Der Duft von Grün - Pamela Sharon - E-Book

Der Duft von Grün E-Book

Pamela Sharon

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Beschreibung

Liebe wird aus Mut gemacht Raven ist ein ganz normales 16-jähriges Mädchen, das Geschichten liebt und von der Liebe träumt. Das Einzige, was sie von den meisten Teenagern unterscheidet: Raven ist blind. Doch May-Lin, ihre beste Freundin, erklärt ihr wie Farben riechen und sich anfühlen – mit ihr ist das Leben aufregend und bunt. Mit May-Lin an der Seite scheint für Raven alles möglich. Eines Tages aber geschieht etwas, das Ravens Leben völlig auf den Kopf stellt und alle Farben verschwinden lässt. In einer Welt, die nicht nur ihre Farbe, sondern auch ihren Glanz verloren hat, muss sie ihren eigenen Weg finden – und den Mut, für ihre erste große Liebe über sich selbst hinauszuwachsen. Mit einem ganz eigenen Sound und voller Empathie hat Pamela Sharon Figuren geschaffen, die man nicht so schnell wieder vergisst. ›Der Duft von Grün‹ liegt noch lange in der Luft und schillert beim Lesen von der ersten Seite an.

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Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2024

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PAMELA SHARON

der Duft von Grün

PAMELA SHARON

der Duft von Grün

Aus dem Niederländischenvon Christiane Burkhardt

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Für Oma und alle anderen,

die das Leben bunt machen.

INHALT

VORBEMERKUNG

Teil eins

Eins: GRÜN

Zwei: ROSA

Drei: BLAU

Vier: BRAUN

Fünf: GELB

Sechs: GRAU

Sieben: ROT

Teil zwei

Acht: SCHWARZ

Neun: SCHWARZ

Zehn: LILA

Elf: WEISS

Zwölf: WEISS

Dreizehn: SCHWARZ

Vierzehn: ORANGE

Fünfzehn: GRAU

Sechzehn: ROT

Siebzehn: ORANGE

Teil drei

Achtzehn: ROSA

Neunzehn: ROT

Zwanzig: WEISS

Einundzwanzig: LILA

Zwei und zwanzig: ROT

Drei und zwanzig: BLAU

Vier und zwanzig: LILA

NACHBEMERKUNG

DANK

DAS BRAILLE-ALPHABET

Leseprobe

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

VORBEMERKUNG

Die Welt hat die Farben, die wir ihr zuschreiben. «Blauer Brief» zum Beispiel oder «Rosarote Brille». Meine Welt ist schwarz. Die meisten werden sagen, dass Schwarz gar keine Farbe ist, aber da täuschen sie sich.

Ohne Schwarz fehlt es an Tiefe. Schatten entstehen erst, wenn man sie aus den Farben ihrer Umgebung mischt. Schwarz ist also unverzichtbar, um die Welt wahrzunehmen, dem Leben richtig Farbe zu verleihen. Erst wenn man echtes Schwarz erlebt hat, weiß man die Farben wirklich zu schätzen, weiß man, welche Rolle das Licht spielt.

Mein Schwarz ist das Schwarz von Tinte, Ruß oder Pech. Ein Schwarz, das bedeutet, nichts sehen zu können und damit leben zu müssen.

Bis sie in mein Leben trat.

Teil eins

eins

GRÜN

Grün ist meine absolute Lieblingsfarbe. Das Grün von frisch gemähtem Gras, vom Zirpen der Grillen in unserem Garten oder vom ohrenbetäubend lauten Quaken der Frösche im schlammigen Wassergraben hinterm Haus. Der Geschmack von Minze und frischen Äpfeln.

Grün ist die Farbe des Neuanfangs, wir können grünes Licht geben oder uns grün und blau ärgern. Wir können grün im Gesicht oder grün vor Neid sein. Grün gibt mir das Gefühl, diejenige sein zu dürfen, die ich sein will. Alles ist möglich, wenn man an persönliches Wachstum glaubt. Lauter neue Möglichkeiten und Chancen, versteckt zwischen Gelb und Blau. Der Pulli, den ich heute aus dem Schrank gezogen habe, ist grün. Das weiß ich, weil ich ihn mit meiner Mutter gekauft habe und sie ständig gesagt hat, dass er meine Augen noch grauer wirken lässt, als sie es ohnehin schon sind. Es ist ein Wollpulli, der sich ganz weich anfühlt und mich gegen die Kälte schützt – jetzt, wo der Winter auch noch das letzte Grün vertrieben hat.

Ich versuche darin zu verschwinden, als ich aus Mutters Auto steige.

«Denk dran, Liebes, Schule heißt Zukunft …»

«… und dafür muss ich mich anstrengen», beende ich ihren Satz.

Sie nickt. Zumindest in meiner Fantasie. Ich schlage die Autotür zu, höre, wie die Scheibe heruntergelassen wird und drehe mich seufzend um.

«Es gibt Nudeln, also sieh zu, dass du pünktlich nach Hause kommst.» Als wären Nudeln ein wichtiger Grund, pünktlich nach Hause zu kommen!

«Ja, Mama.»

Dann höre ich das Auto endlich davonfahren. Ich kann problemlos allein zur Schule gehen und mir das Pausenbrot selbst schmieren, das sie mir in den Ranzen gesteckt hat. Aber weil sie so übertrieben besorgt um mich ist, besteht sie darauf, all das für mich zu tun, so als hätte sie Angst, überflüssig zu werden, wenn ich mir mein Brot selbst mache. Jeden Morgen bringt sie mich mit dem Auto zur Schule. Wir wohnen gerade mal zwanzig Minuten fußläufig entfernt. Nach der Schule nehme ich sowieso immer den Bus, weil meine Mutter da noch arbeiten muss. Trotzdem besteht sie darauf, mich jeden Morgen zu fahren, damit sie sich sicher sein kann, dass ich pünktlich zum Unterricht komme.

Stattdessen bin ich viel zu früh dran. Eine halbe Stunde zu früh, um genau zu sein. Es ist noch still. In ungefähr dreißig Minuten wird sich der Raum mit dem Stimmengewirr unzähliger Jugendlicher füllen.

Obwohl ich auf eine kleine Schule gehe, ist der Raum, in dem ich mich jetzt befinde, ziemlich groß. Die Tische sind zusammengeschoben, werden aber manchmal umgestellt, weshalb ich sie ertasten muss, um meinen Weg zu finden – Tische, in die jemand Ich liebe Melanie und Ich hasse Herrn Lindenboom geritzt hat, dann den mit der angestoßenen Ecke, weil er direkt am Gang steht. Ich kenne sie alle. An der Wand befindet sich eine große Pinnwand, daran hängt ein Gruppenfoto von allen, die letztes Jahr abgegangen sind. Noch ein Jahr, dann werde ich ebenfalls dort hängen. Nicht, dass ich das sehen könnte, aber egal. Die Aussicht, diese Schule hinter mir lassen und ein neues Leben beginnen zu können, macht den Unterricht und die Hausaufgaben ein bisschen erträglicher. In der Ecke steht der Snackautomat, an dem May-Lin und ich unsere Sucht nach M&M’s befriedigen.

May-Lin kann Grün nicht ausstehen. Aus ihrer Sicht ist das die Farbe von Schnodder, der einem bei Schnupfen aus der Nase läuft.

Sie hat mir mehrfach erklärt, dass Grün definitiv keine angesagte Farbe ist. Normalerweise interessiere ich mich nicht dafür, was angesagt ist und was nicht, aber May-Lins Meinung interessiert mich schon. Lins Lieblingsfarbe ist Lila, und sie spricht ständig darüber. Die meisten Leute finden etwas cool, mega oder geil. Lin findet es lila. Ich höre, wie sich die Stimmen unserer Mitschüler ändern, wenn sie mit ihr reden. Sie klingen dann ein winziges bisschen erwachsener, und ich stelle mir vor, dass sie sich wichtig machen, ja Eindruck bei ihr schinden wollen.

Mein Telefon piept, und ich stecke die Kopfhörer rein, um die gerade eingetroffene Sprachnachricht abzuhören. Die roboterartige Stimme der Sprachfunktion hallt in meinem Kopf wider. Es ist eine Nachricht von May-Lin, die mich daran erinnert, dass wir die letzten beiden Stunden schwänzen wollen, weil ich versprochen habe, mit ihr shoppen zu gehen. Und daran, dass ich auf keinen Fall diesen eklig-grünen Pulli tragen soll, den ich mit meiner Mutter gekauft habe. Ich streiche über den eklig-grünen Pulli und muss grinsen. Tut mir leid, Lin, zu spät.

Ich weiß, dass meine Mutter alles andere als glücklich ist über meine Freundschaft mit May-Lin. Vor allem die Anrufe der Schule, weil Lin und ich so oft schwänzen, treiben sie zur Verzweiflung. Das Leben meiner Mutter dreht sich überwiegend um mich. Nach der Trennung meiner Eltern war ich alles, was sie noch hatte. Manchmal vergisst sie, dass Freiräume nötig sind, wenn man wachsen soll, dass ich meine eigenen Fehler machen muss.

Mit einem Becher Tee in der Hand unterhalte ich mich kurz mit Mevrouw Hart, die die Schulkantine leitet, und nach und nach füllt sich der Raum mit Stimmen. Gleich fängt die erste Stunde an. Schnell trinke ich meinen Tee und werfe den Becher weg. Ich frage mich gerade, wo Lin bleibt, als ich sie auch schon hinter mir höre.

«Ah, das bist du ja, du Bitch!»

Sie brüllt mir die Worte ins Ohr und umarmt mich, als hätten wir uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, dabei ist es erst gestern gewesen. Ich versetze ihr einen Stoß, und sie lässt rasch wieder los. Seit Neustem macht sie sich einen Spaß daraus, mich zu erschrecken, was ihr allerdings nur selten gelingt. Mein Gehör nimmt Dinge wahr, die anderen gar nicht auffallen. Laut Lin habe ich Ninja-Skills, mit denen ich echt was machen sollte: bei der Armee arbeiten oder so.

«Ich freu mich auch, dich NICHT zu sehen», scherze ich sarkastisch, während Lin meine Hand nimmt und wir zusammen zum Klassenzimmer gehen, in dem die erste Stunde stattfindet.

Ich höre das vertraute Knarzen der Stühle, Füße, die ihrem Platz zustreben. Lin flüstert mir zu, dass ganz rechts in der zweiten Reihe noch ein paar Tische frei sind. Mit den Fingerkuppen fahre ich über die Plätze, bis ich den Ort erreicht habe, den May-Lin mir genannt hat. Vor mir sitzt ein Junge aus der Fußballmannschaft, ich rieche sein Deo, Erde und Gras. Er schaut mich an. Ich spüre seinen Bick auf mir und lächle ihm zu. Die Lehrerin an der Tafel räuspert sich, und ich entnehme dem Knarzen des Stuhls vor mir, dass sich der Junge rasch umdreht und über sein Heft beugt. Ich tue es ihm gleich. Ich arbeite meist auf meinem Laptop mit Braille-Display. Meine Schulbücher werden in spezielle Dateien umgerechnet, damit ich sie darauf lesen kann. Manche Bücher gibt es auch in Brailleschrift, aber weil die oft sehr dick und blöd zu transportieren sind, benutze ich lieber meinen Laptop. Die Lehrkräfte wandeln die Schulaufgaben meist so für mich ab, dass ich sie problemlos auf dem Laptop machen kann. Wenn ich mit anderen zusammenarbeite, geben wir immer zwei verschiedene Versionen ab, meine Datei und eine Papier-Version.

Die Stimme der Lehrerin entführt mich in eine Welt aus Zahlen und Formeln. Ich liebe Mathe. Manchmal wünsche ich mir, alles würde aus Zahlen bestehen. Es wäre so viel übersichtlicher, wenn sich die Welt aus nichts als Formeln zusammensetzen würde! Wäre es nicht praktisch, den Charakter eines Menschen berechnen zu können? May-Lin hasst Mathe und sitzt stöhnend neben mir, sodass es mir schwerfällt, mich auf die Lehrerin zu konzentrieren.

«Darren sieht richtig gut aus heute. Er hat sich die Haare schneiden lassen, sie sind jetzt kurz. Nicht raspelkurz, aber so, dass sie ihm nicht mehr übers Ohr fallen.»

«Genau wie Kylen», flüstere ich, während meine Finger über das Braille-Display meines Laptops gleiten, um eine Anmerkung zu machen.

«Hä? Woher weißt du das schon wieder?», fragt sie dermaßen laut, dass es bestimmt die ganze Klasse mitkriegt. Ich ramme ihr den Ellbogen in die Seite.

«Psst! Weil Sylvia gerade zu ihm gesagt hat, wie gut ihm kurze Haare stehen», flüstere ich ihr zu.

«Meine Güte, Raaf, du solltest Detektivin werden.»

«May-Lin und Raven! Konzentriert euch bitte!» Die Stimme der Lehrerin hallt streng durchs Zimmer. Erschreckt beugen wir uns wieder über die Aufgabe, und fürs Erste besteht die Welt ausschließlich aus komplizierten Mathe-Formeln.

Der Vormittag ist im Nu vorbei, und in der Mittagspause suchen wir uns einen Platz in der überfüllten Kantine. Es riecht nach belegten Broten und Limonade. Ein vertrauter Duft, den ich mit May-Lins Freunden und Freundinnen in Verbindung bringe, mit denen wir immer gemeinsam essen. Sie sagt, das seien auch meine Freunde und Freundinnen, nur dass es sich für mich nicht immer so anfühlt. Für sie bin ich nicht Raaf, sondern die Blinde. Ich habe längst resigniert. Nicht so Lin. Sie reagiert immer noch heftig, wenn jemand eine blöde Bemerkung über meine Behinderung macht, wodurch sie erst recht betont, dass ich anders bin als sie, ja als alle anderen auf dieser Schule. Natürlich merkt sie das gar nicht, May-Lin merkt nie etwas, die macht einfach, ohne groß nachzudenken. Als alle aufstehen, um zur nächsten Stunde zu gehen, trödeln Lin und ich ganz bewusst. Wir sind inzwischen Profis im Schwänzen und wissen nur zu gut, dass man niemanden einweihen darf. Je weniger Zeugen desto besser. Als die Kantine endlich so gut wie leer ist, schlendern wir so lässig wie möglich zum Ausgang.

«Vielleicht sollte ich mal den ersten Schritt machen, was Kylen betrifft. Ich bin jetzt schon so lange Single», seufzt Lin dramatisch.

Gemeinsam verlassen wir das Schulgebäude. Hand in Hand, damit ich den Stock, den ich so unglaublich hasse, in meiner Tasche lassen kann.

«Das halte ich für keine gute Idee. Hast du etwa vergessen, dass Sylvia und er wieder zusammen sind?» Ich bin stolz auf meine kluge, verantwortungsbewusste Antwort und fühle mich wie eine echt gute Freundin. May-Lin drückt meine Hand, um mir zu zeigen, dass sie natürlich Bescheid weiß.

«Sylvia ist langweilig, sogar du in deinem eklig-grünen Pulli, den du doch auf keinen Fall anziehen solltest, bist spannender als Sylvia.»

«Danke für das Kompliment», sage ich beleidigt, während ich meinem Pulli insgeheim zuflüstere, dass er ganz toll ist.

An einer Ampel bleiben wir stehen, und ich lausche auf das Signal. Als die Abstände der Pieptöne kürzer werden, überqueren wir die Straße. Ich rieche Abgase und weiß, dass wir gleich die Innenstadt erreichen. May-Lin hat ein Entschuldigungsschreiben ihrer Mutter gefälscht, in dem steht, dass sie zum Zahnarzt muss, und ich tat so, als hätte ich schreckliche Migräne. Dass ich noch nie im Leben Migräne hatte, können die in der Schule ja nicht wissen.

«Du weißt genau, wie ich das meine! Sylvia – die ist wie der Geruch von Wasser in einem Graben, so ein abgestandener Geruch, leicht angeschimmelt. Nicht wirklich unangenehm … aber eben auch nicht wirklich gut.»

Ich nicke. Ich weiß genau, was sie meint.

«Du bist Vanille mit einer Prise Zimt», sagt Lin zufrieden.

«Klingt geil.»

«Du bist auch geil.»

Ich grinse. Meine Mutter würde mich nie auf die Straße lassen, wenn sie das Gefühl hätte, andere könnten mich geil finden. Wenn es nach meiner Mutter geht, bin ich eine klassische Schönheit – na ja, was Mütter ihren Töchtern halt so sagen. Ich weiß, dass ich blond bin und dass mein Gesicht von glattem Haar umrahmt wird, oft binde ich es mir zum Pferdschwanz. Ich bin größer als May-Lin, aber kleiner als mein Bruder Brent. Ich habe lange Arme und Beine, sodass meine Ärmel stets zu kurz sind und meine Hosen ständig Hochwasser haben. Keine Ahnung, ob ich dem gängigen Schönheitsideal entspreche, aber das ist mir auch ziemlich egal. Vanille mit einer Prise Zimt genügt vollkommen.

«Kyona zieht endlich aus. Sie hat in Leiden ein Zimmer gefunden und dank der Ersparnisse meiner Eltern kann sie die drei Monatsmieten Kaution bezahlen. Hoffentlich krieg ich dann endlich ihr Zimmer, und hoffentlich sparen sie auch für meinen Auszug.»

Ich runzle die Stirn. «Hast du das nicht erst vor zwei Monaten gesagt?»

«Meine Güte, heute entgeht dir aber auch gar nichts!» Sie versetzt mir einen Stoß. «Damals war das mit den Finanzen noch nicht geklärt. Aber jetzt hat es geklappt.»

Ich nickte verständnisvoll, um zu zeigen, dass ich auf ihrer Seite bin. May-Lin wohnt mit ihren Eltern und ihrer Schwester über dem Optiker in der Stadt. Es ist eine kleine Wohnung, in der die Familie mit Müh und Not Platz findet. Die Male, die ich dort war, kann ich an zwei Händen abzählen. Sie hasst ihr Zuhause. Die meiste Zeit hängen wir draußen oder in meinem Zimmer ab. May-Lins Schwester Kyona studiert Biopharmazie. Laut Lin lernt sie, warum Leute krank werden und warum man sie doch nicht heilen kann, weil die Medikamente zu teuer sind. Die beiden verstehen sich nicht besonders. Lin redet nicht viel über ihr Verhältnis und ich hake nicht nach, weil sie da vermutlich empfindlich ist.

Wir betreten ein großes Kaufhaus, wo wir uns lange in der Kosmetikabteilung aufhalten. Die glatten Verpackungen fühlen sich gut an und ich liebe die wiedererkennbaren Formen. Nach einer heftigen Diskussion überredet mich Lin, einen pfingstrosenfarbenen Lippenstift zu kaufen. Ich schminke mich nur selten, aber laut Lin sehe ich mit Makeup zehnmal besser aus. Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist. Aber ich weiß, dass es mir Spaß macht, mich schön zu machen, und dass ich langsam richtig gut darin werde. Laut Lin zumindest. Womit sie recht haben dürfte, wenn man bedenkt, dass ich mir beim ersten Mal Lippenstift auf die Nase geschmiert habe. Wir schlendern noch etwas herum und als wir keine Lust mehr haben, gehen wir zur Kasse. Lin wirkt irgendwie nervös und ich spüre, dass was nicht stimmt. Als ich sie darauf anspreche, streitet sie alles ab. Obwohl sie sich bemüht, lässig zu reagieren, ist die Gereiztheit in ihrer Stimme nicht zu überhören. Ich weiß auch, dass es keine gute Idee ist, sie jetzt darauf hinzuweisen, deshalb halte ich den Mund und tu wie wenn nichts wäre.

Als wir zahlen, merke ich, dass sie nervös mit den Füßen scharrt. Da zähle ich eins und eins zusammen und kann es kaum fassen. Wir haben schon öfter Dinge getan, die wir lieber nicht hätten tun sollen, aber geklaut haben wir noch nie. Ich drehe mich zu ihr und schaue sie stirnrunzelnd an. Eigentlich müsste ich jetzt etwas sagen, aber stattdessen zahle ich brav meinen Lippenstift, während mir das Herz bis zum Hals schlägt. Bestimmt sieht man mir schon von Weitem an, dass hier etwas faul ist.

Die Frau an der Kasse sagt freundlich Auf Wiedersehen, und ich bekomme erst recht ein schlechtes Gewissen. So schnell wie möglich taste ich mich zum Ausgang. Was nicht besonders gut klappt, sodass May-Lin mir ihre Hilfe anbietet und versucht, meine Hand zu nehmen.

«Ich brauch deine Hilfe nicht!», herrsche ich sie an und stoße ihre Hand weg. Weil ich es so eilig habe, remple ich jemanden an. Ohne nachzudenken, lasse ich die Hände über das Gesicht der Person gleiten. Ich höre, wie Lin hinter mir die Luft anhält, ignoriere sie aber. Es ist ein junger Mann, sein Gesicht fühlt sich glatt und zart an, er dürfte kaum älter sein als ich. Er ist ein Stück größer und hat dickes, halb langes Haar, das ihm schräg in die Stirn fällt. Er ist in eine Duftwolke aus Farbe und Terpentin gehüllt. Er weicht zurück, und mir fällt auf, dass ich mitten in einem Geschäft einen Wildfremden abtaste. Sofort ziehe ich die Hände zurück. Was um alles in der Welt mache ich da? Ich muss hier weg!

«Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du … Ich meine, entschuldige, ich hab dich nicht gesehen.» Während ich das stammle, merke ich, wie ich rot werde. Der junge Mann vor mir bewegt sich, denn ich nehme wieder diesen Duft von vorhin wahr.

«Kein Problem, so eine Wirkung auf Frauen hab ich oft.» Er wartet auf eine Reaktion, und als die ausbleibt, spricht er weiter. «Dass sie mich anfassen wollen, meine ich.»

Würde mich die ganze Situation nicht so überfordern, hätte ich das vielleicht sogar lustig gefunden. Jetzt will ich bloß noch weg. Tastend drehe ich mich um und verlasse schnellstmöglich das Geschäft.

Als wir in sicherer Entfernung zum Kaufhaus sind, bleibe ich stehen.

Ich bin wütend.

«Was war das denn für eine Scheißaktion!», brülle ich. Dass ich höre, wie Leute abrupt stehen bleiben, um zu schauen, was da los ist, ist mir egal.

«Psst, nicht so laut!» May-Lin hält mir den Mund zu. «Nicht, dass uns der Typ nachgekommen ist.»

«Der Typ? Welcher Typ?», murmle ich in ihre Hand hinein. Endlich nimmt sie sie weg.

«Der Typ, den du angerempelt hast. Ich glaube, du hast ihm gefallen.»

Ihre Ungerührtheit ärgert mich. Für sie scheint das alles nur ein Witz zu sein. Stehlen ist kein Witz, und das soll sie gefälligst wissen.

«Mir doch egal, wie der aussieht, ich hab so oder so nichts davon. Warum hast du was mitgehen lassen? Bist du jetzt total durchgeknallt?»

«Ja, ich bin total durchgeknallt, warum sollte ich mich sonst mit dir abgeben?», schnauzt sie mich an.

Ihre Worte verletzen mich mehr als ich zugeben will.

«Dann hau doch einfach ab! Niemand hat dich gebeten, den Blindenhund zu spielen.»

May-Lin schnaubt kurz auf, dann höre ich, wie sie geht.

«Ja, genau, geh nur, ich brauch dich wirklich nicht!», brülle ich mitten auf der Straße und versuche die Umstehenden zu ignorieren.

Ich lüge, natürlich brauche ich sie. Wir stehen mitten auf einer belebten Einkaufsmeile und wegen des Adrenalins, das gerade durch meine Adern strömt, habe ich keine Ahnung, wo ich bin. Jemand rempelt mich an, und beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren. Ich muss mich auf die Umgebungsgeräusche konzentrieren, aber das klappt nicht. Meine Wut bewirkt, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Ich balle die Fäuste, bohre mir die Fingernägel in die Handballen. Der Schmerz beruhigt mich etwas, ich versuche, tief einzuatmen. Es ist schon eine Weile her, dass ich mich so ohnmächtig gefühlt habe, ich hasse das. Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, bis ich wieder ihre Stimme höre.

«Es tut mir leid.» Es ist kaum mehr als ein Flüstern.

Ich wende mich den Worten zu und spüre ihren warmen Atem.

«Du hast mich stehen lassen.» Ich versuche neutral zu klingen, allerdings ohne großen Erfolg.

Mein Vorwurf steht zwischen uns. Sie bleibt still, was eher selten vorkommt. Rasch finden meine Finger ihr Gesicht, und ich spüre ihre Tränen. Noch nie zuvor habe ich sie zum Weinen gebracht, im Nu ist meine Wut verflogen.

«Alles ist so verkackt, Raaf, du hast ja nicht die geringste Ahnung! Meine Eltern interessieren sich einen Scheiß für mich. Sie interessieren sich bloß für Kyona, das ganze Geld geht für ihr Studium drauf. In mich zu investieren, bringt ja nichts – in eine Tochter, die sowieso alles in den Sand setzt. Sie haben mich gewarnt, aber ich wollte ja nicht hören.»

Ich lasse ihre Worte auf mich wirken, nehme ihre warmen Hände in meine.

«Das sind deine Eltern, Lin, die werden dich nie im Stich lassen, egal, was du tust.»

Sie schüttelt mich ab, und unser Streit sorgt dafür, dass wir uns kurz gegenüberstehen.

«Du hast leicht reden. Du bist blind. Deine Eltern werden immer für dich da sein, ganz einfach weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Niemand überlässt eine Blinde einfach so ihrem Schicksal.»

Ihre Worte tun mir weh. Sie hat wie immer recht, aber gern höre ich das trotzdem nicht. Ich weiß ihre Aufrichtigkeit zu schätzen, aber jetzt hasse ich sie dafür.

«Hättest du mir einfach bloß was gesagt, Lin, dann hätte ich dir Geld leihen können.»

Sie schüttelt den Kopf und macht einen Schritt nach vorn. Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter.

«Nein. Ich brauche deine Hilfe nicht.»

Ich deine aber schon.

Ihre Worte füllen meinen Kopf, und kurz sorgt diese Erkenntnis dafür, dass ich kaum noch Luft bekomme. Unsere Freundschaft wird nie auf Augenhöhe sein können, und das wissen wir beide. Sie erschreckt über ihre Worte. Die Wärme ihrer Hand überträgt sich auf meine Schulter. Ich streife sie ab und laufe los – egal, wohin, Hauptsache ich komme von hier weg.

zwei

ROSA

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, sehen zu können. Zu wissen wie jemand aussieht, der zu einer bestimmten Stimme gehört, oder wie es ist, Bilder im Kopf zu haben statt sie durch Gefühle und Geräusche zu ersetzen. Ich sehe die Welt auf meine Art, größtenteils mit Hilfe meiner Hände, durch das, was ich fühle, aber auch in meinem Kopf, in dem Bilder entstehen, die auf Erinnerungen beruhen. Ein Tisch kann sich gebraucht anfühlen und dadurch Erinnerungen an die stinklangweilige Biologiestunde wachrufen, als wir an alten Tischen mit zerkratzten Tischplatten saßen. Eine Tischdecke auf demselben Tisch weckt wieder ganz andere Erinnerungen wie die an das Weihnachtsessen, das wir mal hatten. Jeder Gegenstand erzählt eine Geschichte.

Ich weiß, dass es nichts bringt, darauf zu hoffen, selbst sehen zu können. May-Lin ersetzt meine Augen. Durch sie kann ich sehen. Und jetzt haben wir Streit, und nichts ist mehr so wie zuvor. Die Welt um mich herum hat an Farbe verloren, und die fehlt mir.

Ich habe das ganze Wochenende nichts von ihr gehört, und tief in meinem Innern ist da dieses nagende Gefühl, das mir sagt, ich hätte nicht so streng mit ihr sein dürfen. Sie ist doch meine Freundin! Und Freundinnen halten zusammen, auch wenn die andere im Unrecht ist.

Frustriert schlage ich das Bucket Book auf, das mitten auf meinem Bett liegt – ein Buch, in dem Lin und ich notieren, was wir alles gemacht haben und noch machen wollen. Sie in ihrer schlampigen Schrift und ich mit einem Stift, den ich so fest aufdrücke, dass die Buchstaben zu ertasten sind. Das Buch ist knallrosa, es hat die Farbe von klebriger Zuckerwatte und süßem Kaugummi, der einem vorm Gesicht platzt, wenn man zu große Blasen bläst. In der Grundschule war das noch meine Lieblingsfarbe, hauptsächlich weil fast alle Mädchen Rosa-Fans waren und ich mich in Rosa wie eine Prinzessin gefühlt habe. Nie werde ich vergessen, wie traurig ich war, als mein rosa Tutu in der Wäsche kaputtging. Ich liebte es, den weichen Tüll an meinen Beinen zu spüren. Für mich war Rosa das Höchste für ein Mädchen, bis Lin mich darauf hinwies, dass ich nicht in solchen Klischees denken soll, dass alle Rosa tragen können. Dass meine Wahrnehmung von Rosa zwangsläufig von meinem Umfeld geprägt ist und ich deshalb nicht wissen konnte, dass Rosa offenbar ein Streitthema ist, wenn es um die Geschlechter geht, hat sie einfach ausgeklammert. Meine Vorliebe für Rosa hat jedenfalls mit der Zeit nachgelassen und ist der für Grau und Schwarz gewichen. Mit einer Ausnahme: Grün. Grün wird immer meine Lieblingsfarbe sein – da kann Lin die Farbe so scheußlich finden, wie sie will.

Dennoch freue ich mich insgeheim darüber, dass unser Bucket Book rosa ist. An die Farbe Rosa habe ich viele schöne Erinnerungen. Mit dem Buch haben wir schon in der Grundschule begonnen, und inzwischen ist ein dickes Album daraus geworden. Schon lustig, zu lesen, wie sehr wir uns beide verändert haben. Ich bin längst nicht mehr in Sebastian verliebt (sein Vater war Geschäftsführer bei McDonald’s!), und May-Lins Wunsch, Delfintrainerin zu werden ist «Jetzt mach ich erst mal meinen Abschluss und dann sehen wir weiter» gewichen. Träume haben wir immer noch, auch wenn es jetzt ganz andere sind. Irgendwann werden wir gemeinsam um die Welt reisen. Dann wird mir May-Lin beschreiben, wie der Eiffelturm aus der Nähe aussieht, während wir auf den Champs-Elysées Macarons essen. Oder wir gehen in Afrika auf Safari, schlafen dort in Zelten und bleiben bis spät in die Nacht wach, um auf die Tiere zu lauschen. Wir waren beide noch nie im Ausland. Ich nicht, weil meine Mutter das viel zu gefährlich findet, und Lin nicht, weil ihre Eltern für so was kein Geld haben.

Freundinnen fürs Leben.

Das haben wir beide in unserer jeweiligen Schrift notiert, darunter befinden sich unzählige Herzchen. Ich streiche über die Seite, über die Worte, die schon so lange dort stehen. Das erinnert mich daran, wie ich Lin zum ersten Mal begegnet bin. Ich weiß noch gut, dass ich mich bei ihr sofort wohlfühlte. Für sie war ich kein Freak, sie hat sofort gesehen, wer ich wirklich bin. Jemand mit Behinderung, der jedoch prima klarkommt – niemand, der nur seine Behinderung ist. Freundinnen fürs Leben – das waren die ersten Worte, die wir in unser Buch schrieben.

Ich bin noch immer wütend auf sie, trotzdem weiß ich, dass ich ohne sie aufgeschmissen wäre. Nicht nur weil sie mich die Welt sehen lässt, sondern vor allem weil sie meine beste Freundin ist. Ich nehme den Laptop und öffne ein neues Dokument. Alle Worte, die in meinem Kopf gefangen waren, landen auf dem Bildschirm und werden von der Sprachfunktion meines Laptops vorgelesen. Ich habe mir beigebracht, blind zu tippen, aber am liebsten benutze ich das Braille-Display, weil ich es einfacher in der Anwendung finde. Die Sprachfunktion benutze ich in der Schule gar nicht, weil es mich bloß durcheinander bringt, wenn ich auf die Stimme meines Laptops und auf die vor der Klasse hören muss.

Das Klackern der Tastatur beruhigt mich. Ich schreibe, was in der Stadt passiert ist, ich schreibe, wie ich mich gefühlt habe, als sie mich stehen ließ, und ich schreibe, dass ich mir wünsche, nicht so abhängig von ihr zu sein. Ich schreibe, was wir uns gesagt haben, aber auch das, was ich bisher noch nie laut ausgesprochen habe. Erst als ich mir sicher bin, dass mein Kopf leer ist, klappe ich den Laptop wieder zu. Erleichterung überkommt mich.

Ich greife zum Handy und rufe sie an.

drei

BLAU

Ich liebe alle Farben um mich herum, auch wenn die meisten glauben, dass ich sie gar nicht wirklich sehen kann. Jede Farbe fühlt sich anders an und das zu spüren, liebe ich. Rote M&M’s beispielsweise mag ich am liebsten, weil Rot einem so ein warmes Gefühl gibt. Alle sagen ständig das wäre Unsinn, weil alle M&M’s genau gleich schmecken. Kann gut sein, aber nicht in meiner Welt – in meiner Welt hat jede Farbe einen anderen Geschmack und Geruch. Grün beispielsweise riecht nicht so wie Gelb. Laut Lin ist Blau die Farbe, der ich am meisten ähnle. Mal bin ich ein wolkenloser blauer Himmel und alles ist bestens. Doch dann kann ganz plötzlich ein Unwetter aufziehen und man muss sich in Acht nehmen. Blau lässt sich leicht in Gefühlen und Geräuschen ausdrücken: Es ist das ruhige Tropfen eines Wasserhahns und das Prasseln von Regen. Blau ist so kühl wie Wasser und genauso unvorhersehbar. Ein strahlend blauer Himmel kündigt schönes Wetter an, tiefblaues Wasser kann gefrieren und zu Eis werden.

Die meisten Menschen nehmen Farbunterschiede mit den Augen wahr, ich hingegen erkenne sie an dem, was Lin mir alles darüber erzählt hat. Lin hilft mir, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Natürlich kann ich das nicht wirklich, aber dank ihr weiß ich, wie die Dinge ausschauen. Beim Fußball rennen elf Männer in kurzen Hosen hinter einem Ball her und foulen sich, weil das offensichtlich dazugehört. Sie erzählt mir auch, dass der Hauptdarsteller unserer Lieblingsserie ein sexy Lachen und einen großen runden Kopf hat – solche Sachen.

«Cool, was?», ruft der Typ neben mir zum dritten Mal, als wäre die Botschaft nicht längst angekommen. Er hüpft wie verrückt auf und ab, sodass er mich fast zu Boden stößt. Ich kann mich gerade noch an jemandem, der in diesem Moment vorbeikommt, festhalten, werde angeschnauzt, ich solle meine Pfoten gefälligst bei mir lassen.

«Na ganz toll!», rufe ich sarkastisch, aber der hüpfende Typ hat sein Interesse an mir bereits wieder verloren.

Die Musik lässt mein Trommelfell vibrieren. May-Lin und ich sind in einem Klub in der Innenstadt, auf einem Special Dance Event für einen guten Zweck. Den hüpfenden Typen neben mir kenne ich im Grunde kaum und eigentlich habe ich auch nicht das Bedürfnis, ihn näher kennenzulernen. Seit wir hier sind, hat er die ganze Zeit von einem Freund geredet, auf den er vermutlich ein Auge geworfen hat. Ich scheine ein Teil seiner «Schaut, ich mag durchaus auch Mädchen»-Phase zu sein, und obwohl ich überhaupt kein Problem damit habe, hätte ich auch nichts dagegen, wenn er jemand anders volllabern würde. May-Lin hat ihn in letzter Minute eingeladen, weil ich mich auf keinen Fall einsam fühlen soll – jetzt, wo sie einen neuen Freund hat. Meinetwegen hätte er gut und gern zu Hause bleiben können. Ich nehme einen großen Schluck von meiner Cola Light und lausche den lauten Beats irgendeines bekannten DJs. Es war wirklich nicht leicht, meine Mutter zu überreden, dass ich mitdarf. Sie hat zwei Mal beim Veranstalter angerufen, um sich davon zu überzeugen, dass das wirklich ein Lokal für junge Leute ist – nicht auszudenken, ich würde einen Volljährigen kennenlernen! Außerdem wollte sie wissen, ob es auch ein behindertengerechtes Lokal ist. Ich habe mich möglichst vorbildlich benommen, damit ich nicht wegen Hausarrest daheim bleiben muss. Irgendwann hat sie dann Ja gesagt – unter dem Vorwand, dass sie mich hinfährt und auch wieder abholt. Daraufhin habe ich verlangt, dass Lin auch mitfährt, um mich nicht als Einzige lächerlich zu machen.

May-Lin hüpft begeistert mit Kylen zur Musik auf und ab, der hat Sylvia endlich sitzen lassen und kümmert sich zu meiner großen Verärgerung ausschließlich um Lin, so als gäbe es mich gar nicht. Von allen Typen an der Schule scheint Kylen am besten auszusehen. Ich finde ihn total nervig, weil er Lin ständig von seiner Frisur, seiner neuen Jeans oder seinem Mofa erzählt. Er riecht nach Haargel und einem Herrenduft, den er bestimmt von seinem Vater geklaut hat. Obwohl es schon einige Wochen her ist, hat Lin immer noch Angst, ich könnte böse auf sie sein, deshalb versucht sie, mir alles recht zu machen. Ab und zu ruft sie begeistert, wie schön es hier ist, und holt mir Getränke, für die sie Kylen zahlen lässt. Ihre Stimme wird jedes Mal unnatürlich hoch, wenn sie eine Frage an mich richtet. Daran merke ich, dass unser Streit sie nach wie vor beschäftigt. Insgeheim finde ich, dass sie es verdient hat.

«Willst du noch was trinken?»

Lin gibt nicht so schnell auf, und das macht sie durchaus anstrengend. Ich schüttle den Kopf und lausche auf die Umgebungsgeräusche. Leute, die sich anschreien, weil sie sich sonst nicht verstehen. Schuhe, die dumpf auf dem Boden landen, dazu der Beat, der von den Wänden widerhallt und so die Menschenmenge erreicht. Ich muss auf die Toilette und entschuldige mich bei «Cool, was», der mich inzwischen gar nicht mehr wahrzunehmen scheint. May-Lin kommt sofort angerast und ich schreie über die Musik hinweg, dass ich auch ohne Kindermädchen aufs Klo kann. Sie lässt mich in Ruhe, und ich bahne mir einen Weg durch die Menge. Ich spüre die warmen Leiber, Schweißgeruch liegt in der Luft. Hier müssen doch irgendwo die Toiletten sein? Ich frage einen Kellner, der mir mit lauter Stimme erklärt, wie ich dorthin komme, indem er mir mehrmals erzählt, dass ich eine bestimmte Richtung einschlagen soll. Vermutlich zeigt er auch irgendwohin, denn ich verstehe bloß Bahnhof. Irgendwann gebe ich es auf. Eigentlich finde ich das gar nicht so schlimm – alles ist besser als mit Lin und diesem Schleimer Kylen auf und ab zu hüpfen.

Ich hätte natürlich auch Nein sagen können. Dann würde ich jetzt mit einem Buch und einer Tasse Tee auf dem Bett liegen oder mich am Schreibtisch über meine nie enden wollenden Hausaufgaben beugen. Im Nachhinein wäre selbst das besser gewesen, aber wie immer gehe ich dorthin, wo Lin hingeht. Auch wenn das bedeutet, dass ich zwischen schwitzenden Menschen auf und ab hüpfen muss. Ich versuche, mich an den Beats zu orientieren. Die kommen aus den seitlich platzierten Boxen, und wenn ich der Wand folge, sollte ich irgendwann zur Treppe kommen, die zu den Toiletten führt. Es ist zu voll, ich scheine die Wand einfach nicht finden zu können. Da fällt mir wieder ein, dass sie vier Schritte von der Bar entfernt ist, und insgeheim zähle ich meine Schritte. Eins, zwei, drei … Weiter komme ich gar nicht, eine Hand packt die meine. Ich schaue auf, erwecke zumindest den Eindruck, ich würde aufschauen – in der Hoffnung, dass die Person vor mir gar nicht merkt, dass ich sie nicht wirklich sehen kann. Vor mir steht ein Typ, sein Geruch kommt mir bekannt vor. Ich kann ihn bloß nicht einordnen.

«Kann ich dir helfen?», brüllt er mir ins Ohr, ohne mich loszulassen.