf und zog die Augenbrauen in die Höhe.
„Weil es wie ein Possenspiel ist“, sagte der Wärter. „Ein Herr wie Sie! Sie könnten sich sicher von diesem Ort fernhalten!“
Amber betrachtete den anderen, und in seinen Augen blitzte es schelmisch.
„Sie sind undankbar, mein lieber Aufseher“, sagte er beruhigend. „Männer wie ich können dem Ort nur zur Zierde gereichen; außerdem können sich die verdorbeneren und zügelloseren unter den Kostgängern an Männern wie mir ein Beispiel nehmen.“
Es war eine der Überspanntheiten Ambers, dass er beständig das Possessivpronomen bei seiner Anrede gebrauchte.
Der Wärter zögerte noch.
„Es gibt eine Menge Beschäftigungen, die ein Mann wie Sie ergreifen könnte,“ sagte er fast vorwurfsvoll, „wenn Sie nur Ihre Fähigkeiten in der richtigen Weise anwenden wollten –“.
75 erhob seine Hand in würdevoller Abwehr.
„Mein lieber Aufseher“, sagte er ernst, „Sie zitieren das Sonntagsblatt, und das will ich gerade bei Ihnen nicht dulden.“
Später sagte Herr Scrutton am Speisetisch der Wärter, dass er für seinen Teil 75 aufgäbe, er wäre unverbesserlich. Und er gestand: „So nette Kerle wie ihn trifft man nicht allzu oft an.“
„Wie kam er hierher?“, fragte ein Hilfswärter.
„Er war Pfarrer im Londoner West-End, geriet in Schulden und verpfändete die silbernen Kirchengefäße – er hat es mir selbst erzählt.“
In dem Speisezimmer befanden sich mehrere Beamte. Einer, ein älterer Mann, nahm seine Pfeife aus dem Munde, ehe er sprach.
„Ich sah ihn vor zwei Jahren in Lewes; wenn ich mich recht erinnere, wurde er aus der Marine hinausgeworfen, weil er an der Küste einen Zerstörer zum Stranden brachte.“
Amber war auch der Gegenstand der Erörterung in dem kleinen Speisezimmer der Wohnung des Direktors, wo dieser mit seinem Stellvertreter zu Mittag aß.
„Ich mag mich noch so sehr besinnen“, sagte der Direktor verwirrt, „ich kann mich dieses Amber in Sandhurst nicht erinnern – er sagte, er erinnert sich meiner, aber ich kann mich mit dem besten Willen auf ihn nicht besinnen ...“
Amber, der nicht ahnte, welches Interesse er erregte, schlummerte friedlich auf seiner dünnen Matratze und lächelte im Schlaf.
*
Am folgenden Morgen wartete draußen vor dem Gefängnis eine kleine Gruppe von Leuten auf die Entlassung ihrer Angehörigen; es waren in der Hauptsache ärmlich gekleidete Männer und Frauen.
Einer nach dem andern kamen sie durch das kleine Pförtchen, grinsten ihre Freunde stumpfsinnig an, duldeten gleichgültig die Umarmungen der weinenden Frauen und empfingen mit mehr Behagen die rohen Späße ihrer männlichen Bewunderer.
Amber kam lebhaft angeschritten. Mit seinem sauberen schottischen Anzug, seinem weichen Filzhut und seinem Augenglas hielten ihn die Wartenden für einen Gefängnisbeamten und machten ihm respektvoll Platz. Selbst die entlassenen Gefangenen, die ihn sahen, erkannten ihn nicht, denn er war frisch rasiert und sah gegen sie vornehm aus; aber ein schwarzgekleideter junger Mann, bleich und sehr ernst aussehend, hatte auf ihn gewartet und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
„Amber?“, fragte er zögernd.
„Herr Amber,“ verbesserte ihn der andere und blickte ihn wie ein neugieriges Huhn schief an.
„Herr Amber.“ Der Missionar nahm die Zurechtweisung mit ernsthafter Miene auf. „Mein Name ist Dowles. Ich bin Helfer bei der Regenerationsliga, die sich der entlassenen Gefangenen annimmt.“
„Sehr interessant – in der Tat, sehr interessant“, murmelte Amber und schüttelte lebhaft die Hand des jungen Mannes. „Da tun Sie ein gutes Werk oder gar ein Liebeswerk, aber saure Arbeit, junger Mann.“
Er schüttelte verzweifelt den Kopf, nickte dem jungen Mann zu und wollte weitergehen.
„Einen Augenblick, Herr Amber.“ Der junge Mann hielt ihn am Arm zurück. „Ich kenne Sie und Ihr Missgeschick – wir wollen Ihnen doch helfen.“
Amber sah freundlich auf ihn herab, und seine Hand ruhte auf des anderen Schulter.
„Mein Junge“, sagte er sanft, „ich bin die verkehrte Welt: Sie könnten mich nicht zwingen, meinen Lebensunterhalt mit Holzhacken zu verdienen. Ehrliche Arbeit hat für mich dieselbe Anziehungskraft, wie sie die Erde für den Mond hat, ich laufe innerhalb vierundzwanzig Stunden einmal rund um sie herum, ohne ihr im geringsten näher zu kommen – hier!“
Er langte mit der Hand in seine Hosentasche und zog etwas Geld heraus. Ein paar Banknoten – sie waren in seinem Besitz gewesen, als er verhaftet worden war – und etwas Silbergeld. Er wählte eine halbe Krone.
„Für die gute Sache“, sagte er freigebig, ließ das Geldstück in die Hand des Missionars gleiten und ging mit langen Schritten fort.
Im Klub der Whistlers
Nummer 46 in der Curefax Street, im westlichen Zentrum, befindet sich ein Etablissement, das nur ein paar Auserlesenen unter dem Namen ›Die Whistlers‹ (d. i. Pfeiferklub) bekannt ist. Sein offizieller Titel ist Pinnocks Klub (Meisenklub). Er wurde im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von einem gewissen Charles Pinnock (Karl Meise) gegründet, und war seinerzeit ein berühmtes Stelldichein.
Dass er von dem Wechsel der Zeiten in Mitleidenschaft gezogen wurde, war unvermeidlich; und wie es derartigen Klubs zu gehen pflegt: sein Ruf wuchs und sank; er wurde in mancherlei Beziehung verdächtigt und mehr als einmal von der Polizei heimgesucht; doch solch eine Razzia verlief stets ergebnislos.
Es ist unbestreitbar, dass die Stammgäste der Whistlers eine kuriose Gesellschaft waren, und dass die Mitgliederliste nur wenig Namen von Rang aufzuweisen hatte, wenn überhaupt Leute mit gesellschaftlicher Stellung dem Klub angehörten. Der Klub genoss jedoch in einer Hinsicht eine gewisse Volkstümlichkeit, die sich aber nur schüchtern bemerkbar machte. Die vornehmen jungen Leute von London flüsterten sich zu, dass sie eine Nacht bei den Whistlers zugebracht hätten, und brüsteten sich entzückt; einige gaben zu verstehen, dass um hohe Summen gespielt würde; aber die vermögenden jungen Herren, die am besten wissen mussten, dass das Spiel in der Tat hoch war, schwiegen sich über die Sache aus, zweifellos weil sie wussten, dass die Welt mit einem Narren, der seine Narrheit bekennt, wenig Sympathie hat; und so kam nie das heraus, was die Polizei, wenn sie dem Klub ins Gehege kam, aufzudecken wünschte.
Eines Abends im Oktober erfreute sich der Klub eines ungewöhnlichen Zuspruchs. Autos über Autos fuhren vor dem dekorierten Portal in der Curefax Street vor, und es entstiegen ihnen gutgekleidete Herren. Herren in tadellosem Anzug; andere, übertrieben vornehm gekleidet, kamen allein, zu zweien, auch zu dreien in kurzen Zwischenräumen an.
Einige verließen bald wieder das Haus und fuhren weg, aber die Mehrzahl schien sich länger aufhalten zu wollen. Kurz vor Mitternacht kam eine Autodroschke an und setzte drei Fahrgäste ab.
Sei es nun Zufall oder Absicht: außen vor dem Klublokal brannte keine Lampe. Der nächste elektrische Lichtmast befand sich meterweit entfernt. Ein Besucher konnte daher im Halbdunkel ankommen oder fortgehen, ohne befürchten zu müssen, erkannt zu werden.
Der Chauffeur der Autodroschke war offenbar unbekannt mit dieser Eigentümlichkeit des Klublokals, schoss an dem Portal vorbei und bremste unweit der Straßenlaterne. Einer der Fahrgäste war hochgewachsen, seine Erscheinung hatte etwas Soldatisches. Er trug einen dicken schwarzen Schnurrbart, und die Breite seiner Schultern ließ auf herkulische Kraft schließen. Im Licht der Laterne büßte er allerdings viel von seinem militärischen Schmiss ein, denn sein Gesicht war aufgedunsen, und unter seinen Augen traten kleine Säcke hervor. Ihm folgte ein kleinerer Mann, der viel jünger aussah als er war, denn sein Haar, seine Augenbrauen und der Anflug seines Schnurrbarts waren fast weiß. Nase und Kinn waren so geformt, dass man in Ermangelung einer treffenderen Kennzeichnung von einem „Nußknackergesicht“ sprechen konnte, und von der Schläfe bis zum Kinn hinab lief eine lange rote Narbe über sein Gesicht.
Alphonse Lambaire war der erste dieser Männer, ein merkwürdiger und finsterer Mensch. Ob Lambaire sein wirklicher Name war oder nicht, sei dahingestellt: alles andere war englisch an ihm. Man hätte vergebens die schottische Verbrecherchronik durchsucht, seinen Namen zu finden, ausgenommen die Abteilung, welche „verdächtigen Personen“ gewidmet ist. Er war wegen seines Charakters berüchtigt.
Es sei hier etwas näher auf ihn eingegangen, weil er in dieser Geschichte eine Rolle spielt. Er war ein schöner Mann, aber seine Schönheit hatte etwas geradezu Ungesundes, und der große Diamantring an seinem kleinen Finger wollte zu seiner ganzen Erscheinung nicht recht passen.
Der zweite Mann war Whitey; seinen wirklichen Namen hatte noch niemand herausgefunden. Für jedermann war er Whitey; „Herr Whitey“ für die Klubdiener, und „George Whitey“ unterschrieb er sich bei der einzigen Gelegenheit, als die Polizei den erfolglosen Versuch gemacht, ihn in ihr Netz zu ziehen.
Der Dritte war ein junger blühender Mensch von achtzehn Jahren mit einem schönen Gesicht, wenn auch mit etwas mädchenhaftem Ausdruck. Als er das Auto verließ, taumelte er leicht, und Lambaire hielt ihn am Arm fest.
„Standhaft, alter Junge,“ sagte er. Lambaires Stimme war tief und voll und klang in ein leichtes Kichern aus. „Bezahl den alten Ratterkasten, Whitey – bezahl nur die Taxe, keinen Penny mehr – hier, Sutton, mein Junge, halt dich aufrecht.“
Der Jüngling stolperte wieder und lachte komisch.
„Wir werden ihn in einer Minute wieder in der Reihe haben, nicht wahr, Major?“
Whitey hatte eine hohe, dünne Stimme und sprach rasch.
„Nimm seinen Arm, Whitey“, sagte Lambaire, „ein paar Gläser guter Schnaps werden einen neuen Menschen aus ihm machen ...“
Sie verschwanden durch die Drehtür des Klubs, die Autodroschke setzte sich wieder in Bewegung, und ihr Rattern wurde in der Ferne schwächer und schwächer.
Für einige Minuten lag die Straße fast verlassen da, als ein Automobil um die Ecke des St. James' Square bog. Auch dieser Chauffeur war mit der Örtlichkeit wenig vertraut, denn er mäßigte sein Tempo, kam langsam die Straße entlang und suchte alle erkennbaren Hausnummern ab. Vor Nr. 46 hielt er mit einem Ruck an, sprang von seinem Sitz herunter und öffnete den Schlag.
„Hier ist es, mein Fräulein“, sagte er respektvoll, und eine junge Dame stieg aus. Sie war sehr mädchenhaft und sehr hübsch. Sie hatte wahrscheinlich den Abend in einem Theater verbracht, denn sie war in Abendtoilette, und ihre bloßen Schultern hatte sie in einen Theaterschal gehüllt.
Sie zögerte einen Augenblick, dann stieg sie die zwei Stufen, die zu dem Klub führten, empor und stutzte wieder.
Darauf kam sie zu dem Wagen zurück.
„Soll ich fragen, mein Fräulein?“
„Bitte, John.“
Sie stand auf dem Trottoir und beobachtete den Chauffeur, wie er an die Glastür klopfte.
Ein Diener kam, hielt die Drehtür offen und sah den Chauffeur unfreundlich an.
„Herr Sutton? – Nein, ein solches Mitglied haben wir nicht.“
„Sagen Sie ihm, dass er als Gast hier ist“, erwiderte das Mädchen; der Pförtner, der über den Kopf des Chauffeurs wegblickte, sah sie und runzelte die Stirn.
„Er ist nicht hier, gnädige Frau“, sagte er.
Sie kam näher.
„Er ist hier – ich weiß, dass er hier ist.“ Ihre Stimme klang ruhig, und doch zwang sie eine gewisse Erregung nieder. „Sie müssen ihm sagen, dass ich ihn brauche – auf der Stelle.“
„Er ist nicht hier, gnädige Frau“, sagte der Mann mürrisch.
Die Szene hatte einen Zuschauer. Er war gemächlich die Straße entlanggeschlendert und im Schatten des elektrischen Gefährts stehen geblieben.
„Er ist hier!“ Sie stampfte mit dem Fuße. „In diesem elenden, verrufenen Klub – er ist geraubt worden – es ist gottlos – gottlos!“
Der Pförtner machte ihr die Tür vor der Nase zu.
„Verzeihung!“
Ein junger Mann, sauber rasiert, ein Einglas im Auge, in einem wunderhübschen schottischen Anzug, stand neben ihr und zog den Hut.
Ein glückliches Lächeln umspielte seine Lippen, und auf dem Pflaster lag eine halb aufgerauchte Zigarette.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Sein Benehmen war vollendet. Seine Haltung drückte Achtung, Ehrerbietung und Entschuldigung aus. Und das junge Mädchen vergaß in seiner Not, sich vor dem Fremden, den ihm die Vorsehung geschickt, zu fürchten.
„Mein Bruder – er ist hier.“ Sie deutete mit ihrem Finger ängstlich nach der Tür, die in den Klub führte. „Er ist in schlechten Händen – ich habe versucht ...“ Die Stimme versagte ihr und ihre Augen standen voll Tränen.
Amber nickte höflich. Ohne ein Wort führte er sie zu ihrem Wagen, und sie folgte, ohne eine Frage zu tun. Sie stieg ein, als er sie aufforderte.
„Wie ist Ihre Adresse? – Ich werde Ihren Bruder zu Ihnen bringen.“
Mit zitternden Händen öffnete sie einen kleinen Beutel aus Goldstoff, der an ihrem Handgelenk hing, machte ein winziges Etui auf und entnahm ihm eine Karte.
Er nahm sie, las und verbeugte sich leicht.
„Nach Hause“, sagte er zu dem Chauffeur und blieb stehen, um zu beobachten, wie die großen Lichter des Wagens verschwanden.
Er wartete und überlegte.
Das kleine Abenteuer war ganz nach seinem Herzen. Er war an diesem Tage der glücklichste Mensch in London gewesen und befand sich auf dem Heimweg zu seinem bescheidenen Bloomsbury Wohn- und Schlafzimmer, das er gemietet hatte, als ein glücklicher Zufall seine Schritte in die Curefax Street lenkte.
Der Wagen verschwand um eine Ecke, und er stieg langsam die Stufen zu dem Klub hinauf.
Er schritt durch die Tür, trat in die kleine Vorhalle und nickte sorglos nach einem dicken Pförtner hin, der nahe der Treppe in einer kleinen Loge saß.
Der Mann sah argwöhnisch nach ihm hin.
„Mitglied, mein Herr?“, fragte er, und der Angeredete quittierte mit einem abweisenden Blick.