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Eines Tages trifft Sandra in ihrem Stammcafé auf einen neuen Gast. Diese Begegnung löst einen Feuersprung aus und reißt den Schleier des Vergessens auf. Sandra durchlebt die Verzweiflung eines früheren Lebens, hilflos im Schattenreich gefangen zu sein. Aus Sicht der Verstorbenen nimmt sie all die Tragik wahr, die sich damals abgespielt hat. Melissa und ihr Liebhaber Gustav sind ein schillerndes Paar, bewegen sich in vornehmen Kreisen. Sie führen ein ausschweifendes Leben. Bis zu dem Punkt, an dem Melissa ihrem oberflächlichen Leben eine Wende geben will und sich von Gustav trennt. Finanziell von Melissa abhängig und durch Melissas neuen Partner in seiner Ehre verletzt, gründet dieser einen schwarzmagischen Zirkel und lässt sich auf den dunklen Baron ein, um sich zu rächen. Auch Mord und Missbrauch sind akzeptable Mittel für ihn. Doch die Seelen der Ermordeten hängen im Reich der Schatten fest und nur die Liebe kann die Dämonen besiegen und die Tür zum Licht aufstoßen. Ein Leben später trifft Sandra die Menschen aus ihrem vergangenen Leben wieder. Was sind die karmischen Folgen für alle Beteiligten? In welcher Beziehung steht sie heute zu ihnen? Und vor allen Dingen: Wird sie endlich mit ihrem Seelenpartner zusammen sein? Anmerkung des Verlages: Der Titel der ursprünglichen Ausgabe (eines anderen Verlages) lautet: "Nadelspitzen in schwarzem Samt". Bei "Der dunkle Baron" handelt sich um eine vollständig überarbeitete Neuauflage des Franzius Verlages.
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Seitenzahl: 346
Erkenntnisreiche Literatur,
die zum Nach- und Mitdenken anregt
und lösungsorientiert ist.
Mirjam Wyser
Der dunkle Baron
Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG
Cover: Perry Payne
Buchumschlag:Jacqueline Spieweg
Bildlizenzen: Shutterstock
Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann
Verantwortlich für den Inhalt des Textes
ist die Autorin Mirjam Wyser
Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH
Druck und Bindung: SDL, Berlin
Bei »Der dunkle Baron« handelt es sich um eine vollständig überarbeitete Neuauflage des Franzius Verlages. Der Titel der ursprünglichen Ausgabe (eines anderen Verlages) lautet: »Nadelspitzen in schwarzem Samt«.
978-3-96050-080-3
2. Auflage
Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH
Hollerallee 8, 28209 Bremen
Copyright © 2017 Franzius Verlag GmbH, Bremen
www.franzius-verlag.de
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
1. Offenbarungen aus der Tiefe
2. Die Frau im weißen Kleid
3. Ein Spätsommertag
4. Traumoffenbarung
5. Karmische Erinnerungen
6. Verlassen
7. Gefangen zwischen zwei Welten
8. Die Kutsche
9. Aus dem Totenreich
10. Der Mord
11. Sehnsuchtsschrei
12. Neues Leben im Schattenhaus
13. Gustav
14. Odilia
15. Auszug aus der Villa
16. Gustav und Anthony
17. Dornröschenschlaf
18. Das Spukhaus
19. Medium Amalia
20. Stadtgespräch
21. Gefangen in der Dunkelheit
22. Seelenqualen
23. Ein Leuchten über dem Schattenhaus
24. Der Anwalt
25. Das Geständnis
26. Lichtstrahlen
27. Licht der Liebe
28. Die Seelen im Licht
29. Goldene Sterne
30. Der Kirschbaum blüht
31. Zurück im 21. Jahrhundert
32. Valentin ist heute Robin
33. Der alte Mann, ein geistiger Führer
34. Die Rose
35. Gewitterwolken im Geistigen
36. Der Tempel
37. Der Alltag
38. Carmen
Personen
Über die Autorin Mirjam Wyser
Weitere Werke der Autorin
Veröffentlichungen des Franzius Verlages:
Die Mysterien des Abgrundes offenbaren sich dort, wo in allem, was einst eine Seele zugrunde gerichtet, sie in Verzweiflung und Tod gestürzt hat, das nie Erwartete, das total Andere eintritt: der Aufstieg ins Licht. Da, wo der Spiegel zerbricht, wo der Schleier zerreißt, wo der neue Geist geboren wird und das andere Leben beginnen kann. Der Spiegel ist, dass man sich selbst begegnet.
Die Wahrheit ist nicht immer angenehm.
Zeitig an diesem regnerischen Frühlingsmorgen macht sich Sandra, eine Frau mittleren Alters mit einer magischen Ausstrahlung, auf den Weg in die Stadt. Der Regen wird heftiger und Sandra zieht den Regenschirm tiefer vor das Gesicht. Ein unwiderstehlicher Zwang zieht sie in Gedanken immer wieder zu einem Traum zurück. Dieser Traum hat angefangen, sie zu verfolgen.
Gedankenverloren übersieht sie das rote Licht der Ampel. Quietschende Autoreifen und ein verärgerter Fahrer holen sie in die Wirklichkeit zurück. Auf dem Weg zur Bushaltestelle drängen die Menschen dicht aneinander vorbei. Im Bus erwischt sie einen Fensterplatz. Nach ein paar flüchtigen Blicken nach draußen lehnt sie sich in den Sitz zurück. Bald ist sie in Gedanken wieder ganz weit weg. Ihr fein geschnittenes Gesicht nimmt einen geistesabwesenden Blick an. In Gedanken macht sie wieder den Sprung zurück in ihren Traum.
Plötzlich, wie vom Blitz getroffen, steht sie auf und geht zielstrebig zum Ausgang. Die Bustür öffnet sich und Sandra steht im kalten Regen. Sie öffnet den Schirm; geht schneller, gerät schon fast ins Laufen. Sandras Ziel ist das kleine Buchantiquariat um die Ecke. Der alte Buchhändler hat gerade seinen Laden geöffnet und freut sich über seine erste Kundin. Sandra grüßt freundlich, ist heute aber sehr wortkarg. Erstaunt starrt sie der alte Mann an.
Zielgerichtet geht sie zu den Regalen der mystischen Literatur. Was sie genau sucht, weiß sie nicht. Sie hat eine Vorliebe für das Irrationale. Es sind die unbeantworteten Fragen nach dem Sinn des Lebens. Sandra liebt es, in alten Büchern herum zu stöbern, und erhofft, Antworten zu finden. Die Vorliebe für esoterische Literatur, geheimes Wissen ist nicht unbegründet. In ihren Seelentiefen schlummert ein verschleiertes Trauma. Langsam beginnt sich der Schleier, der diese geheimnisvollen Zusammenhänge verdeckt, zu heben.
Gerade blättert sie in einem Buch über Grenzwissenschaften, da steht plötzlich ein alter Mann vor ihr. Sein Anblick wirkt irritierend. Der Mann sieht aus wie ein Knochengerüst, das mit etwas Haut überzogen ist. Trotzdem hat er ein gutmütiges, strahlendes Antlitz und magische Augen. Sandra schwankt zwischen Abwehr und Zutrauen. Das Zutrauen siegt.
Unerwartet spricht er Sandra an. »Lesen Sie nur solche Bücher. Geistiges Wissen ist das Einzige, das Ihnen nie jemand wegnehmen kann!«
Etwas verlegen lächelt Sandra zurück und denkt: »Der Mann sieht aus wie ein verirrtes Wesen, das aus einem todesähnlichen Schlaf erweckt wurde. Seine unergründlich tiefen Augen sind fast unheimlich!«
Als könnte er Sandras Gedanken lesen, spricht er Unerwartetes: »Danke für Ihr Lächeln!«
Irritiert blickt Sandra direkt in seine Augen. Sie ist wie entrückt! Für Sekunden steht sie bewegungslos da. Ein flutendes Licht durchpulst ihren Körper. Bevor sie etwas antworten kann, ist der rätselhafte Mann verschwunden. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Verwundert denkt Sandra: »Was war das gerade für eine sonderbare Begegnung? Habe ich geträumt oder war der alte Mann Wirklichkeit? Habe ich die Welt der unwirklichen Wirklichkeit betreten?«
Sie läuft irritiert durch die Bücherregale und hält Ausschau nach ihm. Noch weiß sie nicht, dass ein Adept ewig lebt und er schon früher eine Rolle gespielt hat. Hier und jetzt ist und bleibt er verschwunden. Sandra fragt den Buchhändler nach dem sonderbaren Mann. Der schaut sie mit flackerndem Blick ungläubig an und zuckt die Schultern.
Und mit erstaunter Stimme antwortet er: »Sie sind die einzige Kundin, die heute meinen Laden betreten hat!«
Sandra schüttelt fassungslos den Kopf, als müsste sie sich wachrütteln. Das Erlebnis hat sie aufgewühlt. Als Erinnerungsstück kauft sie das Buch, das sie bei dieser ungewöhnlichen Begegnung gerade in den Händen gehalten hat.
Sandra verabschiedet sich und tritt ins Freie. Sie nimmt ein paar tiefe Atemzüge und schaut zum Himmel. Eine Nebelschwade verhält sich eigenartig. Obwohl mit einem Mal ein eisiger Wind um das Gebäude weht, hat er keinerlei Einfluss auf die graue Nebelschwade. Sie kriecht wie ein Spukgeist die Mauer entlang.
So beginnt eine Geschichte in einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Die Wucht der Erinnerungen trifft sie unvorbereitet. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass entscheidende Momente im Leben von lauter und greller Dramatik sein müssen.
Irgendwo in einem schönen Park steht eine herrschaftliche Villa. Tatsächlich ist die Zeit in dieser Villa stehen geblieben. Das alte Gemäuer ist umhüllt von grauem Nebel. Die alten Bäume im Park neigen ächzend ihre Kronen im Wind und erzählen die Geschichte von Melissa, der einstigen Hausbesitzerin, die vor vielen, vielen Jahren hier gelebt hat.
Wilde Rosen ranken sich an den Mauern entlang. Niemand bewohnt das Haus mehr, es steht einsam und leer da. Nur um Mitternacht huscht ein scheuer Schatten über die Veranda. Kurze Zeit später wird auf der Terrasse die weiße, durchsichtige Gestalt einer Frau gesichtet. Das Haus schläft einen langen, tiefen Schlaf.
Das war nicht immer so. Einmal war die Villa belebt von Leben, Lachen, Musik und Fröhlichkeit. Der Ruf aus einem verschwommenen Traumland hat Sandra erreicht und lautlos öffnen sich verschlossene Türen. Sie wanderte stille und einsame Wege, die sehr beschwerlich waren, bevor die Seele erwachen konnte.
Der Vollmond erleuchtet das herrschaftliche Anwesen, das in dem schönen Park mit seinen alten Bäumen steht. Bei genauer Betrachtung wird offensichtlich, dass die herrschaftliche Villa einen neuen Anstrich vertragen könnte. Der rötliche Putz der Fassade bröckelt etwas ab. Die einst schön gepflegte Kiesstraße ist mit Unkraut überwuchert. Das schmiedeeiserne Tor mit einer Kette verschlossen. Daran hängt ein großes Vorhängeschloss. Den Betrachter überkommt etwas Traurigkeit bei diesem verwahrlosten Anblick. Wirklich kaum vorstellbar, dass die Villa noch bewohnt wird. Der Fokus richtet sich wieder auf die Veranda.
Das Schlagen der Kirchturmuhr zerreißt die gespenstische Stille. Das weiße, feinstoffliche Kleid, schemenhaft wahrnehmbar, tanzt im sanften Nachtwind. Im Mondlicht erspäht man wieder die Umrisse dieser nebelhaften Frauengestalt. Einsam steht sie da und schaut in die Nacht hinaus. Auch in den folgenden Nächten immer das gleiche Bild. Unheimlich wirken die durchsichtigen Konturen der Frau im weißen Kleid. Ein menschlicher Schatten von fühlbarer Traurigkeit schaut in die unendliche Weite des Sternenhimmels. Das Gefühl von unbeschreiblicher Einsamkeit taucht als flüchtige Erinnerung bei Sandra auf. Nicht fassbar und trotzdem da.
Sandra hat das Zeichen zum inneren Aufbruch bekommen. Schon die ganze Zeit – unerschütterlich im Glauben – hat sie das Gefühl, dass eine innere Führung ihr eine Botschaft überbringen will. Das Spiegelbild des eigenen Wesens hat begonnen, das Licht nach außen zu reflektieren. Nun folgt sie dem inneren Ruf, eine Verbindung zur unsichtbaren Welt herzustellen.
In dieser Nacht wird Sandra in der Traumwelt durch einen dunklen Tunnel gezogen und es gelingt ihr, hinter den Spiegel zuschauen, der die physische und die geistige Welt trennt! Das erlaubt ihr allmählich, in eine frühere Inkarnation zurückzuschauen. Ihr Geist hat sich abgesetzt und fliegt frei und leicht durch die übersinnliche Welt. Anfänglich war sie ganz unsicher, wie sie die Erlebnisse einordnen soll. Sie will sich von Visionen kein falsches Bild machen. Tage voller Zweifel vergehen. Kann sie wirklich imaginär wahrnehmen? War es die Empfindsamkeit ihres Herzens, das zu ihr gesprochen hat? Die träumerischen Spekulationen, die sich hier von der herkömmlichen Weise absondern, eröffnen neue Dimensionen.
Nachdenklich schlendert Sandra durch das morgendliche Menschengetümmel. Der Traum ist noch sehr gegenwärtig. Sie fühlt sich beschwingt. Diese inneren Bilder lassen sie nicht mehr los. Eine Reise in das eigene Innere hat begonnen. Sandra ist sich dessen Tragweite noch nicht bewusst.
»Die Welt der Erscheinungen ist so täuschend, dass man sich leicht darin verlieren kann!«, denkt sie sich schon fast als Entschuldigung.
Fast täglich besucht Sandra das kleine Café »Espresso« in der Nähe. Ringsherum sind in kurzer Zeit bombastische Einkaufscenter, Wohn- und Geschäftshäuser entstanden. Der Bauboom ist erschreckend. Die Gaststube von Elvira ist eine Oase der Gemütlichkeit geblieben. Schräg gegenüber liegt das kleine Buchantiquariat. Ein Blick auf die Uhr: Genügend Zeit, sich einen Kaffee zu gönnen und vielleicht einen Blick in die Morgenzeitung zu werfen. Kurz darauf betritt sie das Café »Espresso«.
Sandra mustert einen Moment lang den Gast, der seit einiger Zeit regelmäßig seinen Kaffee hier trinkt. Als Marcel hat er sich vorgestellt. Er hat eine freundliche Art, ist offen und immer zu einem Schwatz und einem Späßchen aufgelegt. Er schlürft gerade seinen Kaffee, als Sandra eintritt. Überschwänglich winkt er ihr zu, sich zu ihm zu setzen, obwohl sie sich nicht einmal richtig kennen. Marcel grinst gutmütig. Sandra nimmt das Angebot gerne an.
Über ihr außergewöhnliches Erlebnis im Antiquariat mag sie hingegen nicht sprechen. Marcel betrachtet ihr interessantes Profil, als sie so dasitzt. Eigentlich kann er sich nicht erklären, was ihn zu dieser Frau so hinzieht. Sie ist nicht auffallend schön, auch etwas älter als er, aber ihr Gesicht hat etwas eigenartig Anziehendes.
Schon seit der ersten Begegnung wandern freundliche, allerdings nur belanglose Floskeln zwischen ihnen hin und her. Marcel hat die Fröhlichkeit eines Schuljungen, die immer für eine lockere Stimmung sorgt. Wenn er loslacht, durchzuckt es Sandra. Dieses Lachen kennt sie von irgendwo her. Sie grübelt darüber nach und gelangt zu der Gewissheit, dass etwas Karmisches zwischen ihnen eine Rolle spielen muss. Im Augenblick kann sie es nicht einordnen, doch die Zeit wird die Antwort geben.
Ein bestechender Zauber geht von Marcel aus. Etwas Magisches ist zwischen den Zeilen des Lebens zu erkennen. Die Idee wird geboren, sich zu einem kleinen Lunch in der Stadt zu treffen. In der Tat weiß keiner, was von dem anderen zu erhoffen ist. Zwei Tage warten ...!
Der Tag beginnt mit einem verheißungsvollen Morgenrot. Es ist ein strahlend schöner Spätsommertag geworden. Sandra hat ihr kleines Auto im nahegelegenen Parkhaus abgestellt. Seit einer halben Stunde geht sie die Straße auf und ab und schaut die Auslagen in den Schaufenstern an. Sie fühlt sich wie bestellt und nicht abgeholt. Sie sieht zum Himmel hoch, er hat sich etwas bewölkt. Hat Marcel sie etwa versetzt? Eigentlich sagt Sandras Gefühl Nein.
Bevor sie ihre zweifelnden Gedanken fertig gedacht hat, schrillt das Handy. Ein Lächeln der Freude huscht über Sandras Gesicht. Beide haben an verschiedenen Orten gewartet. Fast hätten sie einander verpasst.
Mit Verspätung kann der Lunch serviert werden. Man ist sich wie gewohnt sympathisch, erzählt dieses und jenes. Sandra hört lächelnd seinen Erzählungen zu.
»Woher kenne ich dich nur?«, überlegt sie und betrachtet nachdenklich sein lachendes Gesicht. Da durchzuckt eine Erinnerung wie ein heller Blitz ihre Sinne. Sandra schweigt darüber. Vielleicht liebt sie ihn? Wer kann schon wissen, was Liebe ist! Sie schiebt diesen Gedanken so schnell, wie er gekommen ist, wieder zur Seite.
Die verbleibende Zeit vergeht in Windeseile und die Arbeit ruft. Für tiefgründige Gespräche fehlt wieder einmal die Zeit. Das Wesentliche bleibt abermals an der Oberfläche hängen. Der Weg ins Parkhaus ist kurz. Sandra fährt Marcel noch das kurze Stück zur Arbeit. Die Autotür schlägt zu. Ein freundliches Winken, nun ist er wieder weg. Sandras Gedanken bleiben den ganzen Nachmittag an dieser speziellen Begegnung hängen. Die Begegnung mit Marcel war wirklich nett und witzig.
Das Tiefgründige, das zwischen den Zeilen des Lebens geschrieben steht, können sie noch nicht erahnen. Wird es eine Wiederholung geben? Die äußeren Umstände sprechen eher dagegen. Jedenfalls ist der morgendliche Schwatz im kleinen Café »Espresso« sicher.
Sandra analysiert, zerpflückt die Begegnung mit Marcel. Die Gedanken an ihn sind wie ein leises, vor sich hin prasselndes, flackerndes Licht. Als bekäme sie eine Antwort auf ihre Fragen, rüttelt plötzlich ein aufkommender Wind an den Fenstern. Der Wind wird stärker – mächtig rauscht er um die Ecken. Ist das ein normaler Wind? Mit Bestimmtheit erinnert sie sich, dass die Wettervorhersage nichts von sturmartigem Wetter berichtet hat. Sofort wischt sie den Gedanken, dass da etwas Ungewöhnliches im Gange sein könnte, zur Seite. Ein gezackter Blitz zuckt über den Nachthimmel und schlägt irgendwo ein. In diesen Augenblick weiß sie, dass sie eine magische Sphäre betreten wird. Die grübelnden Gedanken an Marcel krallen sich fast unheimlich fest. Es verfolgt sie in die Traumwelt. Wer ist er? Kaum sind die Augen geschlossen, spricht die Antwort in Bildern aus den Seelentiefen.
Je weiter die geistige Entwicklung von Sandra fortschreitet, desto wahrscheinlicher sind übersinnlichen Erlebnisse in der Geistwelt, der Astralwelt, der mystischen Welt. Die Genialität des Übersinnlichen lebt in Bildern. Imaginationen sind Bilder, um die höheren Sphären einen Schritt weit zu begreifen. Gedanken werden zu Bildern. Wie Sonnenblumen, welche die Köpfe nach der Sonne, dem Spirituellen, drehen, um zu erkennen.
Der heutige Mensch will nicht glauben, er will wissen. Sandras inneres Auge öffnet sich mehr und mehr.
In einer Traumoffenbarung steht sie an einem See in einer Winterlandschaft. Die eisige Kälte hat den kleinen See zugefroren. Die weiße Landschaft mit den glitzernden Schneekristallen präsentiert sich als das ungetrübte Vollkommene. Eine stille Umarmung der seelischen Harmonie mit Liebesstrahlen. Hier berühren sich zwei Welten, das Tagesleben und das Nachtleben.
Marcel fährt im Traumland mit Schlittschuhen über die Eisdecke. Sandra steht am Uferrand, lacht herzlich und applaudiert mit anderen Zuschauern zu den gekonnten Sprüngen. Er hebt von der Eisfläche ab, dreht sich in der Luft um die eigene Achse und landet meisterhaft. Marcel scheint den Applaus sichtlich zu genießen. Dann plötzlich verliert er die Balance und stürzt. Es knackt und knirscht, die fröhliche Stimmung schlägt abrupt um. Das Eis zerreißt mit tiefem Grollen und dumpfem Beben. Die Eisdecke bricht ein und der Eisläufer versinkt bis zu den Hüften. Er wird ein Gefangener des gefrorenen Sees.
Es gibt im richtigen Eis auch verschiedenen Schichten, eigentlich bricht man nicht einfach voll durch. Mit dem Seelischen ist es genauso: eine mehrschichtige Angelegenheit, bis zum Durchbruch.
Trotz der Gefährlichkeit der Situation machen beide weiterhin dumme Sprüche und lachen, als wäre nichts geschehen.
Plötzlich zieht ein heftiger Schneesturm auf. Über dem Eingesunkenen kreist ein Adler, als wäre er auf der Jagd nach einer Beute. Schlagartig verwandelt sich das Stimmungsbild. Die Gefahr für den Eingeschlossenen wird erst jetzt richtig bewusst. Sandra nimmt ihren ganzen Mut zusammen und robbt auf dem Bauch zu dem Hilferufenden. Mit beinahe übermenschlichen Kräften und der Hilfe von Sandra gelingt es Marcel, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Erschöpft und entkräftet sitzen die beiden nach der spektakulären Rettung am Uferrand. Viele virtuelle Gaffer waren am See, doch niemand war bereit zu helfen. Alle diese Zuschauer haben sich wortlos davon geschlichen.
Sandra sucht am nächsten Morgen nach der irdischen Bedeutung dieser nächtlichen Botschaft. Vorerst lässt die Auflösung unbeantwortet im Raume auf sich warten. Dann gelingt es Sandra, das innere Bild ohne Mühe zu durchschauen.
Marcel ist im momentanen Leben etwas aus der Balance geraten. Offensichtlich ist der tiefe Sinn dieser Begegnung, dass Sandra behilflich sein soll, Marcel wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Im Traum konnten sich die zwei Seelen vereinen, was zur Folge hat, dass prägende Erlebnisse aus einem anderen Leben wachgerüttelt worden sind. Wenn man sich wieder auf die physische Ebene zurückbegibt, bleibt immer – bewusst oder unbewusst – etwas von dem Traum im Gedächtnis hängen. Dem Träumenden werden verschlüsselte Botschaften mitgeteilt.
Die beiden treffen sich abermals in der übersinnlichen Welt beim zugefrorenen See. Ihre Blicke schweifen zur Bruchstelle. Das Eis hat in der Zwischenzeit noch zusätzliche Risse bekommen. Das Betreten ist absolut unmöglich. Bei jedem Schritt würde die Gefahr lauern, im Eis unrettbar einzubrechen.
Dann wandelt sich der See wie ein Bühnenbild um. Die gefrorene Eisdecke schmilzt wie Eis in der Sonne. Das Wasser versickert. Der See löst sich auf. Stattdessen fängt die Natur an zu sprießen. Aus dem Nichts entwickelt sich ein prachtvoller Baum im Frühlingskleid. Die Knospen öffnen sich. In rosa Blüten steht ein stolzer Kirschbaum da. Schöner könnte er nicht sein, dieser blühende Kirschbaum.
»Der Baum, mein Freund«, denken Sandra und Marcel und das Gefühl der Liebe zur Natur wirkt beglückend bis in die tiefste Seele. Die Geistkörper der zwei Staunenden fühlen sich wie Ballone an, welche durch das Glücksgefühl aufgeblasen werden und sich ins Unendliche des Kosmos ausdehnen. Das Schauspiel auf der unsichtbaren Seite des Lebens bekommt ein neues Bühnenbild.
Ein Engel in einem lichtvollen, durchsichtigen Geistkleid erscheint. Dann kniet er neben dem blühenden Kirschbaum nieder und gräbt mit seinen Händen, die wie Lichtstrahlen sind, symbolisch die Erde um. Nach getaner Arbeit ist ein tiefes Loch gegraben. Ein zweiter Engel erscheint. Mit sich bringt er ein kleines, strahlendes Lichterbäumchen, das nun in das vorgesehene Loch eingepflanzt wird.
Mit der Zeit gelingt es Sandra immer mehr, diese Botschaften aus der Traumwelt wie Puzzleteile zusammenzusetzen. Marcel ist Handelskaufmann. Widerliche Umstände entließen ihn aus seinem Vertrag, obwohl er vollen Einsatz geleistet hatte und sich absolut nichts vorwerfen konnte. Er musste die Ungerechtigkeit auf sich sitzen lassen. Seine freundliche Art hat er trotz der Widerlichkeiten beibehalten.
Durch diese inneren Bilder ist Sandra bewusst geworden, dass Marcel an seinem neuen Arbeitsplatz nicht sein ganzes Potenzial nutzen kann. Er ist ein Gefangener der Umstände, dessen Spuren in ein anderes Leben zurückführen müssen. Die ersten kleinen Einblicke öffnen sich wie Lichtschimmer für eine höhere Dimension der Wahrnehmung.
Der physische Abdruck des Herzens wird zu einem hörbaren Klang, der Leuchtkraft der Liebe. Sandra ist in das jetzige Leben von Marcel getreten und hat mit seiner Lebensgeschichte auf den ersten Blick eigentlich nichts zu tun. Als neutrale Person ohne Vorurteile ist sie von unsichtbarer Führung ins Spiel gebracht worden. Mit übersinnlichen Kräften wird der Gebeutelte langsam aus seiner misslichen Lage befreit. Tatsache ist, dass die Beiden ein gemeinsames Karma aus einem früheren Leben haben. Genaueres liegt zurzeit noch unberührt in den Seelentiefen verborgen. Marcel ist eine gerechte, strahlende Persönlichkeit. Fast unverständlich sind seine beruflichen Schwierigkeiten oder genauer gesagt, die Mobbingattacken seines Vorgesetzten.
Im Übersinnlichen werden die Fenster geöffnet und der alte, staubige Moder verlässt das Bedrückende vorerst einmal. Die karmischen Zusammenhänge sind noch nicht erklärbar.
Das innere Auge von Sandra hat sich wieder ein Stück weiter geöffnet. Somit auch die verschlossene Tür zum Übersinnlichen. Sie tritt Schritt für Schritt in ein einstiges Leben ein. Was sich ihr offenbaren wird, kann sie nicht erahnen.
Sandra geht am nächsten Tag gedankenversunken durch die pulsierenden Straßen der Vorstadt. Sie muss immer wieder an die inneren Bilder denken und hat gar nicht bemerkt, wie der Himmel sich verfinstert. Ein Donner kracht. Sandra zuckt zusammen. Schwere Regentropfen fallen kühl auf ihr Gesicht. Nochmals durchzuckt ein murrendes Grollen den Himmel. Wie ein Ungeheuer, das keinen Ausweg findet.
»Eigenartig, dieses Unwetter – genauso wie letzte Nacht«, denkt sie.
Fast gespenstisch wirken Sandras Visionen.
Dicker Nebel verschleiert das Herrschaftshaus mit dem verwahrlosten Garten. Die Fensterläden geschlossen; kein Licht, das einen Blick in das Haus gestatten würde; Totenstille, kein Atemzug eines Lebewesens.
Nur die nebelhafte Frau im durchsichtigen, weißen Kleid steht wieder auf der Terrasse und schaut zum Mond. Es weht ein kalter, frischer Wind. Sie schaut in den Park hinunter. Nichts rührt sich.
Der Mond nimmt seit einigen Tagen wieder zu. Täglich das gleiche Bild. Heute ist Vollmond. Dies ist ein unvergesslicher Tag, denn der Schleier des Vergessens wird gelüftet.
Sandras inneres Erwachen fühlt sich an, als ob sie nach einem Unfall aus dem Koma erwachen würde und sich nun mit Bruchstücken des Erinnerns versucht, ihre Lebensgeschichte zu rekonstruieren.
Sandra und Marcel sind in dieser einstigen Inkarnation ein Liebespaar. Ihre Liebesgeschichte spielt sich hauptsächlich in der prachtvollen Villa ab. Sie heißen zu dieser Zeit Melissa und Anthony. Zusammen erleben sie wundervolle, unvergessliche Stunden. Wenn sich die beiden treffen, sind sie bis in den physischen Leib von ihrem inneren Glück beseelt. An ihnen wird ersichtlich, was echte Liebe ist. Wenn sie sich in ihr Gemach, ihr Liebesnest, zurückziehen, wird jedem neidvoll bewusst, wie schön das süße Glück sein muss. Ihre Liebe hat sie in glühende Flammen versetzt.
Doch dann ziehen dunkle Wolken auf. Die Intrigen machen sich breit wie die Maden im Speck. Die Maden fressen sich satt und fett und schlussendlich führen sie in die Tragödie des Untergangs.
Die Liebe von Melissa und Anthony ist auf dem Höhepunkt der Glückseligkeit, angelangt. Wer nur im ständigen Glück schwebt, der entwickelt sich nicht mehr vorwärts.
Widerliche Umstände zwingen Melissa, den jüngeren Geliebten, Anthony, wegzuschicken. Der Altersunterschied mag vordergründig die Ursache der Trennung gewesen sein. Denn als die Geschichte mit Anthony bekannt wird, beginnen sich erste Stimmen aus dem Bekanntenkreis zu erheben. Sogar beste Freunde sprechen sich in dieser Angelegenheit gegen Anthony aus, obwohl es Melissas persönliche Angelegenheit ist, ihren Liebhaber zu wählen. Es ist schmerzlich, denn niemand ist erfreut, dass Anthony den Platz von Gustav, dem vorhergegangen Lebenspartner, einnimmt. Gustav ist ein Charmeur, sehr beliebt und tanzt durchtrieben, immer auf den eigenen Vorteil bedacht, auf allen Hochzeiten. Anfänglich ist Anthony wie eine lästige Fliege, dessen Existenz Gustav einfach ignorieren will. Todernst, mit einem nach Mitleid heischenden Blick, streut Gustav ganz gezielt falsche Information über Anthony. Dabei umspielt ein boshaftes Lächeln seine Lippen. Die lebhafte Fantasie seiner Zuhörer ist ihm sicher.
Wie bewusst wird es Melissa nach diesen Anfeindungen, dass sich diese Freundschaften, deren Gastgeberin sie immer war, überholt haben. Nur der Wunsch Freunde zu sein, reicht nicht, in entscheidenden Momenten zeigen alle ihr wahres Gesicht. Sie verfolgten nur den eigenen Nutzen, im kapitalistischen Denken. Über diese oberflächlichen Begegnungen, welche nur an irdisches Denken gebunden sind, ist sie hinausgewachsen. Das Leben ist ein Weg und ein Ziel. Der Weg heißt Entwicklung und das Ziel Freiheit. Um dieses Ziel zu erreichen, musste sie sich von alten gesellschaftlichen Verknüpfungen lösen. Dass solch gravierender Wandel nicht eitel Freude auslöst, ist offensichtlich. Hinter ihrem Rücken gibt es eine Revolution und Gustav führt sie heuchlerisch an.
Mit den wenigen Freunden, die übrig geblieben sind, verbindet sie ein gegenseitiger, geistiger Drang, über sich hinauszuwachsen. Ungeborene Gedanken, ungeborene Schönheiten, ungeboren Güte rufen nach Licht. Melissa ist auf dem Weg, spirituell und menschlich zu wachsen, Schritt für Schritt. Sich entwickeln heißt, sich zu verinnerlichen. Das geistig Schlummernde, die noch unausgeschöpfte Fülle des Lebens und der Geistigkeit ans Licht befördern.
Genau das Gegenteil ist Gustav. Er ist Meister in oberflächlichen, belanglosen Partyfloskeln. Die gesellschaftlichen Freundschaften sind für ihn ein Grundbedürfnis, in denen er seine Eitelkeit und seinen Hochmut ausleben kann, mit all ihren trivialen Möglichkeiten. Die dazugehörenden Schattenseiten werden nicht beachtet. Kein Wunder, dass er fast reagiert wie ein Hund, der sein Revier verteidigen muss, als sich Probleme in der Beziehung mit Melissa aufbäumen. Ihr Verhältnis ist an einer Weggabelung ankommen. Keiner will den Weg des andern gehen. Eine Trennung ist somit unaufhaltsam. Möglicherweise haben hier die drei Seelen an der Schwelle zum Übersinnlichen eine spirituelle Aufgabe zu lösen, jeder auf seine Art. Vorerst ist da einfach eine Spekulation.
Melissa glaubte anfänglich, dass Gustav die große, absolute Liebe ist. Es war Selbsttäuschung. Mit der Zeit hat sie genug von seiner Eitelkeit, seinem Ehrgeiz, seiner Besserwisserei und seiner Unwahrhaftigkeit. Zunehmend verbreitet sich das Gefühl, dass diese inhaltslose Liebe ihr die Seele aus dem Leib saugt. Es wird offensichtlich: Diese Liebesbeziehung ist ein gewaltiger Irrtum.
»Gustav hat sich verändert!«, denkt sie. Oder sieht sie ihn jetzt einfach mit objektiven Augen? Das Provozieren, das Verleumden in seiner Haltung ist tatsächlich neu. Die zerbröckelnde Liebe kehrt sich in eine Bedrohung um. Gustav ist nicht mehr Herr seiner Gedanken, er wird besetzt von einem einseitigen Wesen. Mit dem Schicksal des unglücklichen Liebhabers kann er sich nicht abfinden.
Als der jüngere Anthony in Melissas Leben tritt, ist es eine glühende Leidenschaft, die abhebt, sich im Himmel zu verlieren. Es ist nicht nur die körperliche Ebene, es ist eine unbeschreiblich sinnliche Verschmelzung. Diese Verbindung ist von großer Intensität und hat den Eindruck erweckt, dass sie Seelengefährten sein müssen. Ein langsames Vortasten aus einer dunklen Form, hin zu einem schillernden Leuchten.
Gustav fühlt sich als Verlierer. Es ist ihm nicht gelungen, seinen Nebenbuhler aus seinem Revier zu vertreiben. Gewaltig ertönt diese Erkenntnis in seinem Schädel.
»Der Kampf ist noch nicht vorüber, ich werde diesen Kerl vernichten!«, grollt es in seinem Kopf.
Aus überirdischer Sicht ist es fast zwingend, dass Melissa den jüngeren Geliebten wegschicken muss. Im Grunde genommen fühlt sie sich ohne Anthony leer, unsagbar leer.
»Wenn sich die Lage wieder etwas beruhigt hat, gibt es bestimmt ein glückliches Ende. Vielleicht haben wir mit unserer Liebesbeziehung etwas über das Ziel hinausgeschossen!«, denkt Melissa. Quälende Gedanken, nichts als quälende Gedanken verfolgen sie.
»Für seine spirituelle Entwicklung muss Anthony frei und unabhängig werden!«, rechtfertigt sie sich selbst. »Die Liebe auf dieser höheren Stufe muss selbstlos werden, nicht egoistisch gefärbt sein. Die Fülle irdischer Genüsse, Bequemlichkeiten ist eher hemmend für den Höhenweg einer spirituellen Entwicklung. Der Weg der Ewigkeit, der die Zeiten durchwandert, damit ein höherer Mensch geboren werden kann. Wahre Weisheit kann nicht durch Worte vermittelt werden, es ist ein in sich Hineinhören, eine Weisheit der Stille!«
Trotzdem fühlt sich Melissa einfach nur als Frau, welche dem Umfeld zuliebe den Mann ihrer Liebe weggeschickt hat. Dann sind sie auch wieder da: Die Zweifel, das Richtige getan zu haben. Und doch hält sie an ihrer Entscheidung fest.
»Wie blind und kurzsichtig trachten wir nach allem, nur nicht nach unserem ewigen Ziel!«, tröstet sie sich.
Die wirkliche Liebe ist das Höchste und Einzige, das sich durch alle Inkarnationen hindurchzieht. Unbewusst haben sich die beiden auf den spirituellen Weg gemacht. Zu diesem Zeitpunkt ist das für die Betroffenen noch nicht ersichtlich.
Melissa wird andauernd in ihren Gefühlen wie ein unkontrollierbarer Spielball hin und her geworfen. Es macht sie fast wahnsinnig, dass sie ihre Gefühle nicht in den Griff bekommt. Nach dieser tief greifenden Entscheidung fühlt sie, dass ihr Herz jeden Moment in Stücke gerissen wird.
»Sie muss von Sinnen gewesen sein, diese Liebe einfach wegzuwerfen! Wieso nur hat sie diese schicksalsschwere Entscheidung getroffen? Ihre Liebe ist noch lange nicht zur Gewohnheit geworden.«
Anthony hat sie sprachlos, irritiert und mit entsetztem Blick angestarrt. Sein Gesichtsausdruck verkrampft sich. Alles in ihm sträubt sich bei der Vorstellung, Melissa zu verlassen. Melissa blickt nachdenklich vor sich hin. Den genauen Grund will sie nicht verraten, fügt jedoch abschwächend noch hinzu, dass es bestimmt nur für eine kurze Zeit sein soll. Alles um Anthony versinkt in Grau. Es ist, als wäre die Sonne für immer untergegangen. Alles Trübe scheint in ihm aufgewühlt.
»Wie ein Schatten«, spricht seine Stimme. »Sind die Schatten der Bosheit stärker als unsere Liebe?«
Ein Schmerz durchzuckt sie, passende Worte bleiben in der Kehle stecken. Seine Reaktion hat alles noch viel schlimmer gemacht. Sie musste es wirklich tun. Aus dem anfänglichen sanften Druck des gesellschaftlichen Umkreises wurden blindwütige Angriffe auf Anthony und ihre Person. Dass Gustav, der verschmähte Geliebte, überall seine Hände im Spiel hatte, übersieht sie.
Anthony kann und will diesen Entschluss nicht verstehen. Nicht im Traum hätte er es für möglich gehalten, dass Melissa ihm die Liebe aufkündigt. In tiefste Abgründe stürzen ihn seine Gefühle. Ehrlich bestrebt war er gewesen, mit Melissa gemeinsam den Pfad zu gehen, der das Bewusstsein erweitert und schlussendlich zur Einweihung führen könnte. Die ersten vagen Schritte auf dem spirituellen Pfad sind ja bereits gemacht worden. Viele weitere wären noch notwendig gewesen, welche sich durch mehrere Leben wie ein roter Faden ziehen sollten. Den höchsten Gipfel der unsichtbaren Welt wollten sie doch gemeinsam erklimmen. Der Tribut, der dafür bezahlt werden muss, ist das Freiwerden von emotionalen Bindungen. Sie glaubten, Seelenpartner zu sein, sind es aber nicht. Nur: Zu diesem Zeitpunkt weiß das nur die unsichtbare Welt.
In der Glut des irdischen Seelenfeuers hat sich ein Funke der Liebe entfacht. Es war eine Begegnung, die bedeutet, zu diesem Zeitpunkt den bestmöglichen Partner für die geistige Entwicklung gefunden zu haben. Die größte Prüfung im Leben ist, das Liebste loszulassen, freizugeben. Das wahre Glück des Herzens, der Unvergänglichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit, ist ein anderes als das Glück des irdisch Vergänglichen. Erst wenn ein Suchender sein innerstes Zentrum erreicht hat, erhebt er sich über die Wechselhaftigkeit des Lebens hinaus.
Die Vorbestimmung hat sie in der heutigen Inkarnation wieder zusammengeführt. Noch fehlen jedoch viele Puzzleteile, um das ganze Bild zusammensetzen.
Zurück in ein vergangenes Leben.
Anthonys Blicke bleiben an seiner goldenen Taschenuhr hängen. Sein letztes Geburtstagsgeschenk von Melissa. Er zieht sie zurate. Viel Unausgesprochenes liegt in der Luft.
»Wie himmlisch bezaubernd sind doch die Tage in diesem Haus gewesen! Unsere Liebe hat sich doch wie ein reiches Strahlen der Sonne ausgebreitet. Übrig geblieben ist nur noch ein letztes Flackern!« Seine Lippen zittern bei diesen murmelnden Worten.
Tiefe Kümmernis umhüllt ihn. Plötzlich schnellt Anthony hoch. Eine Kutsche hat er vor das schmiedeeiserne Tor bestellt. Noch ein paar letzte Minuten, dann wird er weg sein, wie es Melissa wollte.
Schon früh am Morgen ist sie in die Stadt gefahren. So bleibt ihm wenigstens der persönliche Abschied erspart. Es wäre für ihn sowieso unerträglich gewesen. Die spekulativen Gedanken über die herzlose Trennung stoßen ihm nochmals sauer auf. Ist sie genauso oberflächlich wie die ganze Bande, die sich ihre Freunde nennen? Hat sie es wirklich ernst gemeint? Die aufkommenden Tränen schluckt er hinunter. Sein Koffer ist schon gepackt, etwas versteckt liegt er unter dem Bett. Nochmals ein Blick auf die Uhr, dann verlässt er geräuschlos das Haus. Ein letzter trauriger Blick zurück, eine Träne der Wehmut rollt über seine Wange. So elend hat er sich noch nie gefühlt.
Die Schritte auf dem Kiesweg verhallen leise. Alles geht gut. Niemand hat sein Weggehen bemerkt, nicht einmal Agnes, die Hauswirtschafterin. Ihr entgeht sonst eigentlich nichts.
Aber wohin soll der Weg eines Wanderers führen, der die Welt nicht mehr versteht. Dahin, wo der Geist der Zeit unhörbar seine Flügel schlägt. Aber wo ist das? Alles bäumt sich in ihm auf. Er fühlt sich als Opfer einer großen Ungerechtigkeit. Der Kutscher nimmt sein Gepäck und öffnet die Tür. Gekrümmt und traurig setzt sich Anthony in die wartende Kutsche. Er schluckt schwer. Es ist, als würde er eine Sturzflut von Tränen hinunterschlucken. Auf seinem Gesicht glänzt eiskalter Schweiß. Ein Peitschenschlag, der Wagen rattert über den Kiesweg, weiter über unebene Straßen in ein ungewisses Leben. Er will weg, nur möglichst weit weg.
Ein paar Stunden dauert die holprige Fahrt. Ab und zu peitschen Zweige gegen die Fenster. Ein schilfumrandeter See glänzt zwischen schönen, alten Bäumen hindurch. Das gleichmäßige Trampeln der Hufe wirkt beruhigend. Die Sonne beginnt schon, hinter den nahen Hügeln zu versinken, als das Gespann einen Gasthof am Stadtrand erreicht. Anthony bezahlt den Kutscher und bald hört man das Rattern nur noch von Weitem.
Anthony holt tief Luft, um seiner Gemütsverfassung Herr zu werden, und betritt den Gasthof. Skeptisch mustert ihn der fast kahlköpfige Wirt. Zu elegant scheint ihm der Gast für seine Herberge zu sein. Anthony legt ihm wortlos einige Münzen auf den Tisch. Rasch packt der Wirt diese ein, kommt hinter seiner Theke hervor, steigt schwerfällig mit dem Fremden die Treppe hoch und zeigt das schäbige Zimmer. Anthony ist wie in Trance. Sein Kopf ist voller Windmühlen. Kein klares Denken ist mehr möglich. Er hat keine Ansprüche und bezieht das Zimmer ohne Widersprüche, was den Gastwirt sehr wundert. Melissas Verlust liegt bleischwer auf seiner Seele.
Ein paar Tage verkriecht er sich wie ein geschundenes Tier in dieser schäbigen Absteige. Der Weggejagte will mit niemandem in Kontakt treten, geschweige denn mit jemandem reden. Er liegt im Zimmer, wo er durch das Fenster eine Verschwommenheit erblickt.
»War das nicht gerade eine Vision über Melissa?« Grenzenlose Freude erfasst ihn für einen kurzen Augenblick. War das ein Zeichen? Will sie, dass er zurückkommt? Ein Wunschgedanke? Nach kurzem Aufflammen der Hoffnung ist der Schmerz wieder da. Für den Rest des Tages bleibt er aufgewühlt.
Als er am nächsten Morgen sehr früh erwacht, durch das ungeputzte Fenster schaut, das weiche, zarte Blau am Himmel sieht, kommt wieder einmal das Bedürfnis auf, an die frische Luft zu gehen. Er poltert die abgewetzte Treppe hinunter. In der Portierloge nickt grimmig der Wirt. Es muss schauderhaft früh sein. Nur das Zwitschern der Vögel ist zu hören.
Ziellos schlendert er durch die noch ausgestorbenen Gassen. Im Geiste denkt er immer an seine Liebste, an ihr fröhliches Lachen, die schönen Stunden, die interessanten Gespräche, an die gemeinsame Liebe. Gemeinsam haben sie ein Stück Himmel auf die Erde geholt. Er mag gar nicht weiterdenken und schiebt die Gedanken wehmütig zur Seite.
Anstatt sich ein anständiges Frühstück zu gönnen, kippt er in der ersten offenen Kneipe wahllos Alkohol hinunter, um sich total zu betäuben. In seiner Berauschtheit holt ihn die Vergangenheit noch mehr ein. Seine Sorgen kann er nicht ersäufen, sie schwimmen mit. Wie in ein altes, abgewetztes Leintuch rollt ihn die depressive Stimmung ein.
Er ist stark angegriffen, mit einer außerordentlichen Blässe versehen, als er Tage später mit seinem ganzen Gepäck rumpelnd die schmale Holztreppe hinunter kommt. Ein kurzer Wortwechsel mit dem griesgrämigen Wirt. Mit dem bestellten Pferdegespann fährt er in ein unbekanntes Leben.
Nach Stunden der langen Fahrt taucht eine traumhaft schöne, mittelalterliche Stadt auf. Lautes Gelächter dringt aus einer Schenke. Er lässt die Kutsche anhalten. Zum ersten Mal seit der Trennung verspürt er wieder großen Hunger. Er entlohnt den Kutscher und gesellt sich zu der illustren Gesellschaft. Aller Blicke richten sich auf ihn, als er eintritt. Er bestellt sich eine herzhafte Mahlzeit. Seine stille, abwesende Art erweckt die Aufmerksamkeit.
Ein vornehmer Herr, der hier eigentlich fehl am Platze ist, spendiert ihm einen Kognak und sucht zugleich das Gespräch.
»Er muss sich hier genauso verirrt haben, wie ich!«, denkt Anthony und mustert ihn neugierig. Mit Widerwillen antwortet Anthony auf seine Fragen. Plötzlich wechselt sein Gegenüber auf die englische Sprache um. Anthony antwortet auf Englisch außerordentlich gewandt. Der anregende Wortwechsel lässt ihn für Augenblicke sein Schicksal vergessen. Sein Gesprächspartner gibt ihm diskret die Visitenkarte und verabschiedet sich, mit der Hoffnung, auf ein baldiges Wiedersehen. Dabei nickt er, lächelt und sieht Anthony direkt in die Augen. Dann nimmt er seinen Hut und dreht sich um. Anthony überfliegt die Visitenkarte interessiert. Ein Firmeninhaber, tätig im In- und Ausland. Das hört sich wunderbar an. Sein Interesse ist endgültig geweckt. Er ist fest entschlossen, den außergewöhnlichen Gesprächspartner am folgenden Tag aufzusuchen. Anthony ist auf der Suche nach einem neuen Leben.
Plötzlich schwankt seine Stimmung wieder in diese Traurigkeit um. Er wälzt sich in Selbstmitleid. Der Gedanke, seine Melissa nie wieder in die Arme nehmen zu können, lassen sein Herz wieder bluten. In diesem Moment hat die Welt ein melancholisches Gesicht bekommen. Er lebt mittendrin als einer, der gerade seine Gefühle zu Grabe getragen hat.
Tröpfchenweise kommen die ersten Stammgäste. Fabrikarbeiter von der Schicht betreten die schäbige Kneipe, kippten ein Glas Schnaps und spülen diesen mit einem Bier hinunter.
Seine Blicke bleiben an den laut gewordenen Gästen an dem runden Stammtisch hängen. Noch nicht lange ist es her, da konnte er genauso lachen und Sprüche klopfen. Nun hat sich das Blatt gewendet und er sitzt als Einsamer alleine an einem kleinen, schäbigen Tisch. In diesem Moment wird ihm schmerzlich bewusst, dass er sein Leben nicht mehr unter Kontrolle hat.
Diese aufgeheizte Stimmung am Nebentisch nervt ihn zusehends. Wie Wassertriebe eines Baumes, die vergessen haben, dass sie zum Baum gehören, kommen ihm die Trinkkumpane vor. Sie welken vor sich hin, ohne Inhalt und Lebensfrage. Jetzt, da er als Außenstehender den Wortlauten zuhört, vermag er die Belanglosigkeiten der Gespräche zu erkennen. Viele Stunden in seinem Leben hat er genau damit verbracht, bei diesen Kreisen dazu zu gehören. Vielleicht muss er genau diese Gesetze der Wahrheit über die Unsinnigkeit, dieses sinnlosen Geplappers, als innere Botschaft erkennen. Oder ist er einfach überheblich geworden?
Geistesabwesend blickt er in die biertrinkende Runde. Sie ist um eine Person gewachsen. Ein etwas verwahrloster Mann mit seinem Hund, der sich gerade unter dem Tisch verkrochen hat, hat sich hinzugesellt. Mit Gewalt reißt sein Bellen ihn aus seinen lähmenden Gedanken. Die Sprüche an der Stammtischrunde werden hitziger. Die Politik, die Wissenschaft, der Sport … Die Meinungen trennen sich. Der Lärmpegel steigt ins Unerträgliche.
Plötzlich ist ihm, als hätte eine Hand ihn sanft berührt. Auch an Anthonys Tisch hat ein einfach gekleideter Mann Platz genommen. Anthony hat ihn gar nicht kommen hören. Ist er ein Tagelöhner? Etwas abschätzig begutachtet Anthony den Tischgenossen.
»Guten Tag! Bist du neu in der Stadt?«, fängt dieser das Gespräch an.
»Er hat etwas Angenehmes, Freundliches!«, denkt sich Anthony.
Ein paar Floskeln werden höflich ausgetauscht. Der Unbekannte hat wirklich etwas Magisches, das ihn in den Bann zieht. Seine sanfte Stimme und diese leuchtenden Augen. Eigenartig. Er wirkt fast wie ein verirrter Engel.
Dann ist das Gefühl, diese furchtbare Leere, wieder da. Seine Stimmung ist wieder auf einem Tiefpunkt angekommen. Fast teilnahmslos sitzt Anthony da. Er schaut in die treuherzigen Augen des Hundes unter dem Tisch und fühlt mit ihm. Genau wie dieser Hund fühlt er sich, als Einer, der abgeschoben wurde und unbeachtet in der lauten Gesellschaft sitzt.
Doch der runzlige Tischnachbar holt ihn aus seinen abwesenden Gedanken zurück. Voller Selbstmitleid fängt Anthony das Gespräch an: »Eigentlich ergeht es mir nicht besser als diesem Hund. Ich fühle mich genauso abgeschoben!« Dann schweigt er und kämpft mit den Tränen.
»Wenigstens der armselige Mann an meinem Tisch will mit mir sprechen. Kann er überhaupt ein Tagelöhner sein? Ist er nicht eher ein König in diesem Raum!«, denkt sich Anthony.
»Du siehst so nachdenklich und traurig aus!«, sagt dieser und schaut Anthony mit seinen Röntgenaugen durchdringend an. »Kann ich etwas für dich tun?«
Anthony schüttelt den Kopf.
»Hat je eine Frau in deinem Leben eine tief greifende Rolle gespielt?«