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«Apfelkuchen am Meer» hat sie bekannt gemacht. Die Bestsellerautorin Anne Barns kehrt zu ihren Wurzeln zurück mit einem Wohlfühlroman, der glücklich macht: ein Neuanfang auf der Insel, ein Familiengeheimnis und die unvergleichliche Liebe zu Vanille, Zimt und Meer. Ein Haus auf Amrum! Und das will Oma Undine ihr schenken? Maren kann ihr Glück kaum fassen. Seit ihr Lebensgefährte vor vier Jahren starb, hat die alleinerziehende Mutter es nicht leicht. Und jetzt tun sich plötzlich ungeahnte Möglichkeiten auf. Mit ihrer sechsjährigen Tochter reist die Konditorin auf die bezaubernde Nordseeinsel. Das Reetdachhaus gleich hinter den Dünen begeistert die beiden sofort. Als sie im Gartenschuppen auf einen wunderschönen verstaubten Backtisch stoßen, haben Maren und Leni schon den Duft von Vanille und Butter in der Nase. Doch dann macht Omas Bruder Ocke ihnen klar, dass sie auf Amrum nicht erwünscht sind. Maren möchte die Geheimnisse der Vergangenheit ans Licht bringen. Warum hat Oma Undine damals Hals über Kopf die Insel verlassen und ist nie zurückgekehrt? Bei der Suche nach Antworten lernt Maren neben ihrer neuen Verwandtschaft auch den Insulaner Mattes kennen. Kann die Insel ein Neuanfang sein? Für ihre Tochter, für sie selbst – und für ihr Herz, das sich mit jedem Atemzug, mit jedem Blick auf Wasser und Horizont weiter öffnet?
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anne Barns
Roman
Wenn das Meer das Herz berührt.
Ein Haus auf Amrum, das Oma Undine ihr schenken will? Für die alleinerziehende Maren eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten. Mit ihrer sechsjährigen Tochter reist die Konditorin auf die Nordseeinsel. Das Reetdachhaus gleich hinter den Dünen begeistert die beiden sofort. Als sie im Gartenschuppen auf einen wunderschönen alten Backtisch stoßen, haben Maren und Leni schon den Duft von Vanille in der Nase. Aber warum hat Oma Undine damals die Insel verlassen und ist nie zurückgekehrt? Warum ist deren Bruder Ocke so abweisend? Auf der Suche nach Antworten lernt Maren neben ihrer neuen Verwandtschaft auch den Insulaner Mattes kennen. Kann Amrum ein Neuanfang sein? Für ihre Tochter, für sich selbst – und für ihr Herz, das sich mit jedem Atemzug, mit jedem Blick auf den Horizont weiter öffnet?
Meer, Backen und eine große Portion Sehnsucht: der neue Roman der Bestsellerautorin von «Apfelkuchen am Meer».
Anne Barns ist das Pseudonym der Autorin Andrea Russo. Für ihre Leidenschaft hat sie ihren Beruf als Lehrerin gegen das Schreiben eingetauscht. Ihre Wohlfühlromane, die am Meer spielen (u.a. «Apfelkuchen am Meer»), sind Bestseller geworden. Die Küste ist ihr zweites Zuhause. Wann immer es möglich ist, zieht es sie nach Amrum, Rügen oder andere Orte am Meer – um aufzutanken, die Seele baumeln zu lassen oder um zu schreiben.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Zitathinweis: Das Amrumer Heimatlied «Min öömrang lun» stammt von Lorenz Conrad Peters. Aus: Volkert F. Faltings, «In memoriam Lorenz Conrad Peters (11.1.1885–30.7.1949)», Jens Quedens Verlag 1986, S. 97
Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun
Coverabbildung StockFood/The Picture Pantry; Shutterstock
ISBN 978-3-644-02226-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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A aapel fäält ei widj faan a stam
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
August 1946
Der Geruch von Öl und Kohle lag in der Luft. Ab und zu wehte eine Brise den frischen Duft des Meeres herüber. Hedwig hatte sich einen Platz am Bug des Dampfers gesucht, wo sie die beste Aussicht hatte. Das gleißende Sonnenlicht blendete sie, doch sie konnte den Blick nicht von der Insel wenden, der sie sich langsam näherten. Eine schmale Silhouette, die mit jeder Seemeile größer wurde und nun in klaren Konturen aus dem Wasser hervortrat. Deutlich konnte sie die kleinen weißen Häuser und den Leuchtturm erkennen. Die Insel, die sie bisher nur aus Erzählungen kannte, nahm vor ihren Augen Gestalt an. Amrum. Ihr Herz schlug vor Aufregung ein wenig schneller.
Sie lauschte dem rhythmischen Tuckern der Dampfmaschine. Es hatte etwas Beruhigendes. Wie die Wellen, die mit ihren schaumbedeckten Köpfen das Schiff sanft auf und ab schaukeln ließen.
Joris hatte ihr erzählt, dass die Meere der Welt in den schönsten Farben schillerten: helles Blau, dunkles Ultramarin, leuchtendes Türkis, Grün. Und doch gab es für ihn, wie er sagte, nichts Schöneres als den Anblick der grauen, trüben Nordsee, die ihm bei der Rückkehr von einer langen Seefahrt zeigte, dass er nicht mehr weit von zu Hause entfernt war.
Hedwig schüttelte unwillkürlich den Kopf: Grau war die Nordsee in diesem Moment nicht. Nein, das Wasser glitzerte wunderschön silbern. Wie ihr Leben, das grau gewesen war und durch Joris neuen Glanz bekommen hatte. Sie lächelte.
Diesen Anblick würde sie nie vergessen und für immer in ihrem Herzen tragen, da war sie sich sicher. Bis zu diesem Tag hatte sie das Meer noch nie gesehen. Und jetzt war sie fast ein Teil davon, getragen von seinen Wellen. Zaghaft keimte ein verloren geglaubtes Gefühl in ihr auf: Glück.
Die Welt war noch dabei, sich von den Schrecken dieses unsäglichen Krieges zu erholen. Eines Krieges, in dem auch sie so viel verloren hatte. Ihren Onkel mütterlicherseits, Freunde, Freundinnen. Und noch immer hatten sie kein Lebenszeichen von ihrem Bruder Gustav bekommen. Seine letzte Feldpost von der Front hatte die Eltern im März 1945 erreicht. Wenige Tage bevor die Alliierten erneut einen Luftangriff auf Frankfurt flogen. Diesmal traf es auch ihre Bäckerei. So kurz vor Kriegsende! Eine der Bomben erwischte das Gebäude und zerstörte es bis auf die Grundmauern. Nur der alte Backtisch mit der Marmorplatte, auf dem schon ihr Großvater den Teig gewalkt hatte, hatte standgehalten. Ein Symbol der Hoffnung hatte ihr Vater ihn damals nach dem Angriff genannt. Dass sie dankbar sein sollten, im Keller Zuflucht gefunden zu haben, wo die Decke stark genug gewesen war, um sie zu schützen. Und dass sie alles wieder aufbauen würden, wenn Gustav endlich nach Hause käme.
Aber dann war alles anders gekommen.
Hedwig legte die Hand auf die Umhängetasche, die sie bei sich trug. In ihr die kleinen Schätze, die sie aus Schutt und Asche gerettet hatte und nun mit auf die Insel nahm: Vanille, Zimt und sogar etwas Kakao aus den Vorräten im Keller, die unversehrt geblieben waren. Auch einige Backformen hatte sie in ihrem großen Koffer verstaut: die für den Frankfurter Kranz, den Gugelhupf sowie die schlichte Kastenform, die ihr jahrelang gute Dienste geleistet hatte. Und das alte Nudelholz, das ihr die Großmutter geschenkt hatte, als Hedwig noch ein Kind gewesen war.
Eine Möwe erregte Hedwigs Aufmerksamkeit. Mit majestätisch ausgebreiteten Flügeln schwebte sie hoch in der Luft, ein heller Schattenriss am strahlend blauen Himmel. Fasziniert beobachtete sie, wie der große Vogel plötzlich zum Wasser hinabstürzte, die Flügel eng an den Körper gelegt, um mit einer blitzschnellen Bewegung einen Fisch aus den Wellen zu reißen. Der Fang glitzerte im Schnabel der Möwe, als sie sich triumphierend wieder in die Luft erhob.
Neben Hedwig stand ein Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Sie sagte etwas in aufgeregtem Ton zu ihr. Es klang wie ein Kauderwelsch aus Englisch, Niederländisch und Deutsch. Es kam Hedwig bekannt vor.
Sie sah das Mädchen an. Hübsch sah die Kleine aus, mit dem rötlich blonden Haar und den vorwitzigen Sommersprossen um die Nase herum. «Es tut mir leid, ich verstehe dich nicht. Sprichst du Öömrang?», fragte sie. Amrumer Friesisch, die Sprache des Meeres, wie Joris ihr erklärt hatte, nachdem er ihr mit von Stolz erfüllter Brust ein Gedicht vorgetragen hatte.
«Sie hat fette Beute gemacht», sagte die Kleine. «Die Silbermöwe.»
Hedwig bedankte sich für die Übersetzung, und das Mädchen hüpfte gut gelaunt davon.
Sie musste viel lernen, wenn sie zur Inselgemeinschaft gehören wollte. Das hatte Joris ihr nicht nur ein Mal gesagt: Amrumer Friesisch, Schollen fischen, Kaninchen jagen, Strandhafer schneiden und daraus Körbe flechten, Treibgut finden, Möweneier suchen. Sie war sich nicht sicher, ob er das alles ernst meinte. Noch konnte sie nicht unterscheiden, wann der Schalk in seinen Augen bedeutete, dass er nur scherzte, oder wann er sich über die Vorstellung amüsierte, wie sie tatsächlich durch das Dünengras kroch, um Nester zu plündern. Auch das musste sie noch meistern: Joris zu verstehen, seine Persönlichkeit, und die feinen Nuancen seines Charakters zu erfassen. Aber dafür war noch genug Zeit, wenn sie endlich wieder vereint waren. Das würde nun nicht mehr lange dauern.
Zwei Tage war sie bis jetzt unterwegs gewesen. Mit der Reichsbahn war sie von Frankfurt nach Hamburg gefahren, wo sie übernachtet hatte, wie Joris es ihr empfohlen hatte. Ganz allein! Ihr Herz hatte vor Aufregung bis zum Hals geklopft, als sie die kleine Pension am Hafen betreten hatte. Zum Glück war die Wirtin sehr nett gewesen, nachdem Hedwig ihr Joris’ Grüße ausgerichtet hatte. Er hatte alles gut für sie geplant. Das Zimmer war einfach, aber sauber gewesen, mit einem gemütlichen Bett und einem Zitronenbonbon auf dem Kopfkissen. Trotzdem hatte Hedwig in der Nacht kaum ein Auge zugemacht. Weil sie es nicht erwarten konnte, Joris zu sehen, ihn in die Arme zu schließen und ihm all die Worte und Gedanken mitzuteilen, die sie in den letzten Wochen gesammelt hatte.
Am Morgen war sie von Hamburg mit dem Bummelzug bis nach Niebüll und von dort bis nach Dagebüll weitergefahren. Nun stand sie auf dem Dampfer, blickte der Zukunft entgegen und dachte daran, wie alles angefangen hatte. An den Tag, an dem sie und Joris sich zum ersten Mal begegnet waren. Wie sie in der Nähe des Frankfurter Osthafens in einem unachtsamen Moment buchstäblich in ihn hineingelaufen war. Eine zufällige Begegnung, aus der sich schnell eine tiefe Verbundenheit entwickelt hatte. Das war vier Monate nach Kriegsende gewesen, an einem warmen Spätsommerabend im September. In den Wochen zuvor hatte es viel geregnet, die Tage waren nass und kalt gewesen. Doch an diesem Tag hatte plötzlich wieder die Sonne geschienen, und das Thermometer war auf fast zwanzig Grad geklettert. Der Herbst wollte warten. Das schöne Wetter hatte es Hedwig etwas leichter gemacht, die Steine aus den zerbombten Häusern zu schleppen und den Mörtel abzuklopfen. Eine notwendige Aufgabe, schließlich musste alles wieder aufgebaut werden. Aber sie sehnte sich nach der Zeit zurück, als ihre Hände noch Teig geknetet hatten. Da kam ihr der Plan ihrer Freundin Else gerade recht, abends endlich wieder mal auszugehen und sich zu amüsieren. Es hatte Hedwig Spaß gemacht, sich ein wenig herauszuputzen. Else war zu ihr nach Hause gekommen, sie hatten ihr Haar gegenseitig mit dem Lockeneisen gewellt, sich sogar etwas geschminkt und dann Hedwigs Kleiderschrank inspiziert. Hedwig hatte sich für das gelbe Blümchenkleid entschieden. Fröhliche Farbtupfer zwischen den Trümmern der zerstörten Stadt, wie Else festgestellt hatte, die einen schwingenden hellen Rock und eine rote Bluse trug.
Hedwig seufzte leise, lehnte sich weiter über die Reling und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. Langsam fiel die Anspannung der letzten Tage von ihr ab. Sie dachte daran, wie Joris sie damals mit seinen starken Armen gehalten hatte, als sie über einen losen Pflasterstein gestolpert war. Wie sie sich beide gleichzeitig noch einmal zueinander umgedreht hatten, als sie weitergegangen waren, und wie er plötzlich hinter ihr hergelaufen war und ihr gesagt hatte, dass er es für den Rest seines Lebens bereuen würde, wenn er nicht versuchen würde, sie zu einem Getränk einzuladen. Else, die direkt neben ihr stand, war es gewesen, die die Einladung angenommen hatte, noch bevor Hedwig antworten konnte. Wenn, dann müsse er zwei ausgeben, hatte sie frech gesagt, denn Hedwig und sie, die gebe es nur im Doppelpack. Joris hatte sie in eine kleine Kneipe geführt, in der fast nur amerikanische Soldaten mit deutschen Frauen saßen. Dort war Joris mit einem Freund verabredet gewesen, der einige Jahre vor Kriegsausbruch mit seinen Eltern von Amrum nach New York gegangen war, wo sie einen Delikatessenladen eröffneten. Im Krieg hatte der Freund für die Amerikaner in der Marine gekämpft – nicht gegen die Deutschen, sondern gegen Hitler, wie er betonte, und so war er in Frankfurt wieder auf deutschem Boden gelandet. Else hatte ein Auge auf ihn geworfen und war enttäuscht, als er von seiner Verlobten erzählte. Kurz darauf war es Hedwig, die rote Wangen bekam, als Joris sagte, dass er die Richtige noch nicht gefunden habe, aber hoffe, dass sich das bald ändere – oder schon geändert habe. Er hatte sie dabei direkt angesehen, mit seinen schönen, hellblauen Augen, die in seinem gebräunten Gesicht leuchteten. Am nächsten Abend hatten sie sich wieder getroffen, diesmal allein, Joris und sie. Und alles hatte sich einfach nur gut angefühlt. Von Anfang an war da dieses Band zwischen ihnen, als wäre es bestimmt, dass sie zusammengehörten. So hatte es sich für sie angefühlt, auch wenn Else ihr gesagt hatte, dass sie schlicht verliebt sei und die Realität sie irgendwann schon wieder einholen werde. Die kam dann auch schneller als erwartet, als er ihr gesagt hatte, dass er in einer Woche für längere Zeit auf See sei, und Else ihr den Floh in den Kopf gesetzt hatte, dass Seemänner bekannt dafür waren, in jedem Hafen eine andere Braut zu haben. Deswegen hatte sie ihn besonders leidenschaftlich geküsst, als er abgereist war, damit er nur noch an sie dachte. Joris hatte ihr versprochen zurückzukommen, und sie hatte ihm versprochen zu warten. Das hatte sie, ganze zwei Monate lang, in denen sie schier verrückt geworden war vor Sehnsucht – und von den Zweifeln, die Else in ihr gesät hatte. Bis Joris im November endlich wieder vor ihrer Tür gestanden und sie ganz fest in seine Arme genommen hatte. Da wusste sie, dass alles gut werden würde, auch wenn er sich ein paar Tage später wieder verabschiedet hatte. Diesmal, um nach Amrum zu fahren. So lief es auch die folgenden Monate weiter, Joris war auf See, bei ihr in Frankfurt, auf Amrum. Ein Wechselbad der Gefühle zwischen Glück, Freude, Sehnsucht und Bangen. Aber nun würde sich das endlich ändern. Sie hatten entschieden, das Band zwischen ihnen zu festigen. Joris wollte sie zu seiner Frau machen, und für sie gab es nichts Schöneres.
Ein Matrose ging an ihr vorbei. «Nicht mehr weit, Fräulein», sagte er freundlich. «Bald sind wir da.»
Sie lächelte. Ihre Vorfreude wuchs von Minute zu Minute, wie ihre Ungeduld.
Kurz darauf hatten sie das Ziel erreicht.
Menschen winkten, knirschend, scharrend und quietschend machte der Dampfer am Kai fest.
«Amrum», rief der Matrose laut, «Oomram!»
Hedwigs Herz schlug schneller. Sie drückte ihre Tasche fest an sich und stellte sich an der Schlange vor dem Gepäck an, um ihren Koffer zu holen.
Ein kühler Wind strich ihr durchs Haar, als sie die Füße auf den hölzernen Steg setzte. Die ersten Schritte waren noch etwas wackelig nach der Überfahrt, aber Hedwig gewöhnte sich schnell wieder an den festen Boden unter den Füßen. Leicht schwindelig war ihr nur noch vor Freude. Sie blickte sich um, suchte in der Menge nach dem vertrauten Gesicht. Joris war groß, über einen Meter neunzig, mit breiten Schultern. Er war eine stattliche Erscheinung, fiel auf. Doch sosehr sie sich auch umsah, sie konnte ihn nirgends entdecken. Dabei hatte er versprochen, sie abzuholen und sie hatte ihm extra noch einmal ihre Ankunftszeit telegrafiert.
Enttäuscht trug sie den schweren Koffer zu einer Bank, setzte sich und wartete. Sicher würde er jeden Moment auftauchen. Doch Joris kam nicht. Sie sah zu, wie auch die letzten Passagiere den Hafen verließen. Ihre Gedanken rasten. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Wenn er sie vergessen hatte?
Oder, noch schlimmer, wenn er absichtlich nicht gekommen war?
Hedwig schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Joris war nicht der Mann, der Versprechen brach. Es musste eine plausible Erklärung dafür geben. Und wenn er nicht zu ihr kommen konnte, ging sie zu ihm.
Sie stand auf, straffte die Schultern und machte sich auf den Weg.
Der Duft von Gebäck empfing mich, als ich die Haustür aufschloss. Ich schnupperte. Rührkuchen? Mürbeteig? Ein blechernes Klappern ertönte. Es klang wie ein Kochlöffel, der auf eine Emailleschüssel schlägt.
«Sehr gut, Schatz, jetzt füllen wir es um», hörte ich meine Oma sagen, und kurz darauf die helle Stimme meiner Tochter: «Das schaff ich allein.»
Es war nach neun, Leni sollte längst im Bett liegen. Ich seufzte leise, zog meine Schuhe aus, hängte meine Jacke an die Garderobe und blieb einen Moment stehen. Es war ein anstrengender Tag im Café gewesen. Ich hatte mich auf einen ruhigen Abend gefreut. Aber das konnte warten. Einen Moment lauschte ich dem Gespräch der beiden und wunderte mich. Meine Oma liebte Gebäck jeder Art, backte aber nicht gern. Normalerweise war ich diejenige, die mit Leni Kuchen, Kekse und andere süße Sachen zauberte. Bestimmt hatte Leni ihre Uroma überredet. Meine Tochter konnte sehr hartnäckig sein, und meine Oma konnte ihr kaum einen Wunsch abschlagen.
Lächelnd ging ich zur Küche. Sie glich einem Schlachtfeld. Unzählige Schüsseln, Löffel, Messbecher, zwei leere Eierkartons, halb volle Mehl- und Zuckerpackungen, leere Backpulvertüten und andere Verpackungsreste stapelten sich auf der Arbeitsfläche. Eine feine Mehlschicht zog sich vom Küchentisch über den Boden bis zur Spüle. Und die Kacheln an der Wand waren mit hellen und dunklen Spritzern übersät.
Sie hatten mich noch nicht bemerkt. Ich lehnte am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und freute mich über den Spaß, den die beiden miteinander hatten.
Leni stand auf dem kleinen Hocker, die Zungenspitze konzentriert aus dem Mund gestreckt, und umklammerte eine Teigspritze so fest, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Ihre Uroma war hinter ihr und gab Anweisungen.
«Langsam, Spatz, mit viel Gefühl.»
Ein schöner Anblick, die beiden so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nichts anderes um sich herum mitbekamen. Leni im Profil, die hellblonden Haare zu einem Zopf gebunden. Den Pony hatte sie heute mit einer Klammer zur Seite gesteckt, was ihre freche Stupsnase betonte. Wie wohl jede Mutter fand ich meine Tochter besonders bezaubernd.
Meine Oma war eine attraktive Frau mit fein geschnittenen Gesichtszügen und einer hohen Stirn, die in einem sanften Bogen in eine feine gerade Nase überging. Ich fand es nur etwas schade, dass sie ihr kurz geschnittenes Haar so stark blondierte, dass es etwas unnatürlich wirkte. Andererseits hielt sie etwas auf sich, und mir gefiel, dass sie auch im Alter noch «fesch» aussehen wollte, wie sie es nannte.
Einen Moment beobachtete ich das einträchtige Treiben, dann räusperte ich mich.
Leni hob den Kopf, und als sie sich zu mir drehte und mich entdeckte, erstrahlte auf ihrem Gesicht ein leuchtendes Lächeln. In ihrem Blick lag so viel Freude, dass all meine Müdigkeit und der Stress des Tages in einem Augenblick verflogen.
«Mama, wir backen Mini-Windbeutel. Mit zwei verschiedenen Füllungen!» Sie hielt mir einen hin. «Probier mal, der ist mit Vanille!»
Ich trat näher, nahm das Gebäckstück entgegen und betrachtete es fachmännisch von allen Seiten. Leni beobachtete mich dabei gespannt. «Sieht perfekt aus.» Ich biss hinein. «Mmh!»
Meine Tochter nickte zufrieden. «Haben wir uns gedacht, dass du sie magst. Wir machen gerade noch die mit Schoko. Dann sind wir fertig.»
«Sehr lecker!», nuschelte ich. Der Brandteig schmeckte knusprig. Die Füllung war fluffig, aber nicht zu leicht. «Pudding … mit Sahne?»
«Richtig!», sagte Leni.
«Echt gut!»
«War Uromas Idee», erklärte Leni. «Sie hat alles dafür mitgebracht.»
Ich sah überrascht zu meiner Oma, die sich mit zufriedener Miene einen pastellgelben Spritzer von der Wange wischte. «Wir haben uns ein bisschen mit der Zeit verschätzt. Aber morgen ist Sonntag, da geht Leni ja nicht in den Kindergarten und kann ausschlafen.»
Leni hüpfte vom Hocker und zeigte stolz auf ein Tablett, das bereits mit gefüllten Windbeuteln bestückt war. «Mama, schau, die sind schon alle fertig! Willst du noch einen?»
«Unbedingt. Aber später.» Ich ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn. «Erst mal ‹Hallo, Schatz›.»
«Hallo, Mama.» Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und drückte mich.
Danach umarmte ich meine Oma.
«Und jetzt? Wie kann ich euch helfen? Soll ich vielleicht schon mal anfangen, klar Schiff zu machen?»
Meine Oma schüttelte den Kopf. «Du hast bis eben gearbeitet. Ruh dich aus, wir machen das schon.» Sie sah Leni an. «Was meinst du? Schaffen wir das, wir beide?»
«Klar», sagte meine Tochter.
«Okay. Dann gehe ich mal schnell unter die Dusche. Oder kurz in die Wanne.»
«Lass dir Zeit.» Die Stimme meiner Oma klang sanft. «Ich habe mir überlegt, dass ich heute vielleicht bei euch übernachte. Wir könnten gleich noch in Ruhe ein Gläschen Wein trinken, ich möchte gern etwas mit dir besprechen. Außerdem wäre ich auch morgen früh da, und du könntest die Zeit für dich nutzen, wenn du ein bisschen allein sein möchtest. Du willst doch sicher spazieren gehen.»
Das hatte ich vor. Ein leiser Schmerz durchzog mein Herz. Morgen waren genau vier Jahre vergangen. Als Mutter einer damals zweijährigen Tochter hatte ich keine Zeit, lange in der Schockstarre zu verharren, die auf die unerwartete Nachricht von Florians Tod folgte. Leni brauchte mich. Familie und Freunde gaben mir danach Halt, vor allem meine Oma, die in der Nähe wohnte und mich unterstützte, wo sie nur konnte. Gemeinsam hatten wir es geschafft, in der schweren Zeit eine gewisse Leichtigkeit wiederzufinden. Die Trauer war stiller geworden. Doch tief in meinem Inneren spürte ich sie noch immer. Vor allem an den Tagen, die von besonderer Bedeutung waren.
«Das ist eine schöne Idee, danke, Oma.»
«Wie cool!» Leni spritzte Schokoladenfüllung in einen der Windbeutel. «Dann kannst du mir heute vor dem Einschlafen vorlesen, Uroma. Oder eine Geschichte erzählen.»
«Mach ich gern, Schätzchen.»
Ich war schon im Flur, da ging ich noch mal zurück, weil ich doch nicht widerstehen konnte. «Einmal Vanille, einmal Schoko für die Wanne bitte.»
Meine Oma holte sofort einen kleinen Teller.
«Wo hast du das Rezept her?», fragte ich. «Die sind echt lecker.»
«Das hatte ich noch im Kopf», antwortete meine Oma. «Meine Mutter hat sie früher gern gebacken, und ich habe ihr hin und wieder dabei geholfen.»
In meiner Familie hatte es seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts eine Bäckerei gegeben, die von Generation zu Generation weitergeführt worden war. Meine Urgroßmutter war jedoch die Letzte in der Familie, die der Tradition gefolgt war. Im Zweiten Weltkrieg war die Bäckerei leider zerstört und nicht wieder aufgebaut worden. Meine Oma hatte keinen Sinn fürs Backen. Und auch meine Mutter nicht. Die Gene hatten zwei Generationen übersprungen. Ich war Konditorin geworden, hatte meine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Und jetzt kam meine Oma plötzlich mit einem Rezept um die Ecke, an das sie sich erinnerte.
«Schreibst du es mir auf?», fragte ich.
Sie wischte mit der Hand durch die Luft. «Das kannst du doch aus dem Effeff, das ist ein ganz einfacher Brandteig. Den Vanillepudding haben wir zur Hälfte mit Sahne gemischt. Und die Schokolade auch.»
«Einfach, aber lecker», sagte ich und nahm mir vor, sie irgendwann nachzubacken, vielleicht in einer etwas feineren Variante für das Café.
Der kleine Luxus, den ich mir gelegentlich gönnte, war ein pflegendes Ölbad. Sommer wie Winter eine Auszeit für meine Seele, meistens abends, wenn Leni schon im Bett war.
In das gut ausgestattete Badezimmer hatte ich mich bei der Wohnungsbesichtigung sofort verliebt. Die Miete lag zwar etwas über unserem Budget, aber wir wollten uns einschränken, bis Florian sein Referendariat beendet hätte und mit einer Vollzeitstelle als Lehrer mehr verdienen würde. «Die Dusche für mich, die Badewanne für dich», hatte er gesagt, «und für die Kleine in deinem Bauch – wenn sie nach dir kommt.»
Sie kam nach ihm. Leni war die Dusche lieber.
Seit sie mit drei Jahren in den Kindergarten kam, stand ich wieder in Vollzeit als Konditorin am Backtisch und kreierte jeden Tag Torten, Kuchen und andere Köstlichkeiten. Drei Tage die Woche von acht bis vierzehn Uhr, zwei Tage von neun bis achtzehn Uhr. An den Wochenenden nach Bedarf und Absprache. Zum Glück liebte ich meinen Job. Wenn ich am Backtisch stand, vergaß ich alles um mich rum. Auch die schwere Zeit, die wir gehabt hatten. Leni mochte ihren Kindergarten – und vergötterte ihre Uroma, die so wie heute auf sie aufpasste, wenn ich arbeiten war. Es war ein nicht immer einfacher Balanceakt, und ich war stolz drauf, dass wir ihn gemeinsam meisterten.
Ich schloss die Augen, ließ mich unter das Wasser gleiten und genoss den ruhigen Moment.
Es war Ende Mai, die Sonne lockte mit ihren wärmenden Strahlen die Menschen wieder ins Freie. Das Wetter war so schön, dass auch unsere Tische im Außenbereich rund um die Uhr besetzt waren.
Aber immerhin hatten wir es heute geschafft, fast pünktlich zu schließen. Um halb sieben waren die letzten Gäste gegangen. Während die Aushilfen noch aufräumten und putzten, half ich Ruth bei den Vorbereitungen für den nächsten Tag – bis sie mich kurzerhand vor die Tür gesetzt hat. «Den Rest schaffe ich allein. Die Böden kann ich sowieso noch nicht mit den Früchten belegen, und die Torten fülle ich auch erst morgen. Apropos, komm bloß nicht auf die Idee, doch zu arbeiten, Maren. Du hast frei!»
Mit den Jahren hatte sich eine Freundschaft zwischen meiner Chefin Ruth und mir entwickelt. Sie hatte nicht nur Verständnis für meine Situation, sie achtete auch auf mich. Ein schönes Gefühl. Es gab viel Gutes in meinem Leben, für das ich dankbar war.
Ich tauchte wieder aus dem Wasser auf, und mir fiel ein, dass meine Oma etwas mit mir besprechen wollte. Es ging vermutlich um die Terminabsprache für den Urlaub auf Gran Canaria, den sie für sich buchen wollte. Wieder in der kleinen Anlage direkt am Meer. Leni und ich waren auch schon ein paarmal mit Oma dort gewesen. So hatten wir es die letzten Jahre gehalten: Im Winter flogen wir gemeinsam, und im Sommer machte sie sich allein auf den Weg. Insgeheim träumte meine Oma davon, eines Tages auf die Kanaren auszuwandern, wie ihre Freundin Gitti vor ein paar Jahren. Wegen Leni und natürlich auch wegen mir hatte sie diesen Traum noch nicht verwirklicht. Sie blieb in unserer Nähe, um uns zu helfen.
Ich probierte den Schoko-Windbeutel, der auch sehr gut war. Meine Oma hatte eine hochprozentige Schokolade gewählt, die nicht zu zuckrig und schön kräftig im Geschmack war. Aber die mit der Puddingcreme schmeckten mir mit ihrem weichen süßen Geschmack noch besser.
Als ich mich abtrocknete, kam meine Tochter ins Bad. «Alle Windbeutel sind fertig!» Sie griff nach ihrer Zahnbürste. «Heute ist doppelt gründlich putzen angesagt, weil ich so viel genascht habe, sagt Uroma.»
«Sehr gute Idee!»
«Ach ja, und ab sofort ist Tag der geschlossenen Tür.»
«Soso.»
Auf die Erklärung musste ich nicht lange warten. «In die Küche darf heute niemand mehr rein», erklärte Leni. «Hat Uroma gesagt.»
Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was das bedeutete. «So schlimm?»
Leni nickte. «Die Schokocreme ist explodiert. Oben raus, also in die falsche Richtung.» Sie lachte. «Hast du Uroma nicht quietschen gehört? Das ist ihr passiert, nicht mir. Sie hat zu fest runtergedrückt und sich überall bekleckert.»
Da kam meine Oma ins Bad, im Unterhemd. «Die Schokoladenvulkane schmecken wirklich köstlich», sagte sie und nahm sich kurzerhand einen Waschlappen.
Wir grinsten uns an, Leni und ich.
Eine Viertelstunde später lag meine Tochter im Bett und lauschte Uromas Gutenachtgeschichte.
Ich setzte mich über das Verbot hinweg und ging in die Küche. Es fiel mir schwer, nicht wenigstens einmal kurz über die Fliesen zu wischen. Aber ich blieb tapfer, holte stattdessen nur etwas Butter und Käse aus dem Kühlschrank, Paprika, Radieschen, das Brot aus dem Leinenbeutel und bereitete ein paar Häppchen zu. Mir stand der Sinn nach etwas Herzhaftem. Für meine Oma öffnete ich einen halbtrockenen Weißen und für mich eine Flasche tiefroten Shiraz.
Ich setzte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und legte die Beine hoch.
«Maren?» Omas Stimme weckte mich. Erschrocken schaute ich sie an.
«Keine Sorge. Ich bin auch kurz eingeschlafen.»
Noch etwas schlaftrunken warf ich einen Blick auf die Uhr. «Kurz? Es ist schon nach halb elf.»
«Ist doch nicht schlimm.» Meine Oma zeigte auf die Schnitten und lächelte. «Schöne Idee.»
«Schäfchen, eine ganze Herde», antwortete ich. «Die hast du mir früher auch oft gemacht. Mama hat Minkelchen dazu gesagt. Wie hast du sie noch gleich genannt?»
«Skefkin.» Sie nahm sich eins und machte es sich im Sessel bequem.
Ich ging zum Tisch und schenkte Wein ein. «Danke noch mal, fürs Aufpassen und fürs Hierbleiben.»
«Du sollst dich nicht immer bedanken», sagte sie streng. «Du weißt doch, wie gern ich das mache.»
«Das hast du mir aber so von klein auf beigebracht», erwiderte ich. «Danke sagen, bitte, guten Tag, auf Wiedersehen … freundlich sein …»
«Dann habe ich ja doch was richtig gemacht.»
«Sehr viel!» Ich hielt ihr das Glas hin. «Auf was stoßen wir an?»
«Auf neue Möglichkeiten.»
«Oh, das klingt mysteriös. Aber spannend.» Wir ließen unsere Gläser aneinanderklingen, und ich nippte an meinem Shiraz. Er schmeckte voll und reichhaltig, eine warme Kombination aus dunklen Beeren und einem Hauch von Schokolade. Ein leicht pfeffriger Nachgeschmack blieb auf meiner Zunge. Ich schwenkte das Glas und sah erwartungsvoll zu meiner Oma.
Sie fuhr sich fahrig durchs Haar, dann trank sie einen großen Schluck und gleich darauf noch einen. Etwas trieb sie um. Und das hatte nichts mit ihrem geplanten Urlaub zu tun, da war ich mir plötzlich sicher. Musste sie sich etwa Mut antrinken? «Was ist los, Oma?», fragte ich. «Du hast doch vorhin gesagt, dass du mit mir sprechen möchtest. Erzähl, was ist passiert?»
«Ich besitze ein Haus auf Amrum.»
Im ersten Moment fehlten mir die Worte. Ich suchte den Schalk in Omas Augen, aber sie schaute ganz ernst. «Wow», entfuhr es mir schließlich.
«Zurzeit wohnt noch meine Tante darin. Aber sie hat vor, zu ihrer Tochter zu ziehen.»
Mein Gehirn ratterte. Meine Oma war fünfundsiebzig. Da musste die Tante ein hohes Alter haben. Weder von ihr, geschweige denn von einem Haus auf Amrum hatte ich je etwas gehört. «Hast du es geerbt?», fragte ich. Die einzig logische Erklärung für mich, von einer dieser reichen Erbtanten oder Onkeln, von denen man vorher nichts wusste, die allerdings in den allermeisten Fällen auch nicht existieren.
«Mein Vater hat es mir hinterlassen», sagte meine Oma. «Aber ich habe es nie als meins betrachtet. Meine Tante, Gesche, hat schon immer darin gewohnt, und so sollte es auch bleiben. Aber da sie jetzt auszieht, möchte ich, dass du etwas davon hast. Du könntest es verkaufen oder vermieten. Dann hättest du mehr Zeit für Leni. Und für dich.»
Das klang fast zu schön, um wahr zu sein. «Du hast wirklich ein Haus auf Amrum und willst es mir überlassen?», fragte ich.
«Ja.» Meine Oma schenkte ihr Glas wieder voll und deutete auf meins. Ich trank aus und füllte wieder auf. Das schien ein längeres Gespräch zu werden. «Was sagst du dazu?»
«Ich freue mich natürlich darüber!», antwortete ich. «Aber, ehrlich gesagt, bin ich auch sehr überrascht. Dein Vater ist doch schon vor etlichen Jahren gestorben. Und du hast mit keinem Wort erwähnt, dass er dir ein Haus hinterlassen hat. Willst du mir nicht erzählen, wie es dazu kam?»
«Ach, Maren.» Meine Oma drückte den Rücken durch. «Wo soll ich anfangen?»
Sie sprach nie gern über ihre Kindheit und Jugend und antwortete meist ausweichend. Das sei alles so lange her, wiegelte sie dann ab. Und dass es ein paar unangenehme Erinnerungen gebe, an die sie nicht zurückdenken wolle. Ob die etwas mit Amrum zu tun hatten? Warum sonst wirkte sie nun so angespannt, wo es doch eigentlich eine sehr gute Nachricht war, dass sie ein Haus auf der Insel besaß?
«Was ich weiß, ist, dass deine Mutter aus Frankfurt kam», versuchte ich ihr auf die Sprünge zu helfen. «Sie arbeitete in der Bäckerei ihrer Eltern, bis der Krieg alles zerstört hat. Dein Vater war Seemann – aus Hamburg. Du bist dann später nach Berlin gegangen, wo Mama auf die Welt kam. Und schließlich sind wir alle doch wieder in Hessen gelandet.»
«Mein Vater war Seemann, das stimmt. Und er hat immer mal wieder in Hamburg gelebt. Aber nur dann, wenn zwischen zwei Heuern keine Zeit war oder nicht die Möglichkeit bestand, nach Hause zu kommen. Amrum war sein Zuhause.» Meine Oma holte tief Luft. «Und es war auch meins, bis ich mit siebzehn die Insel verlassen habe, um in Hamburg eine Ausbildung zu machen.» Sie drehte gedankenverloren das Glas in der Hand, schien in der Vergangenheit zu hängen. Ich wartete gespannt, bis sie weitererzählte: «Zwischendurch war ich immer mal wieder da, und mit einundzwanzig habe ich Amrum dann endgültig den Rücken gekehrt.»
Es fiel mir schwer, sie nicht zu unterbrechen, unzählige Fragen schossen mir durch den Kopf. Aber ich sah, wie schwer ihr das Erzählen fiel, wie sie mit dem Finger an ihre Unterlippe tippte, wie sie nach den richtigen Worten suchte, und ließ ihr Zeit.
Meine Oma nahm ihr Telefon. «Ich habe zwar kein Foto, aber ich kann dir zeigen, wo das Haus auf der Insel steht. Eine Freundin hat mir neulich erklärt, wie man dieses Street View benutzt.»
Es lag im Norden der Insel, nur durch einen breiten Dünenstreifen und viel Sand vom Wasser getrennt. «Die Lage ist fantastisch», sagte ich immer noch überrascht. «Und dort bist du wirklich aufgewachsen?»
«Die ersten vier Jahre», antwortete Oma. «Aber dann hat mein Vater ein anderes Haus auf Amrum gekauft, in das wir gezogen sind. Meine Großmutter und Gesche sind in dem alten geblieben. Gesches Mann kam später dazu, dann deren Tochter. Und jetzt lebt Gesche wohl allein dort.»
Ich dachte kurz über Omas Worte nach. Sie war auf Amrum aufgewachsen. Und sie hatte mit einundzwanzig Jahren der Insel den Rücken zugekehrt. Was war da nur vorgefallen, dass sie nie etwas davon erzählt hatte?
«Auf jeden Fall gehört das Haus rein rechtlich mir. Das andere, in dem wir später gewohnt haben, hat mein Bruder geerbt», sagte sie nun.
Ich hatte sie sehr gut verstanden, konnte aber nicht anders, ich musste nachfragen: «Du hast einen Bruder?»
«Ocke, er ist zwei Jahre jünger als ich, also dreiundsiebzig.»
«Das gibt’s ja nicht, Oma, was hast du uns denn noch alles die ganzen Jahre über verschwiegen?», brach es aus mir heraus.
«Tja …» Sie zuckte mit den Schultern und wirkte nun ruhiger, nachdem sie die Katze aus dem Sack gelassen hatte. «Meine ersten einundzwanzig Lebensjahre, würde ich meinen.»
Da war sie wieder, die Oma, die ich kannte, die normalerweise auch schwierige Lagen mit einer Prise Galgenhumor nahm und das Leben mit einer Leichtigkeit meisterte, die ich bewunderte. Aber die gewisse Schwere, die über Omas Geschichte lag, blieb. Sie musste ihre Gründe gehabt haben, sie all die Jahre zu verschweigen. Mit glücklichen Erlebnissen hatten diese sicher nichts zu tun. «Gut, dass wir jetzt darüber reden», sagte ich. «Du hast also einen Bruder.»
«Ja.» Sie verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln und zog dabei eine Augenbraue hoch. «Seine über alles geliebte Insel hat er nie verlassen. Er lebt noch immer dort.»
Der spöttische Ton überraschte mich. Er klang fast ein wenig bitter. So kannte ich meine Oma nicht. Da musste sie etwas sehr verletzt haben.
«Ich war schuld», sagte sie. «Als ich mich damals in deinen Großvater verliebt habe, hat auf der Insel niemand etwas mitbekommen, weil Curd in Hamburg lebte. Aber als ich dann einen runden Bauch hatte, musste ich es meinen Eltern sagen. Dass ich ein Kind bekomme, unehelich, und dann auch noch von einem verheirateten Mann. Alle waren entsetzt. Und dann …» Sie sprach nicht weiter.
Es war schwer zu fassen, was Oma da erzählte. «Wer war das Kind? War das Mama?», fragte ich.
«Ja, Schatz. Es war deine Mutter, die in meinem Bauch heranwuchs. Dein Opa hat sich dann von seiner damaligen Frau scheiden lassen, und wir haben dann letztendlich auch geheiratet. Da war Jella aber schon eineinhalb Jahre alt.»
«Das ist ja ein Ding!» Ich konnte nur ahnen, wie schwierig es für Oma in der Zeit als unverheiratete Mutter gewesen sein musste. Aber ich war auch überrascht, dass sie sich überhaupt auf einen verheirateten Mann eingelassen hatte.
«Es war nicht richtig von mir, etwas mit deinem Opa anzufangen», sagte sie prompt. «Aber ich konnte einfach nicht die Finger von ihm lassen. Und er nicht von mir.» Sie zuckte mit den Schultern. «Die Quittung dafür habe ich dann ein paar Jahre später bekommen, als er wieder durchgebrannt ist, und wieder mit einer jüngeren Frau. Damals war deine Mutter acht Jahre alt. Hinterher ist man ja immer schlauer. Wir haben uns scheiden lassen und haben seitdem keinen Kontakt mehr, wie du ja weißt.» Sie lächelte leicht. «Versteh mich nicht falsch, ich habe es nie bereut. Wie könnte ich? Wenn Curd nicht gewesen wäre, würde es euch jetzt nicht geben. Dich, Leni und auch nicht deine Mutter.»
«Weiß Mama denn schon von dem Haus?»
«Nein, ich wollte erst mit dir darüber reden, weil ich dir gern das Haus überschreiben möchte. Deine Mutter braucht es nicht. Sie bekommt das von ihrem Vater, wenn er mal nicht mehr ist, das hatten wir damals bei der Scheidung so vereinbart. Und ich bin mir sicher, dass sie mehr als einverstanden damit ist, wenn du das Amrumer Haus bekommst. Das nimmt auch ihr ein wenig die Last. Es ist ein beruhigendes Gefühl, seine Kinder versorgt zu wissen. Ich will es ihr aber nicht am Telefon sagen, sondern irgendwann unter vier Augen.»
«Das finde ich gut, mach das.» Ich sah sie nachdenklich an. «Warum hast du denn noch nie etwas von Amrum erzählt?»
«Sagen wir mal so.» Sie seufzte. Es war ihr anzumerken, dass es ihr immer noch schwerfiel, darüber zu sprechen. «Ich hatte mit der Insel, mit diesem Kapitel in meinem Leben, abgeschlossen. Aber jetzt hat sich die Situation geändert. Gesche zieht aus. Und du könntest das Geld doch so gut gebrauchen, um es dir und Leni etwas schöner zu machen.» Sie sah mich liebevoll an. «Das war nicht richtig ausgedrückt. Schön machst du es euch ja. Ich bin immer wieder begeistert, wie du das alles meisterst und dabei nie deine positive Einstellung verlierst. Das ist sehr wertvoll, besonders auch für Leni. Sie ist so ein glückliches Kind. Aber du hättest es einfacher, wenn du finanziell ein wenig mehr Spielraum hättest.»
Sie dachte an mich, an uns. Das berührte mich. Auch die guten Worte, die sie für mich fand. Mir fiel ein, auf was wir zu Beginn des Abends angestoßen hatten. «Auf neue Möglichkeiten», wiederholte ich die Worte meiner Oma. «Das meintest du also damit.»
«Ja.»
«Ist Gesche die jüngere Schwester deines Vaters?», fragte ich. Das musste so sein, sonst wäre sie weit über hundert.
„Sie ist jetzt fünfundachtzig, eine Nachzüglerin. Zwischen ihr und meinem Vater liegen fünfzehn Jahre.»
«Und gibt es noch mehr Tanten oder Onkel?» Meine Oma hatte mir nie etwas von Geschwistern ihres Vaters erzählt und, wie mir nun auffiel, insgesamt sehr wenig von ihrer Familie väterlicherseits. Wenn, dann hatte sie von ihrer Mutter gesprochen.
«Nein, nur die eine Schwester unseres Vaters, Gesche. Es gab noch eine, die aber sehr früh verstarb, noch im Kindesalter. Ich denke, dass mein Vater sich deswegen in besonderem Maße verantwortlich für Gesche gefühlt hat. Auf jeden Fall hat er mir damals das Haus vermacht, und sie bekam das Wohnrecht.»
«Wohnrecht?», hakte ich nach.
«Auf Lebenszeit», antwortete Oma. «Aber sie hat mich ja nun darüber informiert, dass sie vorhat auszuziehen und dass wir darüber reden sollten, wie es weitergeht. Der Brief ist vor drei Tagen bei mir eingetroffen.»
«Das klingt vernünftig», sagte ich. «Wann sprecht ihr miteinander?»
Meine Oma zog gleich beide Augenbrauen hoch und stockte kurz, fuhr dann aber entschlossen fort. «Das wirst du übernehmen müssen. Ich habe mir damals geschworen, nie wieder einen Fuß auf diese Insel zu setzen. Davon mal ganz abgesehen, bin ich dort ohnehin nicht mehr erwünscht. Das hat man mir nicht nur ein Mal sehr deutlich zu verstehen gegeben.»
«Wer?», fragte ich.
«Die Familie. Als ich nach Jellas Geburt mit ihr zurück auf die Insel gegangen bin, um …»
Ich griff über den Tisch nach Omas Hand. Es tat ihr immer noch weh, nach all den Jahren. «Egal, was passiert ist, du hast uns. Und wir haben dich lieb!»
«Und ich euch.» Sie zog ihre Hand zurück und setzte sich aufrecht. «Es ist lange her», sagte sie. «Damals war es schwer. Aber mit der Zeit ist es leichter geworden.» Ein sanftes Lächeln umspielte plötzlich ihre Lippen. «Ich war Mutter einer süßen kleinen Tochter. Ich musste nach vorne schauen.»
Da hatten wir etwas gemeinsam. «Ja, das kann ich sehr gut nachempfinden.» Und auch, dass sie sich jetzt bemühte, wieder Haltung zu bewahren. Aber ich sah ihren schnellen Lidschlag und wie sie sich die ganze Zeit mit dem rechten Daumen am Zeigefinger rieb.
«Es ist dein Haus, nicht Gesches», sagte ich. «Und dass sie dich nicht dahaben wollten, das war vor einer Ewigkeit. Mama ist fünfundfünfzig, das ist mehr als ein halbes Jahrhundert her. Die Welt hat sich verändert, du hast dich verändert und die Amrumer sicher auch. Außerdem kannst du tun und lassen, was du willst. Niemand kann dir irgendwas verbieten, schon gar nicht, auf die Insel zu reisen, auf der du aufgewachsen bist.»
«Das mag wohl sein, aber ich möchte weder nach Amrum fahren noch mit Gesche sprechen», sagte Oma mit Nachdruck. «Es geht mir nur darum, dass du etwas von dem Haus hast. Deswegen sollst du dich kümmern. Fahr hin, schau es dir an. Nimm Leni mit, macht euch ein paar schöne Tage auf der Insel. Sprich mit Gesche, frag, was sie vorhat, und wann. Und dann verkaufe das Haus. Oder meinetwegen vermiete es. Aber lass mich außen vor. Wie gesagt, ich habe abgeschlossen.»
Meine Oma wirkte nun gefasst, aber unter der Oberfläche brodelte es. Das sah ich an der Spannung in ihren Schultern, wie sie nun ihre Hände ineinander verschränkte und mit den Fingern knetete. Ich spürte, wie schwer es ihr fiel, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, und dass sie innerlich noch immer gegen etwas kämpfte. Doch sie war zu einer Entscheidung gekommen, und wenn ich in mich hineinhorchte, freute ich mich auch darüber, dass sie mit dem Haus nun mir die Verantwortung übertrug.
Meine Mundwinkel hoben sich zu einem breiten Lächeln. «Du hast ein Haus auf Amrum, Oma. Natürlich werde ich es mir anschauen. Und auch die Insel, auf der du aufgewachsen bist. Aber wir sollten uns auf jeden Fall vorab rechtlich beraten lassen. Und ich muss das noch mit Ruth klären. Eigentlich wollte ich den nächsten Urlaub in den Herbstferien nehmen, da Leni doch im August eingeschult wird und wir dann nur noch in den Schulferien verreisen können.» In Gedanken ging ich schon den Urlaubsplan im Café durch. Eine unserer festen Servicekräfte war auch Mutter. Wann hatte sie ihren Urlaub eingetragen? Und wollte Ruth nicht auch bald verreisen? Die Sommerferien begannen in drei Wochen, da war es sicher voller auf der Insel und die Preise höher. «Wahrscheinlich wäre es dann am besten, wenn wir so schnell wie möglich fahren.»
«Das ist eine gute Idee», sagte Oma. «Ich werde morgen gleich mal meinen Anwalt anrufen. Ich hoffe, er hat kurzfristig einen Termin frei. Und du suchst eine hübsche Unterkunft für euch aus. Ich habe da schon ein paar recht schöne im Internet entdeckt, die ich dir empfehlen kann, zumindest was die Lage betrifft. Und nach den Abfahrtzeiten der Fähre habe ich auch schon gesehen. Ihr habt bestimmt viel Gepäck, weil du für Leni sicher auch Strandspielzeug einpackst. Außerdem ändert sich auf der Insel das Wetter schnell. Da kann es schon mal regnen, auch wenn es zuerst nicht danach aussieht. Deswegen halte ich es für sinnvoll, wenn ihr mit dem Auto auf der Fähre übersetzt. Dafür sollten wir aber bald einen Platz reservieren.»
«Du hast das alles schon für uns geplant?», fragte ich erstaunt.
Oma lehnte sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck im Sessel zurück. «Ich bin natürlich davon ausgegangen, dass du sofort deine Koffer packst, wenn ich dir von meinem Haus auf Amrum erzähle. Schön, wenn am Ende doch noch etwas Gutes dabei herauskommen wird.»
«Herauskommen muss! Du bist doch immer diejenige, die sagt, dass am Ende alles gut wird.»
Oma nickte. «Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.»
«Ein Haus auf Amrum», sagte ich. «Und neue Möglichkeiten. Das ist doch schon mal ein guter Anfang.»
Den schönen Gedanken nahm ich mit ins Bett. Es war mittlerweile schon halb eins. Noch immer hatte ich viele Fragen im Kopf zu den Familienverhältnissen und zu Omas Vergangenheit. Ich war so aufgewühlt, dass ich lange nicht in den Schlaf fand. Oma hatte recht, am liebsten würde ich sofort meinen Koffer packen. Ich war gespannt, die Insel kennenzulernen, auf der Oma die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Auf das Haus, das bald mir gehören sollte, was ich immer noch nicht glauben konnte. Und ich freute mich darauf, mit Leni noch einmal Urlaub zu machen, bevor die Schule begann. Nur sie und ich. In den letzten Jahren hatten wir immer entweder meine Oma oder meine Mutter dabeigehabt, manchmal sogar beide. Und nun würden wir zum ersten Mal allein verreisen. Wir würden uns ein paar schöne Tage machen, am Meer.
Nebenan, in Florians ehemaligem Arbeitszimmer, das wir zum Gästezimmer umfunktioniert hatten, schlief Oma. Plötzlich fiel mir ein, dass es vielleicht immer schon einen Hinweis auf ihre Herkunft gegeben hatte. Omas Vorname war Undine. Und für meine Mutter hatte sie den Namen Jella ausgesucht. Ich hatte es auf die Hamburger Abstammung meines Urgroßvaters zurückgeführt, nicht ahnend, dass seine Heimat Amrum war und ein Teil von Omas Wurzeln somit nordfriesisch. So auch meine, die meiner Mutter und Lenis. Und dann hatte meine Oma auch noch einen Bruder. Wie hieß er noch mal? In der Aufregung hatte ich seinen Namen vergessen. All die Jahre hatte sie ihn verschwiegen. Wie wenig ich von meiner Oma doch wusste! Noch nicht einmal ihren Geburtsnamen kannte ich, wie mir nun klar wurde. Ich seufzte leise. In manchen Bereichen waren meine Oma und meine Mutter sich sehr ähnlich. Beide hatten jung ihre Töchter zur Welt gebracht, Oma war einundzwanzig, meine Mutter zwanzig, und sie waren zum zweiten Mal geschieden. Ich hingegen war achtundzwanzig, als ich Leni geboren hatte, nun war ich vierunddreißig und bisher nicht verheiratet. Wir hatten es vorgehabt, Florian und ich, und sogar schon Pläne gemacht. Aber dann hatte Florian es doch wieder verschoben. Das Geld, das wir für die Hochzeit ausgeben würden, wollte er lieber erst einmal in einen Urlaub mit uns investieren, mit einem Wohnmobil durch Dänemark reisen, vielleicht auch bis nach Finnland. Oder doch lieber in den Süden? Durch Frankreich, Spanien, bis nach Portugal?
Aber dann war alles anders gekommen.
Wie schade, dass er das mit Omas Haus nicht mehr mitbekam. Er wäre sofort Feuer und Flamme gewesen und hätte wahrscheinlich auf der Stelle einen Umzugswagen organisiert. Florian hatte immer davon geträumt, irgendwann aus der Stadt wegzuziehen. Entweder in die Berge oder ans Meer.
Mit seinem Bild vor meinem inneren Auge schlief ich ein.
Zuerst fielen mir das Haus und Oma ein, als ich aufwachte. Aber im nächsten Moment wurde mir bewusst, was heute für ein Tag war. Ich sah auf die Uhr. Halb zehn, um diese Zeit hatte Florian vor vier Jahren noch gelebt. Die Erinnerung an seine lebendige Art, sein ansteckendes Lachen und die Wärme seiner Umarmungen überwältigte mich. Tränen stiegen mir in die Augen. Heute durfte ich weinen. In den vergangenen Jahren hatte ich meine Gefühle oft unterdrückt, weil ich Leni nicht belasten oder ängstigen wollte. Weil ich stark sein wollte für sie. Ich gab mich einen Moment der Traurigkeit hin, dann rollte ich mich auf die andere Seite und sah zum Fenster.
«Da bist du ja wieder», sagte ich leise. Im Gemeinschaftsgarten hinter dem Haus wuchs eine hohe Tanne, auf der ganz oben die Amsel saß. Sie kam nicht jeden Morgen, aber wenn sie da war, freute ich mich über ihren Gesang. Sie zwitscherte mit einigen anderen Vögeln um die Wette. So war es auch gewesen, als Florian zu seiner Joggingrunde aufgebrochen war. Ich war im Bett geblieben. Am Abend zuvor waren wir auf einer Geburtstagsfeier gewesen und erst spät schlafen gegangen. Leni hatte bei meiner Oma übernachtet. Und ich hatte mich auf ein bisschen Zeit für mich gefreut. Im Bett, mit einem Buch und der Tasse Kaffee, die Florian mir gebracht hatte. Kurz hatte ich überlegt, ihn zurückzuhalten. Die Erkältung, mit der er in den vergangenen Wochen gekämpft hatte, war nicht ohne gewesen. Aber ich tat es nicht. Ich las, badete, deckte den Frühstückstisch. Als er nach eineinhalb Stunden noch nicht zurück war, wurde ich unruhig. Eine Stunde dauerte es immer. Plante er, länger unterwegs zu sein, sagte er mir vorher Bescheid. Er trainierte für seinen nächsten Halbmarathon. Aber er würde doch keine lange Strecke so kurz nach der Krankheit laufen! Gefühlt jede Minute sah ich auf mein Handy. Ich rief Florians Laufpartner Robert an, fragte ihn, ob er etwas von Florian gehört hatte, ob ich vielleicht nicht mitbekommen hatte, dass er noch eine Extra-Runde geplant hatte. Aber davon wusste Robert nichts, denn ausgerechnet an dem Tag war Florian allein unterwegs gewesen.
Er hatte versprochen, Brötchen mitzubringen. Aber er kam nicht zurück. Stattdessen klingelten zwei Stunden später der Polizist und die Polizistin. Florian war beim Joggen im Park gestorben, ganz hier in der Nähe. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ursache war eine verschleppte Herzmuskelentzündung, wie sich später herausstellte. Die Spaziergänger, die ihn gefunden hatten, waren zu spät gekommen. Sie konnten ihm nicht mehr helfen. Er hatte mich als Notfallkontakt in seinem Handy gespeichert, sodass die Polizei mich so schnell finden konnte.
Wäre er doch nur nicht so übermütig gewesen, nicht so gedankenlos, wie er manchmal war. Hätte ich ihn doch nur zurückgehalten!
Die Amsel hüpfte nun von der Tannenspitze auf einen der unteren Zweige. Florian hatte oft am Fenster gestanden, um die Vögel zu fotografieren. Die Kamera und die Objektive lagen immer noch im Schrank.
Ich zog die Beine an, drückte die Knie fest an die Brust, umfasste die Schienbeine und spürte dem Gefühl in mir nach, dieser Mischung aus Schmerz und Leere. Bis die Stimmen meiner Oma und meiner Tochter gedämpft zu mir drangen. Es hörte sich so an, als würden sie bereits in der Küche werkeln.
Das Gespräch von gestern Abend kam mir wieder in den Sinn. Und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben könnten. Amrum! Das Leben ging weiter, und ich war bereit, mich darauf zu freuen, nicht trotz, sondern gerade an diesem Tag, der mir nur allzu schmerzlich vor Augen führte, wie kurz das Leben sein konnte.
Der Frühstückstisch war gedeckt. In der Mitte die Etagere, darauf die Vanille-Windbeutel und die berühmten Schoko-Vulkane. Dazu eine Schüssel Obstsalat, eine Käseplatte, Gemüsesticks, verschiedene Aufstriche und ein Laib Brot. Oma und Leni hatten den Tisch mit Liebe für mich gedeckt. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, da, wo gerade noch die Leere gewesen war.
«Guten Morgen, mein Schatz», sagte meine Oma.
«Morgen, Oma.»
Leni legte ihre Arme um mich und drückte mich. «Guten Morgen, Mama.» Sie hielt mich einen Moment ganz fest. «Ich hab dich lieb.»
«Ich dich auch, ganz doll.»
Leni konnte sich nicht an ihren Vater erinnern, was sie manchmal sehr traurig machte. Aber sie wusste, was heute für ein Tag war, und wollte mich wohl trösten. Ich hatte es ihr erzählt, damit sie verstand, warum ich an dem Tag traurig sein würde, und um Florian auch für Leni in Erinnerung zu behalten.
Ich streichelte ihr übers Haar. «Der Frühstückstisch sieht aber schön aus», sagte ich. Da bemerkte ich das Foto, das sonst auf der Kommode im Wohnzimmer stand und nun auf einem der Stühle lehnte: Florian, auf einer Bank sitzend, die Arme auf die Lehne gelegt. Mein Lieblingsfoto von ihm. Mit zerzausten Haaren, einem Funkeln in den Augen und einem strahlenden Lächeln. Ich wusste, dass Leni das Foto dorthin gestellt hatte. «Und Papa frühstückt auch mit. Wie schön.»
Leni drückte mich noch einmal, und ich blinzelte ein paar Tränen weg.
Da klatschte Oma in die Hände. «So, Schatz und Spatz, wer von euch hat Lust auf Rührei?» Schatz war ich, Spatz war Leni. Es klang ähnlich, aber wir konnten beide am Tonfall unterscheiden, wen meine Oma meinte. Wenn sie Leni ansprach, hatte ihre Stimme einen sanfteren Klang.
«Na, wir beide», antwortete Leni. Sie sah zu mir auf. «Oder, Mama?»
«Auf jeden Fall.»
Meine Tochter nickte in Richtung Küche. «Heute ist wieder Tag der offenen Tür. Wir haben alles sauber gemacht, Uroma und ich.»
Wir frühstückten ausgiebig, ich lobte noch einmal die leckeren Windbeutel, wir sprachen wie jedes Mal an seinem Todestag über Lenis Vater, den sie so früh verloren hatte. Ich erzählte, dass er bei ihrer Geburt dabei gewesen war. Und was für große Augen er gemacht hatte, als er Leni zum ersten Mal gesehen hatte, weil ihr Haar sehr voll und dunkel gewesen war, obwohl alle in der Familie blond waren.
«Deshalb wollte er mich Monchhichi nennen», sagte Leni mit leuchtenden Augen. Sie liebte diese Geschichten über ihren Vater. «So wie die Puppe, die du mir geschenkt hast, Mama.»
«Ja.» Ich lächelte verschmitzt. «Aber dann haben wir uns doch auf Leni geeinigt. Zum Glück. Denn als du ein paar Monate alt warst, sind dir alle Haare ausgefallen und du hattest eine Glatze.» Kleiner Lollipop hatte er sie dann manchmal mit einem Augenzwinkern genannt, aber das behielt ich für mich. «Und danach sind die wunderschönen blonden Haare gewachsen, die du jetzt hast.»
«So wie bei dir und Oma.»
«Aber deine sind am schönsten, Leni», sagte meine Oma.
Sie hatte recht. Lenis Haar war hellblond. Es fiel ihr in weichen Wellen bis auf die Schultern. Ich schaute meine Oma an. Sie hatte gerade wieder frisch nachgeholfen, weil sie ihr Grau nicht mochte. Und auch ich ließ mir ab und zu ein paar honigblonde Strähnen in mein Aschblond zaubern. «Dein Papa hat sich jedenfalls sofort in sein hübsches Töchterchen verliebt.»
Nach dem Frühstück ging ich wie jedes Jahr spazieren. Es war nicht weit von unserer Wohnung bis zum Bergpark und dort bis zu unserer Bank, auf der Florian und ich so gern gesessen hatten. Mit Blick auf den Teich, den die Sonne heute in warmes Licht tauchte. Ein paar Libellen schwirrten mit ihren schimmernden Flügeln um die Rohrkolben. Alles war friedlich. Das leise Plätschern des kleinen Wasserfalls in der Nähe unterstrich die Beschaulichkeit.
Plötzlich durchbrach ein lautes Schnattern die Stille. Ich hob den Kopf. Zwei Graugänse näherten sich mit ausgebreiteten Schwingen. Mit geübter Präzision setzten sie auf der spiegelglatten Fläche auf. Ich beobachtete, wie sie anmutig über das Wasser glitten. Dabei hörte ich Florians Stimme in meinem Kopf.
«Es war einmal eine Gans, die verliebte sich in einen Schwan. Und der verliebte sich in die Gans …»