Der Duft von Eisblumen - Veronika May - E-Book

Der Duft von Eisblumen E-Book

Veronika May

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Beschreibung

Weißt du, wie Eisblumen duften?

Gerade frisch getrennt, verliert Rebekka im Stau die Nerven und fährt ihrem Vordermann mit Absicht auf die Stoßstange. Jetzt steht sie nicht nur vor den Trümmern ihres Lebens, sondern auch vor Gericht. Die aufgebrummten Sozialstunden muss sie bei der 88-jährigen Dorothea von Katten ableisten. Die lebt allein in einer verwunschenen Villa mit einem riesigen Garten, und zunächst scheinen die beiden Frauen nur ihre Dickköpfigkeit gemeinsam zu haben. Bis Rebekka auf ein lang gehütetes Geheimnis der alten Dame stößt und versteht, dass man sein Herz nicht auf ewig verschließen kann.

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Seitenzahl: 380

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Das Buch

Seit vielen Jahren lebt Dorothea von Katten alleine, umgeben von einem prachtvollen Garten, in einer riesigen Villa. Auch wenn die 88-Jährige es sich nicht zugesteht, bräuchte sie dringend jemanden, der nach ihr sieht. Da steht Rebekka vor ihrer Tür: Sie soll ihre Sozialstunden bei der adligen Dame ableisten. Notgedrungen lassen sich die beiden unterschiedlichen Frauen auf das Abenteuer ein, und Rebekka zieht in die »Chauffeurwohnung« des Anwesens. Ab da beginnt für die Mittdreißigerin ein ganz neues Leben – abseits von Karriere und Großstadt wird Rebekka auf sich zurückgeworfen und muss zum ersten Mal für jemand anderen als sich selbst Sorge tragen. Als Rebekka in der Villa auf Hinweise stößt, dass die alte Dame ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit hütet, prallt ihre Neugierde jedoch an der Verschlossenheit der alten Frau ab – über diesen Teil ihres Lebens schweigt Frau von Katten eisern. Und dann ist da noch Taye, der junge Gärtner aus Kapstadt. Rebekka und er sind nach und nach voneinander angezogen, auch wenn sie sich zunächst vehement dagegen wehrt …

Über die Autorin

Veronika May ist das Pseudonym von Heike Eva Schmidt, die als erfolgreiche Roman- und Fernsehautorin arbeitet. Sie lebt im Süden Deutschlands zwischen Seen und Bergen. Ihre Ideen sprudeln beim Entdecken der Natur oder nachts, wenn sie am Sternenhimmel nach Kassiopeia sucht.

Veronika May

DER DUFT

VON EISBLUMEN

Roman

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Originalausgabe 09/2016

Copyright © 2016 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Alexandra Baisch

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Whiteaster, Oliay, iABC, Zenina Anastasia, wacomka/shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-17164-3V001

www.diana-verlag.de

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In Erinnerung an eine Sommernacht unterm Sternenhimmel

Prolog

Rebekka Winter fand ihren Nachnamen schon immer sehr passend. Sie war kein Sommertyp – die aufblühende Natur, das wild wuchernde Gras und die Bäume mit ihrem förmlich explodierenden Blättergrün irritierten sie eher, als dass sie Rebekka erfreuten. Wenn sie sich an den Garten ihrer Großmutter erinnerte, sah sie sich selbst als Kind, das sich die Hände an dornigen Brombeerranken zerkratzte und dem Brennnesseln juckende rote Haut bescherten. Wie sollte man diesem Wildwuchs im Sommer jemals Herr werden? Ihrer Großmutter machte das nichts aus; sie liebte es, den Tag zwischen Beeten und Sträuchern zu verbringen. Pflanzen brauchten Pflege und Aufmerksamkeit. Als Kind hatte Rebekka dafür zu wenig Geduld und als Erwachsene zu wenig Zeit.

Wäre ihr Leben ein Garten, so fände man dort nur säuberlich geharkte Beete vor, akkurat angelegte Quadrate, auf denen nur wenige Pflanzen wuchsen – robust, leicht zu pflegen und in der Lage, auch die kältesten Monate des Jahres zu überstehen. Glatte graue Kiesel würden die schnurgeraden Wege säumen, weniger Dekoration als vielmehr eine Warnung, die Pfade ja nicht zu verlassen und die sorgfältig angelegten Muster, die Rebekka mit einem Rechen jeden Tag aufs Neue in den Sand zöge, nicht durcheinanderzubringen. Umgeben wäre der Lebensgarten von einer hohen Mauer, die schon lange dort stünde und deren Steine, mit Moos und Flechten überzogen, jeden Blick ins Innere verwehrten.

Rebekka hatte die Mauer eigenhändig errichtet, als Schutz vor unerwünschten Besuchern, vor Gedanken und Gefühlen, die nur störten, die über ihre sorgsam angelegten Wege trampelten und alles durcheinanderbrachten.

Solange sie sich in diesem Garten befand, fühlte Rebekka sich sicher. Dass durch die dicken Steinwände, die sie um sich errichtet hatte, zwar niemand hinein-, sie selbst jedoch auch nicht hinauskonnte, merkte sie lange Zeit nicht. Rebekka saß in einer selbst erbauten Festung, und ihr Fenster zur Welt war das ganze Jahr über mit Eisblumen überzogen, einer hauchdünnen eisigen Schicht, die niemals zu schmelzen schien.

Erst als die Mauer zu bröckeln begann und Rebekka gezwungen war, ihren eigenen Garten zu verlassen und den einer älteren Frau zu betreten, die Besucher ebenso fernhalten wollte wie sie, erkannte Rebekka, dass man sein Herz nicht mit einer Dornenranke schützen konnte, ohne dass sich die spitzen Enden irgendwann ins eigene Fleisch bohrten. Und dass jedes Geheimnis, egal wie dick die Mauer war, irgendwann wie eine wuchernde Pflanze ans Licht drängte.

1

Feuerdorn (Pyracantha)

Aus dem Lautsprecher des Radioweckers ertönte Strawberry Fields von den Beatles und riss Rebekka aus dem Tiefschlaf. Mit einem Ächzen schlug sie die Augen auf und drehte mühsam den Kopf in Richtung der Leuchtziffern. Halb sieben, eine absolut inakzeptable Zeit für ihren Kreislauf, aber wenn die Arbeit rief, konnte sie auf den nun wirklich keine Rücksicht nehmen. Sie taumelte unter die Dusche und dann in die Küche.

»Wer kommt denn da, wer kommt denn da, wer ist die schöne Dame …«, schallte ihr eine heisere Stimme entgegen, die wie eine zerkratzte Schellackplatte aus den Fünfzigerjahren klang.

»Wieso bist du schon so fit, verflixt?«, murmelte Rebekka, musste aber grinsen, als sie das schwarze Baumwolltuch von der geräumigen Voliere zog und in dunkle Knopfaugen sah, die deutlich wacher waren als ihre graugrünen. Sie gehörten einem Beo, dessen orangefarbener Schnabel und gelber Hautlappen am Kopf einen leuchtenden Gegensatz zu seinem blauschwarzen Gefieder bildeten.

Rebekka warf die Espressomaschine an, ehe sie für ihr gefiedertes Haustier einen Apfel klein schnitt. Der sprechende Vogel war das Einzige, das Rebekka von ihrem Vater geblieben war, ehe der sich vor siebzehn Jahren Hals über Kopf nach Südamerika aufgemacht hatte. »Sich selbst finden« nannte er das. »Mutter und Tochter sitzen lassen« war wohl der passendere Ausdruck. Rebekka hatte damals gerade ihr Abitur bestanden, und statt sich aufs Studium zu konzentrieren, musste sie ihre aufgelöste Mutter trösten und ab und zu einen Vogel hüten, der andauernd quasselte. Vier Jahre später hatte Rebekkas Mutter wieder geheiratet, und weil ihr neuer Mann Jürgen drohte, den ungezogenen Beo am Tag nach der Hochzeit in den Bräter zu stecken, zog das Tier bei Rebekka ein. Bis heute erinnerte der Vogel sie an den seltsamen Humor ihres Vaters, der ihm den Namen »Beo Lingen« gegeben hatte, frei nach dem Lieblingsschauspieler von Rebekkas Großmutter. Ihre Oma konnte alle Lieder von Theo Lingen im Schlaf mitsingen, und dass ihr Idol durch einen Vogel verunglimpft wurde, zu dessen Repertoire neben ein paar Liedchen vorzugsweise Unverschämtheiten gehörten, hatte die alte Dame Rebekkas Vater nie verziehen. Doch für Rebekka war der Beo ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden, den sie nicht mehr missen mochte, und so kraulte sie ihm ausgiebig sein glänzendes Gefieder, was er mit behaglichem Glucksen quittierte, ehe sie ihm die Apfelschnitze gab und sein geliebtes Körnerfutter in die Schale füllte.

In diesem Augenblick klingelte Rebekkas Handy. Beim Blick aufs Display erkannte sie, dass die Anruferin ihre Mutter war. Der Beo hob den Kopf aus seinem Napf. »Kein Schwein ruft mich an …«, trällerte er, während Rebekka mit einem stummen Seufzer den Anruf annahm. »Mama.«

Die atemlose Stimme ihrer Mutter drang ihr ins Ohr. »Guten Morgen, mein Schatz. Wie geht’s dir?«

»Ganz okay, aber …«

»Ach, du glaubst ja gar nicht, was für einen Stress ich gerade habe. Jürgen hat gestern …«

Rebekka unterbrach den hektischen Redefluss ihrer Mutter. »Entschuldige, aber ich habe gleich einen wichtigen Termin in der Agentur. Lass uns heute Abend telefonieren, ja?«

»Du hast immer einen wichtigen Termin, Becky«, tönte es etwas verstimmt zurück.

»Ich habe einen Job, Mama. Und morgens ist es nun mal immer etwas hektisch. Ich bin weder geduscht noch geschminkt und muss mich wirklich beeilen. Ich melde mich später, versprochen! Hab dich lieb!«

Hastig legte Rebekka auf. Da kratzte ein Schlüssel im Türschloss und Isa, Jurastudentin im neunten Semester und Rebekkas Putzhilfe, kam in die Küche. Sie zog sich den Fahrradhelm so schwungvoll vom Kopf, dass ihr weißblond gefärbtes Haar kurz senkrecht in die Höhe stand. »Hallo Becky«, rief sie und ging zur Voliere. »Na du Federvieh, wie geht’s dir?«

Begeistert wippte der Beo auf seiner Stange.

»Ich sehe, ihr zwei habt Spaß.« Rebekka umarmte Isa flüchtig, was Begrüßung und Abschied zugleich war, denn die Zeit drängte.

Nachdem sie in einen dunkelgrauen Bleistiftrock, ein cremefarbenes Seidentop sowie einen anthrazitfarbenen Blazer geschlüpft war und ihre immer noch verschlafenen Füße in passende Slingpumps gezwängt hatte, widmete Rebekka sich vor dem Badezimmerspiegel ihren dunkelbraunen Haaren, die wie jeden Morgen in fröhlichen Korkenzieherlocken nach allen Seiten abstanden und sich trotz diverser Haarpflegeprodukte weigerten, glatt oder wenigstens ordentlich frisiert zu bleiben. Mit einer ganzen Armee von Haarklammern zwang Rebekka sie in einen halbwegs formellen Knoten, bevor sie sich sorgfältig schminkte. Ihre graugrünen Augen wurden mit einem Hauch roséfarbenem Lidschatten und schwarzer Wimperntusche betont, auf die Lippen kam ein dezenter Rosenholzton. Etwas Rouge auf die Wangen, um Morgenfrische vorzutäuschen – fertig. Zufrieden musterte sie sich im Spiegel.

»Du siehst super aus!«

Rebekka erschrak, doch der Spiegel hatte nicht plötzlich angefangen zu sprechen wie bei Schneewittchens Stiefmutter, es war Isa.

Rebekka lächelte. »Ich habe heute eine ziemlich knifflige Präsentation.«

Isa grinste. »Tja, meine Liebe, das kommt davon, wenn Frau es mit kaum 35 Jahren in die Vorstandsetage schafft.«

»Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn du dein Jurastudium mit summa cum laude abschließt und alle Kanzleien sich um dich reißen.«

»Was bin ich froh, dass ich bis dahin noch putzen gehen darf«, lachte Isa und drehte den Hahn auf, um den Eimer zu füllen. Mit dem »Wasser marsch!«-Ruf ihres Beos im Ohr, verließ Rebekka die Wohnung. Dass Beo Lingen auch das Schimpfwort kannte, das sich auf »marsch« reimte, hörte sie nicht mehr.

Sie fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage und kramte dabei nach ihrem Autoschlüssel für den schwarzen Geschäftswagen, den sie seit drei Monaten fahren durfte. Rebekka mochte das Gefühl, in dieses Raumschiff mit Allradantrieb einzusteigen und das satte Brummen des Motors zu hören. Ihre Mutter hatte beim Anblick des Wagens geschaudert. »Ist der nicht eine Nummer zu groß für dich, mein Schatz?«

Rebekka hatte sich auf die Zunge gebissen, um keine pampige Antwort zu geben. Die Worte ihrer Mutter waren gut gemeint gewesen, hatten Rebekka aber einen Stich versetzt. Wie der helle Strahl einer Taschenlampe in einem Keller drangen sie genau in die dunkelste Ecke von Rebekkas Innerem vor, in dem ihre geheimen Ängste lauerten: dass der Job eine Nummer zu groß für sie war und ihr Traum von einer erfolgreichen und erfüllenden Karriere wie eine Seifenblase platzen könnte, weil sie Fehler machte, die sie das Wohlwollen ihrer Chefs kosteten …

Doch das hätte Rebekka niemals zugegeben, deshalb hatte sie energisch den Kopf geschüttelt. »Mach dir mal keine Sorgen um mich, Mama. Sonst bleibt am Ende für Jürgen nichts mehr übrig!«

»Ach, Becky. Kannst du dich nicht ein bisschen bemühen? Jürgen ist doch wirklich ein lieber, umgänglicher Mensch.«

Nur schade, dass er es so gut verbirgt, dachte Rebekka. Aber sie hatte sich zu einem Lächeln gezwungen und genickt. Es war das Leben ihrer Mutter, die einen Ehemann brauchte, um sich nicht allein und nutzlos zu fühlen. Und Jürgen genoss die Fürsorge und schleppte Rebekkas Mutter im Gegenzug auf Kreuzfahrten oder in teure Restaurants. Dass ihre Tochter es vorzog, Urlaub und Essen lieber selbst zu bezahlen, konnte – oder wollte – ihre Mutter nicht verstehen.

Das Piepsen der Türverriegelung riss Rebekka aus ihren Gedanken. Eilig schnallte sie sich an.

»Na, Commander, dann wollen wir mal«, sagte sie und begleitet von den üblichen Piepsgeräuschen beim Ausparken steuerte sie aus der Tiefgarage.

Egal wie früh sie am Morgen losfuhr, nie gelang es ihr, der Rushhour zu entkommen, und während sie hinter einer endlosen Schlange glänzender Karossen an einer der vielen roten Ampeln stand, dachte Rebekka ernsthaft darüber nach, lieber gleich im Geschäftswagen auf dem Agenturparkplatz zu schlafen.

Fünfundvierzig Minuten und drei Baustellen später stand sie vor dem Eingang der Agentur. Circumlucens prangte in milchigen Buchstaben an der gläsernen Tür, die sich lautlos öffnete, sobald man herantrat. Rebekkas Chef war sehr stolz auf sein kleines Latinum und hatte deshalb als Name für seine Agentur den lateinischen Begriff für »ringsumher leuchtend« gewählt.

Die Auftraggeber der Agentur waren allesamt dicke Fische in der deutschen Unternehmenslandschaft und bescherten Rebekka und ihren Kollegen volle Auftragsbücher. Angefangen bei der aufwendigen Imagekampagne für eine Großbank, die nach der Finanzkrise ihren Ruf wiederherstellen wollte, bis hin zum Großkonzern für Reinigungsmittel, der im Fernsehen für sein neues Waschmittel warb. Es war Rebekkas Idee gewesen, den Werbespot in Brasilien zu drehen, weil darin weiße Bettlaken und blauer Himmel eine wesentliche Rolle spielten, während in Deutschland nasses Novemberwetter herrschte. Sie hatte von den Flügen bis zum Kameramann alles organisiert. Wer allerdings nach Rio de Janeiro mitgeflogen war – angeblich, um den Dreh zu »begleiten« – und sich an der Copacabana ein paar schöne Tage gemacht hatte, war der Juniorchef der Agentur.

Der Werbespot lief danach sechs Monate lang im Vorabendprogramm der großen Privatsender, und bei der Weihnachtsfeier des Kunden wurde im Zuge des gelungenen TV-Spots auch Rebekkas Name erwähnt. Sie hatte daraufhin vor Freude fast ebenso geleuchtet, wie der Agenturname Circumlucens versprach.

Endlich im Bürogebäude angekommen, stöckelte Rebekka durch die weiträumige Lobby, deren blendend weißer Fußboden sie täglich zu der Frage veranlasste, wie zum Teufel man es schaffte, ihn sauber zu halten? Es musste eine ganze Armee von Putzleuten am Werk sein, die Rebekka jedoch nie zu Gesicht bekam. Gute Geister der Nacht, die erst auftauchten, wenn die Räume verlassen und alle Telefone und Stimmen verstummt waren.

Sie steuerte den Fahrstuhl an, der sie in einer Geschwindigkeit, die Rebekkas Magen morgens nicht so ohne Weiteres vertrug, in den fünften Stock brachte – zu den Chefbüros. Texter, Grafiker und die Kollegen der Planungsabteilung saßen eine Etage tiefer. Bis vor einem halben Jahr hatte auch Rebekka allmorgendlich die »Vier« im Aufzug gedrückt. Ihr Ziel war es jedoch schon immer gewesen, eines Tages nicht nur im Stockwerk, sondern auch in ihrer Position aufzusteigen. Sie hatte fast nicht mehr daran geglaubt, denn die beiden Agenturchefs schienen sie trotz ihrer hervorragenden Arbeit nicht richtig wahrzunehmen. »Sie sind wie eines dieser Steppenponys, Rebekka – zäh und zuverlässig«, hatte der Seniorchef einmal zu ihr gesagt. Das war seine Art, die Mitarbeiter zu loben. Rebekka aber wollte kein Steppenpony sein, sondern beweisen, dass sie ein erstklassiges Rennpferd war. Also arbeitete sie noch härter und zog schließlich den Millionenauftrag einer Autofirma an Land. Zunächst tat sich in ihrer Karriere trotzdem nichts, dann aber war die Konkurrenz auf sie aufmerksam geworden und hatte einen Headhunter auf sie angesetzt. Doch ehe Rebekka sich auch nur überlegen konnte, das Angebot anzunehmen, hatte van Doorn mit einer Gegenofferte gekontert, die sie nicht ablehnen konnte: als erste Frau in der Agenturgeschichte von Circumlucens im Vorstand zu sitzen. Rebekka unterschrieb sofort. Aus dem struppigen, zähen Pony war endlich ein kostbarer Vollblüter geworden.

Seitdem war Rebekkas Tag in ihrem neuen Büro im fünften Stock von Verbraucheranalysen, Budgetsummen und Gewinnzahlen bestimmt. Endlich war sie dort angelangt, wohin sie schon als Studentin immer gewollt hatte. Auch wenn der Job jeden Tag eine Herausforderung darstellte – für ihre Unabhängigkeit zahlte Rebekka diesen Preis gerne.

Jürgen, der zweite Mann ihrer Mutter, vertrat die Ansicht, ein Job sei nur dann etwas wert, wenn man sich den Rücken krumm arbeitete und nichts als Pflichten und Mühsal damit verband, aber Rebekka mochte ihre Arbeit und hatte Spaß daran, weil sie ihrem Leben eine feste Struktur und Sinn gab.

Schwungvoll trat sie aus dem Aufzug und atmete tief durch, damit sich ihr rascher Herzschlag beruhigte. Seit sechs Monaten preschte ihr Organ regelmäßig los, sobald sie den Flur betrat, an dessen Wänden großformatige moderne Bilder hingen, die ohne erkennbares Motiv nur grelle Neonfarben und ein paar schwarze Linien zeigten. Rebekka fand sogar Gefallen an ihrem Herzgalopp, bewies der Adrenalinstoß doch, dass immer neue und spannende Aufgaben auf sie warteten. Sie war oft so aufgeregt wie vor einem Date. Dass dieses Pochen jedoch kein bisschen dem Gefühl beim Anblick eines Geliebten glich – ja nicht einmal den Empfindungen beim Betrachten eines bunten, duftenden Blumenstraußes, eines tapsigen Kätzchens oder hoher Berggipfel bei Sonnenaufgang –, bemerkte Rebekka nicht. Kein Wunder, war es doch mehrere Monate her, dass sie all diese Dinge zum letzten Mal erlebt hatte.

»Guten Morgen, Kindchen. Ich habe die Complete-Fit-Präsentation für Sie«, tönte es fröhlich von der Tür her.

»Miss Moneypenny!«, begrüßte Rebekka erfreut die kleine, leicht untersetzte Frau Mitte fünfzig, die in der offenen Bürotür stand und in der linken Hand einen Aktenordner hielt. Ihre blondierten Haare trug sie zu einer etwas altmodischen Frisur hochgesteckt, die »Bienenkorb« genannt wurde und ausgezeichnet zu ihrem Twinset und der Perlenkette passte.

Miss Moneypenny, die eigentlich Renate Schöffer hieß, aber von allen nur mit ihrem Spitznamen angesprochen wurde, war Chefsekretärin und die gute Seele der Agentur. Mit dem Instinkt eines Muttertiers, das ihr bedrohtes Junges mitten in der Kalahari aufzieht, hatte die resolute Frau Rebekka zu ihrem Schützling erklärt, was Rebekka insgeheim rührte und genoss. Jetzt zauberte Moneypenny hinter ihrem Rücken einen Kaffeebecher hervor, dem ein köstlicher Duft nach Arabicabohnen entströmte.

»Sie sind ein Engel«, rief Rebekka.

»Ich weiß. Und Sie brauchen eine Stärkung. Van Doorn junior will unbedingt die Complete-Fitnessstudiokette an Land ziehen und wird für den Pitch die gesamte Agentur bis hinunter zum Kopier-Praktikanten einspannen!«

Rebekka nickte. In der Werbebranche bedeutete ein Pitch, mit einem Dutzend anderer Agenturen um einen Kunden und dessen lukrativen Auftrag zu buhlen. Jeder legt sich ins Zeug, vom Texter bis zum Grafiker arbeiten alle die Nächte durch, um das Beste vom Besten für die Präsentation abzuliefern. Die Chefs rennen zwei Tage vorher mit hochroten Köpfen durch die Flure, alle Nerven sind zum Zerreißen gespannt und die Kaffeemaschine läuft 24 Stunden nonstop. Für Rebekka fühlte es sich jedes Mal aufs Neue an, als stünde sie kurz vor einem Marathon – oder einem Flug ins All. Sie verspürte weder Müdigkeit noch Erschöpfung – sie war nur von dem Willen getrieben zu gewinnen. Wie alle in der Agentur. Im Idealfall kamen die Chefs nach der Präsentation mit stolzgeschwellter Brust und einer Flasche Champagner für die Angestellten zurück. Manchmal jedoch verlor die Agentur den Wettbewerb, dann blieben die Bürotüren besser geschlossen. Rebekka setzte jedes Mal ihren vollen Ehrgeiz ein, damit es nicht dazu kam. Und so würde es auch diesmal sein, daher streckte sie die linke Hand nach den Papieren und die rechte nach dem Kaffee aus.

»Heizen Sie dem Junior ruhig ein bisschen ein, wenn er wieder seine seltsamen Ideen durchsetzen will«, feuerte Moneypenny sie an.

Tatsächlich war Rebekka dafür zuständig, die oft hochfliegenden Pläne der kreativen Köpfe in der Agentur zugunsten der nüchternen Kostenplanung zu zügeln. Obwohl der Job ihr den Ruf als Spaßbremse eingebracht hatte, war Rebekka nach dieser Herausforderung so süchtig wie andere nach Nikotin oder Schokolade.

Die Sekretärin lächelte sie an. »Ich bringe Ihnen mittags was vom Bioladen mit. Nicht, dass Sie mir vom Fleisch fallen, Kindchen.«

»Danke, Moneypenny. Was würde ich nur ohne Sie machen?«

»Als wandelndes Röntgenbild durch meine Träume spuken. Deswegen hole ich Ihnen auch noch einen Nachtisch dazu«, gab die Ältere munter zurück. Sie ging aus dem Büro, und Rebekka beugte sich über die Papiere.

Tatsächlich merkte Rebekka vor lauter Arbeit selbst kaum mehr, ob sie genügend aß oder nicht. Ihre Mahlzeiten bestanden aus etwas Obst oder einem Fertigsalat, den sie sich morgens schnell noch im Supermarkt holte. Wenn sie abends nach Hause kam, war sie zu müde, um noch viel Hunger zu verspüren. Zudem gab ihr Kühlschrank nicht viel mehr her als ein Käsebrot oder ein Fertiggericht für die Mikrowelle. Sie achtete nur darauf, dass immer frische Äpfel und genügend Körnerfutter für Beo Lingen vorhanden waren, weshalb ihre stets peinlich sauber gehaltene Küche wirkte wie eine Kulisse aus einem Ikea-Prospekt. Das war nicht immer so gewesen, erst seit Sebastian vor einem halben Jahr ausgezogen war. Er und Rebekka hatten sich in der Agentur kennengelernt und waren ein knappes Jahr lang ein Paar gewesen, ehe sie zusammenzogen. Zwei Jahre hatten sie in dieser Wohnung zusammengelebt, bis Sebastian erst den Arbeitgeber und gleich danach die Freundin gewechselt hatte. Rebekka war bis zum Schluss ahnungslos gewesen, dass hinter seinen »Außenterminen« in Wirklichkeit seine Neue steckte, weil sie selbst sowieso immer bis spät in die Nacht in der Agentur geblieben war. Da Sebastian seine Möbel mitgenommen und Rebekka bisher weder die fehlenden Regale noch die Stühle ersetzt hatte, klafften seitdem überall gähnende Lücken, die der Wohnung das Aussehen eines schadhaften Gebisses verliehen.

Rebekka zwang sich jedoch, keinen Gedanken daran zu verlieren – diese drehten sich inzwischen sowieso von früh bis spät um Zahlen und Kalkulationen. Die Zukunft der Agentur war auch ihre, und daher war sie bereit, alles dafür zu tun.

Als sie zum Meeting eilte, begrüßte sie der Seniorchef, Peter van Doorn, ein dynamischer Endfünfziger mit wallendem, schneeweißem Haar und stets so tief gebräunt, als käme er gerade vom Skifahren oder aus der Karibik. »Diese Präsentation für Complete-Fit hat für uns höchste Priorität«, raunte van Doorn vertraulich, als sie den Konferenzraum betraten, »und ich erwarte von Ihnen als Strategin eine Spitzenpräsentation. Sie wissen, da steckt ein Megabudget dahinter.«

Rebekka nickte und spürte den vertrauten Adrenalinstoß, der sie zuverlässiger aufweckte als eine ganze Kanne Espresso. Sie ignorierte das schnelle Pochen ihres Herzens und schaltete den Beamer ein. »Dann wollen wir mal!«

»Da haben Sie aber heute eine toughe Performance geliefert, Frau Winter!« Nach dem vierstündigen Meeting tat van Doorns Anerkennung so gut wie eine warme Dusche nach einem Tausendmeterlauf, auch wenn sie seine Vorliebe für Anglizismen hasste. Rebekka lächelte erschöpft. »Tut mir leid, dass ich dem Juniorchef die Idee mit dem Playmate des Jahres als Model für die Fitnesskette ausreden musste. Die ist für die Kampagne nicht zu bezahlen.« Und mit ihrem Silikonbusen in etwa so geeignet wie ein Kampfhund, der für Tierschutz werben soll, dachte Rebekka.

Der Seniorboss zuckte mit den Schultern. »Nun, über das Budget müssen Sie ja am besten Bescheid wissen, nicht wahr?« In diesem Augenblick bog der Juniorchef um die Ecke und steuerte auf sie zu. Im Gegensatz zu seinem Vater kleidete sich Ralf van Doorn liebend gern »flippig«, weshalb er heute zu einer khakifarbenen Bermuda ein schwarz-weiß-gepunktetes Hemd und Sneakers kombiniert hatte. Auf dem Kopf trug er einen karierten Hut, der zwei Nummern zu klein war und ihm das Aussehen einer Comicfigur verlieh.

Die dunklen Knopfaugen des Juniors musterten Rebekka mit einem undefinierbaren Blick. Hochachtung? Herablassung? »Mit Ihrer Entscheidung haben Sie sich keine Freunde gemacht, Frau Winter.«

»Ich bin nicht für Freundschaften zuständig, sondern fürs Budget«, gab Rebekka zurück und entschwand in ihr Büro, wo eine frische Tasse Kaffee auf sie wartete. Sie verzichtete diesmal auf den Zucker – diesen jungen Schnösel soeben mundtot gemacht zu haben, war süß genug gewesen.

Zu Rebekkas Überraschung stand ein goldgelber Kuchen auf dem Küchentisch, als sie am Abend nach Hause kam. »Hast du etwa gebacken?«, fragte sie Beo Lingen, der in seinem Käfig saß und das nach Zitrone duftende Gebäck gierig beäugte.

»Nein, ich«, sagte Isa hinter Rebekka.

»Isa! Bist du noch einmal gekommen oder war meine Wohnung so schmutzig, dass du immer noch da bist?«

Die junge Frau sah Rebekka ernst an. »Den Kuchen habe ich für dich gemacht. Zum Abschied«, sagte sie leise.

Rebekka starrte sie verständnislos an.

»Meinem Vater geht’s nicht gut, und ich werde für einige Zeit zurück nach Hause ziehen«, erklärte Isa. »Ich habe dir ja erzählt, dass er nach der Operation ziemlich schwach auf den Beinen war – und seit Mamas Tod vor zwei Jahren hat er eben nur noch mich.«

Rebekka erinnerte sich nur vage an Isas Bericht über ihren Vater und musste sich zerknirscht eingestehen, dass sie anscheinend nicht richtig zugehört hatte, als die Studentin von ihm erzählt hatte. Sie wusste nicht einmal, was ihm genau fehlte.

»Natürlich, ich verstehe«, presste Rebekka hervor, obwohl sie am liebsten ihrem Entsetzen freien Lauf gelassen hätte. Sie brauchte Isa! Nicht so sehr für die Sauberkeit ihrer Wohnung, die Studentin war vielmehr zumindest ein Mal die Woche eine willkommene Gesellschaft für den Beo. Und auch Rebekka hatte die lockeren Gespräche mit Isa genossen, denn sie waren eine angenehme Abwechslung zu den harten, faktenbezogenen Diskussionen im Job. Wäre sie nicht so von ihrer Arbeit eingenommen gewesen, hätte sie erkannt, dass Isa einer der wenigen Menschen war, zu denen sie noch regelmäßig Kontakt hatte. Ihre Freundinnen waren entweder verheiratet und bekamen gerade ihr erstes oder zweites Kind, oder sie arbeiteten ebenso viel wie Rebekka. Sie hielten nur noch per WhatsApp und E-Mail Kontakt. Und nun würde auch Isa mehrere hundert Kilometer wegziehen. Die junge Frau sah Rebekka zerknirscht an. »Tut mir leid, dass ich dich so plötzlich hängen lasse, Becky. Aber heute kam sein Anruf …«

»Unsinn! Dein Vater ist jetzt wichtiger als der chaotische Zustand meiner Wohnung und dieser profilneurotische Vogel«, widersprach Rebekka und deutete zum Käfig. Aber insgeheim verstand sie nicht, wie Isa ihr Studium offenbar ohne zu zögern kurz vor dem Abschluss auf Eis legen konnte, um ihren alten Herrn zu pflegen, statt nach einer Lösung zu suchen, die sie nicht wertvolle Berufschancen kosten würde. Doch als Rebekka behutsam vorschlug, Isa bei der Suche nach einem Pflegedienst oder einem Platz in einem Heim für ihren Vater behilflich zu sein, schüttelte die junge Studentin energisch den Kopf.

»Das würde ich nicht übers Herz bringen. Ich fühle mich verantwortlich für meinen Vater. Er hat so viel für mich getan – jetzt bin ich mal dran.«

Rebekka schluckte. Von dieser Seite hatte sie es noch nie betrachtet. Vielleicht deswegen, weil ihr Erzeuger nie etwas für sie getan hatte? Erst war er voll in seinem Job aufgegangen und so gut wie nie zu Hause gewesen, und plötzlich war er für immer verschwunden. Rebekka war ihm nichts schuldig. Und was passieren würde, wenn ihre Mutter einmal Hilfe bräuchte, darüber hatte sie sich ehrlich gesagt noch keine Gedanken gemacht. Zu irgendetwas musste Jürgen schließlich gut sein. Isa riss Rebekka aus ihren Gedanken: »Jetzt muss ich aber wirklich los. Mach’s gut, Becky. Und pass auf dich auf!«

»He, das ist eigentlich mein Text«, sagte Rebekka und drückte Isa beiläufig einen Extraschein in die Hand. »Trink mal in deiner Heimatstadt einen Kaffee auf mich, okay?«

»Das ist aber mehr als einer«, sagte Isa mit erstickter Stimme.

Die zwei Frauen umarmten sich lange. Dann gab es nichts mehr zu sagen, und Rebekka wurde das Herz schwer.

»Aaabschied ist ein schweres Schaf«, krächzte Beo Lingen, und Rebekka musste trotz ihrer Wehmut lachen. »Es heißt ›ein scharfes Schwert‹, du dummes Vieh«, schalt sie den Vogel, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden.

Doch als die Tür hinter Isa zufiel, wusste sie, dass sie mehr als nur eine Putzhilfe verloren hatte. Nun rollten doch ein paar Tränen. Rebekka öffnete die Tür des Vogelkäfigs, und ihr Haustier flatterte sofort heraus. Doch statt wie sonst ein paar Runden durch die geräumige Wohnung zu segeln, landete der Beo auf ihrer Schulter und rieb seinen Schnabel zutraulich an ihrer Schläfe, so als wollte er seinen Menschen trösten.

»Ich heule nicht meinetwegen«, versicherte Rebekka ihm schniefend, »sondern weil du ab jetzt die ganze Woche alleine bist!«

Am nächsten Morgen saß Rebekka gerade vor einer neuen Kalkulation und überlegte, ob sie in der Mittagspause rasch zu Beo Lingen nach Hause fahren sollte, als van Doorn sie in sein Büro rief. »Wir haben den Auftrag für Complete-Fit sang- und klanglos verloren, Frau Winter. Können Sie sich das erklären?« Der Seniorchef musterte Rebekka eisig über seinen Schreibtisch hinweg, der die Ausmaße eines Fußballfeldes besaß.

Obwohl sie wusste, dass jede Präsentation ein Roulettespiel war, fuhr Rebekka die Nachricht wie ein Faustschlag in den Magen.

Ihr Boss funkelte sie an. »Ich hätte nicht auf Sie hören sollen, sondern auf meinen Sohn. Ihre Analysen und Argumente, das war doch alles Bullshit!«

Rebekka zuckte zusammen. So hart war er noch nie mit ihr ins Gericht gegangen. Allerdings hatte die Agentur auch noch nie eine so große Schlappe erlitten.

»Können wir … noch nacharbeiten?«, fragte sie stockend.

»Natürlich nicht! Den Kunden hat sich unser Konkurrent Strategie Plus geschnappt. Und wissen Sie, mit welchem Testimonial?«

»Dem Playmate?«

»Nein! Mit der Gewinnerin von dieser Topmodel-Show! Da hätten wir ja auch mal draufkommen können, oder?«

Hätte, hätte, Fahrradkette, schoss es Rebekka durch den Kopf. Außerdem war es nicht ihre Aufgabe, die passenden Werbegesichter herauszusuchen.

»Ich bin enttäuscht, Frau Winter! Manchmal frage ich mich wirklich, ob Sie unsere Agenturphilosophie verstanden haben.« Mit einer unwilligen Handbewegung schickte ihr Chef sie hinaus. Die Audienz war zu Ende.

Eine Viertelstunde und einen starken Espresso später hatte Rebekka eine To-do-Liste vor sich liegen.

Beruhige dich!Atme!Geh noch mal zum Chef. Sprich mit ihm durch, was schiefgelaufen ist.Entschuldige dich. (Warum eigentlich? Egal!)Zieh einen neuen Kunden an Land!!!

Punkt eins und zwei hatte sie bereits einigermaßen erfolgreich abgehakt. Blieben nur noch drei, vier und fünf – was deutlich schwieriger werden würde. Doch es half nichts. Rebekka schnappte sich die Mappe mit den Complete-Fit Unterlagen und schickte sich an, den Gang nach Canossa hinter sich zu bringen.

Der führte sie allerdings nur bis vor die Toilettentüren. Wie immer, wenn sie aufgeregt war, meldete sich ihre Blase. Das fehlte noch, dass sie auf van Doorns Ledersessel hin und her rutschte, weil sie dringend mal für kleine Werberinnen musste. In fliegender Hast drückte Rebekka die Klinke. Dass sie statt der linken Tür zur Damentoilette, die rechte erwischte, merkte sie nicht. Da alle Toiletten nur mit Kabinen ausgestattet waren – Urinale fand der Juniorchef »so was von Achtziger« – fiel Rebekka ihr Irrtum nicht auf. Doch nachdem sie die Spülung gedrückt und ihren Rock wieder zurechtgerückt hatte, hörte sie die Tür aufklappen und gleich darauf van Doorn »ich habe nicht viel Zeit« sagen. Zuerst hätte Rebekka am liebsten »falsche Tür« gerufen, aber erstens war sie gerade in der denkbar schlechtesten Position, um ihren Vorgesetzten abzukanzeln, und zweitens kam ihr schnell der Verdacht, dass sie die Türen verwechselt haben könnte, denn nun ertönte auch noch die näselnde Stimme des Juniorchefs. »Wie hat sie reagiert?«, fragte er, und obwohl Rebekka ihn nicht sehen konnte, hätte sie wetten können, dass er vor dem Spiegel stand und seinen albernen Hut zurechtrückte.

»Tja. Ich habe ihr gesagt, dass sie unsere Philosophie wohl nicht versteht. Damit war sie erst mal schachmatt gesetzt.«

Rebekka hielt die Luft an. Redeten die beiden Chefs etwa von ihr?

Der nächste Satz von van Doorn junior räumte sämtliche Zweifel aus: »Ich hab dir gleich gesagt, dass ich sie nicht im Vorstand haben will! Du hast sie nicht im Griff und jetzt, wo wir die Bewerbung …«

Den Rest des Satzes konnte Rebekka nicht verstehen, weil der Wasserhahn aufgedreht wurde und das Rauschen die Worte des Juniors übertönte. Inzwischen saß sie mit angezogenen Beinen auf dem geschlossenen Klodeckel, damit man ihre Füße unter dem Türspalt nicht entdeckte, und betete, Vater und Sohn entging, dass eine der Toilettentüren den roten Halbkreis für »besetzt« zeigte. Rebekka würde ihre Tonlage niemals so weit senken können, dass man sie für einen Mann hielt. Raus konnte sie aber erst recht nicht, daher blieb sie notgedrungen hocken. Der Wasserstrahl versiegte.

»… mussten unsere Frauenquote pushen, nach dieser Sache mit dem Sexismusvorwurf! Die Winter zu befördern war die einzige Möglichkeit, einem Shitstorm zu entgehen und keine wichtigen Kunden zu verlieren, das weißt du genau«, sagte van Doorn senior gerade.

Rebekka erinnerte sich nur vage an den Skandal, von dem ihr Chef sprach, weil sie in die Kampagne, die für Aufruhr gesorgt hatte, nicht eingebunden gewesen war. Die Kollegen hatten vor etwa einem Jahr für eine Plakatwerbung eines Knödelteig-Herstellers offenbar das Motiv einer recht freizügig gekleideten Frau und den Spruch »Klöpse statt Möpse« verwendet.

Bei Facebook und Twitter hatte es einen Aufschrei gegeben, vor allem, weil herauskam, dass keine einzige Frau an der Entwicklung der Kampagne beteiligt gewesen war. »Peter van Testosteron« und »Macho-Agentur« waren noch die freundlichsten Bezeichnungen in den Kommentaren gewesen. Zu allem Überfluss war Anna, eine feministische Zeitschrift, darauf aufmerksam geworden und hatte der Agentur ihre Titelgeschichte gewidmet, mit der Überschrift »Kreativität aus der Hose«.

Die Erinnerung und Peter van Doorns Bemerkung fügten sich wie zwei Puzzleteilchen in Rebekkas Kopf zusammen: Sie war also nicht in den Vorstand befördert worden, weil ihre Chefs endlich erkannt hatten, wie gut sie war, sondern als Alibi. Als wollte der Juniorchef das bestätigen, hörte Rebekka ihn sagen: »Du weißt, wer seit Kurzem mein Favorit für den Vorstandssitz ist. Und er hat inzwischen super Kontakte in die Politik. Die nächste große Wahlkampagne ist uns so gut wie sicher!«

ENDE DER LESEPROBE