Der Einäugige erwacht - Andreas Engel - E-Book

Der Einäugige erwacht E-Book

Andreas Engel

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Beschreibung

Wie weckt man einen Gott? Die Augen des Zwerges weiteten sich und blickten Jolan noch eindringlicher an, als er antwortete: "Die Ewigen Wälder stehen für die Urkraft der Natur … und diese Wälder besaßen einst besondere, heilende Kräfte. Mensch und Natur waren durch ihre mystische Macht untrennbar miteinander verbunden. Du, Jolan, könntest der Auserwählte sein, diese Urkraft wieder zurück nach Midgard zu holen - hierher … in die Welt der Menschen und somit die anhaltende Klima- und Umweltzerstörung aufhalten!" Nachdem Jolan seine anfängliche Skepsis überwunden hat und er den Auftrag des seltsamen Mannes annimmt, beginnt für ihn ein unglaubliches Abenteuer voller Gefahren, aus dem es kein Zurück mehr gibt. Dies ist der erste Teil der großen Fantasy-Saga über die Rückkehr der mystischen, alles heilenden "Ewigen Wälder". Pressestimmen "Die Handlung beginnt als klassischer in der heutigen Zeit angesiedelter Coming-of-Age-Roman, in dem nach und nach immer mehr Fantasy-Elemente Einzug halten, bis die Helden schließlich zur Reise nach Utgard aufbrechen. [Diese] besticht neben guten Charakterzeichnungen auch mit reichlich Action. Das dürfte ganz im Sinne der jungen Zielgruppe […] sein, die in "Der Einäugige erwacht" bestens unterhalten wird. Obwohl es ein Debüt ist, liest es sich wie das Werk eines in seinem Metier schon lange heimischen Schriftstellers." -- Oliver Moje in: "Wie weckt man einen Gott?", Zevener-Zeitung 18.12.2020

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Andreas Engel

© 2020 Andreas Engel

Umschlag, Illustration: Andreas Engel

Digitalisierung u. Karte: Adrian Engel

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:        978-3-347-15374-5

Hardcover:        978-3-347-15375-2

e-Book:               978-3-347-15376-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dies ist der erste Teil der großen Fantasy-Saga um die

Rückkehr der alles heilenden

'Ewigen Wälder'

Es ist die Geschichte von Jolan, der durch die Bekanntschaft des Zwergen-Schmiedes Regin in ein unglaubliches Abenteuer gezogen wird.

Es ist die Geschichte der ersten großen Liebe und welche Verantwortung daraus erwächst.

Es ist eine Geschichte von wahrer Freundschaft und Verbundenheit.

Als Jolan erkennt, dass es am Ende tatsächlich um die Möglichkeit geht den ganzen Planeten vor den katastrophalen Auswirkungen der Klima- und Umweltzerstörung zu retten, ist er bereit, alle Gefahren auf sich zu nehmen und den Übertritt in eine fremde, bedrohliche Welt zu wagen.

Denn wenn der Einäugige erwacht, könnte sich die uralte, mystische Macht der Ewigen Wälder wieder entfalten und einen unfassbaren Heilungsprozess auslösen: Die Rettung der kranken, leidenden Erde – der Heimat aller Menschen.

Kapitel 1.

Jolan saß ganz vorne im Bus, in der ersten Sitzreihe rechts. Er hatte es schon immer gemocht, weit vorne im Bus zu sitzen, so konnte er direkt durch die riesige Frontscheibe in die Landschaft gucken.

Außer ihm befanden sich gerade mal zehn weitere Mitreisende in dem Fahrzeug und daher hatte er seinen vollgepackten Trekkingrucksack auf den freien Platz neben sich gestellt.

Der Bus bog jetzt in die Straße ein, die zur Endstation der Linie, dem Zentrum der kleinen Stadt Reiherberg führte, als Jolan der mittelalterliche Markt, kurz vor dem eigentlichen Ortseingang, auffiel. Er sprang auf und bat den Fahrer, ihn rauszulassen.

Der Mann brummte ein wenig ungehalten vor sich hin und stoppte den Bus an der rechten Straßenseite. Jolan wuchtete sich den schweren Rucksack über die linke Schulter, bedankte sich und stieg aus. Er wartete, bis der Bus weiterfuhr und sah sich um; sein Blick fiel auf den ehemaligen Schnellimbiss 'Reiherberger Grill', welcher sich in den vergangenen Jahren offensichtlich zu einem richtigen kleinen Restaurant gemausert hatte. Es war bestimmt über drei Jahre her, seitdem Jolan das letzte Mal in diesem Imbiss gewesen war. Da war er noch elf Jahre alt gewesen… ein kleiner Junge, der sich seine Pommes rot – weiß holte.

Er wandte sich ab, blickte die Straße zurück und sah in vielleicht dreihundert Metern Entfernung den Mittelaltermarkt, schräg gegenüber auf einem freien Feld, hinter dem sogenannten 'Hohenhorster Graben', liegen. Jolan blinzelte in den wolkenlosen Himmel, ärgerte sich darüber, dass er seine Sonnenbrille vergessen hatte und machte sich die Straße überquerend auf den Weg. Er griff in die Oberschenkeltasche seiner altmodischen, weiten Cargohose und holte sein Handy hervor; trotz der etwas komplizierten Anreise mit Bahn und Bus von seiner Heimatstadt Hamburg aus, war er tatsächlich eine gute halbe Stunde eher als erwartet in Reiherberg angekommen. Hier sollte Jolan die ersten drei Wochen der Sommerferien bei seiner Großmutter Ella und ihrem Lebensgefährten Chris verbringen.

Bis zu seinem elften Lebensjahr war er jeden Sommer hier gewesen, doch die letzten drei Jahre waren seine Eltern während der Ferien mit ihm zusammen in den Urlaub geflogen und so hatte Jolan seine Großmutter nur noch zu Weihnachten oder Ostern gesehen.

Aber vor zwei Wochen hatten ihm seine Eltern überraschend offenbart, dass sie darüber nachdachten, sich trennen zu wollen.

Um die ganze Angelegenheit in Ruhe zu überdenken, waren sie daher auf die Idee gekommen, dieses Jahr nicht gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Stattdessen fuhr jetzt jeder für sich alleine.

Jolan dachte aufseufzend zum wiederholten Male darüber nach, wie plötzlich und unerwartet das gekommen war. Ihm war überhaupt nicht aufgefallen, dass seine Eltern irgendwelche ernsthaften Probleme miteinander gehabt hatten. Sie hatten ihm nur erklärt, dass sie sich irgendwie 'auseinander gelebt' hätten.

Wie auch immer…, er hoffte jedenfalls sehr, sie würden sich wieder einkriegen und am Ende doch zusammenbleiben.

Inzwischen war Jolan am Eingang des Marktes angekommen. Um ihn zu betreten, musste er durch ein rustikal anmutendes Tor aus naturbelassenen Birkenstämmen gehen. An Ketten befestigt, hing an dem oberen Querstamm ein langes Brett auf dem mit eingebrannten Buchstaben: > MITTELALTERLICH – SPEKTAKULUM <

in einer verschnörkelten Schrift geschrieben stand. Jolan zückte erneut sein Handy und schrieb seiner Großmutter, dass er bereits angekommen sei und sie ihn beim Feld am Hohenhorster Graben in einer halben Stunde abholen könne, da er sich nur noch eben schnell den Markt angucken wolle.

Er schaute sich um, trat an den kleinen Kassentisch unter einen Sonnenschirm und bezahlte drei Euro Eintritt. „Drei Taler“, klärte ihn, der in einer mittelalterlichen Bauerntracht gekleidete Mann an der Kasse, lächelnd auf. Langsam betrat Jolan das Gelände. Das ist ja richtig cool, dachte er und betrachtete die verschiedenen Buden, Zelte und Pavillons. Alles wirkte wie die Kulisse für einen historischen Film und die Verkäufer an den Ständen waren dementsprechend gekleidet. Einige von ihnen trugen sogar große Dolche in Lederscheiden an ihren Gürteln.

Geschichte war, auch wenn es viel zu oft ausfiel, sein absolutes Lieblingsfach und so einen Markt wollte er schon lange Mal besucht haben. Irgendwo hatte er letztes Jahr ein Plakat gesehen, das genau so eine Veranstaltung bewarb und nun ergab sich eine ganz unverhoffte Gelegenheit für ihn.

Sein Handy summte kurz: Okay Jo’, lass dir Zeit, schrieb seine Oma mit einigen herzlichen Emojis, ich hole dich in circa einer Stunde ab.

Jolan lächelte, Ella war schon immer eine tolle Großmutter gewesen, mit ihr konnte man über alles reden. Sie machte einem keine Vorschriften und ließ den Dingen ihren Lauf. Sie war eben eine recht moderne Oma, meistens lustig und sogar ein wenig verrückt. Jedenfalls würde er sich bestimmt nicht so sehr langweilen, wie man es vielleicht annehmen könnte, wenn ein fast fünfzehnjähriger Junge drei Wochen seiner Sommerferien bei seiner Großmutter verbringt. Außerdem war ihm eigentlich nur danach, abgelenkt zu werden; über die eventuell bevorstehende Trennung seiner Eltern sowie den daraus resultierenden Folgen wollte er nicht mehr länger nachdenken.

Jolan lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die unterschiedlichen Marktstände; da wurde allerlei historische Handwerkskunst gezeigt und natürlich auch zum Verkauf angeboten: Kleidung, Schuhe und Lederwaren jeglicher Art, Schmuck und Musikinstrumente, aber auch Bücher zum Thema Mittelalter. Dazu gab es noch verschiedene Gaukler: Jongleure, gekleidet wie Hofnarren, bunt gewandete Tänzer und eine Truppe von Musikanten, die auf ihren altertümlichen Instrumenten lustige sowie seltsam klingende Melodien spielten.

Und es gab jede Menge zu essen; die dargebotenen Speisen sahen zwar sehr köstlich aus und dufteten auch genauso, aber Jolan war bei dem ganzen Trubel noch heißer geworden als ihm eh schon war. Es war ein wirklich warmer Sommertag und sein Rucksack wurde auch nicht gerade leichter, so war er überhaupt nicht hungrig, sondern vielmehr durstig.

Er nahm sein Gepäck ab, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und schaute eine Weile einem abenteuerlich aussehenden Schwertschlucker bei seiner haarsträubenden Tätigkeit zu. Der versenkte gerade eine lange Klinge fast bis zum Heft in seinen weit geöffneten Mund.

„Ach,…was der da treibt, ist gar nicht so gefährlich, wie es aussieht, junger Herr…“, hörte Jolan jemanden mit tiefer Stimme hinter sich sagen. Er drehte sich zu dem Sprecher um und erblickte einen zwergenhaft aussehenden Händler.

„Weißt du, er benutzt eine stumpfe Waffe mit abgerundeten Kanten“, fuhr dieser fort, „wenn er das mit meinen Schwertern versuchen würde, hätte er freilich seinen letzten Auftritt gehabt.“

Der untersetzte Mann, etwas kleiner als Jolan, hatte unglaublich breite Schultern und einen großen Kopf. Seine dicken, verfilzt aussehenden Haare waren zu Zöpfen geflochten, ebenso wie seine Bartenden.

„Es sei denn, er kriegt jetzt einen Krampf, dann erstickt er natürlich“, schloss der Händler lakonisch.

Jolan schaute erschrocken zu dem Schwertschlucker, aber dieser zog sich soeben unbeschadet das Schwert aus dem Hals. Der Zwerg lachte dröhnend. „Komm näher Junge, du bist bestimmt durstig!“ Er füllte einen Holzbecher aus einem großen, irdenen Krug und hielt ihn Jolan hin. Herantretend nahm er das Gefäß entgegen und schnüffelte vorsichtig an dem Getränk. Wieder lachte der Zwerg. „Ich werde dich schon nicht vergiften, nur gute Kräuter und reines Wasser, erfrischender als alles, was du je getrunken hast!“, sagte er aufmunternd.

Jolan trank erst zögerlich und leerte dann den ganzen Becher.

„Gut was?“, grinste der Zwerg und entblößte dabei überraschend kräftige, weiße Zähne, während er den Becher wieder füllte. „Frische Minze und ein wenig Waldhonig“, erklärte er, „sowie ein paar weitere Kräuter, die mein Geheimrezept sind.“

Jolan bemerkte, dass der sonderbare Mann im Gegensatz zu seinen Zähnen, irgendwie schmutzig wirkte. Schwarzer Dreck hatte sich tief in die Falten seines Gesichts gegraben. Auf seiner Stirn trug er eine seltsame Tätowierung: einen mit der Spitze nach links zeigenden Winkel und dicht daneben, einen aufrecht stehenden Pfeil.

Sein Stand war eigentlich nur ein mit Stricken zusammengebundenes Gerüst aus Holzstangen, über die ein sackleinenartiges großes Tuch drapiert war. Er selbst stand hinter einem Tresen aus einer groben Holzplatte, die über zwei Klappböcke gelegt war. Hinter ihm an dem Gerüst hingen verschiedene Schwerter und Dolche, Streitäxte und Schilde, aber auch Lanzen mit unterschiedlichen Spitzen. Dazu Bögen und Köcher mit Pfeilen sowie eine Armbrust. Jolan machte große Augen, das war ja eine richtige mittelalterliche Waffenkammer!

„Ich sehe, du interessierst dich für wahre Schmiedekunst“, sagte der Zwerg. Er nahm eins der Schwerter herunter und legte es auf den Tresen. „Teste es, junger Herr! Ein Schwert, wie geschaffen für dich; eine Waffe, die eines wahrhaften Helden würdig ist!“, sprach er mit gewichtiger Miene.

„Ich…, ich darf wirklich?“, stotterte Jolan unsicher, während sich seine rechte Hand langsam um den lederumwickelten Griff schloss. Der Zwerg nickte bedächtig und musterte ihn dabei aufmerksam.

„Nur zu!“, sagte er.

Einen Schritt zurücktretend, zog Jolan das Schwert aus der Hülle und schwenkte es ein paarmal hin und her. Es war bestimmt einen Meter lang und hatte eine breite schimmernde Klinge, dennoch war es erstaunlich leicht. Und obwohl er es nur langsam bewegte, fühlte es sich so an, als würde er die Luft damit zerschneiden.

„Das ist großartig…“, hauchte Jolan überwältigt, während er die Waffe vorsichtig auf den Tresen zurücklegte.

„Jaaa…“, kam es von dem Zwerg gedehnt, „…schau her, siehst du hier die Runen auf der Klinge?“, er nickte kurz, „nur wer die geheimen Runen kennt und ihre Magie anzuwenden versteht, kann eine echte Zwergenklinge schmieden; denn nur die Zwerge kennen die alten Geheimnisse der wahren Schmiedekunst… und ich Regin, bin der Letzte von ihnen!“ Und mit dieser imponierenden Rede reichte er Jolan die Hand. Sie war hart und schwielig, es war zu erahnen, dass diese Hand eine eiserne Kraft besaß.

„Ich heiße Jolan“, erwiderte er beeindruckt.

„Der Name eines Helden, fürwahr! Ein Name so klangvoll und selten, zeichnet schon seit allen Zeiten das Heldengeschlecht unter den Menschen aus“, fuhr Regin in seiner überschwänglichen Redensart fort.

Dass er seinen Namen gar nicht heldenhaft, sondern einfach nach dem Geschmack seiner Mutter und vor allem seiner Großmutter bekommen hatte, konnte und brauchte der Zwerg ja nicht zu wissen. Von der Tatsache, dass sein Vater sich bei seiner Namensfindung dezent zurückgehalten hatte, ganz zu schweigen.

„Hören Sie…“, begann Jolan nach einer kurzen Pause unangenehm berührt, „dieses Schwert ist einfach toll, aber ich kann es mir gewiss nicht leisten, tut mir leid…“

„Aber natürlich kannst du das nicht…“, entgegnete Regin, während er das herrliche Schwert wieder zurück an seinen Platz hängte, „so eine Waffe können sich nur wohlhabende Sammler leisten.“

Jolan sagte nichts. Regin hatte angefangen, ihn beunruhigend aufmerksam zu mustern. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dieser seltsame Mann etwas Besonderes von ihm wollte.

„Ich werde dieses Schwert für dich zurücklegen, du wirst es schon bald brauchen…, denke ich“, meinte Regin dann geheimnisvoll.

Jolan zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. „Warum sollte ich denn…“, fing er an, als der Zwerg ihn unterbrach: „Sag, wo willst du denn hin, mit all’ dem Gepäck?“, fragte er jäh.

„Zu meiner Oma, ich meine, ich verbringe einen Teil meiner Sommerferien bei ihr.“

„Deine Großmutter lebt hier im schönen Flecken Reiherberg,… stimmt’s?“, hakte Regin nach.

„Nicht direkt, sie lebt oben auf dem Berg…“, Jolan deutete mit der Hand auf den bewaldeten Berg, dem der Ort seinen Namen verdankte, „…in der Lebensgemeinde“, fügte er hinzu.

Die 'Lebensgemeinde Reiherberg' war eine alternative Landkommune, eigentlich ein in sich geschlossenes, kleines Dorf. Dort lebten Menschen, die einen naturnahen, gesunden und freiheitlichen Lebensstil verfolgten. Von den Bewohnern im Ort Reiherberg wurden sie im allgemeinen als 'Ökos' tituliert oder gern auch als etwas verrückte 'Späthippies' abgetan.

„Ah, ja… richtig, sehr gut…“, erwiderte Regin und ließ bedächtig einen seiner Bartzöpfe durch die schwieligen Finger gleiten, „…ich kenne diese Leute ein wenig“, sagte er dann, „ohne es zu wissen, folgen sie den alten Gesetzen eher als all’ die anderen Dummköpfe…“, er hielt einen Augenblick inne, „…aber viele von ihnen mögen meine Waffen nicht!“, schloss er abrupt.

„Wie lange bleibst du bei deiner Großmutter?“, nahm er die Befragung Jolans wieder auf.

„Na ja,…mindestens drei Wochen,…aber warum fragen Sie mich das alles?“, Jolan war diese Fragerei nicht ganz geheuer… wer weiß, dachte er, was dieser eigenartige Mensch eigentlich von ihm wollte.

„Entschuldige bitte…“, begann Regin mit beschwichtigender Miene, „…es liegt mir fern, dich zu verunsichern, du bist mir sehr sympathisch, Jolan… und ich möchte dir gerne ein Geschenk machen.“ Um seine Worte zu bekräftigen, legte er dabei seine Handflächen auf die breite Brust. „Nur eine Frage hätte ich noch…“, fuhr er fort, „…bist du alleine zu Besuch bei deiner Oma? Ich meine, kommen da noch andere Kinder… oder so?“, er lächelte jovial und zog fragend seinerseits die buschigen Augenbrauen hoch.

„Äh… ,nein …“, erwiderte Jolan zögernd, „…ich bin allein dort, nur der Freund,…also der Lebensgefährte meiner Großmutter ist auch da.“ Er schalt sich innerlich einen naiven Idioten, warum beantwortete er weiterhin so arglos einem wildfremden Menschen all diese Fragen? Zwerg und Wunderschmied hin oder her! „Hören Sie, ich weiß wirklich nicht…“, fing er daher abwehrend an, aber erneut wurde er von Regin unterbrochen: „Sei ohne Sorge, ich bin mir jetzt sicher, dass du der richtige Empfänger für mein Geschenk bist. Auf dich Jolan, habe ich gewartet.“

Währenddessen hatte der Zwerg eine kleine Truhe aus schwarzem Holz, nicht größer als eine Zigarrenkiste, vor sich auf den Tresen gestellt. Wie Jolan bei genauerer Betrachtung feststellte, war sie komplett mit sehr feinen eingeritzten Runen verziert. Es waren solche Zeichen, wie er sie eben noch auf der Schwertklinge gesehen hatte. Nur waren diese hier nicht so präzise angeordnet; seltsam schräg und ineinander überlaufend, als hätte ein Blinder sie eingeritzt, bedeckten sie das kleine Kästchen. Es schien auf jeden Fall sehr alt zu sein.

„Ja, es ist uralt…“, sagte Regin, als hätte er seine Gedanken gelesen, „und sein Inhalt ist noch viel älter.“

Er öffnete langsam den Deckel der hölzernen Schatulle und nahm vorsichtig einen, ebenfalls schwarzen, ledernen Beutel heraus. „Echte Drachenhaut…“, kommentierte der Zwerg mit ernster Miene. Aus diesem Beutel ließ er nun behutsam etwas in die geöffnete Kiste gleiten.

Jolan beugte sich vor und sah eine Art ovalen Kern, etwas größer als ein Mangokern. Dunkelbraun und von einer Struktur, die wie Gehirnwindungen aussah. Ihre Köpfe berührten sich fast über dem Tresen und Regin begann mit gesenkter Stimme: „Was ich dir jetzt erzähle, solltest du geheim halten, denn es ist nur für dich bestimmt!“, und fuhr dann erklärend fort: „Dies ist der Samen einer Frucht der Weltenesche Yggdrasil, ihre Äste und Wurzeln halten die vergessenen Welten zusammen. Dieser Kern hier ist der wahrscheinlich einzige in der Menschenwelt noch vorhandene Keimling einer Frucht Yggdrasils.“

Er hielt inne und sah Jolan tief in die Augen. Der wusste zwar nicht mal ansatzweise, wovon der Zwerg da sprach, aber eine kribbelnde Spannung hatte ihn jäh erfasst. Er liebte Fantasygeschichten über alles und was Regin ihm erzählte, hörte sich nach einer echten Fantasygeschichte an! Jolan schluckte laut. „Und was soll ich damit machen?“, fragte er ein wenig heiser.

„Mit diesem Geschenk ist eine Aufgabe verbunden…“, Regins blassgraue Augen bannten förmlich Jolans Blick, „…du sollst aus dem Samen einen Schössling Yggdrasils ziehen - hör zu! Wenn du genau den Anweisungen folgst…“, und mit diesen beschwörenden Worten legte er Jolan seine kräftige linke Hand auf die Schulter, „…wirst du schon bald ein Wunder ernten!“, schloss er dann langsam nickend.

„Wa-was…, was für eine Art Wunder soll das denn sein?“, stammelte Jolan irritiert.

Regins Augen weiteten sich und blickten ihn noch eindringlicher an, als er antwortete: „Die Weltenesche Yggdrasil steht für die Urkraft der Natur, für die erste Schöpfung Wodans: 'Den Ewigen Wäldern'. Besondere, heilende Kräfte besaßen diese Wälder. Mensch und Natur waren durch ihre mystische Macht untrennbar miteinander verbunden. Du Jolan, könntest der Auserwählte sein, um diese heilende Urkraft wieder zurück nach Midgard zu holen, hierher… in die Welt der Menschen und somit vielleicht die anhaltende Klima- und Umweltzerstörung aufhalten.“ Der Blick des Zwerges hielt Jolan jetzt nahezu fest und die Geräusche des Marktes um ihn herum klangen plötzlich dumpf und weit weg, während Regins Stimme ihn laut durchdrang:

„Pflanze den Samen, Jolan… und du wirst wahre Wunder bewirken können!“ Jolan wurde schwindelig, die Worte hallten in seinem Kopf wie ein Echo nach und ihm schien der Boden unter den Füßen zu schwanken. Völlige Stille umgab ihn und seine Blicke blieben verwirrt an der eigenartigen Tätowierung auf Regins Stirn haften. Nach einigen Augenblicken riss Jolan seinen Blick von der Zeichnung, schüttelte den Kopf und mit einem Schlag kamen die Geräusche des Markttrubels zurück. Irgendwas muss doch in diesem Getränk gewesen sein, kam ihm plötzlich in den Sinn. Er schluckte ein paarmal.

„Äh…, eine tolle Geschichte,…echt“, begann er etwas krächzend, räusperte sich und fuhr dann mit festerer Stimme fort: „…Aber Sie wissen selbst, dass es so etwas nicht geben kann, so toll es auch wäre… ich meine, wenn es so etwas tatsächlich geben würde,…die Umweltzerstörung, den Klimawandel aufzuhalten mit dieser,…dieser heilenden Macht der 'Ewigen Wälder'.“

Regin steckte den Samen achtsam wieder in den Beutel, legte diesen zurück in das Kästchen und schloss sorgfältig dessen Deckel. Dann sah er Jolan etwas traurig an. „Schade…, schade, dass du es so siehst“, sagte er resigniert, „ich hatte gehofft und eigentlich glaube ich es noch immer, dass du der richtige Empfänger für das Geschenk Wodans bist.“

Nun taten Jolan seine eigenen Worte leid. „Entschuldigen Sie…“, hob er daher an, „…ich wollte Sie nicht kränken, aber,…aber im Ernst, die ganze Geschichte klingt einfach zu fantastisch, um wahr zu sein und…“

„Und deshalb hältst du es lieber für Blödsinn, richtig?“, unterbrach Regin ihn. Jolan nickte betrübt. „Ja,…nein, so nun wieder auch nicht“, begann er zögernd, „…aber es hört sich schon recht märchenhaft an,… oder?“

Der Zwerg lächelte ihn vorsichtig an. „Was schadet es dir, einfach an ein Märchen zu glauben, du hast doch nichts zu verlieren, entweder du erntest das von mir versprochene Wunder oder eben nicht, dann kannst du mich immer noch als einen alten Spinner abtun.“

Da war allerdings was dran, dachte Jolan, überlegte noch ein wenig und sagte dann bestimmt: „Okay!…ich habe wirklich nichts zu verlieren, ich…“, er richtete sich auf und nahm eine gespielt würdevolle Haltung an, „…ich bin bereit, das Geschenk Wodans anzunehmen!“, endete er mit feierlicher Miene.

Der Zwerg sah ihn lange und prüfend an. „Das ist gut…“, erwiderte er dann, nickte und schob Jolan die geheimnisvolle Schatulle entgegen, „…es obliegt jetzt deiner Verantwortung, das Erbe Yggdrasils zu erwecken… und nun zu den Anweisungen.“

Mit dem Jolan nun bereits bekannten überschwänglichen Gehabe, überreichte er ihm einen profanen Umschlag. Darin befände sich, erklärte er weiter, die Übersetzung einer lange verschollenen Runentafel. Diese beinhalte die genaue Beschreibung, wie man den Keimling der Weltenesche zum Leben erwecken könne.

„Denke daran Jolan…“, begann Regin erneut, „…ich vertraue dir, befolge genau die Anweisungen und erzähle keinem davon. Es ist bestimmt der letzte in dieser Welt existierende Samen Yggdrasils,…in ihm ist die ganze Macht der Ewigen Wälder gebunden!“, er hielt kurz inne, „…darum bitte ich dich, enttäusche mich nicht!“, beschwor er nochmals eindringlich.

Der Zwerg hatte jetzt beide Hände auf seine Schultern gelegt und drückte sie schmerzhaft fest. Wieder bemerkte Jolan, welch beängstigend stählerne Kraft diesen Händen innewohnte.

„Ja, d-das werde ich ganz sicher tun…“, stotterte er, „…und vielen Dank dafür“, fügte er noch hinzu, als er die kleine Truhe samt dem Umschlag an sich nahm und Regin ihn endlich losließ.

Jolan taumelte ein paar Schritte zurück und nun war ihm wirklich, als trete er aus einem Bannkreis.

„Jetzt geh!“, sagte Regin plötzlich fast abweisend, „…deine Großmutter erwartet dich bereits.“

Jolan sah erschrocken auf sein Handy. Verdammt, das stimmte sogar!

Die Stunde war fast vorbei, er hatte die Zeit und wie er zugeben musste, auch alles andere um sich herum vergessen.

Er wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und rannte schwerfällig mit seinem Rucksack auf den Schultern sowie dem Kästchen in den Händen auf den Ausgang des Marktes zu.

Kapitel 2.

Jolan sah seine Großmutter, gleich nach dem Passieren des Tores, auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie war eben erst aus ihrem Wagen gestiegen und im Begriff, die Fahrbahn zu überqueren.

„Hallo, Ella,…hier!“, rief er. Sie erkannte ihn strahlend und rief winkend zurück: „Bleib dort, ich komme herüber!“

Ihre dichten, lockigen Haare waren grauer geworden, aber ansonsten hatte sie sich nicht verändert. So lange Jolan sich erinnern konnte, trug sie wallende bunte Kleider, deren Farben immer etwas ausgewaschen wirkten, da sie auf Naturbasis gefärbt waren. Ella legte sehr großen Wert darauf, ihr Leben so umweltbewusst wie möglich zu gestalten. Sie lächelte glücklich und nachdem Jolan sein Gepäck abgestellt hatte, schloss sie ihn in die Arme; sie duftete nach würzigem Yogi Tee und Kräutern. Jolan liebte diesen Geruch, er verband damit ein gutes Gefühl; die Erinnerung an viele unbeschwerte Sommertage seiner Kindheit.

„Na, mein großer Lieblingsenkel, wo hast du dich herumgetrieben?“ Da er tatsächlich ihr einziges Enkelkind war, nannte Ella ihn zur Begrüßung gerne so. Nur 'mein großer' war neu. Sie musste inzwischen etwas zu ihm heraufschauen. Als sie sich das letzte Mal an Weihnachten gesehen hatten, war das noch andersherum gewesen.

„Hab’ ich dir doch geschrieben, ich war noch auf dem Markt…“, antwortete Jolan und wies mit dem Daumen über seine Schulter auf das rustikale Eingangstor, „…es ist ein mittelalterlicher Markt. Ich habe dort einen Zwerg,…einen Waffenschmied kennengelernt und der hat mir etwas geschenkt.“

Ella wirkte einen Augenblick wie erstarrt und lachte nervös auf.

„So, so… einen Zwerg hast du getroffen…“, sagte sie dann, während sie ihm mit dem Rucksack half. Das klang in der Tat ziemlich kindisch, musste Jolan sich eingestehen.

„Ich meine natürlich keinen echten Zwerg, er sah nur aus wie einer…“, er hielt kurz inne, „…wie in einem Fantasyfilm, so Herr der Ringe mäßig, weißt du.“

„Na, dann ist es ja kein Wunder, dass du dermaßen beeindruckt bist“, erwiderte sie fröhlich und fragte irgendwie bewusst nebensächlich: „Was für ein Geschenk hat dir dieser Zwerg noch mal gemacht?“

Jolan stutzte kurz. „Äh…, das hab’ ich doch noch gar nicht erwähnt…“, begann er vorsichtig und endete ausweichend: „nichts Besonderes, nur so eine Art Talisman.“

Ella nickte kurz und ging dann mit ihm zusammen auf ihren Wagen zu. Sie fuhr einen alten Citroën 2-CV Oldtimer, sein Vater hatte ihm erzählt, dass diese Autos früher von allen 'Ente' genannt wurden. Und dass dieser Typ zu seiner Zeit unter Studenten ein sogenanntes 'Kultauto' gewesen sei. Jedenfalls mochte Jolan den Wagen, denn dieser gehörte auch zu seiner Oma, solange er denken konnte. Sie schraubte sogar selbst an dem Fahrzeug herum und irgendwann hatte sie ihn mal lackiert: azurblau mit selbstgemalten, großen Gänseblumen.

Nachdem er seinen Rucksack auf der Rückbank verstaut und neben Ella auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, fuhren sie die Kirchstraße in das Zentrum Reiherbergs hinauf, dann die scharfe Rechtskurve in die Lange Straße über die historische kleine Brücke an der großen Aue, wo sich das alte Mühlengebäude befand und schließlich auf die Straße Am Berge, die zur Lebensgemeinde hinaufführte.

Während der kurzen Fahrt sprachen sie nicht viel. Jolan hielt das kleine geheimnisvolle Behältnis auf dem Schoß und schaute vorwiegend, mit dem Kopf im Nacken, in den Himmel; der Wagen besaß ein Rolldach, welches jetzt bei sommerlichem Wetter geöffnet war.

Er dachte wieder an Regins beschwörende Worte, alles was er gesagt hatte, schien so ernst gemeint zu sein. Ein Samen der Weltesche Üggdra-dings, deren Urkraft die heilenden, 'Ewigen Wälder' auf die Erde zurückbringen sollte - oder so ähnlich - um dann sogar die Umweltzerstörung samt Klimawandel zu beseitigen! Das wäre ja der komplette Wahnsinn… und überhaupt, wie sollte so was funktionieren? Und weshalb sollte ausgerechnet er derjenige sein, auf den Regin gewartet hatte, kam ihm weiterhin in den Sinn. Jolan befühlte die feinen Linien auf dem Kästchen,… irgendwie wirkte das schon wie ein echtes Abenteuer. Ein Abenteuer, bei dem am Ende wirklich etwas Ungewöhnliches passieren könnte…

Als sie bei der Lebensgemeinde angekommen waren, fuhr Ella den Wagen um die Siedlung herum auf einen kleinen Stichweg, wo es einige unbefestigte Parkplätze gab. Über einen weiterführenden Feldweg konnte man so direkt zu ihrem Garten gelangen.

Die 'Lebensgemeinde-Reiherberg' bestand aus etwa fünfzehn, vorwiegend aus roten Backsteinen erbauten, Reihenhäusern. Über sechzig Wohneinheiten waren es insgesamt. Mittig gab es einen großen Dorfplatz mit einem Zentralgebäude, dort befanden sich ein Verwaltungsbüro, verschiedene Seminarräume, ein kleiner Buchladen, der auch eine Vielzahl an spirituellem Zubehör anbot sowie ein Café und eine Küche für Seminar-Gäste oder Urlauber.

Jolans Großmutter bewohnte ein Endreihenhaus im hinteren äußersten Winkel der Siedlung. Von dort aus konnte man direkt in den angrenzenden Forst gehen oder jenen Feldweg am Waldrand entlang zu Wiesen und Pferdekoppeln gelangen. In ihrem Garten wurde man von allerlei melodischen Geglöckel empfangen: In Bäumen und Sträuchern hatte Ella verschiedene Klang-Windspiele aus Holz oder Bambus aufgehängt. Außerdem prägten den Garten mehrere, teilweise schon ziemlich eingewachsene, Steinfiguren. Zumeist Buddhas, aber auch Drachen und andere märchenhaft anmutende Gestalten.

Mit großem Hallo wurde Jolan von Christoph, Ellas Lebensgefährten, empfangen. Christoph wurde von allen, auch von Jolans Oma, nur Chris genannt. Er war jetzt sechsundvierzig Jahre alt und somit ganze zwanzig Jahre jünger als Ella. Als die beiden vor vier Jahren ein Paar wurden, hatten sich Jolans Eltern schon etwas gewundert. Aber Ella war bereits seit einiger Zeit Witwe gewesen und daher hatten sie natürlich Verständnis dafür, dass Ella ihr weiteres Leben nicht alleine verbringen wollte. Klar, Jolan fand es zuerst ebenfalls etwas seltsam, dass seine Großmutter mit einem Mann lebte, der ungefähr im selben Alter wie sein Vater war. Jedoch hatte er sich schließlich daran gewöhnt, die beiden passten einfach gut zusammen und Chris war wirklich ein super Typ.

Er kam ihm jetzt mit ausgebreiteten Armen entgegen, umarmte ihn und klopfte dabei kameradschaftlich auf seinen Rücken. Die Bewohner der Lebensgemeinde hatten alle diesen ungewöhnlich liebevollen Umgang miteinander, allenthalben drückten und herzten sie sich. Jolan musste sich immer erst wieder daran gewöhnen, obwohl er es eigentlich ganz okay fand.

„Komm…“, sagte Chris, „…du musst vorne reingehen!“ Er hatte Jolan den Rucksack abgenommen und ging eilig um das Haus herum zur Haustür. Wie immer lief er barfuß, Chris war ein bekennender Barfußläufer, allerdings liefen während der warmen Jahreszeit sehr viele Bewohner der Lebensgemeinde ohne Schuhe herum.

Seine dunkelblonden Haare hatte Chris zu einem langen Zopf gebunden, um den Hals trug er eine Holzperlenkette mit einem indianischen, federgeschmückten Amulett sowie unterschiedlichste geflochtene Lederarmbänder an den Handgelenken. Bekleidet war er mit einem weitärmeligen, schlabberigen Hemd und einer halblangen Hose in erdfarbenen Naturtönen. Dieses Bild rundete er perfekt mit seiner hageren, sehnigen Gestalt ab.

Vor der Haustür blieb er stehen und wies dann mit gespieltem Stolz auf das Schild über dem Eingang. > Herzlich willkommen, Jolan! <, stand auf der dünnen Holztafel; es schien eine alte Schrankrückwand zu sein, denn Chris sammelte und bewahrte alles auf, was man seiner Ansicht nach noch irgendwann mal gebrauchen konnte.

Die beiden gaben sich wirklich alle erdenkliche Mühe, dachte Jolan, sie wussten natürlich, wie es um seine Eltern stand und wollten ihm die Ankunft offensichtlich so angenehm, wie möglich machen. Sie konnten ja nicht wissen, dass er gerade unter diesen speziellen Umständen wirklich gerne einige Zeit mit ihnen verbringen würde, vor allem hier in der Lebensgemeinde und deren besonderer, positiver Atmosphäre.

Sicher, nach so langer Zeit mal wieder drei ganze Wochen am Stück hier zu sein… könnte schon ein wenig lang werden. Und natürlich wusste er nicht, wie es nach den Ferien mit seinen Eltern weitergehen würde… ach, was soll’s, sagte sich Jolan zum wiederholten Male, er hatte sich in den letzten Wochen zu oft den Kopf darüber zerbrochen und eigentlich hoffte er, dass Ella und Chris ihn damit in Ruhe lassen würden.

Nachdem Jolan das Gästezimmer bezogen hatte, saßen sie gemeinsam auf der Terrasse bei Tee und Möhrenkuchen. Soeben hatte er seinen Bericht vom Mittelaltermarkt beendet. Den Rat Regins folgend, erzählte er nichts vom Inhalt des Kästchens und der damit verbundenen Aufgabe.

„Und wo ist jetzt die antike Schmuckschachtel, die dieser…“, begann Ella, schloss die Augen und wirkte seltsamerweise einen Augenblick lang so, als ob sie sich sammeln müsste, „…dieser Zwergenschmied dir geschenkt hat?“

„Äh…, hab ich in meinem Zimmer gelassen, ich zeig sie euch später“, wich Jolan erneut aus. Er wunderte sich kurz über das eigenartige Verhalten seiner Großmutter, aber dann schweiften seine Gedanken ab. Er musste an den Umschlag mit den Anweisungen denken, der noch in einer der Seitentaschen seines Rucksacks steckte.

Chris, der bisher, offenbar mit sich und der Welt zufrieden, seinen Kuchen gemampft hatte, sagte ungewöhnlich nachdenklich: „Also diesen Zwerg… Regin, find’ ich unheimlich interessant“, er trank seinen Tee aus, um den letzten Bissen herunterzuspülen, „was du da erzählt hast mit den Runen auf der Schwertklinge…“

„Was sind Runen überhaupt für Zeichen?“, unterbrach Jolan ihn.

„…Runen?“, erwiderte Chris gedehnt mit einem Seitenblick auf Ella, „Runen sind altgermanische oder altnordische Schriftzeichen“, erklärte er dann, „manche behaupten auch, sie hätten magische Kräfte.“ Er lehnte sich zurück und fuhr fort: „Eigentlich wollte ich diesen Markt sowieso mit dir besuchen, Jolan. Kommst du noch mal mit? Ich würde mir gerne deinen Wunderschmied anschauen.“ Er wechselte erneut einen längeren Blick mit Ella.

„Ach, nein…“, antwortete Jolan, „ich war ja grad’ da, ich werde erst mal meine Sachen auspacken.“

Er wollte natürlich nur alleine sein, um herauszufinden, was es mit den rätselhaften Anweisungen auf sich hatte. Außerdem glaubte er, dass Regin nicht besonders davon angetan wäre, wenn er mit Chris im Schlepptau wieder auftauchen würde. Der Zwerg würde bestimmt denken, er hätte alles weitererzählt und käme jetzt zur Kontrolle, ob die ganze Geschichte auch mit rechten Dingen zuginge, mit einem Erwachsenen daher.

„Ich jedenfalls werde erst mal ein Nickerchen in meiner Hängematte machen!“, tat Ella kund, erhob sich rasch und verschwand im Garten. Jolan sah ihr nach und wunderte sich wiederum darüber, dass sie irgendwie angespannt wirkte.

„Gut! Dann fahr ich eben allein…“, rief Chris ein wenig zu laut, „wir können ja morgen alle zusammen noch mal hinfahren, so viel ich weiß, ist der Markt noch ein paar Tage da“, meinte er abschließend, während er sich erhob und anfing, den Tisch abzuräumen.

Kurz darauf, nachdem Chris aufgebrochen war und Ella sich hingelegt hatte, saß Jolan am Schreibtisch in seinem Zimmer. Vor ihm stand die kleine mit Runen verzierte Schatulle. Vorsichtig öffnete er sie und entnahm den ledernen Beutel. Jolan sah sich das Säckchen genauer an, aus Drachenhaut sei es, hatte Regin behauptet. Es war schwärzlich und steif, fast hart. Das Leder war ziemlich dick und fühlte sich schuppig und rau an. Jedenfalls schien es echt zu sein, wer weiß, welches Reptil dafür seine Haut verloren hatte, dachte Jolan.

Dann ließ er den Keimling in seine Hand gleiten, er befühlte die steinharte, seltsame Oberfläche, die wirklich wie Gehirnwindungen aussah. Er roch etwas muffig, genau wie der Beutel. Jolan legte ihn beiseite und öffnete den braunen Umschlag. In ihm befand sich ein dickes, in der Mitte gefaltetes angegilbtes Papier. Er besah sich die feine, mit einer bräunlichen Tinte verfasste, Handschrift. Bestimmt hatte Regin das selbst geschrieben, dachte Jolan, bevor er Folgendes las:

Der Samen Yggdrasils

Im immergrünen, mächtigen Wipfel des Weltenbaumes Yggdrasil. Dort im Geäst Lärads gedeihen die seltenen Früchte der herrlichen Esche. Das Eichhörnchen Ratatöskr frisst sie sogleich, der wertvolle Kern aber fällt herab.

Er gehört Wodan, dem Einäugigen, Allvater und Obersten aller Götter.

Einige wenige dieser Samen verschenkte Wodan im Laufe der Zeiten an die Menschen. Nicht an Könige oder Helden, nicht an holde Jungfrauen oder begehrenswerte Weiber. Nur Kindern erwies er diese Gunst.

Nicht entscheidend war Rang oder Geburt und auch nicht Geschlecht. Vielleicht befragte Wodan die Nornen, welche die Schicksalsfäden aller Kinder Midgards spinnen. Vielleicht wurden sie ihm von seinen Raben, Huginn und Muninn, zugeraunt.

Oder vielleicht erträumte sich der Allvater auch seine Wahl.

Ganz sicher ist es sein Wille, dass nach langer Zeit dieser eine noch vorhandene Samen Yggdrasils wieder in Kinderhände Midgards gelangt!

Nun belebe und erwecke Wodans Geschenk.

1) Nimm den Samen und presse ihn an dein Herz auf die nackte Haut! Lass dir Zeit, atme tief und ruhig einund aus. Denke dabei nur an dich und den Keimling. Dann spreche die Worte:

ANSUZ – GEBO – DAGAZ

2) Jetzt führst du den Samen zum Munde und hauchst ihm deinen Atem ein. Einen langen Atemzug, nicht mehr!

Füge dir eine kleine Wunde zu und schenke dem Keimling mindestens drei Tropfen deines Blutes.

3) Suche einen geschützten Platz mit guter dunkler und unverdorbener Erde. Grabe den belebten Samen eine Handbreit ein. Schenke auch der Erde drei Tropfen deines Blutes und spreche sodann die Worte:

EIHWAZ – URUZ – LAGUZ

Blut! Mit meinem eigenen Blut soll ich den Samen erwecken, dachte Jolan als erstes. Das war schon ein wenig krass. Allerdings verlieh diese Blutgeschichte dem ganzen Ritual eine unheimliche Ernsthaftigkeit. Er las Regins Anweisungen nochmals. Es hätte also auch irgendeinen anderen Jungen treffen können, fiel ihm jetzt auf… oder ein Mädchen. „Nicht entscheidend war Rang oder Geburt und auch nicht Geschlecht“, stand dort.

Anderseits hatte Regin ihn immer so sonderbar angesehen, so als hätte er wirklich nur auf ihn gewartet und nicht zufällig auf irgendein Kind oder Jugendlichen. Allerdings glaubte Jolan im Nachhinein wirklich, dass in dem Kräutertrank des Zwerges etwas drin gewesen war, eine Art leichte Droge oder so etwas. Immerhin hatte er sich einen Augenblick lang richtig weggetreten gefühlt.

Die kurze Einführung zur Geschichte des Samens war auch sehr eigenartig: Ein Eichhörnchen frisst die Frucht, doch der Kern fällt herab und gehört dem Wodan…

Jolan überlegte einen Augenblick, na klar, jetzt erinnerte er sich: Wodan oder auch Odin war der oberste Gott der germanischen Völker gewesen. In der Schule hatten sie mal über die Entstehungsgeschichte der vorchristlichen Religionen gesprochen, unter anderem eben auch über die ihrer Vorfahren, den alten Germanen. Es war ihm eingefallen, weil Chris diese vorhin im Zusammenhang mit den Runen erwähnt hatte. Und natürlich, er kannte die nordischen Götter zum Teil auch aus den Marvel-Filmen mit Thor als Superhelden… aber das war ja nur Popcorn Kino.

Mit dem Rest des Textes konnte er wenig anfangen; Nornen, Huginn und Muninn? Sehr mysteriös war das und vor allem richtig fantasymäßig; und jetzt wirkte es fast so, als könnte er selbst eine echte Fantasygeschichte erleben.

Er nahm den Kern wieder auf und drehte ihn in der Handfläche, ich sollte es wirklich ausprobieren, wer weiß, ob tatsächlich etwas Besonderes passieren würde…, dachte Jolan.

Er kramte im Rucksack nach seinem Taschenmesser, klappte es auf und hielt sich die Klinge an die linke Hand. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich eine kleine Wunde zufügte und sein Blut fließen würde. Ach, nein… das konnte er nicht tun! Er spürte, dass er wahrscheinlich im entscheidenden Augenblick nicht in der Lage wäre, sich zu verletzen und so das ganze Ritual vermasseln würde.

Jolan klappte das Messer wieder zu, es war eh viel zu stumpf, dachte er missmutig. Außerdem würde sowieso nichts passieren! Er hätte sich bestimmt ganz umsonst geschnitten und dann vergeblich auf ein Wunder gewartet.

Aber das würde wiederum bedeuten, dass Regin sich mit ihm einen Scherz erlaubt hatte,…und warum sollte er so etwas tun? Er wirkte nicht wie jemand, der scherzte… ganz im Gegenteil, bei aller Seltsamkeit, hatte er eher etwas beunruhigend Ernsthaftes.

Außerdem hatte er ihm das Kästchen ja nicht verkauft, sondern geschenkt. Was würde der Zwerg davon haben, ihn einfach nur zu verarschen? Nein, Regin wollte, dass er, Jolan, das Geschenk Wodans belebte.

In diesem Augenblick vernahm er, dass Chris wieder da war.

„Jolan, bist du oben?“, rief dieser jetzt. Jolan hörte, wie er die Treppe heraufkam. Hastig packte er den Samen in die Schatulle zurück und versteckte sie schnell im Kleiderschrank hinter seiner Unterwäsche. Kurz darauf klopfte Chris auch schon an die Zimmertür. Nachdem Jolan ihn hereingelassen hatte, setzte er sich auf das Bett und grinste ihn an.

„Entweder hast du dir eine echt tolle Geschichte ausgedacht oder dein Zwergenschmied ist einfach verschwunden“, sagte er irgendwie übertrieben gut gelaunt.

„Hä…, wie verschwunden?“, wunderte sich Jolan, „vorhin war er noch da.“

„Na, jedenfalls hat er sich inzwischen in Luft aufgelöst, er ist einfach weg“, erwiderte Chris achselzuckend.

„Das ist ja komisch, verschwunden…“, meinte Jolan nachdenklich. Dann musste Regin seinen Stand, gleich nachdem er den Markt verlassen hatte, abgebaut haben und gegangen sein. Demnach war er also wirklich nur auf dem Markt gewesen, um ihm den Samen zu schenken. Doch woher konnte der Zwerg wissen, dass er gerade heute aus Hamburg ankommen würde? Jolan grübelte vor sich hin.

„Hey, so schlimm ist das auch wieder nicht“, unterbrach Chris seine Gedankengänge und schnippte ein paar Mal mit den Fingern vor seinem Gesicht, „du bist ja ganz abwesend, alles klar mit dir?“

„Jaja, alles klar…“, antwortete Jolan, „…wunder’ mich nur, dass er einfach so verschwunden ist.“

„Und…“, fragte Chris weiter, „…was für ein Talisman ist denn nun in dem geheimnisvollen Kästchen gewesen?“

„Ach…“, Jolan suchte hastig nach einer unverfänglichen Erklärung, „nur so ein geschnitztes Ding zum Umhängen“, schloss er zufrieden über seine Ausrede.

„Na gut, okay…“, Chris sah ihn einen Moment lang nachdenklich an. „Kommst du mit ein wenig Bogenschießen? Mal sehen, wie gut du noch bist!“, schlug er dann plötzlich munter vor und verwuschelte ihm die Haare, während er aufstand.

„Super, na klar komme ich mit!“, erwiderte Jolan, obwohl er das letzte Mal im vergangenen Herbst mit dem Bogen geübt hatte und daher wahrscheinlich miserabel schießen würde.

Das mit dem Bogenschießen war auch typisch für Chris, er hatte auf einer kleinen, sumpfigen Wiese am Waldrand einen Schießstand aufgebaut, wo er ständig übte. Und seit ungefähr zwei Jahren versuchte er auch Jolan das Bogenschießen beizubringen, was eine ganz tolle Sache war. Darauf hatte er sich besonders gefreut. „Du wirst mich haushoch schlagen!“, rief Jolan, während er Chris hinterherlief.

Kapitel 3.

Jolan wachte am nächsten Morgen früh auf, im Haus regte sich noch nichts. Er hatte einen total wirren Albtraum gehabt: Er war wieder auf dem mittelalterlichen Markt gewesen und suchte Regin mit seinem Stand, aber der war nicht mehr da. So sehr er auch suchte, der Zwerg blieb verschwunden. Da fiel ihm der Schwertschlucker ein, vielleicht wusste der, wo Regin war. Kaum hatte er diesen Gedanken gehabt, kniete der Schwertschlucker auch schon direkt vor ihm. Er röchelte fürchterlich und rang verzweifelt nach Luft. Aus seinem weit geöffneten Mund ragte genau jenes Schwert, welches Regin ihm gezeigt hatte und das für ihn bestimmt sein sollte! Warum hatte sich der Mann bloß die runenverzierte Waffe in den Hals gesteckt? „Wenn er das mit einer meiner Klingen versuchen würde, wäre das freilich sein letzter Auftritt gewesen“, hatte Regin gesagt. Die Worte des Zwerges hallten in seinem Kopf wieder. Jolan ergriff das Schwert, um dem Armen zu helfen, aber er konnte sich nicht überwinden, es herauszuziehen. Jolan kniff die Augen zu, während sich seine Hand um den Schwertgriff verkrampfte. O mein Gott, ich werde es bestimmt vermasseln, dachte er verzweifelt. Der Mann röchelte plötzlich nicht mehr. Die Augen wieder öffnend, stellte Jolan verwundert fest, dass er statt des Schwertes seinen Bogen umklammert hielt und der Schwertschlucker nicht mehr da war. Nun befand er sich auf der sumpfigen Wiese mit dem Schießstand und vor ihm ragte ein riesiger Baum auf. Noch nie zuvor hatte Jolan einen derart großen Baum gesehen, es schien ihm, als würde er bis in den Himmel wachsen. Dies musste die sagenhafte Weltenesche sein! Über ihm, in der beginnenden Baumkrone, sah er Regin, er hielt die kleine schwarze Truhe in den Händen und holte eine große Mango daraus hervor. „Befolge die Anweisungen!“, krähte er zu ihm herunter, „befolge die Anweisungen, Jolan!“ Dann warf er die Frucht herab; plötzlich sprang ein großes Eichhörnchen aus dem Geäst und schnappte sich die Mango im Fluge. Ich darf es nicht vermasseln, dachte Jolan, spannte seinen Bogen und holte das Eichhörnchen gleich mit dem ersten Pfeil herunter. Getroffen! Die Aufregung schoss ihm durch Mark und Bein. Er rannte zu dem heruntergefallenen Tier, es war mindestens so groß wie ein Hase. Das Eichhörnchen sah ihn vorwurfsvoll an und hielt ihm die Frucht entgegen, entsetzt erkannte Jolan, dass es ein blutiges Gehirn war. „Yggdrasil!!“, kreischte das Tier ihn an, „Yggdraasiiiiiiil!!!“

Das fürchterliche Gekreisch mischte sich mit dem lauten morgendlichen Vogelkonzert, welches aus dem Garten durch das halbgeöffnete Fenster hereinkam. Davon erwachte er letztendlich und wurde so aus seinem Traum befreit.

O Mann…, dachte Jolan, was für ein wirrer Alptraum. Gleichzeitig genoss er das sich einstellende, erleichternde Gefühl, nur geträumt zu haben. Vielleicht könnte er noch ein bisschen schlafen, allerdings nicht bei diesem lauten Gezwitscher, das von draußen hereinkam! Er erhob sich und schlurfte zum Fenster, um es zu schließen. Als er nach dem Fenstergriff greifen wollte, durchzuckte ein stechender Schmerz seinen Arm. Natürlich, er hatte einen ordentlichen Muskelkater vom gestrigen Bogenschießen mit Chris. Gähnend schloss er das Fenster, schaute dabei in den Garten hinaus und erschrak sich so sehr, dass ihm ein ersticktes Stöhnen entfuhr.

Dort unten am Gartenzaun stand Regin und sah zu ihm herauf!

Der Zwerg nickte kurz und machte eine Handbewegung, dass er herauskommen solle. Jolan brauchte einige Augenblicke, um sich von dem Schrecken zu erholen, aber schließlich erwiderte er zögerlich Regins Nicken. Er schlüpfte hastig in seine Kleidung und schlich die Treppe hinunter. Vor dem Hinausgehen horchte Jolan noch mal ins Haus hinein… alles war ruhig und so lief er kurz darauf über die Terrasse und fröstelte im ersten Moment, als er mit seinen bloßen Füßen in das kalte taunasse Gras schritt. Abrupt verharrte er, weil Regin nicht mehr am Zaun stand, sondern den schmalen Trampelpfad in den Wald genommen hatte, der seitlich am Gartenzaun entlang führte. Dieser war hier kaum noch vorhanden, lediglich ein paar schiefe und völlig verwitterte Pfähle mit den Resten eines Maschendrahtzauns grenzten das Grundstück ein. Dort befand sich auch ein kleines Gartentor, welches allerdings seit Jahren geöffnet in seiner Angel hing.

Jolan begriff, dass Regin lieber an einer geschützten Stelle auf ihn warten wollte; der Garten war zur Waldseite hin stark verwildert und dicht mit hohen Sträuchern bewachsen, daher bahnte er sich seinen Weg zu dem versteckten Eingang und traf dort, wie erwartet auf den Zwerg.

„Du hast es noch nicht vollbracht, oder?“, fragte Regin ihn, anstatt einer Begrüßung. Die seltsame Erscheinung des Zwerges wirkte jetzt, ohne das Umfeld des mittelalterlichen Marktes noch wunderlicher. Die gedrungene Gestalt mit dem geflochtenen Haar und Bartzöpfen, der auffälligen Tätowierung auf der Stirn sowie komplett in Leder gekleidet wirkte wahrlich, wie aus einem Film entsprungen.

„Nein, ich…“, begann Jolan und fragte sich dabei, warum er das Gefühl hatte, einer Verpflichtung nicht nachgekommen zu sein, „…ich konnte es einfach noch nicht tun“, fuhr er fort und fasste den Entschluss, sich gar nicht erst von Regin bedrängen zu lassen. „Ich meine, wenn Ihnen die Sache mit dem Samen und der Weltenesche so wichtig ist, warum erwecken Sie ihn dann nicht selbst, warum soll ausgerechnet ich das tun?“

Der Zwerg sah ihn einen Augenblick lang an und machte eine beschwichtigende Miene, während er langsam nickte.

„Also gut, Jolan“, erwiderte er dann, „sag bitte du zu mir, nenn mich einfach Regin;…und nun lass uns ein wenig spazieren gehen, dann werde ich dir alles erklären, in Ordnung?“ Er lächelte freundlich und machte eine Kopfbewegung, um ihn zu ermuntern, dem Pfad entlang in den Wald zu folgen. Jolan verharrte kurz, aber er ging davon aus, dass von dem Zwerg keine Gefahr ausging. Er war vielleicht ein merkwürdiger Kerl, doch sicherlich wollte er ihm nichts antun.

„Einen Moment…“, sagte er deshalb, „ich muss noch schnell meine Schuhe holen.“

Regin lachte auf, während er auf Jolans Füße blickte. „Ah, das macht nichts, hier auf dem Pfad ist der Untergrund weich und ich denke, du willst während unserer Unterhaltung den Boden unter den Füßen spüren, habe ich recht?“, meinte er augenzwinkernd, „und außerdem möchtest du doch niemanden im Haus wecken, also komm jetzt“, schloss er und ging voraus.

„Da brauchen Sie,…äh, ich meine du, dir keine Sorgen zu machen. Es ist gerade mal sechs Uhr und vor neun wachen die beiden in den Ferien sowieso nicht auf“, erwiderte Jolan ihm nachfolgend.

Sie gingen eine Weile schweigend den schmalen Weg entlang und kamen auf eine Lichtung, hier setzten sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm.

„Du hast doch bestimmt die Anleitung gelesen?“, begann Regin und auf Jolans Nicken hin sprach er weiter: „Diese Anweisungen habe ich mir nicht einfach ausgedacht, wie ich dir bereits sagte, handelt es sich vielmehr um die Übersetzung einer alten Runeninschrift. Die Tafel mit diesen Runen befand sich, samt dem Kästchen mit dem Keimling Yggdrasils, bei einer Moorleiche.“

„Einer Moorleiche…!“, wiederholte Jolan ein wenig erschauernd, das hörte sich echt gruselig an.

„Ja, so ist es…“, erwiderte Regin, „es handelte sich um ein Menschenopfer, die Schatulle mit dem Samen samt Tafel waren in die verschränkten Arme auf die Brust des Geopferten gebunden worden. Die alten Germanen opferten aus religiösen Gründen ab und wann Menschen. Ich nehme an, dass dieser Mann seinerzeit dem Wodan geopfert wurde, weil er den Samen nicht erweckt hatte“, hier machte er eine Pause und betrachtete Jolan aufmerksam, bevor er fortfuhr.

„Wir können davon ausgehen, dass er den Keimling als Kind bekommen haben muss, denn wie du weißt, steht geschrieben, dass nur Kinder als Empfänger für Wodans Geschenk infrage kommen. Daher kann nicht ich den Kern erwecken; jedenfalls,…aus irgendwelchen Gründen hat dieser Junge die Zeit verstreichen lassen, ohne den Samen zu beleben. Vielleicht hatte er einfach Angst…, allerdings fürchteten seine Stammesgenossen den Zorn des obersten Gottes und haben ihn wahrscheinlich deshalb geopfert. Er hatte das in ihn gesetzte Vertrauen des Allvaters nicht gewürdigt und so sein Leben verwirkt.“ Regin unterbrach seine Rede, weil er merkte, dass Jolan etwas fragen wollte.

„Woher wusstest du von der Moorleiche und woher weißt du überhaupt von all diesen Dingen?“ Alles, was Regin ihm erzählt hatte, klang sehr spannend und er merkte, wie seine Aufregung anstieg, weil er wieder das Gefühl bekam, Teil eines unglaublichen Abenteuers zu sein. Anderseits wollte er jetzt genau wissen worum es ging und auch prüfen, ob Regin vielleicht doch nur ein seltsamer Spinner war.

„Ich habe mich nicht in dir getäuscht, Jolan. Du bist misstrauisch, aber nicht ängstlich“, antwortete der Zwerg anerkennend und erklärte dann: „Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit den Geheimnissen alter Runeninschriften. Immer auf der Suche nach dem verlorenen Wissen Yggdrasils und der alles heilenden Macht der Ewigen Wälder. Dabei stieß ich auf die Geschichte von diesem besonderen Wodansopfer, sogar mit recht genauen Angaben, wo es stattgefunden hatte. Nachdem ich feststellte, dass an der angegebenen Stelle, tief in einer einsamen Moorlandschaft gelegen, noch keine archäologischen Ausgrabungen stattgefunden hatten, beschloss ich auf eigene Faust, nach der Moorleiche zu suchen. Wie ich bereits erklärte, opferten die alten Germanen ihrem einäugigen Gott, dem Allvater Wodan, immer wieder Menschen. Meistens, wenn großes Unglück über sie hereinbrach; Seuchen oder Missernten, Fluten und andere Wetterkatastrophen ihre Sippen heimsuchten, gedachten sie mit diesen Opfern ihrem vermeintlich zornig gewordenen Gott, zu beschwichtigen.

Oft waren dies bedauernswerte Kriegsgefangene nach gewonnenen Schlachten, aber in Einzelfällen auch Angehörige ihrer eigenen Dorfgemeinschaft. Das nebelverhangene, geheimnisvolle Moor war ihnen heilig, unsere Vorfahren glaubten, dass an solchen Orten der Übergang von der Menschenwelt zur Götterwelt sei, deshalb wurden die Opfer dem Moor übergeben. Du hast vielleicht schon davon gehört, dass im Moor Gegenstände, aber auch Leichen konserviert werden und so mumifizieren.

Ich machte mich also voller Hoffnung auf die Suche und verbrachte viele anstrengende Wochen in der einsamen Wildnis. Schließlich gelang es mir tatsächlich, die Moorleiche zu finden und zu bergen. So kam ich in den Besitz des Keimlings und der Runentafel mit den Anweisungen.“

„Wahnsinn…“, meinte Jolan beeindruckt, „…und auf der Tafel stand nichts Genaueres darüber, was passiert, wenn der Samen wirklich erweckt würde?“

„Nur dass die Kraft Yggdrasils erwacht und die Zeit der Ewigen Wälder auf Erden zurückkehrt, so wie einst“, Regin zögerte kurz, „…die Macht des alten Waldes ist heilsam für Mensch und Tier, für den ganzen Planeten. Es liegt jetzt an dir, Jolan…“, der Zwerg hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr: „…denn um das Erbe Yggdrasils zu erwecken, sind die Anweisungen unbedingt bindend, nur Kinder oder Jugendliche kommen als Empfänger für das Geschenk Wodans in Betracht. Der Gott wird schon seine Gründe dafür gehabt haben.“

Jolan dachte einen Augenblick nach. „Glaubst du denn, dass es Wodan tatsächlich noch gibt,…ich meine, wenn es ihn je gegeben hat?“ Regin sah ihn eine Weile an, bevor er antwortete: „Wer weiß, warum sollte es Wodan nicht geben? Viele Menschen glauben zum Beispiel an den lieben Gott im Himmel, ohne jemals einen Beweis für seine Existenz bekommen zu haben.“

Da war was dran, dachte Jolan. Er selbst hatte sich noch nie ernsthaft darüber Gedanken gemacht, ob es Gott geben könnte. In seiner Familie spielte Religion keine große Rolle.

„Aber jetzt bietet sich für uns die unglaubliche Gelegenheit herauszufinden, dass Wodan wahrhaftig ist“, meinte Regin dann bestimmt.

Bei diesen Worten spürte Jolan, dass die eindringliche Überzeugung des Zwerges eine große Aufregung in ihm auslöste. Könnte das wirklich möglich sein, dachte er… eine echte Fantasygeschichte?

Jolan schüttelte seinen Kopf, immer mit der Ruhe, sagte er sich. „Weißt du…“, begann er daher, „…ich werde mir die Sache noch mal überlegen. Immerhin muss ich ja nicht befürchten, deswegen gleich geopfert zu werden.“

Regin lachte rau und klopfte ihm besänftigend auf die Schulter. „Nicht jetzt und auch nicht später, Jolan!“ Er ließ seine prankenhafte Hand kameradschaftlich auf Jolans Schulter liegen. „Warum willst du warten, was hast du schon zu verlieren als ein paar Tropfen Blut?“

„Ja schon, aber wie soll ich an mein Blut kommen? Ich meine, mit einem Küchenmesser… oder reicht eine Nadel?“ Wahrscheinlich hält er mich jetzt für ein Baby, dachte Jolan. Aber der Zwerg nickte wieder nur und sagte: „Das habe ich mir gedacht, genau deshalb bin ich heute Morgen hergekommen.“ Er griff in seine Jacke und holte einen kleinen Dolch, schmal und zierlich wie ein Brieföffner, hervor. „Die Klinge dieses Messers ist mit magischen Runen versehen, du wirst keinen Schmerz spüren und die Wunde wird schnell verheilen.“

Jolan nahm den Dolch entgegen und drehte ihn hin und her.

„Okay!“, sagte er plötzlich entschlossen, „ich werde es tun, ich suche eine geschützte Stelle im Garten und werde den Samen einpflanzen!“

Regin erhob sich. „Das ist gut Jolan, sehr gut“, erwiderte er zufrieden. Sie gingen gemeinsam den Pfad zurück zur Gartenpforte. Dort angekommen, hob der Zwerg nochmals an: „Verliere keine Zeit Jolan, die Sommerferien sind schnell vorbei. Und befolge genau die Anweisungen, bedenke welche Mühe es mich gekostet hat, diesen einen Keimling Yggdrasils zu bekommen!“

Jolan nickte und dachte an das schreckliche Schicksal des geopferten Mannes. „Was hast du eigentlich mit der Moorleiche gemacht?“, fiel ihm da ein.

„Ich habe sie wieder dem Moor zurückgegeben, natürlich mit gebührender Ehrfurcht und Schutzrunen versehen. Ich halte nicht viel davon, Verstorbene wie Ausstellungsstücke in gläsernen Kästen zu präsentieren!“, antwortete Regin mit erhobenem Kinn. Damit verabschiedete sich der Zwerg und versprach, schon bald wieder vorbeizukommen. Zuletzt beschwor er Jolan nochmals, das Geschenk Wodans, so bald wie möglich, zu beleben.

Kurz darauf saß Jolan wieder in seinem Zimmer, er hatte den geheimnisvollen Kern hervorgeholt und betrachtete ihn nachdenklich. Wegen diesem Ding war einst ein Mensch getötet worden; zwar war das vor langer Zeit geschehen, aber immer noch unheimlich genug. Er hatte nicht daran gedacht zu fragen, vor wie langer Zeit das alles geschehen war, aber Jolan konnte sich daran erinnern, dass die Epoche der alten Germanen mit der des Römischen Reiches einherging. Es war also durchaus möglich, dass der Geopferte bald zweitausend Jahre im Moor gelegen hatte, bevor er von Regin gefunden wurde. Viele Jahrhunderte lang hatte der Samen an der Brust des Toten gelegen und nun hielt er ihn in den Händen, irgendwie war das ein beklemmendes Gefühl. Jolan legte den Kern auf die Tischplatte, um sich noch mal genau die Schrift mit den Anweisungen anzuschauen. Wie war das bei Punkt zwei? Man sollte dem Samen seinen Atem schenken,… ihn anhauchen. Er nahm erneut den Keimling auf und schnüffelte vorsichtig an ihm. Wahre Ewigkeiten hatte das Ding bei einer Leiche gelegen, kein Wunder, dass es muffig roch. Dann nahm Jolan den kleinen Dolch zur Hand und ihm fiel ein, dass er sich gar nicht dafür bedankt hatte. Allerdings hatte der Zwerg auch nichts von einem Geschenk gesagt, vielleicht würde er ihn bei seinem nächsten Besuch wieder zurückhaben wollen. Jolan zog das Messer aus der Scheide, sie war aus einem hellen kurzhaarigen Fell gefertigt; dann betrachtete er die schmale Klinge und die darauf eingravierten feinen Zeichen. Das waren also magische Runen, die laut Regins Worten Schmerzen verhinderten und den anschließenden Heilungsprozess beschleunigen konnten. Wie zur Probe drückte er vorsichtig die Schneide an seine linke Handfläche,…und augenblicklich fielen einige große Blutstropfen auf die Tischplatte!

„Ach, du Scheiße,…Scheiße!, entfuhr es Jolan erschrocken. Reflexartig schloss er die verletzte Hand zur Faust, um die Blutung zu stoppen. Das blöde Ding war ja schärfer als eine Rasierklinge.

Und dabei hatte er gar nichts bemerkt, keine Schmerzen, auch jetzt noch nicht. Jolan wollte gerade aufspringen, um sich im Badezimmer zu verarzten, hielt aber jäh inne und gemahnte sich zur Ruhe. Einen Moment lang horchte er lauschend, ob jemand geweckt worden war, aber es blieb weiterhin alles ruhig im Haus.

Langsam öffnete er wieder seine Hand und sofort klatschten erneut zwei Tropfen Blut auf den Tisch. Also gut, dann mach ich es eben jetzt gleich, vielleicht ist es so in Wodans Sinne, beschloss Jolan und ein Schauer lief ihm bei diesem dramatischen Gedankengang den Rücken hinunter. Umständlich zog er sich mit der rechten Hand sein T-Shirt über den Kopf und besann sich nochmals einen Augenblick, bevor er den Keimling mit der flachen unverletzten Hand auf die nackte Brust, an sein Herz presste. Er schloss die Augen und versuchte sich tief ein- und ausatmend, zu beruhigen. Es kostete ihn seltsamerweise gar keine Mühe, dabei nur an sich und den Samen Yggdrasils zu denken.

Yggdrasil,…Yggdrasil, dachte er und wurde immer ruhiger, während sein Herz langsam und rhythmisch schlug. Er spürte, wie sich der Kern an seiner Brust erwärmte, dann wurde er fast heiß, aber Jolan blieb weiterhin ruhig und konzentriert. Langsam tauchten hinter seinen geschlossenen Augenlidern gleichzeitig drei Worte auf.

„Ansuz – Gebo – Dagaz“, sprach Jolan in die Stille des Zimmers. Ihm war jetzt leicht schwindelig, er führte den erhitzten Samen wie willenlos an seinen Mund, holte tief Luft und hauchte, wieder ausatmend, lange auf den Keimling. Dieser fing in seiner Hand zu summen an, so als würde er unter Strom stehen. Jolan bemerkte, dass der Samen ganz sachte pulsierte. Dann öffneten sich die Windungen auf der Oberfläche, die so sehr an ein Gehirn erinnerten.

Etwas in ihm sagte, dass er eigentlich entsetzt sein müsste, aber er fühlte irritierenderweise nur Freude in sich. Nun hielt Jolan seine verletzte Hand über den Kern und erst langsam, aber dann immer schneller, tropfte sein Blut auf diesen herab. Die offenen Windungen saugten das Lebenselixier förmlich auf und schlossen sich nach einigen Sekunden wieder. Der Keimling pulsierte jetzt stark und fühlte sich nicht mehr hart und trocken an, sondern weich und geschmeidig. Er lebt, er lebt tatsächlich!, dachte Jolan glücklich, erhob sich lächelnd und trug den erweckten Kern behutsam die Treppen hinunter, durch das Haus bis in den Garten.

Zielsicher schritt er in den verwilderten Teil und kniete sich unter einen großen Haselstrauch. Hier grub er ein kleines Loch in die weiche, dunkle Erde und pflanzte den Samen vorsichtig ein. Zuletzt hielt er abermals seine verletzte Hand darüber und ließ einige Blutstropfen auf die Erde herabfallen. Darauf sprach er mit kontrollierter Stimme die Worte: „Eihwaz – Uruz – Laguz.“

Jolan hockte wohl noch eine Weile dort, seine Hand hatte aufgehört zu bluten und schließlich erhob er sich taumelnd. Eine starke Müdigkeit hatte ihn überkommen und sein Kopf war wie leergefegt. Er ging ins Haus, schwankte die Treppe hinauf in sein Zimmer und kroch, so wie er war, ins Bett und schlief auf der Stelle ein.

Nachdem Regin sich von Jolan verabschiedet hatte, verbarg er sich im Unterholz in der Nähe des Gartens und wartete. Der Zwerg war überzeugt, dass die Dinge jetzt ihren Lauf nehmen würden und wenig später wurde seine Zuversicht belohnt. Mit angehaltenem Atem beobachtete er den Jungen beim Einpflanzen des Keimlings unter dem Haselstrauch.

Endlich war es vollbracht! Zufrieden wartete Regin bis Jolan wieder ins Haus gegangen war, dann nahm er seinen ledernen Rucksack aus dem Gebüsch hervor, den er vor dem Gespräch mit dem Jungen dort versteckt hatte. In ihm befanden sich verschiedene Utensilien, die der Zwerg für das was er jetzt vorhatte, benötigte; unter anderem einen schweren Hammer und ein Stemmeisen.

Anschließend schlug er den Weg rechts von Ellas Garten ein. Dieser ging am Waldrand entlang stetig bergauf. Er ließ die links des Pfades liegenden Pferdekoppeln, welche auch zur Lebensgemeinde gehörten, hinter sich und folgte dem Weg weiter, der ihn nun wieder zurück in den Forst führte. Nach einiger Zeit des bergauf Wanderns, kam er an ein Schild, das auf einen schmalen Trampelpfad zur höchsten Stelle des Reiherberges hinwies, auf der ein Aussichtsturm für Touristen stand. Hier ging es zunächst steil aufwärts bis zu einer Anhöhe vor dem eigentlichen Gipfel. Regin machte eine kleine Pause, obwohl sein Atem nach dem zurückgelegten Anstieg kaum schneller ging. Trotz seines Alters war der Zwerg noch gut zuwege, er wusste, dass seine Kraft und Zähigkeit, die der meisten Menschen übertraf, aber ihm war auch genauso bewusst, dass diese Kraft mit jedem Tag der verging, nachließ. Das profane Altern, welches alle Geschöpfe dieser Menschenwelt betraf, galt auch für ihn. Seit vielen Jahren schon hatte er den Zenit seiner Kräfte überschritten und nun wurde er mit jedem Jahr schwächer und älter, bis zu seinem unweigerlichen Tod. Zumindest hier in Midgard, so war es Gesetz und Bestimmung für die Zwerge seit Anbeginn aller Zeiten. Nur in den jenseitigen Welten war ewiges Leben und Alterslosigkeit möglich.

Regin schaute zwischen den Bäumen zu dem kahl geschlagenen Gipfel hinauf, wo der hölzerne Touristenturm thronte. Er schnaufte verächtlich und schlug jetzt einen kleinen unscheinbaren Weg ein, der rechts um den Gipfel herumführte. Zunächst etwas bergab und bald wieder bergauf, immer tiefer in den Reiherberger Forst hinein. Nach einer Weile verlor sich der kaum noch erkennbare Pfad im dichten Unterholz, aber Regin kannte sein Ziel. Durch das Gestrüpp hindurch kämpfte er sich bis auf eine weitere baumlose Anhöhe vorwärts zu einer Lichtung mit einem kleinen Hügel mitten im Wald.

Nur Regin kannte das Geheimnis dieses Ortes. Nur er allein wusste, dass es ein Grabhügel war. Kein Archäologe oder Hobbyforscher ahnte, dass sich hier unter dieser Anhöhe das steinerne Grab eines einst legendären Germanenkriegers verbarg. Vor zwei Monaten im Frühjahr war Regin bereits hier gewesen, um den Eingang zur Grabkammer freizulegen und dann wieder sorgfältig zu tarnen. Nun war er wieder hier, weil die Zeit gekommen war. Wodans Geschenk hatte einen Erben gefunden, jetzt konnte er die Ruhestätte endlich öffnen!

Regin räumte das tarnende Geäst beiseite und legte so die große Steinplatte frei, welche den Zugang zur inneren Kammer verschloss. Er holte den Hammer hervor und setzte das Stemmeisen am oberen Rand der Platte an. Der Zwerg hielt einen Augenblick inne und holte ein paar Mal tief Luft, ein für ihn eher seltenes Gefühl überkam ihn: Aufregung!

Jetzt würde sich zeigen, ob er alle Runen richtig gedeutet hatte, ob seine jahrelange Suche kreuz und quer durch Nordeuropa nach allen Puzzleteilen dieses Geheimnisses erfolgreich gewesen war. Er sammelte sich und schlug mit einigen entschlossenen, kräftigen Hieben das Stemmeisen tief in die Ritze zwischen der Eingangsplatte und dem riesigen Felsen, welcher die Decke des Grabgewölbes unter dem Erdhügel bildete. Dann ruckelte er das Eisen wieder heraus und wiederholte