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1492: In Spanien wütet die Inquisition. Jahrhundertelang lebten die Juden mit den Katholiken in Frieden zusammen, doch nun müssen sie aufgrund eines königlichen Edikts binnen Wochen das Land verlassen. Mit wenigen Habseligkeiten treten sie ihre Flucht in das Osmanische Reich an. Inmitten der Verzweiflung keimt eine grenzenlose Liebe – ausgerechnet zwischen einer Jüdin und einem Inquisitor, der mit ihr die alte Heimat verlässt. Sie zeugen eine Tochter, die das weitere Schicksal der sephardischen Juden mit beeinflussen wird: Ihr Name ist Luna Levi. Gordana Kuić erzählt nicht nur eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte, für die das Leben viele Abenteuer bereithält, sie lässt uns auch teilhaben an der reichen Kultur der sephardischen Juden. Es ist eine literarische Spurensuche – nach einer fast vergessenen Lebenswelt wie nach der eigenen Herkunft. Nach der mitreißenden Familiensaga "Der Duft des Regens auf dem Balkan" nun endlich auch der historische Roman der gefeierten serbischen Autorin in deutscher Übersetzung!
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Seitenzahl: 675
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DIE LEGENDE DER LUNA LEVI
GORDANA KUIĆ
DIE LEGENDE DER LUNA LEVI
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
Lektorat: Elvira M.Gross
Korrektorat: Katharina Preindl
Layout: Nikola Stevanović
Druck und Bindung: Interpress, Budapest
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
unter Verwendung der Bilder von John William Godward:
An Italian Girl’s Head (1902),
Bridgeman Images/Jean Antoine Théodore Gudin:
An extensive View over Constantinople and the Golden Horn (1840)
Gordana Kuić: Die Legende der Luna Levi
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
Titel der Originalausgabe: Legenda o Luni Levi, © Gordana Kuić 1999
Alle Rechte an der deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten
© HOLLITZER Verlag, Wien 2016
www.hollitzer.at
ISBN 978-3-99012-297-6 hbk
Il faut que le roman raconte.
Ein Roman muss erzählen.
STENDHAL
Für meine Tante, Klara Levi
PROLOG
IMVORFRÜHLINGDESJAHRES 1492 eroberten die Heere der katholischen Königreiche des Nordens nach blutigen Kämpfen die Stadt Granada im äußersten Süden Spaniens, den letzten Stützpunkt der Jahrhunderte währenden maurischen Herrschaft. Gleich nach der Übergabe dieser stolzen Stadt kamen die Vertreter der einflussreichen jüdischen Gemeinde zusammen, um den vom König und von der Königin Spaniens entsandten Boten zu empfangen. Feierlich, gleichzeitig aber lässig, als handele es sich um die Namensänderung eines Platzes in der Stadt, hielt der königliche Nachrichtenüberbringer das Edikt über die Vertreibung in seinen Händen, das Dokument, das nicht nur für die jüdischen Einwohner Spaniens, sondern für den Bestand der Judenheit überhaupt entscheidend werden sollte.
Die in kostbare Gewänder gekleideten Greise mit langen weißen Bärten schwiegen und warteten wie versteinert auf ihren Stühlen. Niedergeschlagen wie nie zuvor, richteten sie ihre Blicke in die Ferne, leer und ziellos wie Sterbende, die diese Welt verlassen und nicht wissen, was sie in der nächsten erwartet. Die versammelten jüdischen Rabbiner, Gelehrten, Philosophen, Finanziers, Übersetzer, Heiler, Ärzte und Berater ahnten, dass sie alle wie Sterbende ihre Welt, das geliebte Spanien, verlassen und in eine andere, ungeliebte, weil fremde Welt vertrieben würden. Ihre Vorahnungen waren nicht Zeichen greisenhafter Angst, keine grundlosen und willkürlichen Vermutungen, sie wurden vielmehr durch zahllose Beweise bekräftigt und durch entsetzliche Tatsachen bestätigt. Seit einigen Jahren stach ihnen der Geruch von auf Scheiterhaufen brennendem jüdischem Fleisch mit den aufziehenden Rauchwolken in die Nase; ihre Freunde und Verwandten verschwanden in den unterirdischen Verließen der Inquisition, die Schmerzensschreie, unter Folter ausgestoßen, bis sie gestanden oder starben, drangen an jedermanns Ohr; das Vermögen derer, die etwas besaßen, wurde beschlagnahmt; die Angst vor einer durch Druck und Drohungen erzwungenen Denunziation erfasste alle und griff wie eine Seuche um sich; ein Netz von Lügen, Verrat, Unterstellungen, erpressten Geständnissen und geistiger Tortur zog sich unerbittlich um jeden Juden oder jüdischen Konvertiten zu, der, um sein Leben und die Heimat zu retten, sich zur Taufe genötigt sah; die Furcht der Getauften, als Judaisierer verdächtigt zu werden, die den katholischen Glauben nur zum Schein angenommen hatten, heimlich im Herzen aber Juden geblieben waren, wuchs täglich allein dadurch, dass viele dessen bezichtigt und in der Folge getötet wurden. Mit einem Wort, die versammelten Würdenträger der jüdischen Gemeinde Granadas waren sich der Tatsache bewusst, dass ihr ganzes Volk einer einzigartigen gezielten Erniedrigung und Ausrottung ausgesetzt war.
Traurig und voller Gram dachten die Greise schweigend an das fünfzehnhundertjährige Leben auf der Pyrenäischen Halbinsel, wohin sie zur Zeit des großen Römischen Reiches gelangt waren. Uralte Schriften zeugten von ihrem Aufstieg und von der Blüte ihrer Kultur im goldenen Zeitalter des Kalifats, als sie gemeinsam mit arabischen Denkern die Werke von Philosophen, Astronomen und Astrologen des antiken Griechenland studierten, die berühmten Kalifen berieten, voller Stolz die Posten von Staatsmännern, Bankiers, Emissären und Baumeistern bekleideten, zwischenstaatliche Verhandlungen, gelegentlich aber, den Plänen großer Militärstrategen folgend, auch Kriege führten und die Gedanken- und Redefreiheit sowie das elementare Menschenrecht, den eigenen Glauben auszuüben, genossen. Sie wurden geboren, wuchsen auf, heirateten und starben im Einklang mit den Geboten, die Gott Moses auf dem Berge Sinai gab, nachdem dieser die Kinder Israels aus der ägyptischen Sklaverei hinausgeführt hatte. Freilich sündigten sie auch, denn der Allmächtige schenkte von allen Lebewesen, die er schuf, nur dem Menschen allein die Freiheit, zwischen Gut und Böse zu wählen, eine verhängnisvolle Möglichkeit der Entscheidung, derentwegen die Menschen in ihrem irdischen Leben bitterer büßen mussten als der Löwe, der Adler oder die Schlange. Sündigten sie, so ereilte sie die Strafe des Schöpfers, die sein auserwähltes Volk schlimmer und heftiger traf als jedes andere. Die Juden, über die ganze Welt verstreut, lebten daher in der ewigen Erwartung des Messias, des Retters und Erlösers aller Sünder, und der darauffolgenden Rückkehr in ihre Urheimat, in das himmlische Jeruschalajim. Und so fragten sich die weisen Greise, wer sie nun aus Spanien hinausführen würde, falls es zum Schlimmsten kommen sollte, falls der König Ferdinand der Zweite von Aragón und die Königin Isabella von Kastilien das vorbereitete Dekret über die Vertreibung wirklich unterschrieben hatten. Würde Rabbi Don Isaak Abrabanel, der Finanzminister am spanischen Hof, der Klügste unter den Klügsten, der Beharrlichste unter den Beharrlichen und der Reichste unter den Reichen, die Rolle eines neuen Moses übernehmen? Hatte Gott Vater ihm diese Rolle zugewiesen? Wusste der Allmächtige überhaupt, was für ein Ungemach die Kinder Abrahams erwartete? Hatte Er all dieses Leid, das man mit den Augen erspäht, mit den Ohren vernimmt, mit den Fingern ertastet, mit der Nase erschnuppert, sowie alles, was man mit menschlichen Sinnen nicht wahrnimmt, wiewohl es existiert, hatte Er es ihnen zugedacht? Hatten sie aufgrund ihrer Sünden dieses Grauen verdient? Würde sich den Juden nach dieser schlimmsten von allen entsetzlichen Vertreibungen endlich der Sinn des Weltalls offenbaren oder würde dieses infolge des göttlichen Zorns über das menschliche Studium der Gestirne einfach auseinanderfallen? Würde Gott Mitleid mit ihnen haben und ihnen erneut den Weg ihrer Mission auf Erden weisen? Würde er wieder das Meer teilen? Das Feuer gegen die Feinde Israels entfachen? All dies, dachten die Greise, sei möglich, doch wenig wahrscheinlich.
Trotz allem glimmte im Versammlungsraum des Jüdischen Rats noch die Hoffnung auf eine glückliche Lösung der Judenfrage in Spanien, denn die Führer der Juden in Granada wussten noch nicht, wie die Audienz Abrabanels beim königlichen Paar ausgegangen war. Der berühmte Würdenträger hatte diese Aufgabe auf sich genommen in der Erwartung, dass spontane Gier über die stete Idee von einem ethnisch sauberen katholischen Staat siegen und damit diese menschliche, ja auch königliche Schwäche die spanischen Juden vor der gnadenlosen Vernichtung retten würde. Der Rabbi Isaak bot dem königlichen Paar nämlich die ungeheure Summe von dreißigtausend Dukaten für ein schwaches, aber schicksalsträchtiges Kopfnicken oder für ein leises „Nein“ oder für einen Aufschub, mit einem Wort, für die Nichtunterzeichnung des Vertreibungsdekrets, auf dem die Inquisition beharrte. Könige seien auch Menschen, die Riesensumme würde ihren Entschluss ins Wanken bringen, dachten reiche jüdische Männer, und auch viele Lehrer schlossen sich ihrer Meinung an. Herrscher seien nicht nur einfach Menschen, sondern oft auch gierige Menschen. Die Katholiken seien auch Menschen und falls sie nicht starrköpfig waren, hegten auch sie eine große Liebe für das Gold.
Erst später sollte die Versammlung in Granada die Kunde erreichen, die alle Vermutungen und alle Ängste bestätigte. Die jüdischen Weisen hatten sich nicht geirrt: Der König und die Königin waren bereit, ihre Unterschriften zu verkaufen oder besser gesagt, den Juden zu gestatten, sie ihnen abzukaufen. Nach seiner langen, überzeugenden und gut verfassten Rede, die sich durch Vernunft, Logik, aber auch durch ergebene Unterwürfigkeit auszeichnete, bemerkte Rabbi Isaak ein Nachgeben – zuerst in den Augen Seiner Majestät, dann im Blick Ihrer Majestät, mit dem sie die Goldstücke liebkoste. Und gerade als er voller Zufriedenheit feststellen wollte, die Sache sei gelaufen, wurde dieser grandiose Akt, dieses historische Unterfangen vereitelt. Versteckt hinter einer geheimen Tür, die als eine schöne Jagdszene des berühmten Künstlers Asperos de Camarilla getarnt war, hatte der Großinquisitor Tomás de Torquemada, ein beharrlicher und unerschütterlicher Prüfer und unverbesserlicher Zweifler, der mehrstündigen Unterhaltung gelauscht. Im entscheidenden Moment, als Rabbi Isaaks sorgenvolles Gesicht von einem kaum wahrnehmbaren Lächeln erhellt wurde, stürmte der Großinquisitor in den Raum, mit beiden Händen ein Kruzifix über sein Haupt haltend. Neben dem durchdringenden Rauschen seiner prachtvollen Gewänder vernahm man seine noch durchdringenderen Worte:
„Der Verräter Judas verkaufte den Erlöser für dreißig Silberlinge, und Eure Majestäten sind bereit, dies für dreißigtausend Dukaten zu tun! Hier, nehmt ihn und verkauft ihn! Diese Tat erkläre ich zu einem erneuten Verrat am Gottessohn!“ Dabei knallte er das Kruzifix auf den Tisch und stürzte hinaus.
Das erschrockene Königspaar erwies sich sodann als Sklave eines noch viel bedeutenderen Reiches als des ihren, nämlich der mächtigen katholischen Kirche. Ohne viel zu zögern, setzten die völlig verwirrten und verstörten Könige ihre Unterschriften nunmehr unter zwei statt nur unter ein Edikt: Das erste betraf die Ausweisung der Juden aus ganz Spanien bis zum 31.Juli 1492, das zweite das Auslaufen der Schiffe unter dem Kommando von Christoph Kolumbus am 3.August desselben Jahres.
Die Kunde über das erste Edikt erreichte das prächtige Gebäude der jüdischen Gemeinde im Herzen der wunderschönen Stadt Granada, lässig gehalten in der Hand eines Boten, der, sobald seine offizielle Begleitung die schwere Tür geöffnet hatte, nach einer kurzen und höflichen Begrüßung ohne Umschweife den verhängnisvollen Text vorlas, ungeachtet der Unruhe, des Stimmengewirrs und Murmelns der besorgten, ja verzweifelten jüdischen Würdenträger, die sich plötzlich in gewöhnliche Greise mit zittrigen Gliedern und tränenerfüllten Augen verwandelt hatten:
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„Die Könige Don Fernando und Doña Isabella von Gottes Gnaden, Herrscher von Kastilien, León, Aragón und weiteren königlichen Herrschaftsgebieten, grüßen Unseren lieben Thronfolger, den Prinzen Juan, die Fürsten, die Priester und die jüdischen Gemeinden dieser Stadt sowie aller Städte, Dörfer und Weiler Unserer Königreiche und Herrschaftsgebiete.
Ihr sollt wissen: Wir sind gut unterrichtet darüber, dass es in Unseren Herrschaftsgebieten schlechte Christen, Judaisierer, gibt, die gegen Unseren heiligen katholischen Glauben sind. Diese bewiesene und unwiderlegbare Tatsache ist in dem Jahrhunderte währenden Zusammenleben von Christen und Juden begründet. Deshalb hatten Wir mit dem Gesetz von 1480 die Trennung der erwähnten Juden von den Christen in allen Städten, Dörfern und Weilern Unserer Königreiche und Herrschaftsgebiete angeordnet in der Hoffnung, dass damit dieser weitverbreiteten und überaus gefährlichen Erscheinung Einhalt geboten würde. Ferner setzten Wir vor zwölf Jahren in Unseren Königreichen und Herrschaftsgebieten die Inquisition ein. Ihr ist zu verdanken, dass seitdem viele Sünder entlarvt wurden, die sich den Christen und deren Kindern zu nähern versuchten.
So wurde der große Schaden offenbar, den die Christen durch ihre Kontakte und Gespräche mit Juden erlitten haben. Es wurde aufgedeckt, dass die Juden immer wieder mit allen ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln versuchten, die christlichen Gläubigen von Unserer heiligen katholischen Kirche abzubringen und sie ihrem Glauben zuzuführen, um sie zu unterjochen und mit ihren schädlichen Lehren zu vergiften. Sie unterrichteten die Christen in ihren Ritualen und religiösen Bräuchen, schenkten ihnen und ihren Kindern Bücher, damit sie daraus ihre Gebete aufsagten, daraus lernten, ihre Fastenzeiten einzuhalten, ihre Bibel zu studieren und andere Menschen über ihre Feiertage zu unterrichten. Sie gaben ihnen ungesalzene Brote und Fleisch von rituell geschlachteten Tieren, machten sie mit ihren Speisevorschriften bekannt und forderten sie auf, das Gesetz Mose zu beachten und sich nach ihm zu richten, da es, wie sie schamlos behaupteten, außer ihrem keinen anderen wahren Glauben gebe. All das wurde aufgrund von Erklärungen und Geständnissen sowohl der Juden selbst als auch derer, die von ihnen betrogen und bestochen wurden, bewiesen. Dadurch wurde Unserer heiligen katholischen Kirche ein ungeheurer Schaden zugefügt.
Wir wissen, dass das einzig wirksame Mittel gegen dieses Ungemach die Trennung der Juden von den Christen ist, weswegen Wir sie aus Unserem Königreich verbannen müssen. Bis jetzt waren Wir der Meinung, dass es genügte, sie aus den Städten, Dörfern und Weilern Andalusiens auszuweisen, wo sie, wie erwähnt, einen großen Schaden angerichtet hatten. Wir dachten, das würde den Juden in anderen Städten, Dörfern und Weilern Unserer Königreiche und Herrschaftsgebiete als Mahnung dienen, nicht mehr so sündhaft wie oben beschrieben zu handeln.
Deshalb bestraften Wir die Juden, deren Verbrechen gegen Unseren heiligen katholischen Glauben offenkundig waren. Zu Unserem Bedauern genügten diese Strafen nicht, denn Wir entdeckten Juden, die allerorts mit ihren bösen Absichten fortfuhren. Um eine weitere Gefährdung Unseres heiligen Glaubens zu verhindern und mit Rücksicht auf die menschlichen Schwächen und die ständigen, gegen uns gerichteten diabolischen Versuchungen, beschlossen Wir, dieses Übel an der Wurzel zu packen und die Juden aus Unseren Königreichen auszuweisen.
In Beratungen mit dem Priestertum, dem höheren und dem niedrigeren Adel, den Gelehrten und den redlichen Menschen aus Unserem Rat sowie im Einverständnis mit ihnen beschlossen Wir deshalb, einen Befehl zur Vertreibung aller Juden und Jüdinnen aus Unseren Königreichen zu erlassen. Zu diesem Zweck geben Wir dieses Edikt bekannt, das lautet: Wir befehlen allen Juden und Jüdinnen, die in Unseren Königreichen und Herrschaftsgebieten leben, wohnen, weilen oder sich aus irgendeinem anderen Grund dort aufhalten, bis zum Ende des Monats Juli dieses Jahres zusammen mit ihren Söhnen und Töchtern, Dienern, jüdischen Verwandten, ob jung oder alt, ob neugeboren oder dem Sterben nahe, Unsere Königreiche und Herrschaftsgebiete zu verlassen. Sie dürfen nie mehr zurückkehren noch aus irgendeinem Grund durch Unsere Länder fahren. Bei Nichtbeachtung drohen ihnen die Todesstrafe und die Konfiszierung ihres gesamten Vermögens zugunsten Unseres Hofes. Diese Strafen erfolgen ohne Gerichtsurteil.
Wir befehlen und stellen klar: Niemand in Unseren Königreichen, gleich welche gesellschaftliche Stellung und Einfluss er hat, darf offen oder heimlich einen Juden oder eine Jüdin in seinem Haus bewirten, in Schutz nehmen oder verteidigen. Dies gilt vom obengenannten Tag, dem Ende des Monats Juli dieses Jahres, an bis in alle Ewigkeit. Demjenigen, der einem Juden oder einer Jüdin Unterschlupf bietet, droht eine Strafe, die darin besteht, dass ihm sein Vermögen, seine Vasallen, Schlösser und Burgen, alles, was man besitzen oder erben kann, unverzüglich und ohne Gerichtsurteil genommen wird.
Damit die Juden und Jüdinnen von nun an bis zum Ende des Monats Juli über ihre Güter verfügen können, nehmen Wir sie in Unseren königlichen Schutz. Sie dürfen sich in dieser Zeit frei bewegen zwecks Verkauf, Tausch oder Schenkung ihrer beweglichen Güter oder Ländereien. In dieser Zeit ist jede Gewalt, Schaden oder Unrecht gegenüber diesem Volk und seinem Vermögen rechtswidrig.
Mit diesem Edikt erlauben Wir den Juden und den Jüdinnen, ihr Eigentum aus Unseren Königreichen und Herrschaftsgebieten auf dem Land- oder Seeweg auszuführen, sofern es sich nicht um Gold, Silber oder Prägemünzen handelt oder um einen Gegenstand, dessen Ausfuhr laut den Gesetzen dieses Landes verboten ist.
Damit es allen kundgetan wird, befehlen Wir, dass dieses Edikt auf den öffentlichen Plätzen dieser Stadt und in allen größeren Städten, Dörfern und Weilern Unseres Herrschaftsgebiets von einem amtlichen Ausrufer in Anwesenheit eines staatlichen Schreibers verlesen wird.
Es ist niemandem erlaubt, sich diesem Edikt zu widersetzen.
Verkündet in Unserer Stadt Granada am 31.März im Jahre Unseres Herrn Jesus Christus 1492.
Ich, der König, ich, die Königin.
Ich, Juan de Coloma, der Sekretär Unserer Herren, des Königs und der Königin, schrieb alles so auf, wie mir befohlen wurde.“
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Und so bereiteten sich Hunderttausende spanische Juden auf die Vertreibung, auf lange Reisen in die Fremde vor. Sie verließen die trockene und durstige andalusische Erde und die schattenlose kastilische Hochebene, nahmen aber die traurigen Melodien ihrer uralten Romanzen mit. Reiche und Arme waren jetzt gleichgestellt, weil die Reichen ihr ganzes Vermögen für ein Maultier hergegeben hatten und nur das mitnahmen, was für die Armen das ganze Vermögen ausmachte: die Thora, den Tallit, den Gebetsschal, etwas Wegzehrung, eine Kiste mit Kleidern und einige Erinnerungsstücke, falls sie nicht aus Edelmetallen gefertigt waren. Die Vertriebenen hinterließen zahllose, wie plötzlich aus dem Boden gewachsene Hügel aus Perlmuttmedaillons, silbernen Gebetsgefäßen, goldenen Bechern, mit Perlenschnüren durchwebten Stoffen, Broschen aus Elfenbein und Servierplatten aus Ebenholz.
Sich windende Menschenkolonnen durchzogen den gelben Boden Spaniens, der Mutter und Stiefmutter der Juden, wie ein Netz von Wasserläufen, die schließlich ins Meer mündeten, denn niemand wollte ihnen auf dem Landweg Obdach bieten. Wie ein Chronist dieser unseligsten aller unseligen Zeiten vermerkte, ergossen sich die Juden über die Straßen, Felder, Berge, Wälder, das Brachland und die Olivenhaine ihrer Heimat, die man ihnen über Nacht zur Fremde erklärt hatte, die sie aber doch für immer im Herzen bewahrten. Auf dem Weg in die Verbannung strauchelten manche, andere halfen ihnen sich zu erheben, manche erkrankten, manche starben, manche wurden sogar geboren. Erschüttert ob ihres großen Leids rieten ihnen manche Christen, sich taufen zu lassen, was wegen der unaussprechlichen Qualen einige auch taten. Von Hunger und Durst geplagt, zogen die Menschen tagelang zur Küste, zu den Häfen, von wo aus Schiffe sie nach Osten oder nach Süden bringen sollten. Während sie sich unter Mühen zum Meer schleppten, beweinten sie die Toten und weinten auch wegen der Neugeborenen. Sie pflegten die Kranken und wiegten die Kinder. Dinge fielen ihnen aus den Händen, und sie ließen sie, unter ihrer Last gebeugt, am Straßenrand liegen …
Und da, während in Sepharad Schmerzensschreie und Hilferufe bis zum Himmel schallten, befahl der alte Rabbi Solomon Ruben ben Israel aus Toledo den Frauen, den Mädchen, den trauernden Witwen und den jungen Bräuten zu singen und den jungen wie alten Männern Flöten und Tamburine erklingen zu lassen. So vernahm man eine langgezogene, wehmütige Weise in der schneidenden spanischen Sprache, die seit Urzeiten ihre Muttersprache war. Das Lied sprach von der Liebe zu dem Land, das sie ihres nannten und dennoch mit Freude verlassen würden, nur um einen Blick auf die Mauer des zerstörten Tempels in Jeruschalajim zu werfen. Begleitet vom Sterben und Geborenwerden, bemerkte Rabbi Solomon, würden die Kinder Israels mit gebrochenem Herzen und mit dem Lied auf den Lippen auf einer weiteren Reise ins Unbekannte die Häfen von Cádiz, Tortosa und Barcelona erreichen, dabei Gott in ihren Gebeten um Gnade anflehen und auf das Wunder hoffen, dass Er ihre Vertreibung in eine Heimkehr verwandle, dass sie aus dem goldenen Spanien kommend in das goldene Jeruschalajim gelangten, dass der Allmächtige sie auf diese Weise rette. Aber ihre Bitte wurde nicht erhört, dieses Mal sollte kein Wunder geschehen.
Das über den größten Teil Iberiens herrschende Königspaar säuberte unter grausamen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ganz Spanien: Kastilien und Valencia, Katalonien, Aragón und Andalusien; alle seine Städte: Ávila, Zaragoza, Barcelona, Gerona, Tortosa, Tarragona, Toledo, Madrid, Segovia, Salamanca, Burgos, Córdoba, Granada, Sevilla, Málaga, Ciudad Real, Cartagena, León, Lérida, Teruel, Allariz, Monzón und Gibraltar, wo der afrikanische und der europäische Kontinent sich beinahe berühren; alle seine Flüsse: Guadalquivir, Ebro, Tajo, Duero; die Inseln Mallorca, Menorca und Ibiza sowie alle Gebirgszüge, Hochebenen, Olivenhaine, Weinberge, Landgüter, Schlösser und Türme. Die Erde färbte sich rot vom Blut, aber ihnen schien sie milchig weiß wie der Meeresschaum, der sich endlich des trüben jüdischen Morasts entledigt hatte. Ferdinand und Isabella reinigten ihr katholisches Königreich: Sie erschlugen und vertrieben alle Juden, aber auch alle Araber, in Spanien Mauren genannt.
Der letzte maurische Herrscher von Granada, MuhammadXII., Führer der Söhne des Roten, hatte im Jahre 1487 nach dem christlichen Kalender mehrere Emissäre zum mächtigen türkischen Sultan Bayezid entsandt, der, obwohl damals in den karamanischen Krieg verwickelt, dennoch Boten empfing und ausschickte. Der alte maurische Führer bat Bayezid inständig und unterwürfig um Hilfe, weil Ferdinand von Aragón und Kastilien ihn immer stärker und rücksichtsloser aus seinen angestammten Besitztümern zu verdrängen suchte. Bayezid schickte umgehend eine Seeflotte, die zwar die Küsten Spaniens plünderte, dem katholischen Vordringen jedoch keinen Einhalt gebot.
Damals vermerkte der weißbärtige türkische Historiker Amin ben Assad: „Als der berühmte Sultan Bayezid von den Missetaten erfuhr, welche die Könige des ungläubigen, giaurischen Spanien an den unschuldigen jüdischen Einwohnern verübten, empfand er Mitleid mit den Vertriebenen. Und nachdem bekannt geworden war, dass sie nach einem ruhigen Ort für ihre geschundenen Füße suchten, schickte er Hunderte Boten in alle vom Glanz der Osmanischen Herrschaft erleuchteten Gegenden von Persien bis zum nördlichen Balkan. So verkündeten Tausende Gemeindeausrufer den von der Hand seines Lieblingsschreibers Ismail aufgezeichneten Ferman des Sultans, worin verfügt wurde, dass „keiner von Bayezids sklavischen Würdenträgern, Beylerbeys, Agas, Paschas, Sandschakbeys, Festungsverwaltern, Alaibeys, Muftis und Kadis, dass niemand, angefangen vom letzten Gardisten, Reiter oder Wachmann bis hin zum Großwesir, es wagen dürfe, Juden abzuweisen, sondern vielmehr gehalten sei, sie mit Wohlwollen zu empfangen.“
Weitere Ereignisse verzeichnete für die nachfolgenden Generationen der gelehrte Historiker und Rabbiner Elijah Capsali aus Kreta, der im unglücksseligen Sommer des Jahres 5252 nach dem jüdischen Kalender von seinem Aussichtsturm aus die Schiffe beobachtete, die unter der Last vieler seiner Landsleute tief im Wasser liegend das blaue Große Meer von Westen nach Osten überquerten: „Todesangst vor dem großen Padischah und Sultan Bayezid, dem mächtigsten Mann der Welt, erfasste seine Untertanen aller Glaubensbekenntnisse, Türken, Araber, Armenier, Griechen, Cincaren und Slawen, und sie alle hießen die Juden willkommen und gewährten ihnen Unterschlupf und Schutz. So kamen Tausende und Abertausende vertriebene Kinder Abrahams ins Reich des Ostens und erfreuten das türkische Imperium von Safed bis Istanbul, von Saloniki bis Sarajevo mit ihrer traurigen, jedoch nutzbringenden Anwesenheit. Sie gründeten zahlreiche rechtmäßige Gemeinschaften und unterstützten großzügig ihre Landsleute, die auf dem Weg nach Istanbul von einer Stadt zur anderen, von einem Land zum anderen zogen. Bei diesem großen Umzug kehrten auch viele in ihre Urheimat Israel zurück, so wie der Prophet Jeremias es vorausgesagt hatte.“
Weiter vermerkte der emsige Chronist: „Der mächtige Bayezid, der große Heerführer und scharfsinnige Mann, spottete über das engstirnige Königspaar, welches im Namen seines Glaubens die Wertvollsten seiner Untertanen aus dem Land trieb, obwohl es um deren Fleiß, Klugheit, Belesenheit, Sprachkenntnisse, kaufmännische Gabe und Verhandlungsgeschick sowie um deren Fähigkeit, Geld zu verdienen und Abgaben und Kopfgelder ohne Widerrede innerhalb abgemachter Fristen zu entrichten, sehr wohl wusste. Der weise Herrscher erkannte, dass deren Bedürfnisse sich mit seinen deckten: Sie suchten nach einem neuen Ausgangspunkt ihrer ewigen Reise, er trachtete danach, für sein geschäftiges und aufstrebendes Reich eine neue Quelle des Wissens, der Tüchtigkeit und des Erwerbs zu erschließen.“
Das hatte der Chronist für die nachfolgenden Generationen aufgeschrieben, und seine Worte wurden wahr.
DIE VERTREIBUNG
INDENFRÜHENMORGENSTUNDEN, als die Sonne im Osten aufging, wollte keine Brise die Hitze des neuen Sommertags lindern, so wie damals vor zweitausendachtundsiebzig Jahren, als die Babylonier Judäa eroberten und den Ersten Tempel in Jerusalem zerstörten, und wie damals vor tausendvierhundertzweiundzwanzig Jahren, als die römischen Legionen den Zweiten Tempel in ebendieser Stadt in Trümmer legten, womit diese nunmehr zur dritten Vertreibung des jüdischen Volks wurde.
Der Himmel war blau, das sonst gewohnte Schattenspiel von Bäumen und Wolken hatte sich in eine andere Gegend der Erdkugel verzogen, man vermisste es jedenfalls im glühenden Hafen Barcelonas. Die Sonne stieg rasch hoch; gleichgültig gegenüber allem, was auf der von ihr beschienenen Erde je geschehen war oder noch geschehen sollte, folgte sie ihrer vorgeschriebenen Bahn. Doch auch die Menschen schenkten dort und damals der sengenden Sonne, dieser Herrin des Tages, wenig Beachtung, auch maßen sie ihr nicht die gebührende Bedeutung bei. Niemand schien die Hitze dieses gnadenlos brennenden Himmelkörpers zu spüren. Hunderte Männer, Frauen und Kinder, dicht aneinandergedrängt, weinten, seufzten, schwiegen, murmelten, wehklagten, sangen nacheinander oder gleichzeitig, alle im lauten Gebet oder in Gedanken zu Gott, der sie wieder vergessen hatte oder sie zum wer weiß wievielten Mal – die genaue Zahl wusste Er allein – bestrafte.
Der Geruch des Meeres vermischte sich mit den Ausdünstungen verschwitzter Leiber; das Rauschen der Wellen mit dem durchdringenden Geraune der kopflosen, von Panik erfassten Menschen; das Grau der Steinmolen mit der Farbenpracht der Menschenmenge. Überfüllt von den dicht aneinandergedrängten Vertriebenen, brodelte der Hafen wie ein Kessel mit einer dicken Flüssigkeit, die überlief und zischte bei der Berührung mit der von der Erde und vom Himmel her brennenden Glut. Die Schwachen brachen zusammen, die Kinder schliefen oder schrien, heimgesucht von heißen Albträumen, nur die wenigen Menschen, die die Fassung nicht verloren hatten, wischten sich die schweißbedeckte Stirn und versuchten, sich an einem nahegelegenen Brunnen Kühlung zu verschaffen.
Das im Hafen vertäute altersschwache Schiff „Felicidad“ – „Glück“ – (was für eine Ironie, dachten viele und sagten es mit einem gezwungenen Lächeln, andere wiederum hofften, es würde ihnen doch noch Glück bringen, denn die Hoffnung stirbt, zumal bei den Juden, genau wie der Wunsch zu leben, zuletzt) schien nicht alle Wartenden aufnehmen zu können. Einige Hafenangestellte versuchten, der Menschenmasse Herr zu werden und eine leidliche Ordnung herzustellen, jedoch mit wenig Erfolg. Noch war niemand an Bord gegangen, die Juden beratschlagten, palaverten, überstimmten einander und stritten regelrecht über das brennende Problem, wem man den Vortritt gewähren sollte, worin viele eine Talmudfrage sahen, und weswegen sich zwischen einzelnen Gruppen lange Diskussionen entfachten. Die Wellen der Auseinandersetzungen verbreiteten sich strahlenförmig von denen aus, die dem Laufsteg am nächsten standen, bis hin zu den Rändern des Hafens. Kaum hatte die Nachricht einer möglichen Lösung die Letzten der immer größer werdenden Menge erreicht, machte ein Gegenvorschlag die Runde.
Die Zeit schritt unaufhaltsam voran, aber eine Lösung des komplizierten Problems war noch nicht in Sicht. Schließlich sprang ein schlanker, gutgewachsener Mann, dessen kostbare Kleidung eines reichen Juden trotzt der langen Reise seltsamerweise sauber und wie neu geblieben war, auf einen Tauballen und ergriff das Wort. Seine leise Stimme, sein nachdenklicher Blick und seine unaufdringliche Haltung standen dank Kraft und Entschlossenheit, Leidenschaft und Herausforderung, Sicherheit und Klarheit in krassem Gegensatz zu allem, was bisher gesagt worden war, und wirkten wie ein Hoffnungsschimmer inmitten des allgemeinen Unglücks. Die aufgewühlte Menge beruhigte sich, die Menschen hörten augenblicklich wie verzaubert zu.
„Ich bin Solomon aus Toledo“, stellte der Mann sich vor, „und empfehle diese Reihenfolge: Zuerst gehen die Familien mit Kindern an Bord, denn egal wohin wir gelangen, die neuen Generationen werden unser Geschlecht fortführen; danach kommen die jungen Paare, denn sie werden weitere neue Generationen zeugen; ihnen folgen die Rabbiner und die Gelehrten, denn ohne ihren Geist und ihr Wissen können wir nicht überleben; schließlich kommen die kräftigen Burschen und Mädchen an die Reihe, denn sie sind am ehesten in der Lage, die Schicksalsschläge und das Warten auf das nächste Schiff zu ertragen.“
„Und die Alten?“, warf jemand ein.
„Sie gehen zusammen mit ihren Familien, denn soviel ich weiß, ist kein Jude und keine Jüdin dieses Alters ohne Nachkommen.“
„Und was, wenn alle ihre Nachkommen getötet wurden?“
„Entscheidet doch selbst: Sind sie nicht die größten Märtyrer, denen man den Vortritt lassen sollte, oder ist ihr Leben nichts mehr wert, und man sollte sie hinten anstellen?“
„Die größten Märtyrer!“, donnerte es aus der Menge.
„Ich freue mich über eure Entscheidung, Freunde! Jetzt möchte ich nur noch wissen: Seid ihr mit der vorgeschlagenen Reihenfolge einverstanden?“, fragte Solomon aus Toledo ruhig, ja fast mit dem Beiklang einer Bitte um Zustimmung, was bei der Menge gut ankam, sodass alle einstimmig entgegneten:
„Einverstanden, Solomon aus Toledo.“
Nun geriet alles in Bewegung und im Handumdrehen bildete sich nach den Anweisungen des geschickten Unbekannten aus dem entfesselten Haufen verstörter Menschen eine ordentliche Kolonne. Niemand kannte ihn, dennoch fragte sich keiner der versammelten Juden, wer der ungewöhnliche Redner und Löser des unlösbaren Problems der Reihenfolge sein mochte.
Allerdings stellte sich diese Frage Sánchez Toroña, der Hafenschreiber, dessen Aufgabe es war, alle Reisende ohne Rückkehr zu zählen und den Verantwortlichen darüber Bericht zu erstatten. Er wurde auf Solomon aus Toledo auf jene Weise aufmerksam, auf die ein kleiner Mann einen großen, der Schwache einen Kräftigen, der Redliche einen Unredlichen, der Arme einen Reichen gewahr wird. Toroña wusste freilich nicht, ob Solomon groß oder kräftig, redlich oder reich war. Zuerst war er überzeugt, ihn noch nie gesehen zu haben, doch nach einer Weile meinte er, er kenne diesen Fremden, er sei ihm im Laufe seines vierzigjährigen Lebens irgendwo begegnet. Er konnte sich aber nicht erinnern, wo und wann, denn er hatte bisher viele Berufe und Herren gewechselt. Sein Gefühl sagte ihm jedoch, dass es jemand war, den er einmal bewunderte, den er beneidete und vor dem er sich verneigt hatte, jemand, der unberührbar, also ein Würdenträger war … Toroña quälte sich, durchstöberte sein Gedächtnis, zählte in Gedanken alle Herren auf, denen er gedient hatte, aber an eine Begebenheit, bei der dieser Mann vorkam, konnte er sich einfach nicht erinnern … Und wie war es überhaupt möglich, dass er, Sánchez Toroña, der ewig Zukurzgekommene und ungerechterweise Erniedrigte, jemanden kannte, der so hochgestellt war, fragte er sich und schüttelte traurig den Kopf.
Toroña wurde in einer armen, kinderreichen katholischen Familie geboren. Als dem Jüngsten von neun Geschwistern war ihm jede Ausbildung verwehrt, stattdessen musste er von klein auf Geld verdienen. Er schlug sich mühsam durch, verrichtete wie alle, die selbst für ihren Unterhalt sorgen müssen, die unterschiedlichsten Arbeiten, war aber mit keiner zufrieden, weil sie seiner Ansicht nach sämtlich unter seinen Fähigkeiten und seinem Wert lagen. Wie alle Menschen, die sich selbst überschätzen, war er verbittert, freudlos und schadenfroh. Jeden Schritt in seinem Leben beklagte er als falsch und suchte die Schuld dafür bei anderen Menschen, bei der Gesellschaft, bei den Reichen, bei den Armen, bei der eigenen Familie und freilich bei seinem Schicksal, das ihm immer wieder die Gelegenheit verwehrte, sich hervorzutun und seine Begabung unter Beweis zu stellen. Auf den Gedanken, er selbst könne daran schuld sein, kam er nie. Auch bemerkte er nie, dass sein Lebensweg zwar langsam, aber doch stetig nach oben führte und seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten entsprach.
Toroña hatte einen verschlagenen Blick, obwohl er nicht verschlagen, sondern neidisch war auf jeden und alles; er hatte die hohe, aber gewölbte Stirn eines intelligenten Mannes, obwohl er nicht klug war, sondern sich nur dafür hielt; sein stetes Lächeln – kein Zeichen von Frohsinn, sondern von Unterwürfigkeit – behielt er für alle Fälle auf den Lippen, um jemanden in hoher Position nicht zu verärgern oder zu kränken. Dieses Lächeln gab seinen vorstehenden Oberkiefer und das rosige Zahnfleisch preis. Schiefe Zähne lugten unterhalb des Schnurrbarts hervor und verliehen ihm in den seltenen Augenblicken, in denen er nicht lächelte, das Aussehen einen verschreckten Hamsters. Hinzu kam noch ein nervöser Tick: Mit jähen, kurzen Bewegungen zuckte sein Kopf von links nach rechts. Wegen seines unglücklich geformten Kiefers und des fliehenden Kinns, das unmittelbar in den Hals überging, lispelte er ein wenig beim Sprechen. Sánchez Toroña war von durchschnittlicher Intelligenz. Alles in allem könnte man ihn beschreiben als einen Mann von mittlerem Wuchs, mit einem unscheinbaren, blassen Gesicht, der abgesehen von dem vorstehenden Kiefer und seinem nervösen Tick unklarer Herkunft ohne besondere Merkmale war. Zu erwähnen wäre noch seine Glatze, die ihn allerdings weder auszeichnete, noch von den anderen unterschied, da sie in der Männerwelt schon immer recht verbreitet war. Um diese glänzende Glatze wand sich ein Kranz von verbliebenen aschgrauen Haaren. Seine Augen hatten eine undefinierbare Farbe, seine Nase war fleischig und speckig, die Lippen dünn, die Stimme piepsig, die Sprache stammelnd, die Figur gebeugt, der Gang wie bei den meisten o-beinigen Menschen watschelnd.
Bedenkt man noch seine niedrige Herkunft, ist es nicht verwunderlich, dass Sánchez als Knabe nur Pferdemist und anderen Unrat aus den Ställen reicher Leute kehren musste. Jahre später bekam er als junger Mann einen Posten als Stierhüter, weswegen viele vermuteten, sein Familienname Toroña rühre vom Wort toro her, was ihn zunächst nur ärgerte, dann aber kränkte und unglücklich machte. Deshalb kehrte er in die Ställe zurück und verbrachte die nächsten fünfzehn Jahre mit dem Striegeln der Pferde. Zwischendurch versuchte er sich zwar als Maurer, Zimmermann, Schneidergeselle, Schmelzer, Zauberer und wer weiß was noch, aber alles, was nur ein gewisses Maß an Geschick oder schöpferischem Geist erforderte, ging ihm nicht von der Hand, sodass er immer wieder beim Striegeln landete.
Nachdem in Spanien die Heilige Inquisition eingerichtet worden war und der Katholizismus in der Auseinandersetzung mit dem Islam immer mehr an Boden gewann, begriff er, dass es von Nutzen wäre, sich als überzeugter Gläubiger auszugeben. Er vermutete, dass ihm dies endlich die langersehnte Gelegenheit bieten würde, mit einem Sprung und nicht wie sonst im Schneckentempo die gesellschaftliche Leiter hinaufzuklimmen. So ging er fortan regelmäßig in die Kirche und lauschte aufmerksam den ihn langweilenden Predigten, nahm an allen Gottesdiensten teil, während denen er oft einschlief, und beichtete, ohne je ein Körnchen Wahrheit über sich und seine Sünden preiszugeben. In dem Anflug von Religiosität, deren Echtheit er sich eingeredet hatte, heiratete er eine Waschfrau, mit der er vor der Hochzeit nur eine Nacht zusammen gewesen war und die nach der entsprechenden Anzahl von Monaten behauptete, von ihm schwanger zu sein. Im Laufe der folgenden zehn Jahre gebar sie ihm sechs Kinder.
Dank der beharrlichen und mühsamen Betonung seiner Treue zur katholischen Kirche schaffte er es, eine Stelle als Hafenarbeiter zu bekommen. Bald avancierte er zum Hafenschreiber, da ihm eine Köchin auf dem Gut eines Großgrundbesitzers, mit der er seine ersten Liebesabenteuer erlebte, das Schreiben beigebracht hatte. Auf diese Weise wurde er zu einer unbedeutenden Schraube in der heiß laufenden Maschinerie der Spanischen Inquisition. Aber obwohl er schon zwei Jahre mit Eifer diese langweilige Tätigkeit ausübte, gelang ihm nicht der ersehnte Sprung vom Posten des armseligen Schreibers auf den eines Untersuchungsbeamten der Inquisition oder wenigstens eines Hilfsschreibers bei irgendeinem, wenn auch noch so kleinen Tribunal der heiligen Verfolgungsbehörde. Ein solcher hätte ihn in die Lage versetzt, in undurchsichtige Geheimnisse einzudringen, die Schicksale der Sünder zu lenken, nach eigenem Gutdünken Gerechtigkeit zu üben, hinter vorgehaltener Hand Geflüstertes und Verleumdungen zu sammeln und daraus Schlüsse zu ziehen, Menschen zu brechen, indem er sie mit allen verfügbaren Mitteln zum Eingeständnis ihrer Sünden zwänge, mit einem Wort, all das zu tun, wovon er träumte und wonach er schon immer strebte.
Dann würde er den anderen seine Zähne zeigen können, in diesem Fall den ehrgeizigen Juden, die mit ihrer bloßen Anwesenheit die Luft seines stolzen Landes verpesteten, wie er oft in ohnmächtiger Wut feststellen musste. Wohin sie auch kamen, ergatterten diese ewig Fremden hohe gesellschaftliche Posten, und zwar nicht durch ihre Tüchtigkeit, sondern durch niederträchtige Machenschaften und Schmeicheleien. Sie verdankten dies anderen Nichtgläubigen, den muslimischen Mauren, die er erst recht nicht ausstehen konnte. Aber was ihn am meisten aufbrachte und ihm das Ausmaß sowohl der jüdischen Bosheit als auch der jüdischen Verschwörung offenbarte, war die Leichtigkeit, mit der sie die Mehrheit der höchsten katholischen Würdenträger und Adeligen für sich einnahmen, die ihnen genauso wie die Mauren hohe Ämter auf dem Tablett servierten, statt sie den ergebenen Einwohnern des Königsreichs, den treuen Katholiken wie ihm anzubieten!
Dank dieser unglaublichen, aber wahren Erkenntnis vermochte Toroña endlich den Grund seines Misserfolgs zu deuten: An seinem glücklosen und holprigen Lebensweg waren die Juden schuld. Sie schnappten ihm vorsätzlich immer wieder die Posten vor der Nase weg! Diese niederträchtigen Söhne Israels! Und erst ihre Brüder, die widerlichen Konvertiten, die er lieber Marranen, das heißt Schweine, nannte! Diese falschen, durchtriebenen Kerle traten in Scharen zum katholischen Glauben über und gaben vor, an den großen Märtyrer Jesus aus Nazareth, den Sohn Gottes, zu glauben, nur um dadurch gute Posten und viel Gold zu ergattern. Für sie war Jesus Christus weiterhin nichts als einer der vielen jüdischen Aufrührer gegen ihren alten Glauben, den verfluchten Judaismus! Den wahren Charakter dieses Volkes, davon war er überzeugt, verkörperte am vollkommensten Judas, der biblische Verräter und erwiesene Silberliebhaber. Ja, ja, all diese Lügner, diese falschen Katholiken, diese Judaisierer konnten behaupten, was sie wollten, in Wahrheit blieben sie ihrer Thora ergeben sowie jenem uferlosen Talmud, den nur sie – ein aufgeblasenes und zugleich dummes und gegenüber anderen boshaftes Volk – imstande waren, in ewigen Disputen über Tausende von Jahren in die Länge zu ziehen und in die Breite auszuwalzen. Nichts als Unsinn und dummes Zeug! Toroña hätte schwören können, dass die Abertausenden von Seiten nur niedergeschrieben wurden, damit niemand sonst sie verstand, damit niemand den Juden in ihrem Glauben folgen konnte. Oder war es gerade umgekehrt eine schlau ausgeklügelte Falle, um dank der bekannten menschlichen Neugier auf das, was unergründlich und unerreichbar ist, Andersgläubige zu gewinnen? Ja, ja, da lag der Hund begraben, auch wenn sie nicht müde wurden zu behaupten, niemand könne ein Jude sein, der nicht als Jude geboren wurde! Dieses Ausschließen des Rests der Menschheit aus ihren Reihen, dieser dünkelhafte Isolationismus, so verschieden vom Katholizismus, der bemüht ist, möglichst viele Schäfchen mit Güte, aber notfalls auch mit Gewalt, in seine Herde aufzunehmen, würde sie noch teuer zu stehen kommen. Davon war er fest überzeugt. Kein vernünftiger christlicher Priester würde es übers Herz bringen, seine Schäfchen mit so einem Talmud zu bestrafen! Und all ihre Propheten und Richter, Rabbiner und Denker – nichts als Betrüger. Und wie viele Verbrechen hatten sie erst in den Jahrtausenden ihres ungerecht und ungerechtfertigt langen Daseins begangen! Wie viel Zeit bräuchten die Christen, um sie einzuholen! Volle dreitausendsiebenhundertundsechzig Jahre! Ja … Oh, wie entsetzlich waren ihre Untaten! Wie viele Kinder hatten sie nur umgebracht, um deren Blut an ihrem obskuren Pessachfest zu trinken, wie viele Brunnen hatten sie vergiftet, damit sich die Pest in den europäischen Königreichen ausbreitete, wie viel Elend den unschuldigen Menschen in den Ländern gebracht, die sie freundlich aufgenommen hatten! Wie sollte man sie also nicht hassen und wünschen, dass sie verschwänden? Spanien hatte sie wohl am längsten geduldet!
Aus dieser Einstellung heraus beherzigte Toroña nur zu gern den an alle Christen gerichteten Appell der Heiligen Inquisition, sich die Zeichen zu merken, aufgrund derer man seine Nachbarn, die angeblichen Konvertiten, als Judaisierer entlarven konnte. Er prüfte ernsthaft und minutiös alle Signale, die er auswendig kannte und die er sogar von Zeit zu Zeit wiederholte, an den Fingern die elf Merkmale des heimlichen Judentums beziehungsweise des falschen Christentums abzählend:
Erstens, das Warten auf den Messias: Die Juden glauben, dass der Messias noch nicht gekommen ist, und dass er sie, wenn er kommt, ins Verheißene Land führen wird. Sie vermeiden es daher tunlichst, sich zu den beiden Behauptungen zu äußern: Jesus ist Messias und der ist folglich schon gekommen.
Zweitens, der Sabbat: An jedem Freitag vor Anbruch der Dunkelheit zünden sie ein Licht an. Ein Lichtschimmer zu genau dieser Zeit gilt also als ein sicheres Zeichen. Dasselbe gilt für das Ruhen am Samstag, wenn sie sich weigern zu arbeiten, man sie allerdings sehen kann, wie sie – oft in Gruppen – in Büchern lesen.
Drittens, der Kiddusch, der Segensspruch am Vorabend des Sabbats: Ebenfalls am Freitag trinken sie alle Wein aus einem Glas, das vor dem Abendessen von Hand zu Hand um den Tisch gereicht wird.
Viertens, die Kopfbedeckung während des Essens: Die Männer essen nie barhäuptig.
Fünftens, die Kaschrut-Vorschriften: Sie weigern sich, Schweinefleisch zu essen.
Sechstens, die Waschung vor dem Essen: Alle waschen sich vor jeder Mahlzeit die Hände mit Wasser aus demselben Gefäß, wobei sie irgendetwas murmeln.
Siebtens, das ungesäuerte Brot zu Pessach: An diesem Feiertag, der in die Zeit des katholischen Osterfestes fällt, essen sie kein gesäuertes Brot.
Achtens, das Fasten zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag: Mindestens einmal im Jahr, zum Fest, das sie Jom Kippur nennen, verweigern sie die Nahrung vom Sonnenuntergang des Vortags bis zum nächsten Sonnenuntergang.
Neuntens, die Kerzen zum Chanukkafest: Einmal im Jahr, zum Fest des Lichtes, das sie Chanukka nennen und das acht Tage lang dauert, zünden sie Kerzen an, jeden Abend eine mehr als am Abend zuvor.
Zehntens, der Schofar zu Rosch ha-Schana: An ihrem Neujahrsfest, das sie Rosch ha-Schana nennen, versammeln sie sich in Gruppen und beten, lesen in heiligen Büchern und lauschen den Klängen des Schofar genannten Widderhorns.
Elftens, die Beschneidung: Bekanntlich halten sie an der Vorschrift fest, männliche Kinder zu beschneiden. Das ist die sicherste Art, Juden zu entlarven.
Diese elf Punkte hatte Sánchez sich gründlich eingeprägt. Oft las er den letzten Satz des Appells laut, um sich anzuspornen, eifrig und selbstlos an der Enttarnung der falschen Christen mitzuarbeiten:
„Katholiken, beobachtet aufmerksam eure Nachbarn, damit dient ihr der Heiligen Inquisition!“
Mithilfe dieser Regeln, die klar und einfach wie die christliche Lehre und nicht so ausführlich und verzwickt wie die jüdische waren, hatte Sánchez Toroña einige Hundert ihm verdächtige Personen angezeigt. Er war stolz auf seine Beobachtungsgabe, sein scharfes Auge und seine kompromisslose Treue zur Inquisition und hoffte, er würde auffallen und mit einer Beförderung zum Schreiber eines inquisitorischen Untersuchungsbeamten belohnt.
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Während er in sicherem Abstand zu jener Masse der Juden im Hafen von Barcelona stand, fasste Sánchez schließlich Mut und bahnte sich den Weg durch die Menge bis zu dem Redner, der inzwischen mit Schwung von seinem Podest heruntergesprungen war und eine sehr junge Frau von außergewöhnlicher Schönheit umarmte. Der damals anwesende berühmte spanische Dichter Almodovar de Rojosa, auf der Suche nach Dichtermusen, beschrieb sie, von ihrer Frische und keuschen Anmut überrascht, voller Begeisterung mit folgenden Worten:
„Schwarzhaarig, dunkeläugig, schlank und rank wie der zarte Stängel des Maiglöckchens, das Gesicht weiß wie dessen Blüte, derart zauberhaft, dass sie leicht als Inspiration zum ‚Lied der Lieder‘ hätte dienen können. In der Schönheit dieser jungen Frau sind der anrührende und der schmerzhafte Ausdruck vereint, welcher den Frauen ihres Volkes eigen ist: das Wissen um das große Leid, um die bittere Verachtung und um die schlimmen Gefahren, die ihr Volk bedrohen, wo immer es sich befindet. Dieser Anflug von Traurigkeit verleiht ihren wunderschönen Gesichtszügen eine leidende Zartheit und scheue Weichheit, die das Herz ungemein bewegen: Es ist ein Schrei, ein stolzer jedoch, eine hoffärtige Bitte um Schutz und Geborgenheit. Und, oh Wunder, trotz ihrer Jugend zeigt sich von Zeit zu Zeit auf ihrem jungfräulichen Gesicht eine Spur verborgener Gelassenheit, wie man sie nur bei abgeklärten Weisen antrifft.“
Sánchez blieb wie versteinert vor dieser feenhaften Erscheinung stehen, er war erschlagen von so viel Schönheit, aber auch verwirrt von ihrem ruhigen Blick, der sich so sehr von dem aller anderen unterschied. Als wäre sie nicht von dieser Welt, dachte Toroña. Nachdem er sich schließlich wieder gefasst hatte, wandte er sich an den Redner, dessentwegen er sich eigentlich unter die ihm unangenehme Menge der jüdischen Vertriebenen gemischt hatte:
„Wer bist du?“, brachte er mit piepsender Stimme hervor, nachdem sein Versuch, einen furchterregenden Schrei auszustoßen, gescheitert war.
„Was geht dich das an!“, zischte der Gefragte durch die Zähne.
„Für einen Juden hast du eine zu scharfe Zunge!“
Dem Mann, dessen Hand auf ihrer Schulter ruhte, warf die junge Frau wortlos einen sanften Blick zu, was diesen veranlasste, doch zu sagen:
„Ich habe es bereits allen verkündet: Ich bin Solomon aus Toledo.“
„Es gibt Hunderte Solomons aus Toledo“, entgegnete Sánchez Toroña mit der hochmutigen Stimme des engstirnigen und unbedeutenden Mannes, der plötzlich Gewalt über andere Menschen bekommen hat und sie an den unter ihm Stehenden auslassen will, um sich somit am Menschengeschlecht für alle bisher erduldeten Niederträchtigkeiten zu rächen.
„Solomon ben Israel ben Sálom aus Toledo“, sagte der stattliche Fremde und sah auf Toroña mit für diesen unerwartetem Stolz, Trotz und Gefasstheit sowie mit einem Anflug von Ekel herab. Wahrscheinlich findet er mich aalglatt und kriecherisch, dachte Toroña verzweifelt, der es immer mit der Angst zu tun bekam, wenn man ihm selbstbewusst gegenübertrat. Vielleicht war dieser Fremde ein Provokateur oder aber ein Mann mit guten Beziehungen zu hohen Rängen der katholischen Regierung. Mit Juden kam er nie klar und war daher immer auf der Hut. Toroña war der Ansicht, solche Menschen solle man besser in Ruhe lassen und sich nicht in ihr Schicksal einmischen. Deshalb schenkte er jetzt dem vorlauten Gegenüber nur ein verlegenes Lächeln und kehrte ihm den Rücken zu, als wolle er sich entfernen, aber bevor er in der Menge untertauchte, sah er noch einmal die junge Frau an und fragte auch sie nach ihrem Namen.
„Blanca Sálom“, antwortete sie beinahe flüsternd und schlug ihre Lider mit dichten und langen Wimpern nieder.
„Weiß bist du in der Tat, dazu auch noch außerordentlich schön“, brachte Sánchez hervor. „Aber dich, ben Israel, kenne ich von irgendwoher“, fügte er hinzu, denn er konnte nicht umhin, ihm einen Stich zu versetzen und einen Schrecken einzujagen. Dann entfernte er sich, behielt jedoch weiterhin das ungewöhnliche Paar im Auge.
Solomon und Blanca sowie noch fünf andere junge Paare ohne Kinder standen als Letzte auf den ausgewaschenen Steinplatten der Hafenmole. Ein rothaariger Matrose in einer speckigen Kapitänsuniform, mit seinem roten Kopftuch und seinem Ohrring einem Piraten ähnlicher als einem Offizier der „Felicidad“, blaffte sie von dem oberen Ende der Leiter herab an, für sie gebe es keinen Platz mehr, sie müssten einen anderen Weg einschlagen oder das nächste Schiff abwarten. Dies wiederholte er mehrmals, immer an Solomon gewandt. Dieser aber schwieg und musterte ihn kalt mit seinen mandelförmigen Augen, die wie poliertes Ebenholz glänzten.
Wäre Solomons Blick ein Schwert, dachte Blanca in diesem Augenblick, würde seine scharfe Klinge den Leib des Seemanns zweiteilen, wäre er ein Speer, würde sich die Spitze in dessen Herz bohren. Nur sie kannte den Ursprung dieses Blicks und den Grund für die respektlose Haltung Solomons ben Israel ben Sálom aus Toledo.
Nach einer Weile vernahm man seine leise, aber durchdringende Stimme in ruhigem und zugleich drohendem Ton: „Hör auf zu brüllen und komm herunter, du elender Matrosenbastard.“
Die jungen Leute um ihn herum erschraken bei diesen groben Worten, sie erzitterten vor Angst und jubelten gleichzeitig, weil endlich jemand aus ihren Reihen den Mut fand, sich der Dreistigkeit eines primitiven und unverschämten Rüpels zu widersetzen, von dem ihr Leben abhing. Der respektlose Ton Solomons steigerte sofort das Selbstvertrauen der jungen Paare, denn sie hatten ihn nicht nur als einen Affront dem übermütigen Seefahrer gegenüber empfunden, sondern auch als einen Aufschrei gegen all die Erniedrigungen, die sie in den letzten Jahren in Spanien schweigend hatten erdulden müssen.
Wie von einer Zauberhand geleitet, folgte der Matrose ohne Widerrede dem Befehl Solomons und stieg den steilen Steg mit Querleisten anstelle der Stufen herunter.
„Du weißt doch“, fuhr Solomon mit unveränderter Stimme fort, „welchen Tag wir heute haben? Ganz Spanien weiß das. Also los, welches Datum haben wir heute?“
„Den einunddreißigsten Tag des Monats Juli“, antwortete dieser folgsam.
„Und welches Jahr?“
„Was soll das, ich bin doch nicht blöd. Vierzehnhundertzweiundneunzig.“
„Schön. Nach dem jüdischen Kalender, was du bestimmt nicht weißt, ist heute der neunte Aw, der Tag der immer wiederkehrenden großen Katastrophen für mein Volk. Deine Herren haben ihn ganz bewusst ausgesucht, was du wieder ganz bestimmt nicht weißt. Das Folgende hingegen wird dir sehr wohl bekannt sein: Bleibt ein einziger Jude bis zum morgigen Tag in diesem verfluchten Land, wird er mit dem Tode bestraft. Ebenso wird dir bekannt sein, dass uns, die wir uns in diesem Hafen befinden, kein anderer als der Seeweg zur Verfügung steht und dass heute kein Schiff oder Boot Barcelona mehr verlässt. Und du, durchgetriebener Kerl, weißt ebenfalls, dass die ‚Felicidad‘ uns paar Leute mit Leichtigkeit aufnehmen kann. Ist jetzt alles klar?“
Der Seemann nickte, und ein verschlagenes Lächeln ließ das Netz aus Falten in seinem vom Wind gegerbten Gesicht sich zusammenziehen und wieder aufspannen.
Blanca wurde auf Sánchez Toroña aufmerksam, der sich einer Hafenratte gleich an die Gruppe heranschlich, und warnte Solomon mit einer leichten Handberührung.
„Gauner wie du gehörten auf den Scheiterhaufen, aber dafür bleibt jetzt keine Zeit“, fuhr der furchtlose Toledaner fort und bemühte sich, ein Goldstück aus einem Beutel zu holen, den er sich um die Hüfte gebunden hatte und der jetzt unter der Hose zwischen seinen Beinen pendelte und ihn ständig störte. Das endlich gefundene Goldstück ließ er in die schon ausgestreckte Hand des Matrosen fallen. Die Goldstücke hatte Solomon in einer Truhe entdeckt, als er sich am Abend zuvor – jetzt schien ihm, als läge das schon Jahrhunderte zurück – in dem verlassenen Schloss der einst reichen und mächtigen, jetzt flüchtigen Familie Halevi umzog. Er tauschte sein amtliches Gewand gegen die bürgerliche Kleidung von Spaniern, auch von Juden aus, denn sie war für alle gleich, die Juden in Spanien mussten keinerlei Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrem Volk tragen. Weder da noch später, in keinem Augenblick bereute Solomon diesen Entschluss, da ihn beim ersten Anblick von Blanca Sálom die Flamme der Liebe wie im Sturm erfasst hatte.
Der Matrose grinste zufrieden und rollte mit den Augen. „Übrigens, ich bin der Erste Offizier Mercado Miñola“, murmelte er und wies mit einer clownesken Verbeugung den Weg zum Schiff, ihn damit auch für die übrigen Juden freigebend.
„Wie der Offizier, so das Schiff“, sagte Solomon barsch.
Von dieser Auseinandersetzung angezogen, näherte sich inzwischen mit kleinen, hüpfenden Schritten Sánchez Toroña, blieb dennoch auf Abstand, bis das in der Sonne aufleuchtende Gold ihn zu einem jähen Satz hin zu den jungen Juden veranlasste. Obwohl in weniger als einem Augenblick das Goldstück aus Solomons Hand in die des Matrosen hinübergewechselt war, hatte Toroña es mit dem unbeirrbaren Instinkt eines Greifvogels auf der Suche nach Beute gesehen und begonnen, wie eine vom Licht angezogene Motte darum herumzuflattern. So etwas hatte er noch nie verpasst. Noch nie war der gelbe Glanz des Goldes seinem Blick entgangen. Allerdings fragte er sich, wie das Goldstück durch die strenge Hafenkontrolle schlüpfen konnte, an der er selbst beteiligt war, und der sich jeder Jude beim Betreten des Hafengeländes hatte unterziehen müssen.
„Was spielt sich hier ab?“, krächzte er, worauf Solomon wieder in die Hose griff, ihm ein Goldstück vor die Füße warf, Blanca um die Taille packte und, kaum dass er den Boden mit den Füßen berührte, die Leiter hinauf auf das Schiff eilte.
Toroñas Glatze glänzte in der sengenden Sonne, als er sich bückte, das Goldstück aufzulesen. Er sah, wie es in seiner Hand blinkte und ihm in allen Sprachen der Welt von Bequemlichkeiten und Überfluss erzählte; er vergaß dabei sogar, es auf seine Echtheit zu prüfen. Nach der großen Freude über die ergatterte Beute packte ihn jetzt Angst: War dieser ungewöhnliche Jude vielleicht ein ganz gerissener Provokateur? Aber nicht einmal ein solcher hätte das Schiff bestiegen. Auch die Provokateure gingen nicht so weit, sich freiwillig ins Exil zu begeben, nur um bestechliche Subjekte und Missetäter zu entlarven. Er hatte eine Heidenangst vor Denunzianten, weswegen er sich bei der Pfändung der Güter, die die Vertriebenen zurücklassen mussten, nicht traute, auch nur einen einzigen wertvollen Gegenstand an sich zu nehmen. Dabei gab es im Gepäck der Vertriebenen wunderschöne in Gürtel eingenähte Halsketten und Ringe, Fröschlein aus Jade mit Smaragdaugen, kleine diamantene Schlangen mit Augen aus Rubin, kleine seidene Teppiche, Menoren aus Silber (zwar waren sie Zeichen ihres verfluchten Glaubens, aber man konnte sie ja einschmelzen lassen und daraus Kruzifixe machen), Blümchen aus Perlmutt, kleine Kappen mit Flussperlen und Granat durchwoben und noch tausend andere schöne Dinge … All diese Herrlichkeiten überließen die Vertriebenen widerstandslos den Behörden und trauerten ihnen auch nicht einen Augenblick lang nach. Oft versteckten sie sie nicht einmal, als wenn sie, vom Reichtum verwöhnt oder von ihren Lehren beseelt, die irdischen Güter missachteten, sich ihrer Kostbarkeit nicht bewusst wären. Sie vergaßen, dass auch die Philosophen, die Lehrer und die Rabbiner einen vollen Magen brauchten, um sich in Ruhe der Philosophie, den Wissenschaften und dem Glauben zu widmen. Diese verstockten Ungläubigen ließen die einfachen menschlichen Bedürfnisse nicht gelten, weil sie das Knurren eines leeren Magens nicht kannten, weil sie nicht wussten, wie der Hunger sich anfühlt, der den ganzen Körper auffrisst und zerstört. Selbst die Armen unter ihnen litten eigentlich nie Hunger, weil andere aus dem Stamme Abrahams sie immer satt machten. Zu wissen, was Hunger ist, das hatte das Leben nur ihm vorbehalten! Ihm, einem rechtgläubigen Katholiken, dessen Magen es zumindest aus diesem Grund verdient hätte, ewig voll zu sein. Und auch die Mägen seiner Frau Maria und seiner Kinder Carlos, Juana, Armanda, Benita und … wie hießen sie alle noch? Bei der Beschlagnahme bestimmter Dinge hatte so manche der weiblichen Vertriebenen eine Träne vergossen, aber wohl eher, weil es ein liebes Andenken war und nicht wegen seiner Kostbarkeit. Daraus musste man schließen, dass alle diese niederträchtigen Betrüger irgendwo einen Schatz versteckt hatten oder mit sich führten. Vielleicht hatten sie ihn verschluckt und hielten ihn auf diese Weise in ihren ewig vollen Mägen verborgen. Wie konnten sie sich sonst so leicht von den bei ihnen gefundenen Gegenständen trennen, diese geldgierigen Halsabschneider, dafür berühmt, bewegliche und unbewegliche Güter zu horten.
Sollte er diesen Juden vielleicht doch anzeigen, fragte sich Sánchez, hin und her gerissen und äußerst unglücklich über seine Unschlüssigkeit. Doch dann müsste er das ergatterte Goldstück seinem widerlichen Vorgesetzten geben, der ihn ständig drangsalierte. Und was würde ihm diese Anzeige bringen? Während er sie in die Wege leitete, wäre das Schiff schon ausgelaufen und nur noch als ein winziger Punkt am Horizont zu sehen. Er bedauerte, sich nicht schon früher an die Gruppe der wartenden Juden herangemacht zu haben, nicht nur weil er in diesem Fall Zeit gehabt hätte, den Mann anzuzeigen, sondern auch weil er ihn vielleicht hätte bedrängen und so noch ein paar geschmuggelte Goldstücke aus ihm hätte herauspressen können. Dieser Verräter hatte offensichtlich eine Menge solcher Schätze bei sich, wenn er so großzügig damit um sich warf. Er, Sánchez, hätte sich bemühen sollen, seine Identität festzustellen, statt so leicht darüber hinwegzugehen! Er hätte ihn unter Druck setzen, festnehmen, vernichten sollen … Warum hatte er es nicht getan, fragte er sich, von Selbstvorwürfen geplagt. Weil er nicht den Mut dazu hatte, darum! Und warum hatte er nicht den Mut? Etwa weil ihm dieser Solomon aus Toledo bekannt war? Nein, denn ihm waren Hunderte Juden bekannt. Weil er so ungewöhnlich war? Nein, denn unter Tausenden dieser Ungläubigen gab es viele ungewöhnliche Menschen. Sie waren eigentlich alle ungewöhnlich, Gelehrte wie einfache Handwerker, Reiche wie Arme. Und jeder von ihnen rief in ihm entweder ein Gefühl der Minderwertigkeit hervor, die er gegenüber Wissen, Klugheit oder Geist ständig spürte (und die sich, wie er ungern zugab, auf vielen jüdischen Gesichtern widerspiegelten), oder eine Spur von Mitleid gegenüber dem großen Leid und dem tiefen Schmerz (obwohl er sein eigenes Leid und seinen eigenen Schmerz als am größten einschätzte), oder Neid wegen des enormen Reichtums (der übrigens, obwohl vielen bekannten wohlhabenden Juden weggenommen, mitnichten in seine Taschen floss, sondern den Weg zu den Schlössern der Edelmänner fand und zu den Schatzkammern Ihrer Majestäten, des Königs und der Königin, möge die heilige Jungfrau Maria sie vor allem Übel bewahren), oder aber Wut wegen ihres großen Geschicks, mit den Händen etwas zu schaffen, was ihnen Gewinn brachte, denn ihm war dies versagt (während es handwerklich geschickte Juden im Überfluss gab, angefangen von Kürschnern, Flickschneidern, Täschnern, Nähern und Schustern bis hin zu den Metallgießern, Webern und Goldschmieden). Dennoch, dieser Solomon aus Toledo, ein Vertriebener wie alle andern, der Niedrigste unter den Niedrigen, der Letzte unter den Letzten, löste in ihm, dem demütigen Diener Gottes Sánchez Toroña, eine nackte, irrationale Angst aus.
Die Hand um das Goldstück gepresst, beschloss Toroña, es auf jeden Fall als Kriegsbeute zu behalten, als Belohnung für seinen aufopfernden Einsatz bei der Unterstützung der Heiligen Inquisition, als Entschädigung für alle bisher erlittenen Erniedrigungen und als Quelle für zusätzliche Freuden: für ein Gläschen in der Kneipe, für den Erwerb neuer Stiefel, für Süßigkeiten für seine quengelnden und ungewaschenen Kinder, deren Geschrei ihn zum Wahnsinn brachte, oder für einen Unterrock für seine fett gewordene, ewig meckernde Frau, damit ihr Nörgeln wenigstens für einige Zeit verstumme. Er blickte noch einmal argwöhnisch um sich und ließ mit einer flinken Bewegung das Goldstück in die Tasche seines abgewetzten Mantels fallen. Dann strich er verlegen mit der Hand über seine Glatze, schob den Unterkiefer vor und begab sich mit torkelnden und hüpfenden Schritten zum Gebäude der Hafenverwaltung. Unterwegs blieb er noch einmal stehen und warf einen Blick auf das langsam davonsegelnde Schiff. An Deck sah er, auf die Reling gestützt, Solomon aus Toledo stehen. Seine großgewachsene Gestalt erschien ihm in diesem Augenblick so bedrohlich, dass er, als peitschten ihn Nordwinde, trotz der sommerlichen Hitze erschauderte.
DIE REISE
DIE „FELICIDAD“, IHRE FAHLEN, mit Flicken übersäten Segel gehisst, quietschte und ächzte und hustete geradezu, selbst beim schwächsten Seegang. Nicht im Entferntesten glich sie den prachtvollen Schiffen „Pinta“, „Niña“ und „Santa Maria“, mit denen Christoph Kolumbus nur zwei Tage später aus demselben Hafen auslief. Der hölzerne Rumpf der „Felicidad“ war zwar massiv, aber alt und marode. Die Masten waren stabil, das Steuer wie auch der schwere Anker riesig, aber die Taubündel rutschten nach einem nur den Seeleuten bekannten Gesetz hin und her, und so wurde für die armen Vertriebenen jeder Schritt zur Gefahr. Die Dielen des Decks waren wurmstichig, abgewetzt und durchgedrückt von den Schritten Tausender Passagiere und vom Gewicht Hunderter Tonnen Fracht. Man meinte, sie brächen jeden Augenblick durch, aber das alte, zähe Holz hielt noch immer stand. Wenn das Segelschiff etwas stärker quietschte, schien es, als fiele es gleich in tausend Stücke auseinander, die niemand mehr zusammensetzen könnte.
Die Mannschaft passte zum Schiff. Von überallher zusammengewürfelt, erinnerten die in speckige, verschiedenfarbige Lumpen gehüllten Matrosen und Offiziere an Landstreicher auf der Suche nach einem Unterschlupf. Hinkend, zahnlos und oft einäugig sahen sie aus wie Seeräuber und lehrten die Flüchtlinge das Fürchten, die trotz ihrer schlechten Lage im Vergleich mit ihnen wie feine Herrschaften aussahen. Ein Trost waren ihnen nur die jüngsten der wilden Matrosen, ein paar Schiffsjungen, für die diese Fahrt offenbar die Seetaufe war.
Zum Glück herrschte schönes Wetter, der Himmel war leuchtend blau und das von lieblichen Wellen gekräuselte Meer gnädig, während ein mäßiger Wind die alten Segeltücher aufblähte. Diese faszinierten die sechzehnjährige Blanca Sálom, die nie zuvor den Fuß auf ein großes Segelschiff gesetzt hatte. Sie blickte nach oben, erfreute sich am Spiel des Windes mit den Segeln und vergaß darüber ihr trauriges Los. Ihre frühe Jugend war von einem großen Unglück überschattet gewesen, und wie alle, die dem Tod ins Auge gesehen und die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens erfahren, wie alle, denen Feuer oder Foltergeräte die Eltern oder gar die ganze Familie geraubt haben, durch ihren reinen und tiefen Schmerz vorzeitig altern, machte auch sie den Eindruck einer reifen Frau. Blanca Sálom war kein verwöhntes Kind mehr, auch keine umgarnte junge Dame, sondern eine früh gereifte Person, die bei aller Unschuld, allem Liebreiz und aller Zerbrechlichkeit zum Glück ihren gesunden Menschenverstand bewahrt hatte. Trotz der schweren Schicksalsschläge war sie nicht verbittert, unterlag nicht plötzlichen Stimmungswechseln und neigte nicht wie viele Leidende zu hasserfüllten Gefühlsausbrüchen. Im Gegenteil, sie konnte die Größe menschlichen Mitleids in einem einzigen Glas Wasser erkennen, das einem durstigen Vertriebenen gereicht wurde, in einem Stück Brot, das man unaufgefordert einem Hungrigen anbot, in einer Träne, die das jüdische Leiden einem Christen entlockte. Solche Bilder merkte sie sich und bewahrte sie bewusst in ihrer Erinnerung. Das Unglück hatte ihr nicht den Glauben an das Gute im Menschen geraubt noch die Hoffnung zerstört, es hatte sie vielmehr stärker gemacht und sie auf jede mögliche Wende in ihrer ungewissen Zukunft vorbereitet.
Zierlich und gelenkig wie sie war, bahnte sich Blanca den Weg durch die dichte Frauenmenge am Bug des Schiffes und fand in einer abgelegenen Ecke einen Platz für sich. Den Männern war befohlen worden, sich am Heck aufzuhalten. Die Sonne stand noch hoch am Horizont, als Blanca sich in ihrem Schlupfwinkel einnistete. Sie liebte den Wind, obwohl er ihre langen, dunklen Strähnen zerzauste, die widerspenstig aus dem ungeschickt hochgesteckten Knoten herausschlüpften, ungeschickt hochgesteckt, weil sie vor der Vertreibung ihr Haar nie selbst gekämmt, gebürstet und zu einem dicken, im Nacken festgesteckten Zopf geflochten hatte. Das war morgens und abends die Aufgabe ihrer Amme Esperanza oder ihrer Tante Erdonia und manchmal auch ihrer Mutter Sarah gewesen. Jedes Mal, wenn die Haare ihr Gesicht berührten, tauchten die Bilder dieser drei ihr am nächsten stehenden Frauen vor ihren Augen auf, aber statt sich vor Schmerz zu winden, empfing sie sie mit wehmütigen Seufzern der Zuneigung und Liebe, mit denen sie, wie sie glaubte, diese Toten am Leben hielt.
Wann immer sie, eingelullt vom eintönigen Schaukeln, vom Rauschen der Wellen und von der milden Wärme der schon untergehenden Sonne, ihre Augenlider schloss, sah sie vor sich die Gestalt ihres geliebten Nonu