Der Duft des Regens auf dem Balkan - Gordana Kuić - E-Book

Der Duft des Regens auf dem Balkan E-Book

Gordana Kuić

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Beschreibung

'Der Duft des Regens auf dem Balkan' erzählt die Geschichte der sephardisch-jüdischen Familie Salom aus Sarajevo, deren Leben mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine radikale Wendung nimmt. Fünf Frauenschicksale entfalten sich in einer Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse zwischen 1914 und 1945 machen sich die fünf Töchter - Nina, Buka, Klara, Blanki und Riki - auf die Suche nach Entfaltung und Liebe. Dabei gehen sie, teils ohne Rücksicht auf ethnische und konfessionelle Schranken, neue Wege. Gordana Kuić schildert in ihrem Jahrhundertroman eine für immer verlorengegangene Welt: die Kultur des friedlichen Zusammenlebens von bosnisch-jüdischen, muslimischen, serbisch-orthodoxen und katholischen Gesellschaftsschichten in der vibrierenden Hauptstadt Sarajevo von damals.

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DER DUFT DES REGENS AUF DEM BALKAN

GORDANA KUIĆ

DER DUFT DES REGENS AUF DEM BALKAN

Aus dem Serbischenvon Blažena Radas,bearbeitet von Johann Lehner

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Lektorat: Ana Mitić Layout: Nikola Stevanović Druck und Bindung: Interpress, Budapest     Gordana Kuić: Der Duft des Regens auf dem Balkan Aus dem Serbischen von Blažena Radas, bearbeitet von Johann Lehner Titel der Originalausgabe: Miris kiše na Balkanu, ©Gordana Kuić 1986     Alle Rechte an der deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten

Eine Familie kennenzulernenheißt mehr über sich zu erfahren.

Meiner Mutter, Blanki Levi

I

28. JUNI 1914

„Mama! Ich will ein neues Kleid!“, quengelte Riki zum zwanzigsten Mal an diesem Tag. Ihr Gesichtchen strahlte Entschlossenheit aus. Alles hatte sie versucht: Sie hatte geweint, kokettiert, ungeduldig auf den Boden gestampft, an ihren schwarzen Locken gedreht. Nichts half. Sogar eine ihrer vielen Krankheiten hatte sie vorgetäuscht. Keine Reaktion! Unter normalen Umständen hätte Estera der Beharrlichkeit ihrer jüngsten Tochter nachgegeben, doch dieses Mal hatte sie tatsächlich kein Geld, um Stoff für ein neues Kleid zu kaufen.

Leon verdiente schlecht. Er arbeitete nicht gern und seine Anstrengungen, mit einem der vielen Geschäfte, auf die er sich eingelassen hatte, Erfolg zu haben, waren meist nur halbherzig. Dabei hatte er sieben Kinder zu ernähren, fünf Töchter und zwei Söhne, und seine Frau Estera.

„Ich brauche ein neues Kleid, wenn Franz Ferdinand kommt!“, beharrte Riki ernst, als käme der österreichisch-ungarische Thronfolger nur nach Sarajevo, um sie zu sehen. „Ich werde zu ihm gehen und ihn um eine Semmel bitten! Für ihn werden bestimmt jeden Tag welche gebacken.“

Blanki, vier Jahre älter, jedoch genauso zierlich wie ihre Schwester, schwieg wie gewöhnlich. Sie dachte darüber nach, wie Riki immer bekam, was sie wollte. Erstens, weil sie es laut forderte; denn wie konnte man etwas bekommen, wenn man es nicht einforderte und niemand wusste, dass man es brauchte? Und zweitens wegen ihrer Hartnäckigkeit, indem sie allen auf die Nerven ging, bis die anderen nachgaben, damit sie Ruhe hatten.

Riki und Blanki waren die besten Freundinnen, obwohl sie nicht unterschiedlicher hätten sein können. Ihre vergessliche Mutter Estera verließ nur selten das Haus und schickte lieber ihre Kinder zum Einkaufen von Lebensmitteln. Wenn sie Riki schickte, gab es meistens Ärger, denn Riki ging in das erstbeste Geschäft und kaufte sich Eis oder gar Urmašice oder einen Kadaif. Sie traf andere Kinder, mit denen sie spielte und dabei völlig vergaß, was sie kaufen sollte. Wenn dagegen Blanki geschickt wurde, konnte man sich darauf verlassen, dass sie sofort zum Laden ging und bald mit dem Gewünschten zurückkehrte. Sie wusste, dass sie auf ihre Mutter hören musste, doch in letzter Zeit fragte sie sich oft, ob Riki nicht vielleicht die Klügere war, weil sie immer viel besser davonkam.

Mit den Naschereien war es dasselbe. Blanki bat ihre älteren Schwestern nie darum, sie in ein Süßigkeitengeschäft mitzunehmen, doch mit der Zeit hatte sie es gelernt, listig vorzugehen. Sie musste Riki gegenüber nur eine Andeutung machen, schon zerrte diese so lange an Ninas oder Klaras Rock, bis sie ihr Geld gaben. So profitierte Blanki zumindest vom Talent ihrer jüngeren Schwester, wenn sie schon nichts an ihrer eigenen schüchternen Art ändern konnte.

Ihre Mutter fragten sie nicht um Geld, dafür um viele andere Dinge. Estera betrachtete es als ihre Pflicht, ihnen alles zu erklären, was sie nicht verstanden. Sie bekochte sie und vermittelte zwischen den Kindern und dem Vater. Außerdem kümmerte sie sich um sie, wenn sie krank waren. Die Mutter arbeitete immer viel, doch das hielt Blanki nicht davon ab, sie dabei nach Dingen auszufragen, die sie interessierten. Und Estera brachte grenzenlose Geduld auf. Sie wusste alles. Sie erzählte Blanki vom ägyptischen Pharao Ramses II., der als Erster die Juden verfolgt hatte, viele tausend Jahre bevor Blanki und Mama, ja sogar bevor der alte blondhaarige Großvater Solomon, von allen Liacho genannt, geboren waren. Der Anführer der Juden hieß Moses, er versammelte sein Volk, befahl den Frauen, schnell Brot aus Mehl und Wasser zu backen (so wie das, das Blanki zum Pessachfest aß und das sie Boju nannten), und führte sie aus der Gefangenschaft. Blanki wusste alle zehn Gebote Moses' auswendig, die dieser von Gott erhalten hatte, als die Juden am Sinai ankamen. Dann folgte der merkwürdigste Teil der Geschichte: Diese Vorfahren sprachen kein Ladino so wie sie heute, sondern Hebräisch, das Blanki und alle anderen nicht verstanden, höchstens die gelehrtesten Rabbiner. Auf Moses folgten die jüdischen Könige Saulus, David und Salomon der Weise. Er hatte den ersten Tempel gebaut, genau so einen wie den, in den der Vater zu Pessach ging.

Blanki liebte Geschichten, doch sie musste sich erkämpfen, dass ihr die Mutter oder die Geschwister eine erzählten. Dem Frechdachs Riki, die immer kränkelte und Mutters Nesthäkchen war, gaben sie eher nach. Meistens bekam sie die süßesten Teile der Melone, während Blanki sehr selten in diesen Genuss kam. Und erst die Märchen, die man Riki zum Einschlafen vorlas! Manchmal wünschte sich Blanki auch öfter krank zu sein, aber selbst dann schwieg sie, weil sie sich nicht zu jammern traute, bis es schließlich ihrer Mutter auffiel und sie besorgt sagte: „Blanki, tienis temperatura, fijikia mia! Pur luke no mi dishites? Du hast Fieber, mein Kind! Warum hast du mir nichts gesagt?“ Dann wurden auch ihr Geschichten und Legenden vorgelesen, ohne dass sie darum bitten musste. Während Riki alles schnell wieder vergaß und nur ans Spielen dachte, prägte sich Blanki alles ein. Als sie einmal Mumps hatte, erzählte ihr die Mutter vom schrecklichen Torquemada, der die spanischen Juden zwingen wollte, einen anderen Gott anzubeten. Als die Juden dies ablehnten, mussten sie aus Spanien, das jahrhundertelang ihre Heimat gewesen war, fliehen. Aus diesem Grund nannte Blanki ihre hässlichste selbst gebastelte Puppe und den Nachbarshund, der sie mit seinem wilden Bellen ängstigte, Torquemada. Sich selbst sah sie als schöne Prinzessin in einem rosa Musselinkleid, die ein edler spanischer Krieger auf einem weißen Pferd rettete und in die weite Welt mitnahm, auf den Spuren ihrer Ahnen bis nach Bosnien, wo man sie freundlich aufnahm und ihnen Aufenthalt gewährte. Zwar sprach man in Bosnien Serbisch und nicht Spanisch, doch man ließ sie in Frieden und war gut zu ihnen. So entstand auch ihr Viertel. Die Sepharden bauten die ersten Häuser, wo jetzt die Synagoge stand und wo sie und Riki am liebsten spielten.

Ja, Mutter war für die Geschichten und das Essen zuständig. Von den älteren Schwestern war es Laura (von ihnen Buka genannt), die ihnen Lesen, Schreiben und Serbisch beibrachte, von Nina und Klara erfuhren sie alles, was sie über Geld wissen mussten. Die Aufgabe ihres Vaters Leon war, ihnen einen Klaps zu geben, wenn sie einen Fehler machten, aber auch an Pessach schöne Lieder zu singen, während alle am riesigen geschnitzten Tisch saßen und ungeduldig darauf warteten, zwischen den Gebeten einen Apfel oder eine Feige, ein paar Walnüsse, Süßigkeiten oder Trockenfrüchte zu essen.

Blanki kümmerte sich um den kleinen Elijas und der Vater um den erwachsenen Isak, den sie Atleta nannten. Nur Riki, der Liebling von allen, war auch aller Sorgenkind. Es gab in der Familie Salom eine Ordnung. So musste es sein, dachte Blanki, sonst könnte Elijas dem Großvater Befehle erteilen und die Mutter müsste den Kindern gehorchen. Wenn es keine Ordnung gäbe, dann gäbe es auch keine Familie. Darum gefiel es Blanki zu wissen, wer welche Position im Haus innehatte, obwohl sie manchmal nicht gern gehorchte.

„Mama, wen von uns liebst du am meisten?“, fragte Blanki, während sie Brot in den süßsauren Sud des eingelegten Gemüses tunkte, den sie Mindrugus nannten, bei den Kindern wegen des Geschmacks beliebt und bei den Eltern, weil er preisgünstig war.

„Wie viele sind wir, fijikia, Tochter?“

Blanki zählte an ihren Fingern ab: „Elijas, Riki, Klari, Nina, Atleta, Buka, ich, Mama, Papa, Opa Liacho… Zehn insgesamt!“, antwortete sie triumphierend.

„Und wie viele Finger hast du?“

„Dies, zehn.“

„Buenu, gut. Was meinst du, welchen Finger würdest du dir am ehesten abschneiden lassen?“

Nach kurzem Nachdenken antwortete Blanki: „Ni unu, keinen!“

„Siehst du! So ist es auch mit euch. Ihr seid für mich alle gleich, und ich würde keinen von euch hergeben. Weißt du, als du ganz klein warst, da wollte dich ein guter reicher Mann aus Istanbul, der mit deinem Vater befreundet war, adoptieren. Zuerst dachte er, du seist eine Puppe, weil du vollkommen ruhig auf dem Minderluk saßt, aber als du dich bewegtest, sah er, wie lebendig du warst. Du hast ihm so sehr gefallen, dass er mir viel Geld für dich anbot. Wir waren so arm, dass wir nur einen Fisch für uns alle am Tag hatten, aber ich gab dich nicht her … nicht für alle Schätze dieser Welt! Als er sah, wie sehr ich dich liebe, gab er mir etwas Geld, ohne dass dein Vater davon erfuhr.“ Esteras blaue Augen glänzten vor Tränen: „Luke fazia io sin ti, andjelikiu miu? Was soll ich ohne dich, mein Engel?“

Glücklicher und stolzer als je zuvor und ermutigt durch diese Geschichte fuhr Blanki mit ihren Fragen fort: „Mama, pur luke tu tienis ojus mavis, warum hast du blaue Augen und blondes Haar und nicht wie Papa und wir alle schwarzes Haar und schwarze Augen? Ich hätte gern alles so wie du!“

„Pa, ia savis, djoia mia, das weißt du, mein Herz, das habe ich dir doch schon erzählt…“

„No se, no se! Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!“, log Blanki, denn sie wollte ihre Lieblingsgeschichte noch einmal hören.

„Bueno, estu stuvu ansina, das war ungefähr so“, begann Estera mit ihrer weichen Stimme, während die melodischen spanischen Wörter süß und leicht von ihren Lippen rollten.

„Dein Großvater Liacho lebte in Wien. Er war ein schöner Mann, groß und blond, und heiratete eine wunderschöne blonde Frau. Er war sehr reich und sie wohnten in einem Schloss mit vielen Türmen, Zimmern und Sälen. Auf dem Teich im Garten schwammen weiße Schwäne. Es herrschte ewiger Frühling bei ihnen, denn wenn es draußen kalt wurde, zogen sie sich in das Schloss zurück, wo jedes Zimmer einen Kamin hatte, in dem ein großes Feuer loderte, und die Kerzen waren so hell, dass es aussah, als ob immer die Sonne schiene. Blumensträuße schmückten selbst das kleinste Zimmer. So verwandelten sie das Schloss im Winter in einen Garten, während sie im Sommer den wirklichen Garten hatten. Sie hatten sieben Töchter und jede Tochter hatte eine Dienerin. Die Zeit verging schnell, sie wuchsen heran und wurden alt genug, um zu heiraten. Es mussten Bräutigame für sie gefunden werden. Doch in dieser Gegend lebten wenige Sepharden und kaum jemand sprach Ladino wie wir. Die paar sephardischen Familien, die es gab, kamen für den weisen Liacho nicht in Betracht, weil er mit ihnen verwandt war. Wie ich dir schon gesagt habe, ist es nicht gut, einen Verwandten zu heiraten, obwohl unser Glaube das zuließe. Kinder aus solchen Ehen können hässlich und krank sein … Aber es gab viele aschkenasische Bewerber…“

„Sind das die Kuferaši, die ‚Männer mit dem Koffer‘?“, wurde sie von Blanki unterbrochen.

„Ja, so werden sie von uns Alteingesessenen genannt, aber das ist ungerecht, denn als wir vor langer Zeit hierher kamen, hatten wir auch nur Koffer dabei. Also, zu dieser Zeit wurde Großmutter Sara krank und starb bald darauf. Alle trauerten, aber als die Trauerzeit vorbei war, fing der Großvater an herumzufragen, wo es junge Sepharden gab. Sie sagten ihm schließlich, dass viele hier in Sarajevo lebten. Da er unbedingt Enkelkinder wollte, versammelte er seine sieben Töchter und sieben Dienerinnen und machte sich mit einundzwanzig Koffern auf eine lange Reise. Nach vielen Tagen und Nächten kamen sie in dieser Stadt an. In den schmutzigen Gassen mit Kopfsteinpflaster mischten sie sich unter die Menschen, die in einer fremden Sprache redeten. Die Stadtbewohner betrachteten sie erstaunt wegen ihrer weiten Röcke und Spitzen, ihrer Hüte, Mützen und Handschuhe. „Wie von einem anderen Planeten!“, sagten sie, während der Großvater, seine Töchter und die Dienerinnen staunten, als sie Serbisch und Türkisch hörten und Pluderhosen sahen. Doch sie fanden, was sie gesucht hatten: viele sephardische junge Männer zum Heiraten. Jede Tochter und jede Dienerin wählte einen Traumprinzen. Und so, kerida, meine Liebe, heirateten sie alle, lebten glücklich und bekamen viele Kinder. Und was am wichtigsten dabei war und der Grund, warum der Großvater eine so lange Reise unternommen hatte: sie pflegten weiterhin ihre Bräuche, Feiertage und Sprache. Sie lernten nicht Serbisch, genauso wenig wie ich, doch das störte sie nicht, denn alle, die sie liebten, sprachen Ladino.

„Ich will richtig Serbisch lernen!“, murmelte Blanki.

„Das solltest du auch, mein Liebes. Unser Spanisch mit den serbischen und türkischen Wörtern genügt nicht. Du solltest auch Französisch und Deutsch lernen, wie Buka…“

„Mama, erzähl weiter.“

„Der sephardische Stammbaum erstreckte sich über noch eine Familie … Denn eine der sieben Töchter meines Großvaters gebar wieder eine Tochter und nannte sie Estera – und das ist deine Mutter, die dir diese Geschichte schon zum hundertsten Mal erzählt. Deshalb bin ich also blond wie Großvater Liacho und ihr alle seid dunkelhäutig wie euer Vater Leon.“

„Und warum fragt Großvater, ob ich seine Enkelin oder Urenkelin bin? Weiß er das nicht?“

„El ia savi, mi kerida, er weiß das, mein Liebling, bloß vergessen die Menschen manchmal, wenn sie älter werden, und wir müssen sie freundlich erinnern. No ti sulvidis, vergiss nicht, er ist mehr als hundert Jahre alt…“

Riki kam in die Küche gestürmt.

„Mama, nähst du mir ein Kleid?“, bettelte sie, als fragte sie zum ersten Mal.

„Fijika mia linda, meine schöne Tochter, ich habe dir schon oft erklärt, dass ich nichts habe, woraus ich dir etwas nähen könnte“, entgegnete Estera geduldig und setzte ihre Arbeit fort.

Am nächsten Morgen, als sie badeten und sich für den Empfang von Franz Ferdinand bereit machten, lauschte Blanki freudig Bukas Geschichten vom großen österreichischen Erzherzog, der in einem goldglänzenden Automobil kommen würde, mit seiner Frau und einer Kavalkade von Generälen in bunten Uniformen, angeführt von Potiorek, dem Gouverneur Bosniens.

„Seht ihr, ermanikias, Schwestern“, sagte Buka, „Sarajevo ist heute geschmückt und herausgeputzt wie eine Braut vor der Hochzeit.“

Tatsächlich, schwarzgelbe Fahnen und Fähnchen flatterten überall. Blanki hatte ihre Geburtsstadt noch nie in solcher Pracht gesehen. Während sie ihre Schleifen band und die Schnallen an den Schuhen schloss, erzählte ihnen Buka, dass Bosnien früher selbstständig gewesen war und einen eigenen König hatte, bis Sultan Mehmed II. das Land einnahm. Dann gehörte es lange zum Osmanischen Reich, und nach den Türken wurde es von den Österreichern erobert.

„Dann müssen wir viel wert sein, wenn sie sich so um uns schlagen“, dachte Blanki und fuhr laut fort: „Riki, weißt du was? Ich könnte von ihm Semmeln verlangen, und du fragst nach einem Kleid.“

„Buenu, gut“, meinte Riki versöhnlich und fügte hinzu: „Wenn ich groß bin, dann heirate ich einen jüdischen Erzherzog und werde immer viele Kleider haben, Semmeln und Butter.“

Blanki wusste, dass die Serben in Sarajevo diesen nebligen und warmen Tag, den 28. Juni, Sankt-Veits-Tag nannten und als hohen Feiertag begingen. Die Muslime, Juden und Katholiken feierten ihn nicht. Sie fand es sehr gut, dass alle ihre getrennten Feiertage hatten. Denn sonst gäbe es ein schreckliches Gedränge, wenn alle an Pessach in den Tempel kämen und wenn zum Beispiel die Serben Bajram feierten, die Moschee füllten und vor dem Brunnen Schlange stünden, um ihre Füße zu waschen. Oder wenn die Muslime und Juden in die Kathedrale zur Messe gingen und diesen traurigen Tag feierten, an dem der serbische Fürst Lazar die Schlacht auf dem Amselfeld verloren hatte, noch dazu gegen die Türken! Blanki wunderte sich, dass die Türken in Sarajevo, die man Muslime nannte, gleichzeitig Bosnier waren und jetzt Serbisch sprachen. Noch merkwürdiger fand sie, dass die Serben überhaupt mit ihnen sprachen. Hatten die Türken sie nicht auf dem Amselfeld getötet? Hatten sie sie nicht gefoltert und gepfählt? Hatten sie ihnen nicht die Kinder weggenommen? Vielleicht haben sie sich versöhnt, weil auch die Serben viele Türken getötet hatten und, alles zusammengezählt, die Zahl an Opfern auf beiden Seiten gleich war.

Sie hätte Buka sofort darüber ausgefragt, aber Riki zappelte beim Kämmen ständig herum, weil sie Geld für Blumen benötigte, die sie Franz Ferdinand zuwerfen wollte. Ihre runden Backen waren noch schöner rot als sonst, fand Blanki, während ihre weißen noch blasser waren.

„Das kommt von der Aufregung“, stellte sie fest.

Schließlich gingen sie los, den kleinen Elijas in der Mitte an den Händen haltend. So ein Ereignis hatte Blanki noch nie erlebt: Die Straßen waren bevölkert von fein gekleideten Menschen, viele mit rotem Fes oder mit Blumen an den breiten Hutkrempen.

„All diese Hüte haben Nina und Klari genäht“, dachte Blanki stolz. „Sie sind sehr wichtig in Sarajevo! Denn wie sollten die Frauen ausgehen, wenn sie mit ihrem Hutmachergeschäft nicht wären? Wenn es ihre Hüte nicht gäbe, könnte keine Frau aus dem Haus gehen!“

Wie herrlich war es spazieren zu gehen in einer Stadt mit so vielen Polizisten, so vielen glänzenden Säbeln, Knöpfen und Epauletten! Vielleicht sollte sie doch lieber einen Polizisten heiraten statt eines Erzherzogs. Sie wusste nur nicht, ob es jüdische Polizisten gab. Das musste sie noch herausfinden.

Das Rauschen der seichten Miljacka vermischte sich mit dem Gewirr der Stimmen. Sie erreichten den Appel-Kai. Über das Steingeländer gelehnt sah Blanki fasziniert zu, wie das Wasser unaufhörlich in eine Richtung floss. Was würde wohl geschehen, wenn man es aufhielte und das Wasser steigen würde? Es könnte die ganze Stadt überschwemmen! Alle Brücken mit den vielen Menschen: die Ziegenbrücke, die Šeher-Ćehaja-Brücke, die Kaiserbrücke und sogar die Lateinerbrücke.

Die weißen Sonnenschirme erinnerten Blanki aus der Ferne an abgefallene Blütenblätter, die einen glatten weichen Teppich bildeten, auf dem sie so gerne ging. Welch unermessliche Schönheit überall!

Es würde jedoch nicht leicht, sich durch das Gedränge der Erwachsenen zu kämpfen, dachte sie, und sie durfte auf keinen Fall die Gelegenheit verpassen, Franz Ferdinand persönlich zu begrüßen.

„Alle sind größer als wir“, ärgerte sich Riki und versuchte, zwischen den Beinen eines wie versteinert stehenden Gendarmen durchzukriechen. Sie verzog die Lippen und ein leichtes spitzbübisches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Blanki wusste, dass sie etwas im Schilde führte, und rief ihr deshalb zu: „Riki! Ven aki! Komm her!“ Daraufhin bewegte sich der Gendarm und Rikis Streich misslang.

„Kommt hier Franz Ferdinand vorbei?“, fragte Blanki denselben Gendarmen und Riki fasste ihn am Ärmel und rief aufgeregt: „Wo kommt er vorbei? Wo kommt er vorbei?“

„Kinder, macht, dass ihr wegkommt!“, entgegnete dieser.

Im nächsten Moment sah Blanki nichts mehr, sie hörte nur Geschrei. Die Menschen begannen zu drängen und zu laufen, plötzlich herrschte drohende Stille, dann wieder schrecklicher Lärm. In Augenhöhe erblickte sie einen Rock, der ihre Aufmerksamkeit fesselte: weiß und mit seltsamen roten Flecken an Stellen, wo man sie nicht erwartete.

„Vamus prestu d' aki! Schnell weg von hier“, schrie Blanki erschrocken. Sie betrachtete die Gesichter der Erwachsenen um sich. Immer war sie der Meinung gewesen, dass menschliche Gesichter viel interessanter anzusehen waren als die Natur oder der Himmel. Doch jetzt machten sie ihr Angst, denn hier war ganz bestimmt etwas nicht in Ordnung. Sie war umringt von Beinen, die in alle Richtungen strebten. Wie gelähmt starrte sie auf die bunten Hosen und Schuhe. In dem unbestimmten Gefühl einer drohenden Gefahr nahm sie Riki und Elijas fest an der Hand und suchte ein Versteck.

Dann brach sie in Tränen aus: „Akapito una koza teribli, etwas Schreckliches ist geschehen“. „Aidi, turnemus prestu a kaza! Los, wir müssen schnell nach Hause!“

Riki aber wollte bleiben und widersetzte sich. Blanki zog sie mit aller Kraft weiter.

„No keru! No keru ir! Ich will nicht! Ich will nicht gehen!“, schrie Riki: „Sei nicht feig! Mir gefällt es hier! Das ist wie ein Feuerwerk! Desha mi aki! Ich will hier bleiben!“

Fasziniert von dem Durcheinander und Geschrei wollte sich Riki losreißen, sodass Blanki sie schließlich mit beiden Händen festhielt und hinter sich her zog. Doch wenig später waren ihre Hände leer. Sie rief nach Riki und begann durch die Straßen zu laufen und ihre Schwester im allgemeinen Wirrwarr zu suchen. Sie klapperte alles ab und ihre Stimme wurde heiser vom Rufen: von Riki keine Spur. Verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt!

Während ihr die Tränen über die Wangen liefen und Elijas vor Müdigkeit weinte, dachte sie, wie ungerecht es war, was ihr an diesem Tag passierte. Statt diese einmalige Schönheit und Pracht zu erleben, die die Ankunft des Erzherzogs bot, hatte sie ihn erstens nicht gesehen und zweitens, noch schlimmer, ihre kleine Schwester verloren.

Heftig schluchzend kam Blanki nach Hause. Man hatte ihr Riki und Elijas anvertraut, daher war es ihre Pflicht, sie gesund und unbeschadet wieder nach Hause zu bringen. Sie hatte schon immer einen ausgeprägten Sinn für Verantwortung. Darum litt sie so schwer unter ihrem Versagen.

Erschöpft und verängstigt betrat sie den Hof. Was würden ihre Eltern sagen? Der Vater würde sie bestimmt schlagen. Wie sollten sie Riki finden? Vielleicht hatte sie jemand entführt und für immer mit sich genommen? Oder hatten die Gendarmen sie eingesperrt? Vielleicht würde sie nie wieder mit ihr spielen! Zuerst wollte sie abwarten, wie es ausging, und falls Riki nicht gefunden wurde, würde sie Selbstmord begehen. Sie wusste nicht genau, was das bedeutete, aber vermutlich etwas, das der Mensch sich selbst antat. „Si mato solu, er hat sich umgebracht“, hieß es in ihrer Familie manchmal.

Mama Estera musste sie nicht viel erklären. Sobald sie die weinende Blanki mit Elijas allein an der Hand erblickte, schien sie alles zu wissen. Sie schimpfte nicht, im Gegenteil: sie hob sie hoch, umarmte sie und wischte ihr die Tränen ab, worauf Blanki noch mehr zu weinen begann. Sie sagte ihr, dass sie sich keine Sorgen machen solle, sie würde Vater Bescheid sagen, alle würden Riki suchen und sie bald nach Hause bringen. Bestimmt würde ihre kleine Schwester nur gedankenverloren irgendwo spielen.

Als die anderen Familienmitglieder von Rikis Verschwinden erfuhren, herrschte Aufregung und alle begannen sich schnell anzukleiden. Der Vater, ohnehin von cholerischer Natur, wurde wütend und schrie die Mutter an, warum sie die Kinder überhaupt alleine hatte gehen lassen. Buka versuchte zu beruhigen: „Riki wird sich schon zurechtfinden, um sie mache ich mir keine Sorgen“, aber ihre Hände zitterten, während sie einen Hut zusammennähte. Nina jammerte laut. Blanki begriff, dass die Situation sehr ernst war, als sie sah, dass ihre Mutter die Tukadu aufsetzte und sich anzog, um auch aus dem Haus zu gehen. Der aufgeregte Vater Leon hatte schon den Fes auf dem Kopf und wartete mit zornfunkelnden Augen ungeduldig darauf, dass Estera fertig wurde.

Dann mussten sich alle im Hof in einer Reihe aufstellen und der Vater bestimmte, wer Riki wo suchen sollte. Atleta befahl er, den Vratnik abzusuchen, das türkische Viertel, in dem die Muslime lebten, das seinen Namen von den starken Holztüren hatte. Er sollte bei Poddžebhana beginnen, der obersten Straße des Vratnik, und in alle Höfe und Gärten, Gässchen und Ecken schauen. Es war zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Riki dorthin verirrt hatte, aber sie mussten es doch überprüfen.

Klara und Nina teilte er ein, gemeinsam die jüdischen Bjelave abzusuchen. Buka sollte in der Umgebung suchen, in der sie wohnten, da sie allein war, und er und Mutter übernahmen das Gebiet von der Jajce-Kaserne bis zum serbischen Džidžikovac. Blanki und Elijas blieben zu Hause, sie sollten warten, falls Riki allein zurückkehren sollte.

„No ti sulvidis la kavane, vergiss das Café Unter den Eichen nicht, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sie so weit gekommen ist“, rief der Vater Atleta zu.

Als am Abend der Mond und die Sonne am Himmel zu sehen waren, kehrten alle nach Hause zurück. Vor Verzweiflung über Rikis Verschwinden vergaß die Familie ganz den schicksalshaften Tumult in der Stadt, die sie eben durchstreift hatten. Wie ein Vorhang hatten sich plötzlich Wolken vor den gerade noch heiteren Himmel gezogen und ein Unwetter kündigte sich an. Der Wind bog die Äste, große Regentropfen durchsiebten die Luft und prasselten geräuschvoll auf das Steinpflaster. Die Mutter brachte den erschöpften Kindern zum Trost Süßigkeiten. Sogar das ewige Plappermaul Nina schwieg. Sie hatten Riki nicht gefunden.

Auf einmal drang ein Stimmchen von oben durch das geöffnete Fenster. Zuerst kurz „Uuuu!“, dann länger und lauter. Die Mutter, die gerade am Fenster vorbeiging, blickte voller Hoffnung und Sorge zum Himmel und auch alle anderen schauten sofort zu demselben Fenster. Da schaukelte Riki auf dem obersten Ast der großen Zypresse, winkte und rief: „Mama, Mamaaa… keru muevu vestidu! Ich will ein neues Kleid!“

„Pur amor dil Dio! In Gottes Namen!“, flüsterte Estera und fügte lauter hinzu: „Ia lu ganaras, kerida, du bekommst eines, mein Liebes, komm bloß langsam und vorsichtig herunter.“

Ihre Stimme klang ruhig, aber bestimmt.

„Ich helfe ihr“, sagte Atleta.

„Bleib hier!“, befahl Estera. „Das kann sie besser allein. Wenn sie sieht, dass wir uns sorgen und Angst haben, fällt sie noch herunter.“

„Versprichst du es mir?“, rief Riki.

„Ich verspreche es, andjelikiu miu, mein Engelchen, und du weißt, wenn Mama etwas verspricht, dann hält sie das auch!“ Und leiser ergänzte sie: „Du bekommst dieses verdammte Kleid, und wenn wir drei Tage hungern müssen!“

„Und ich will das Mark aus allen Knochen!“, setzte Riki erpresserisch nach, indem sie ihre beliebteste Leckerei verlangte. Wenn Mutter Eintopf kochte, schlug sie die Knochen auf das Brett, ließ das warme Knochenmark heraus und strich es für die Kinder aufs Brot, worum sich alle stritten.

„Das bekommst du auch!“

„Versprichst du es?“

„Ich verspreche es! Und jetzt genug, komm sofort da runter!“

Riki kletterte leicht und behände herunter, zufrieden, dass sie ihre Ziele erreicht hatte.

Estera ging in die Küche, um das Abendessen zu bereiten. Ihre Augen waren von Tränen nass. Blanki und Riki beobachteten sie und weinten ebenfalls. Denn wenn ihre Mutter weinte, taten sie dasselbe, wie aus Pflichtgefühl.

„Mama, pur luke ioras? Mama, warum weinst du?“, fragte Blanki schluchzend.

„Paramordi ki matarun a Franz Ferdinand, weil sie Franz Ferdinand getötet haben“, antwortete Estera.

„Ist Franz Ferdinand denn auch ein jüdischer König? No supi ki el ez Djidio, ich wusste nicht, dass er Jude ist.“

„No, no … Nein, nein, nicht, weil er getötet wurde, weine ich, obwohl man nicht einmal eine Ameise zertreten soll. Ich weine um uns alle, um die armen Serben, deren Häuser jetzt abgerissen werden, deren Geschäfte eingeschlagen werden und denen das Vermögen abgenommen wird … Wegen der Ungerechtigkeit. Und am schlimmsten ist, dass wieder schreckliche Zeiten kommen, kerida, die schlimmsten. Es wird Krieg geben.“

„Und was ist Krieg?“

„La gera ez kuandu todus sufrin, Krieg ist, wenn alle leiden. Das bedeutet Hunger, Angst, Schmerz … Todus mansevus ombris si van a ir, alle jungen Männer müssen weg…“

„Und was ist dann Frieden?“

„Frieden“, sagte Buka nachdenklich, „das ist eine fröhliche oder traurige Zeit, je nach den kleinen Dingen des Alltags. Im Frieden ist das Leben selbstverständlich. Freilich gibt es auch den Tod, aber er kommt auf natürliche Weise, begleitet von Kaddisch, Todesanzeigen in Zeitungen und Beerdigung. In der guten Zeit des Friedens haben alle Zeit, herumzukritteln.“

Blanki verstand das nicht ganz, aber sie sagte trotzdem: „Ich bin für Frieden.“

„Ich auch“, stimmte Riki zu.

Mit einem Wolkenbruch und einem Blitz, der in das Kreuz der orthodoxen Kirche einschlug, endete der 28. Juni 1914 für Riki, Sarajevo und die Menschheit. Riki bekam ein Kleid und das Knochenmark, Sarajevo ein schiefes Kreuz und einen Platz in der Weltgeschichte, und für die Menschheit begann ein Weltkrieg.

TAGE, AN DENEN DER KRIEG WEIT WEG WAR

Der Frühling war in Sarajevo die schönste Zeit. Der Schnee war geschmolzen, der Boden getrocknet und die sommerliche Hitze lag noch in weiter Ferne. Behar, der Frühlingswind, schien schöne Ereignisse anzukündigen und von den Bäumen am Fluss breitete sich angenehmer Duft aus.

An einem solchen Frühlingstag zog die Familie Salom in eine große Wohnung am Miljacka-Fluss, direkt am Appel-Kai. Estera gefiel es, wie geräumig die neue Wohnung war. Der Krieg war im Gange, aber egal ob Krieg oder nicht, man musste der Tradition folgen, wie Estera zu sagen pflegte. Im Haus herrschte geschäftiges Treiben, es wurde aufgeräumt und geputzt. Kein Staubkörnchen in der Wohnung oder im Hof durfte übersehen werden, so streng kümmerte sich die Mutter um den Frühjahrsputz zum Pessachfest. Für Blanki gab es kein fröhlicheres Fest. Ihr schien, die ganze Natur freute sich auf diesen Feiertag. Die Vögel sangen lauter, Klavierspiel drang aus den geöffneten Fenstern der Häuser. Es gab zwar nicht viele Klaviere in Sarajevo, dafür war die Stadt zu klein. Aber man hörte alles, das ließ sich gar nicht verhindern. Die Glocken der Kathedrale hatten einen reineren Klang. Nach den langen Wintermonaten eroberte endlich die Sonne ihren Platz am Himmel und kündete den kurzen sehnsuchtsvoll erwarteten heißen Sommer an, die Zeit, wenn alle zum Flussdamm Bentbaša eilten. Auch die Pflastersteine der bosnischen Gassen waren sauber und weiß. Und da in der Natur alles rein und frisch aussah, musste das auch im Haus so sein.

Einen ganzen Monat lang breitete sich das Saubermachen wie eine Epidemie unter den jüdischen Frauen aus. Sie putzten, wischten, wuschen und scheuerten. Blanki wurde aufgetragen, das Zinngeschirr zu reinigen und die Messer, Löffel und Gabeln zu polieren. Sie bewunderte den Glanz, der nach dem ausdauernden Polieren zum Vorschein kam. Wenn sich Buka oder die Mutter in demselben Zimmer aufhielten und mit einer anderen Arbeit beschäftigt waren, war Blanki schnell abgelenkt. Ihre Arbeit unterbrach sie zwar nicht, heftete aber ihre neugierigen dunklen Augen auf Buka oder die Mutter und war dabei so freundlich und wissbegierig, dass es niemand übers Herz brachte, sie abzuwimmeln.

„Buka, komu si iama il nostru Sinior, nostru Sinior dil Mundu? Wie heißt unser Herr, unser Herrscher über die ganze Welt?“

„Estu ez una istoria lunga, das ist eine lange Geschichte“, begann Buka. „Und da das alles vor langer Zeit geschehen ist, gibt es mehrere Deutungen. Sagen wir, dass Gott lange Zeit keinen Namen hatte. Die Welt hat ihn einfach so respektiert, dass sie seinen Namen, der aus vier Konsonanten bestand – JHVH–, weder aussprechen durfte noch konnte. Aber da die Menschen gewohnt waren, dass jeder einen Namen hatte, begannen sie ihn Adonai zu nennen. Später entstand durch die Verknüpfung der Konsonanten und Vokale der Name Jehova. Aber der Name ist unwichtig. Wichtig ist das Gefühl, das die Menschheit für die Gerechtigkeit und Güte hegt, die unser Gott verkörpert.“

„Und warum bringen die Menschen einander um und führen Krieg? Warum hindert sie Gott nicht daran?“

„Weil es auch das Böse gibt. Wenn alles weiß wäre, würdest du nichts sehen, nichts würde sich abzeichnen, es gäbe keine Form. Stimmt's?“

„Si, ja.“

„Genauso, wenn alles schwarz wäre. Deshalb gibt es Gegensätze. Deshalb schätzt man es, Unterschiedliches vergleichen zu können. Siehst du, gerade jetzt, da Krieg ist und die Menschen einander umbringen, geschieht auch viel Schönes und Gutes. Das ist die Zeit, in der die menschliche Seele auf die Probe gestellt wird.“

„Und wann haben die Menschen begonnen, einander zu töten?“, fragte Blanki weiter.

„Schon immer. Ich glaube aber an das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Das muss es in der Welt geben.“

Als sie mit dem Putzen fertig war, wurde Blanki einkaufen geschickt. Sie lief in den Kolonialwarenladen an der Ecke, um Lebensmittel zu besorgen. Nichts durfte unrein sein, darum wurden frische Lebensmittel gekauft. Von kriegsbedingten Engpässen, die das ganze Jahr hindurch spürbar waren, durfte man an Pessach nichts merken. Ganz unerwartet tauchten versteckte Vorräte in Geschäften und Häusern auf, zur Freude der Bewohner und von den tüchtigen Hausfrauen mit triumphierendem Lächeln präsentiert.

Riki konnte sich keine schönere Zeit zum Spielen vorstellen und glaubte ernsthaft, Frühling und Sommer würden ewig dauern. Sie hüpfte ständig herum und störte alle. Schließlich wurde sie beauftragt, zwei schön verpackte Kleider, die ihre Mutter genäht hatte, zu Verwandten zu bringen.

„In ki das lus vistidus, torna ti a kaza, sobald du die Kleider abgegeben hast, kommst du zurück nach Hause“, lautete der klare Befehl, der mehrmals wiederholt wurde, wobei Riki mit ernstem Gesicht nickte, um gleich darauf auf die Straße zu rennen.

Da die Männer in den Tempel gegangen waren, nutzte Estera die Zeit, um eine duftende Weinraute und eine Nelke an ihrem schönsten Tukado mit einem luftigen Schleier zu befestigen. Ein verziertes Käppchen bedeckte fast zur Gänze ihr blondes Haar, das an den Schläfen glatt gestrichen war. Dann versicherte sie sich noch einmal, dass die Mädchen hübsch und sauber gekleidet waren. Nach dieser letzten Prüfung traten sie in den Hof hinaus und warteten auf den Vater und die Brüder. So würden sie es nun täglich machen, um am achten Tag endlich alle zusammen an der Türschwelle Fladenbrot mit Tahan Halva oder Öl zu essen.

Die sephardischen Frauen in Bosnien gingen selten in den Tempel. Buka behauptete, das sei der Einfluss der Türken, und fügte hinzu, das Judentum sei eine Religion für Männer und das Christentum eine für Frauen. Blanki wollte unbedingt auf die Empore der Synagoge und durch die Spalten des Holzgitters spähen, das dazu diente, die Frauen vor den Blicken der Männer im Erdgeschoss zu schützen. Doch sie hatte nicht oft Gelegenheit dazu.

Der Abend rückte näher und damit auch auch der Seder, der aufregendste Augenblick des Feiertags. Da las der Vater immer aus der Haggada. Doch Riki war noch nicht zurück. Die besorgte Mutter trug Blanki auf, aus dem Fenster Ausschau zu halten. „Tristi di mi! Ich Arme!“ Blanki fürchtete sich, denn was würde passieren, wenn Riki nicht zum Seder käme? Schließlich erblickte sie diese, wie sie hüpfend und singend zum Haus gelaufen kam, doch dann änderte sich merkwürdigerweise ihr Verhalten: Sobald sie sich dem Tor näherte, begann sie lauthals zu weinen. Die Mutter rannte ihr entgegen.

„Kerida di la madri, pur luke ioras? Mein Liebling, warum weinst du?“

Riki bekam vor Heulen und Schluchzen fast keine Luft. „Mi gueli la tripa! Mein Bauch tut weh!“, brachte sie gerade noch hervor.

Blanki wunderte sich, dass Riki der Bauch so plötzlich weh tat und genau seit dem Moment, als sie die Türschwelle betrat.

Die Mutter nahm das Paket: „Warum hast du die Kleider nicht abgegeben?“

Riki weinte und schluchzte herzzerreißend und beteuerte, dass sie niemanden zu Hause angetroffen hätte. Als sie das Paket etwas genauer besah, stellte Estera zu ihrem Entsetzen und ihrer Verzweiflung fest, dass die Kleider nicht mehr da waren und nur das Papier übrig geblieben war. Riki hatte die Kleider irgendwo unterwegs verloren! Aus dem verweinten Mädchen war aber nicht herauszubekommen, wo sie sich herumgetrieben und sie verloren hatte.

„Riki ist wieder einmal fein heraus, obwohl sie so großen Schaden angerichtet hat“, dachte Blanki. Sie war nicht einmal zur Strafe gezwickt worden, was bei so einer Tat normalerweise die unausweichliche Folge war. Bei jedem anderen Kind aus der Familie hätte schon der Vater Bescheid gewusst, wodurch die Sache noch viel ernster wurde. Blanki sah traurig ihre Hand an, auf der sie so oft blaue Flecken von den Kniffen hatte, obwohl sie immer gehorsam war.

„Geschickt macht das unsere Riki“, meinte Buka lächelnd, denn kaum war der Sturm vorüber, rannte Riki auf die Straße, um auf die Brüder und den Vater zu warten, in den Händen das Springseil, von dem sie sich niemals trennte.

„Ez verda, ist doch so“, murmelte Blanki vor sich hin, während sie daran dachte, wie Riki immer zusätzlich zu ihren eigenen einen von ihren Kuchen aufaß. „Sie bekommt ein Geldstück und ich bekomme eines. Sie kauft zwei Kuchen und ich kaufe zwei Kuchen“, überlegte Blanki. Doch der springende Punkt war: In einem Augenblick hatte Riki ihre zwei aufgegessen. „Da mi il tuiu! Gib mir einen von dir!“, bettelte sie dann mit beleidigter Stimme. „Non keru, estu ez miu. Tu ti kumitis lus tuus. Nein, das sind meine. Du hast deine aufgegessen.“ „Da mi! Da mi! Gib mir, gib mir!“ „No ti keru dar! Ich geb' dir nichts. Das sind meine.“

Doch dann setzte sich Riki auf die Straße, fing an zu weinen und schlug mit Armen und Beinen auf den Boden. Menschen kamen herbei und die schüchterne Blanki gab ihr alles, nur damit sie aufhörte zu schreien und die Leute sie nicht mehr anstarrten. So aß Riki immer drei Kuchen.

Vor dem Einschlafen wollte Riki immer von Blanki wissen, was diese im Laufe des Tages von Buka und der Mutter gelernt hatte. Sie konnte dieselbe Geschichte immer wieder hören, ohne sie wiederzuerkennen. Am liebsten hörte sie Geschichten über die drei ganz großen Gestalten der jüdischen Geschichte – Moses, David und Salomon–, die Blanki dann mit ernster Stimme erzählte.

„Als König David in Judäa herrschte, beschäftigten sich die Juden mit Viehzucht und Ackerbau und die Kanaaniter mit Handel…“, begann Blanki. Jedes einzelne Wort war wie eingebrannt in ihr Gedächtnis, während es bei Riki nur einen Tag dauerte, bis die Geschichte von neuen bezaubernden Eindrücken überdeckt wurde.

* * *

Dann kam der Sommer in seiner schönsten Gestalt. Doch an einem Sonntag verbot die Mutter Riki das Baden am wundervollen, aufregenden und mit bunten Lichtern geschmückten Bentbaša, wo die Miljacka am wärmsten war und die Sonne am hellsten strahlte. Mama hatte „No“ gesagt und danach das Tor geschlossen, was ein klares Verbot bedeutete. Da half kein Trick mehr. Wie immer versuchte Riki hartnäckig eine Erlaubnis zu erbetteln, aber diesmal ohne Erfolg. Das Tor blieb abgesperrt.

Da beschloss sie, sich an den Älteren zu rächen oder gegen die Langeweile einfach etwas Aufregendes zu unternehmen. Sie begann sich auf einen Selbstmord vorzubereiten. Sie zog ihr schönstes Kleid an und befestigte daran eine weiße Schleife. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fand sie, dass sie wie eine jener wunderschönen Wiener Puppen aussah, die sie bei reichen Kindern gesehen hatte.

„Mutter wird es noch mehr leidtun, wenn sie mich so schön und tot sieht“, flüsterte sie trotzig. Alle würden ihr nachweinen und es bedauern, dass sie manchmal mit ihr geschimpft hatten. Je mehr sie über ihr Vorhaben nachdachte, desto mehr gefiel es ihr. Sie wusste nur nicht, wie sie es in die Tat umsetzen sollte. Was tötet einen? Würde sie zum Beispiel sterben, wenn sie von einem Ast sprang? Das verwarf sie als eine schlechte Idee, denn sie würde dabei ihr Kleid schmutzig machen und zerknittern. Man stirbt, wenn es aus einem Gewehr schießt, aber woher sollte sie ein Gewehr nehmen? Und wenn sie lange in der Sonne lag? Vielleicht…

Schließlich beschloss Riki, Blanki ins Vertrauen zu ziehen. Diese wusste allerhand und las immer in irgendwelchen Büchern. Als sie den Plan hörte, hatte Blanki eine Lösung parat: Irgendwo hatte sie gelesen, dass man sicher starb, wenn man die Köpfe von Streichhölzern aß. Sie fanden eine Streichholzschachtel und brachen die roten Köpfe ab, die wie Bonbons aussahen. Mit feierlicher Stimme bot Blanki an, sich gemeinsam mit Riki umzubringen, um ihr später im Himmel, wo sie niemanden kennen würde, Gesellschaft zu leisten. Wie sollte Riki dort allein spielen? Das war nur einer von Blankis Gründen, aber nicht der wichtigste. Sie wollte eigentlich, dass die Mutter und alle anderen im Haus ihr nachweinten, nicht nur Riki. Nach kurzer Überlegung stimmte Riki zu. Blanki rannte nach Hause, zog ihr weißes Kleid an und nahm Ninas Hut – das Mutigste, was sie bisher getan hatte. „Da ich dann tot bin, kann mir niemand etwas tun“, dachte sie, als sie ihn aufsetzte. Die Tatsache, dass er ihr viel zu groß war, entmutigte sie ein wenig, aber sie nahm ihn trotzdem mit, um Riki zu zeigen, was sie sich traute.

Sie setzten sich auf den Rasen hinter dem Haus, versteckt hinter dem großen Strauch, und bissen jede ein Stückchen ab. Der Geschmack schien ihnen schrecklich, nicht wie ein Bonbon. Es war so widerlich, dass sie es nicht schlucken konnten, also spuckten sie es aus.

„Blanki, es wäre schön zu sterben, aber ich kann das nicht essen!“, sagte Riki entmutigt.

„Ich auch nicht…“, erwiderte Blanki enttäuscht.

„Weißt du was“, schlug Riki vor, „wir tun einfach so, als seien wir tot!“

Blanki nahm den Vorschlag als den einzigen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation an. Sie streckten sich auf dem Boden aus und versuchten bewegungslos liegenzubleiben, was keineswegs einfach war, besonders für die unruhige Riki. Sie lagen lange so da, ganze zehn Minuten, bis Buka kam und sie sah.

Obwohl sie gescholten wurden, gaben sie nicht zu, warum sie in ihren schönsten Kleidern und mit Ninas Hut im Gras lagen.

„Das bleibt unser Geheimnis,“ gelobte Blanki, „ganz allein unseres, für das ganze Leben!“

Riki vergaß nie, dass Blanki mit ihr sterben wollte, und betrachtete das als eigentlichen Anfang ihrer ewigen Freundschaft. Denn als Schwester wird man geboren, aber Freunde wählt man.

* * *

Im Herbst 1915 kam Blanki zu ihrer großen Begeisterung ins Gymnasium, mit einem Jahr Verspätung. Außer ihr, dem einzigen armen Mädchen, waren noch einige andere kleine jüdische Mädchen aus reichen Familien in der katholischen Klosterschule eingeschrieben.

Mit dem gutgehenden Hutmachergeschäft hatten Nina und Klara genug Geld dafür zusammengespart. Buka fand, dass Blanki es verdient hatte. Bukas Wort wurde respektiert, obwohl sie mit ihren Privatstunden in Französisch und Latein nicht viel beisteuern konnte.

„Blanki ist wie ein Schwamm“, wiederholte sie. „Alles was sie hört, saugt sie in sich ein. Sie hat beinahe allein lesen und schreiben gelernt. Ihren Wissensdurst muss man unterstützen. Was für eine Ungerechtigkeit“, dachte sie, „dass man den faulen Isak zum Lernen antrieb, anstatt das ganze Geld in Blankis Schulbildung zu stecken. Aber Söhne werden bevorzugt.“

Als Blanki erfuhr, dass sie in die Schule kommen sollte, brach sie wie ein Vulkan in kindliche Begeisterung aus. Schließlich kam der erste Schultag. Vor Ungeduld trieb sie Buka so sehr zur Eile an, dass sie als Erste im Schulhof ankamen.

Bei der Einteilung durch die Ordensschwestern wurde zuerst Gretchen, die blauäugige Tochter des reichsten Österreichers in Sarajevo, gefragt, mit wem sie in der Schulbank sitzen wollte.

„Ansina kali ki seia, so muss es sein“, dachte Blanki. „Wer so schön, blond und so gut angezogen ist, muss in allem bevorzugt werden.“

Gretchen schüttelte ihre goldblonden Locken, als sie sich in der Gruppe von Mädchen umblickte, und zeigte zu Blankis großer Verwunderungmit dem kleinen Finger im teuren Handschuh auf sie. Neben BlankiSalom, dem ärmsten jüdischen Mädchen in der Schule, wollte sie sitzen!

Nach ein paar Tagen nahm Blanki ihren Mut zusammen und fragte ihre Sitznachbarin schüchtern: „Warum gerade neben mir?“

„Weil du mir gefällst“, erwiderte Gretchen schlicht.

„Und warum gefalle ich dir?“

„Weil du der Lehrerin gesagt hast, dass du vor dem Unterricht kein Gebet sprechen wirst, weil es nicht dein Gebet ist. Kein einziges jüdisches Mädchen hat sich getraut, das zu sagen… und du bist hier die Kleinste.“

„Ich bin zwar die Kleinste, aber nicht die Jüngste … Ich bin ein bisschen später eingeschult worden. Weißt du“, fügte sie wichtig hinzu, „ich bin nicht dumm. Ich habe selbst lesen und schreiben gelernt, und meine Schwester Buka hat mir Deutsch und Geschichte beigebracht. Und ich habe auch viele Bücher gelesen.“

„Ich mag mutige Mädchen.“

„Was bedeutet denn ‚mutig‘?“, fragte Blanki, die dieses deutsche Wort nicht verstand, während Gretchen dachte, sie würde nicht wissen, was Mut ist. Daher begann sie zu erklären: „Papa sagt, dass die Soldaten mutig sind, die jetzt an der Front kämpfen … Österreicher und Bosnier. Sie haben keine Angst vor dem Tod.“

„Jetzt will ich auf keinen Fall sterben“, dachte Blanki, „ich bin ja gerade in die Schule gekommen.“ Doch das wollte sie Gretchen nicht sagen, damit sie nicht ihre Meinung über ihren Mut änderte.

* * *

Der Winter in Sarajevo war lang und eisig. Es fiel so viel Schnee, dass es zu Verwehungen kam und man teilweise die andere Straßenseite nicht mehr sehen konnte. Der Krieg war nun stärker zu spüren, und wie Mama Estera gesagt hatte, wurde das Leben immer schwieriger. Es fehlte an Essen. Die Saloms aßen Brot aus einem merkwürdigen Mehl, aus dem Wasser tropfte. Den Mangel spürten auch die Kinder. Bei windigem Wetter trug Blanki nur einen kurzen Mantel, was sie kein bisschen störte, denn sie war „warmblütig“, sodass sie von ihren Schwestern „Wärmeschrank“ genannt wurde. Nur beim Schlittenfahren fühlte sie einmal, dass ihre Zehen starr vor Kälte waren. Als sie nach Hause kam, begannen die Schmerzen. Sie weinte leise in der Ecke des Speisezimmers, bis die Mutter sie bemerkte. Dann rieb sie ihr die Zehen mit einer duftenden Flüssigkeit ein und umwickelte sie mit einem wollenen Tuch. Die Schmerzen hörten auf, doch in ihre Zehen kehrte das Gefühl nicht mehr zurück, eine Erinnerung an die Kriegszeit, die ihr ein Leben lang blieb. Genau wie die Erinnerung an die schmerzhaften Krämpfe im Bauch, der nach Essen verlangte. Während andere Kinder weinten und vonihren Müttern Brot forderten, ertrug Blanki still den Hunger.

In einer Schulpause bot ihr Gretchen eine Semmel an, knusprig frisch gebacken, golden und duftend! Blanki nahm sie und klappte sie auf: mit Butter bestrichenes Gebäck und darauf ein Stück Schinken. Eine unvorstellbare Köstlichkeit! Brötchen mit Butter hatte sie auch vor dem Krieg selten gegessen.

„Danke“, sagte sie, „und was isst du?“

„Ich habe noch zwei. Ich kann sie kaum aufessen.“

Wie leichtfertig Gretchen über so wunderbare Dinge sprach, wunderte sich Blanki. Wie schön war es, etwas zu haben! Da begriff sie, dass es neben den äußerlichen Unterschieden zwischen ihnen noch weit wichtigere gab, die sie nicht ganz verstand, doch es war ihr bewusst, dass sie existierten.

Als sie nach Hause kam, erzählte sie stolz ihrer Mutter, was in der Schule geschehen war.

„Blanki, fijikia mia, tu sos una vera kriatura, Blanki, meine Kleine, du bist ein echtes Kind, obwohl du bald … wie alt wirst du?“

„Elf Jahre“, entgegnete Blanki, die eher wie ein siebenjähriges Kind aussah.

„Weißt du denn nicht, linda mia, meine Hübsche, dass wir keinen Schinken essen dürfen?“

„Aber warum?“, fragte Blanki ehrlich erstaunt.

„Weil er aus Schweinefleisch gemacht wird.“

Blanki verfiel in tiefes Nachdenken und wurde ernst. Ihre Augen wurden traurig, denn sie wusste, dass dies eine große Sünde war. Sie wunderte sich, dass ihre Mutter trotzdem überhaupt nicht böse wurde. Plötzlich zog ein triumphierendes Lächeln über ihr Gesicht.

„Mama, du hast doch immer gesagt, dass in ein jüdisches Haus kein Schweinefleisch kommen darf, ez verda, stimmt's?“

„Si, ja“, bestätigte Estera.

„Das hat der Herr befohlen, weil es dort, wo wir früher gelebt haben, warm war und das Fleisch schnell schlecht wurde, ez varda, stimmt's?“

„Si, ja.“

„Und auch keinen Aal, weil er der Schlange ähnelt und man eine Sünde begehen könnte…“

„Si. Ez verda, ja, das stimmt.“

„Na also“, fuhr sie ermutigt durch Mutters Zustimmung fort, „da es hier nicht warm ist, sondern so kalt, dass meine Finger blau sind, und da ich das Brötchen nicht ins Haus gebracht, sondern in der Schule gegessen habe, wird mir der liebe Gott wohl verzeihen?“

Estera lächelte: „Natürlich, tezoru miu, mein Schatz, du kannst weiter Brötchen von deinem Gretchen essen. In solchen Zeiten kann dich Gott dafür nicht bestrafen.“

„Wenn mich die Tanten jetzt hören könnten, würden sie mich sicher verfluchen“, dachte Estera.

„Weißt du, Mama, wir sind wirklich anders als die übrigen jüdischen Familien“, fuhr Blanki fort, froh um den Ausgang der Angelegenheit.

„Pur luke? Warum?“

„Na, zum Beispiel, warum sagen wir zu dir und Papa tu und in allen anderen Familien sagen die Kinder el und eia?“

„Es gibt nur einen ‚El‘, und das ist unser Sinior dil Mundu, der Herrscher der Welt, nur ihn muss man in der dritten Person ansprechen.“

* * *

Mitte November wurde Blanki bewusst, dass sich ein sehr wichtiger Tag näherte: der 1. Dezember, ihr Geburtstag. Eine Familie mit sieben Kindern und ebenso vielen Geburtstagen konnte in Jahren der Not solche Ereignisse auch einmal „vergessen“.

Doch Riki vergaß Blankis Geburtstage nicht, ebenso wenig wie Blanki den von Riki. Diesmal hatte sich Riki entschlossen, ihre Schwester mit einer Ballettvorführung zu erfreuen. Sie wusste, dass sie ein derartiges Spektakel nicht allein verwirklichen konnte, und bezog die anderen Schwestern mit ein. Alles musste absolut geheim bleiben, denn der Erfolg des Vorhabens hing von der Überraschung ab. Klara sollte auf dem Klavier spielen, Buka ein paar passende Gedichte schreiben, Nina sollte ihnen Kleider und Hüte nähen und Mama Estera das Essen bereiten. Alle waren einverstanden und hörten sich geduldig die Vorschläge ihrer jüngsten Schwester an. Riki sollte sich natürlich eine Ballett-Choreographie überlegen und die Primaballerina sein, neben ein paar ausgewählten Mädchen zu ihrer Begleitung.

Seit frühester Kindheit tanzte Riki. Von ihrer Mutter wurde sie deswegen grillu, Schmetterling, genannt, neben dem häufigeren djugatona, Teufelchen – beides entsprach vollkommen Rikis Art. Einmal – Riki hatte erst laufen gelernt – beobachtete Buka, wie sie im Zimmer herumhüpfte und -stolperte, und stellte fest: „Esta chika komu ke sta bailandu, die Kleine tanzt ja.“ Und so war es. Denn jede Bewegung, die sie ausführte, egal wie alltäglich sie war, verwandelte sich in Tanz. Sie schwebte, ohne den Boden zu berühren, mit eleganten und oftmals komplizierten Schritten. Wenn sie ihre phantasievollen Figuren vorführte, die sie im selben Moment erfunden hatte, vollzog sich eine Wandlung in dem sonst so leichtsinnigen und ungestümen Mädchen; plötzlich glich sie einem erwachsenen Menschen, mit ernstem konzentriertem Gesicht, und war völlig bei sich selbst.

Blanki hatte nichts von dem Plan erfahren, ihr wurde nur gesagt, sie solle am Abend des 1. Dezember all ihre Freundinnen einladen. Ihre Aufregung übertrug sich nicht auf die ruhige Riki, die meinte: „Todu va starperffffektnoooo! Alles wird perffffekt sein!“ Dieses Wort, das sie von einer Serbin gelernt hatte, gefiel ihr sehr und sie wiederholte es ständig.

Endlich kam der ersehnte Tag. Es war kalt und die Geräusche der Stadt waren gedämpft durch eine weiche Schneedecke. Unaufhörlich fielen dicke Schneeflocken vom Himmel, der mit weißen Punkten übersät war. Die Schritte der Passanten und das Klappern der Pferdehufe waren kaum zu hören. Am Abend beschienen die Straßenlaternen den durchsichtigen weißen Schneevorhang, der auf die abgerundeten Oberflächen fiel – ein unwirkliches Schauspiel wie im Märchen.

Riki und ihre Freundinnen zogen Röcke aus großen künstlichen Walnussblättern an und steckten sich bunte Blumen ins Haar. So ähnelten sie Waldfeen, zarten Botschaftern eines schöneren Lebens. In der Kälte des Dezemberfrostes schienen sie den kriegsmüden Hausbewohnern das Versprechen von Frieden zu vermitteln.

Der gut geheizte Ofen wärmte das Zimmer. Mama Estera sparte an diesem Abend nicht mit Holz. Klara spielte fröhliche Melodien, während das Ballett mit der Geschichte einer Prinzessin in Not die Zuseher begeisterte. Dazwischen gab es Rezitationen, vorgetragen von den Mädchen mit ihren dünnen Stimmchen teilweise im Chor, teilweise einzeln.

Obwohl sie die Kleinste war, gelang es der siebenjährigen Riki offensichtlich, die Gruppe zu führen. Alle kleinen Künstlerinnen schauten unverwandt zu ihr, um das Zeichen für den nächsten Einsatz in der ziemlich komplexen Vorführung zu erhalten. In der großen Abschlussszene kletterte Riki in der Rolle der guten Fee auf einen Leuchter, um die Prinzessin aus der Not zu retten. Sie schaukelte und fiel herunter. Alle sprangen auf und fürchteten, sie könnte sich verletzt haben, doch sie sah sie nur wütend an, stand auf und rief: „Luke kriej? Estu kali ansina ki ste. Was habt ihr? Das gehört so. Ich bin perfekt geflogen, wie eine gute Fee!“

Die Kinder sahen sie erstaunt an: Riki konnte sogar fliegen!

Nach der Vorstellung, die mit tosendem Applaus endete, wurden getrocknete Pflaumen und Feigen serviert. Gretchen brachte Schokolade, und der Blaubeersaft war ein Geschenk der Mutter, das sie aus einem versteckten Winkel im Keller geholt hatte, wo es noch Vorräte aus den Jahren vor dem Krieg gab. Im grauen beschwerlichen Alltag blieb dieser Abend auch wegen des Essens in unvergesslicher Erinnerung.

Die ganze Familie war beisammen. Es fehlte nur Atleta, der in den Krieg gezogen war.

„Wie schön, dass wir alle zusammen sind“, dachte Blanki.

Die Wangen waren gerötet, Finger flogen über die Klaviatur und Bukas warme melodische Verse rührten die Herzen der Zuhörer, sogar derjenigen, die wie Gretchen ihre Sprache nicht verstanden. Unbeschwertes Lachen erfüllte die Wohnung.

Einen Abend lang war der Krieg weit weg vom Haus auf dem Appel-Kai.

UNGERECHTIGKEIT

Nina, die zweitälteste der Schwestern und die „Macherin“, wie sie von Buka oft genannt wurde, schmiedete immer Geschäftspläne. Zusammen mit den anderen älteren Schwestern – Klara, etwas jünger als sie, und Buka, die etwas älter war – stellte sie für die Kinder eher eine Art zweite Mutter als eine Schwester dar und war für Estera mehr eine Freundin als eine Tochter.

Da sich die Männer in der Familie nicht sehr für die Alltagsbedürfnisse interessierten, nicht einmal für finanzielle Fragen, übernahmen das Estera und die älteren drei Schwestern. So hatte Nina ein paar Jahre vor dem Krieg, nicht mehr als zwanzig Jahre alt, mit ihrem Sinn für geschäftliche Unternehmungen beschlossen, ein Hutmachergeschäft zu eröffnen. In Sarajevo konnte man sich bis dahin etwas Derartiges nicht einmal vorstellen: Eine arme junge Jüdin, noch dazu ohne männliche Hilfe, eröffnet ein eigenes Geschäft! Unerhört! Doch Nina ließ sich nicht beirren. Zusammen mit ihrer Schwester Klara gelang es ihr durch Beherztheit und Geschick, genügend eigenes Geld zusammenzubringen, dazu noch etwas auszuleihen und einen Kredit aufzunehmen und schließlich gegenüber dem Hotel Europa, im geschäftigen Zentrum Sarajevos, einen Salon zu eröffnen. Sie nannten ihn „La Parisienne“. Das Hutmachergeschäft war für die Bewohner aller Stadtviertel eine sensationelle Entdeckung. Frauen, die früher nach Zagreb und Belgrad reisen mussten, um sich Hüte zu besorgen, die reicheren auch nach Wien oder Paris, fanden jetzt in ihrer Stadt die gewünschten Modelle, wann immer sie wollten und dazu auch noch preisgünstiger. In kurzer Zeit wurden die Schwestern Salom bekannt in Sarajevo, denn alle waren sich darin einig, dass Klara und Nina Hände von unübertrefflicher Geschicklichkeit hatten und außerdem viel Geschmack. Der Salon überdauerte einige Krisen, manchmal nahe am Bankrott, mit der Zeit warf er aber bedeutenden Gewinn ab. Sogar Nina wunderte sich später, wie sie das geschafft hatten.

Ninas Charakter entsprach genau dieser Art von Geschäft. Immer gesprächig und in der Lage, in mehreren Sprachen zu kommunizieren, war sie eine Meisterin im Verkauf. Die Kundinnen mochten sie und gleich aus welcher Bevölkerungsschicht fassten sie Vertrauen zu ihr. Doch Klara und Nina verstanden sich nicht besonders gut. Klara hasste den Tratsch und die Rückständigkeiteiner provinziellen Stadt wie Sarajevo. Sie empfand sich von klein auf als „Frau von Welt“, war eher verschlossen, ein wenig egoistisch, ziemlich wankelmütig bei Entscheidungen, aber in einer Sache sicher: dass sie immer allein zurechtkommen würde.

Nina hatte in dieser Zeit eine Machtstellung in der Familie, aus dem einfachen Grund, dass sie am meisten verdiente. Dieses Geld stellte sie als gute Tochter den anderen Familienmitgliedern zur Verfügung. Aber ihre Intrigen, Machenschaften und Manipulationen waren endlos. Sie setzte alles in die Tat um, was ihr in den Sinn kam, mit oder ohne Erfolg.

So kam sie auf die Idee, einen Tabakladen zu pachten, um die finanzielle Situation der Familie während des Krieges zu verbessern. Dieses Geschäft sollte Blanki führen.

„Deshalb“, erläuterte Nina mit Überzeugung, „muss Blanki von der Schule gehen. Es ist nämlich viel wichtiger, dass wir besser essen, als dass Blanki all das Unnötige lernt, was sie auch so von Buka lernen kann!“ Nina hatte nie etwas für Lernen und Bücher übrig gehabt. Sie las selten, und alles, was sie wusste und konnte, wie zum Beispiel Deutsch, Französisch und Serbisch, hatte sie durch Zuhören gelernt, ohne jemals ein Buch angefasst zu haben.

Niemand widersetzte sich Ninas Entscheidung. Buka tat es leid, aber da sie selbst nur wenig Geld verdiente, hatte sie keine moralische Rechtfertigung, sich dem Vorschlag der Schwester entgegenzustellen. Klara war es gleichgültig. Mama Estera hatte Vertrauen in ihre geschäftstüchtige Tochter und war durch die viele Arbeit im Haus so in Anspruch genommen, dass sie die Berechtigung dieser Entscheidung nicht einmal anzuzweifeln wagte. Blanki wurde überhaupt nicht gefragt. Eines Tages erhielt sie einfach nur die Mitteilung. Sie schwieg und weinte. Nach ihrer Mutter und den Schwestern liebte sie die Schule am meisten auf der Welt. Und jetzt nahmen ihr ausgerechnet die Schwestern und ihre Mutter die Möglichkeit zu lernen. Wie sollte sie ein so großes Problem lösen? Überhaupt nicht, denn ihre Tränen halfen nicht viel, weil sie niemand sah. Sie jammerte und schrie nicht wie Riki, sondern hielt ihre Traurigkeit tage- und nächtelang im Verborgenen. Man versprach Blanki, dass Buka sie zu Hause unterrichten würde und dass sie eines Tages, wenn der Krieg vorüber und das Leben wieder einfacher wäre, in die Schule zurückkehren könne. Obwohl sie ihren Schwestern grenzenlos vertraute, fühlte Blanki, dass das nur leere Versprechungen waren und ihre Tage in der Schule gezählt waren.

Gerade in dieser Zeit zog auch Gretchen aus Sarajevo weg. Die ganze Klasse war traurig, als sie und Blanki sich von ihren Schulfreundinnen verabschiedeten. Sie trauerten Gretchen nach, der schönsten und reichsten Mitschülerin, und Blanki, der kleinsten und freundlichsten.

Simha, eine Cousine, die viel älter war als Blanki, sollte ihr im Tabakgeschäft helfen und wurde von Nina für Geldangelegenheiten eingeteilt. Doch die geachtete Cousine steckte das Geld, das der Laden einbrachte, in die eigene Tasche.

Nach einigen Monaten, in denen sie keinen Gewinn erwirtschaftet hatten, schöpfte Nina Verdacht und sah die Bücher durch, bis sie begriff, dass sie von der Cousine hinters Licht geführt wurden. Blanki war verzweifelt und Nina tobte: „Guerku la ievi! Muerta la veia! Zuna! Bicha! Mi se kema la tripa kuandu pensu a esta angusia! Der Teufel soll sie holen! Verrecken soll sie! Die Bestie! Schlange! Es dreht mir den Magen um, wenn ich an dieses Miststück denke!“

„La strinada kun la kagada! Einmal probiert und auf die Nase gefallen“, warf Klara ein.

Es war nicht mehr zu ändern: Simha hatte das Geld abgezweigt und schon ausgegeben. Wenn sie vor Gericht gegangen wären und die Verwandte angezeigt hätten, hätte das die ganze Familie beschämt.

Als sie an diesem Tag nach Hause kam, machte Nina ihrem Ärger über die bevorstehende Schließung des Tabakladens lauthals Luft. Statt deutlich zu sagen, dass Blanki unschuldig an der Situation war, verfluchte die große Schwester alle, die am Aufbau des Geschäfts beteiligt waren, und vergaß dabei ganz, dass sie selbst den größten Anteil daran hatte. Blanki schwieg und weinte bitterlich. Sie wandte sich an ihre Mutter.

„Mama, io no sto kulpanti“, schluchzte sie, „ich bin nicht schuld!“

„Ia se, kerida di la madri, ich weiß, mein Liebes … Diese ladrona hat uns bestohlen, die Diebin.“

„Heißt das, sie hat unser Geld genommen?“

„Ja, das ist Diebstahl.“

„Aber Mama, sie ist unsere Verwandte … Warum sollte sie uns das antun?“

„Weil sie unanständig ist und ein schlechter Mensch.“

„Und was wird Nina jetzt tun?“

„Nichts, was kann sie schon tun? Das Geld ist weg.“

Dieser Tag brachte für Blanki drei wichtige Erkenntnisse: dass es Diebstahl gab, dass man Verwandten nicht immer glauben durfte und dass es sogar zwischen Schwestern Ungerechtigkeit gab. Nina hatte verschwiegen, dass Blanki nicht an dem Geldverlust schuld war; das war die schlimmste Verletzung, die sie in ihrem kurzen Leben erfahren hatte.

Mama Estera schien ihre Gedanken zu lesen:

„No ioris, fijikia mia, weine nicht, Liebes“, sagte sie, hob sie auf ihren Schoß und wischte ihr die Tränen ab. „La vida ez kruela di una parti i mui ermoza di la otra … Das Leben ist auf der einen Seite grausam und auf der anderen sehr schön. Es enthält von allem ein bisschen: ein bisschen Lachen, ein bisschen Schmerz, ein bisschen Gerechtigkeit, ein bisschen Ungerechtigkeit, ein bisschen Grausamkeit, ein bisschen Zärtlichkeit … Und erwachsen werden ist nicht leicht! Heute bist du ein kleines bisschen erwachsener geworden.“

Blanki fühlte sich sehr alt.

„Mach dir keine Sorgen, das überstehen wir schon“, fuhr Mama Estera fort. „Das Geschäft mit der Hutwerkstatt geht gut, immer besser sogar. Es wird Geld und Essen geben. Vielleicht ist auch der Krieg bald zu Ende.“

Tatsächlich begann das Geschäft wieder zu florieren. In der Werkstatt war es warm. Zwei Öfen wärmten den geräumigen Salon und die Werkstatt, die durch einen Vorhang abgetrennt war. Draußen schneite es. Dampf stieg aus den Schablonen, über die der Filz gedehnt und in verschiedene Formen gebracht wurde. Die Nähmaschinen surrten und zogen wunderschöne Fäden in bunten Farben, während aus der Werkstatt Frauenstimmen und manchmal Lieder drangen.

„Fräulein Nina … könnte man vielleicht … also diese Blume gelb machen statt blau?“, schlug Frau Ninković vor, während Nina nur mit großer Mühe ein Lachen unterdrücken konnte und die zwei Arbeiterinnen hinter dem Vorhang hervorschauten und leise kicherten. Frau Ninković, eine gutsituierte Stammkundin, hatte die Angewohnheit, die Augen zu schließen, sobald sie einen Hut aufsetzte und vor den Spiegel trat. Dieses merkwürdige Verhalten erklärte Klara mit Frau Ninković' Wunsch, ihr hässliches Gesicht im Spiegel nicht ansehen zu müssen. Sie behauptete, dass Frau Ninković sehr genau wusste, was sie tat, und ihr egal war, dass man sich über sie lustig machte.

„Könnte Fräulein Klara ihn anprobieren … damit ich sehe, wie es aussieht…“, fragte sie höflich und drehte sich zu Nina, die fast in Lachen ausgebrochen wäre.

„Klari, ven aki, kerida!