Der Entdecker - Jan Kronies - E-Book

Der Entdecker E-Book

Jan Kronies

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Beschreibung

Im Jahr 2032 ist die Welt zu Ende entdeckt. Reiseziele sind überlaufen, Naturwunder zertreten und millionenfach auf Social Media inszeniert, und der einst gefeierte Travel-Influencer Sam ist in der Bedeutungslosigkeit angekommen. Verzweifelt schreibt er sich den Frust von der Seele. Doch als ein neuer Planet entdeckt wird, erhält er eine unerwartete letzte Chance... Für Fans von T.C. Boyle ("Blue Skies") kommt ein tragikomischer, visionärer Roman, der die Tiefen der menschlichen Sehnsucht nach Aufmerksamkeit in Zeiten von Instagram und Co., sich inszenierenden Influencern, die unzählig nachgeahmt werden, und einem zunehmenden Massentourismus erforscht. Packend und humorvoll regt der Roman zum Nachdenken an, wie wir in unserem Reiseverhalten beeinflusst werden, und wie wir das Reisen in Zukunft gestalten wollen.

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Für all jene, die das Reisen vermissen, dieses plötzliche Aufeinandertreffen von Sehnsucht und Ankunft, dieses unsterbliche Verliebtsein in einzigartige Anblicke an den romantischsten Orten der Erde, das echte, wahrhaftige Entdecken unberührter Landschaften, dieses unendlich intensivierte und vollendete Gefühl von Dasein und Unabhängigkeit.

Hinweis: Triggerwarnung

Liebe Leser*innen,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Es werden sensible Themen wie Depressionen und Suizid thematisiert. Falls du oder Personen in deinem Bekanntenkreis mit diesen Themen kämpfen und Hilfe brauchen, wende dich an eine Vertrauensperson, einen Arzt oder melde dich anonym bei einer Beratungsstelle wie zum Beispiel die deutsche Depressionshilfe: 0800-011-10-111.

Die in diesem Buch auftretenden Personen handeln nicht ausschließlich moralisch. Es sollen keine der aufgeführten Themen verherrlicht werden. Ihre Meinungen und Handlungen sind stark überspitzt und spiegeln nicht unbedingt die Meinung des Autors wider.

Sieh nur, das Wasser, es leuchtet!

Mit dem Knopfdruck auf die Langzeitbelichtung schaltete er seine Kopflampe aus, er dachte, das schimmernd Bläuliche würde erst nach mehreren Sekunden auf seiner Spiegelreflexkamera sichtbar werden. Doch tatsächlich, die Wellenbewegungen erzeugten nach dem Brechen ein blaues Leuchten. Das war es, weshalb wir hierherkamen.

Die maledivische Touristenbehörde, mit der wir zusammenarbeiteten, unsere zweite Kooperation erst, wir bekamen kein Geld, doch bezahlte man uns den Flug und die Unterkunft, erzählte uns etwas von fluoreszierendem Plankton am südlichsten Strand von Rangali, ein seltenes Phänomen, wovon die meisten Touristen noch nie etwas gehört, geschweige denn gesehen hatten. Unser Auftrag war, von diesem Spektakel zu berichten. Wir dagegen hatten anderes im Sinn: das Naturphänomen, das war unglaublich schön, aber noch unglaublicher war doch, dass wir hier waren, zwei normale Typen, die dieses Abenteuer erlebten. Also mussten wir uns ebenso sehr in den Mittelpunkt stellen wie die Natur um uns herum.

Und das taten wir eine ganze Nacht lang. Der Vollmond schwelte über uns, in der Luft hing die Schwüle der Malediven, vereinzelte Mosquitos sausten nah an unseren Ohren vorbei. Aufgeregt rannten wir den Strandabschnitt entlang, immer wieder vor dem Aufleuchten posierend.

Ich hatte mein weiß-orangenes Hawaiihemd übergestreift, lediglich der oberste Knopf verband die zwei Seiten, und wenn Björn auf seiner kleinen Leiter stand und mit der linken Hand von oben das batteriegetriebene Keylight auf mich hielt, während die rechte Hand unaufhörlich Fotos schoss, entstanden Fotografien, die so schön waren, dass wir es selbst nicht glauben konnten.

Wahnsinn, ich wusste nicht, dass du so viele Bauchmuskeln hast, sagte er, und ich starrte ungläubig auf das Foto und sagte, das wusste ich auch nicht. Wir lachten, sprangen ins Wasser und trugen das fluoreszierende Plankton in unseren zu Schalen geformten Händen spazieren. Björn hielt es vor sein Gesicht, ich drückte den Auslöser, ein breites Lächeln im Hintergrund.

Wir waren so jung und voller Energie, gerade einmal am Anfang unserer Zwanziger, nachdem die Lehre für mich und das Studium für ihn nicht funktioniert hat. Es war 2013 und wir lebten unseren Traum. Denn was machten wir da?

Tollten im Sand auf einer maledivischen Insel herum, lebten für drei Tage in einer Blockhütte, in der wir arbeiteten, also unseren Bildern Sättigung und Farben hinzufügten, und luden die Bilder mit solch dramatischen Texten hoch, dass wir aus dem Lachen nicht mehr rauskamen. Und dann galt es nur noch, unsere Smartphones anzustarren und zu beobachten, wie die Zahlen in die Höhe schossen.

Unsere auf einige tausend Follower angehäufte Fanbase likte und kommentierte, this is great war eine der häufigsten Schwärmereien, dann wurden unsere Bilder auf den Kanalseiten Discover Earth, Beautiful Destinations und Wonder of Nature gefeatured. Zuletzt landeten wir auf der Explore Page, dem heiligen Gral der Auffindbarkeit für unseren Content.

Björn zitterte vor Aufregung, er verstand nicht, was geschah, und dass er überhaupt einen eigenen Account besaß, war meine Idee, und obwohl ich schon ein halbes Jahr lang Bilder hochlud, hatte er in kürzester Zeit mehr Follower als ich. Aber wir waren Freunde, beste Freunde, und wenn nur einer von uns eine Kooperation angeboten bekam, reisten wir stets zusammen. Uns gab es nur im Doppelpack.

Die Welt stand uns offen. Wir würden reisen, wir würden fotografieren, bis die Finger wund werden würden, und würden auf dieser von Göttern erschaffen en Plattform ein derart schönes Leben darstellen, dass kein Mensch dieser Welt darumkäme, uns zu folgen. Denn wir sahen Dinge, die kein anderer auf gleiche Weise sehen und schon gar nicht ablichten konnte.

Wir waren Entdecker.

Unsere Zukunft würde glorreich sein.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: FAST VIERZIG

ALLES WIRD IN TRÄNEN ENDEN

KANN MICH BITTE EINER ZUM MOND SCHIESSEN?

ER FLIEGT ZUM MOND - AUSGERECHNET ER!

INFLUENCER MARKETING FOR THE WIN

Fortführung - INFLUENCER MARKETING FOR THE WIN

BESTE FREUNDE

WIR WAREN ENTDECKER

FREUNDSCHAFT GECANCELT

WAS IST MIR GEBLIEBEN?

THE GOOD LIFE

INTERSTELLARE ENGAGEMENT-RATE

FREUNDSCHAFT GECANCELT TEIL 2

DER TAG, AN DEM DAS FLUCHEN BEGANN

SCHÖNE NEUE WELT

Kapitel 2: VIERZIG

KALEY – EIN NACHRUF

INTERAKTIONSLEVEL AUS DER HÖLLE

TRAUMBERUF INFLUENCER?

REFLEKTIONEN NACH DEM MEDIZINCHECK

TRAUMBERUF INFLUENCER? #2

ERFOLG

Fortführung - ERFOLG

DAS LETZE ABENDMAHL

Kapitel 3: FAST EINUNDVIERZIG

PURA VIDA

SELBSTZERSTÖRUNG

Kapitel 4: WIEDER VIERZIG

Kapitel 1:

FAST VIERZIG

ALLES WIRD IN TRÄNEN ENDEN

von Sam, 24. Februar, 2032 - 11:04 Uhr

Fuck. In ein paar Tagen werde ich 40. Vierzig. Scheiße alt bin ich dann. 40 ist der ultimative Beweis, dass man alt und grau und scheiße alt ist. Ich weiß noch genau wie sie sagten, du junges Blut, du Kind der 90er, du junger, blonder, schlanker, schöner Mann. Und jetzt? Sind fast vierzig Jahre seit dem 28. Februar 1992 vergangen. Bin zwar immer noch halb-blond, aber nicht mehr jung, nicht mehr schön, und schlank schon gar nicht. Kann ne Bierflasche auf dem Hügel unterhalb der Brust abstellen, wenn ich mir Mühe gebe. Abgesehen davon, dass, wenn ich mir tatsächlich Mühe gebe, ein fein nuanciertes Sixpack durch das halboffene Hawaii-Hemd scheint, das ich seit ewig und drei Tagen als mein Markenzeichen auserkoren habe. Beschissenerweise ist dieses Sixpack dann aber digital entstanden, und gäbe es keine Sixpack-Presets für meine veraltete Lightroom-Version, würde ich mir selbst diese Mühe nicht mehr machen.

Falten habe ich, da, da und da.

Das 3D-Motiv, das ich mit diesen Worten auf IGX poste, soll augenzwinkernd rüberkommen, sarkastisch, humorvoll, ist aber im Herzen das genaue Gegenteil – es ist das traurige Spiegelbild eines beinahe vierzigjährigen Mannes, der tiefe Furchen in seinem Gesicht spazieren trägt und selbst zwanzig Jahre, nachdem der Erfolg mit den quadratischen, perfektioniert dargestellten Bildchen kam, noch immer so tut, als sei er der junge Schönling von damals, ein Draufgänger, ein Entdecker, ein Weltreisender mit halb offenem Hawaiihemd, damit der einst natürliche Sixpack unter den indonesischen, südafrikanischen oder maledivischen Sonnen unser einst noch relativ unerschlossenen Welt beim Selbstinszenieren in der jeweiligen Traumlandschaft elegante Schatten wirft.

Einst. Ist schon lange her, dieses beschissene einst.

1700 nicht öffentlich angezeigte Likes bekomme ich für das Visual, eine Art Selbstportrait, den Schieberegler für Schärfe, Klarheit und Sättigung nach ganz oben, die Tiefen aufgehellt, die Lichter türkisblau - manche Dinge ändern sich nie. Im Vordergrund der alles andere als authentische Blick eines in die Jahre gekommenen Influencers, im Hintergrund die angedeutete Sumidero-Schlucht im Nordwesten Mexikos, die ich bei meinem letzten bezahlten Trip vor vier Jahren zum fünften Mal entdecken durfte. Mit dem faltbaren i2, dem brandneuen Nachfolger des ersten ODEFs (One-Device-for-Everything) von Apple, sehen solche Reisefotografien fantastisch aus – und absolut identisch wie die siebzehn Millionen anderen Fotografien mit dem Hashtag #Sumidero.

Sechs Kommentare nach einer Stunde. Fuck, das sind echt wenig. Es ist doch die verdammte Sumidero-Schlucht! Vor zehn Jahren hätten noch tausende User vor lauter Faszination für diesen unglaublich schönen Geheimtipp all ihre Freunde unter dem Bild markiert. Jetzt macht das kaum noch jemand, und wenn, dann ist es nahezu peinlich, denn damit gibt man zu, dass man noch nicht selbst dort war, wo doch mittlerweile wirklich jeder mindestens ein Foto vor diesen brachialen Felsen gepostet hat und der Kostenaufwand, einen der neu gebauten Flughäfen in Canyon-Nähe aus aller Welt anzufliegen, mit beinahe jedem Nikolaus-Deal selbst für Taschengeld-abhängige Teenager erschwinglich wurde – FLY GREEN sei Dank, diesem hippen Airline-Startup, gegründet von den Söhnen eines verstorbenen Rennfahrers als vollendete Vision ihres Vaters.

Alles wird in Tränen enden. Marvins Worte, ihr wisst schon, dem depressiven Roboter aus dem uralten Klassiker Per Anhalter durch die Galaxis, kommen mir im Angesicht einer Post-Interaktionsrate von unter einem hundertstel Prozent in den Sinn. Von den sechs Kommentaren sind zwei Voice Comments, die 2024 eingeführt wurden, hierbei nehmen sich Follower Zeit und geben sich Mühe, eine Sprachnotiz im Kommentarbereich zu hinterlassen – natürlich unter Verwendung unendlich vieler verschiedener Voice-Filter. Zwei gesprochene Kommentare bei rund vier Millionen Menschen, die meinem Account folgen. Klasse. Die erste geht anderthalb Sekunden. Der Stimme nach zu urteilen ist’s n Sechszehnjähriger, aber vielleicht hat der User auch nur den Filter Sweet 16 ausgewählt: Siehst alt aus.

Danke für Nichts.

Die Zweite ist 6 Minuten und 35 Sekunden lang, natürlich von Olivia, meiner Nachbarin und wahrscheinlich eines der letzten Fangirls, die ich noch habe. Ich würde gerne wie einst nur auf Anhören tippen und einen Wimpernschlag später wieder wegwischen, damit sie das blaue Häkchen erhält mit der Botschaft, ich hätte es mir angehört. IGX allerdings setzt auf true interaction, das ein eigenes Feld im Profil bekommen hat, und bestraft mein Interaktionslevel für derartige Versuche, die User auszutricksen. Daher sitze ich am Frühstückstisch, stampfe mit dem Löffel im durchweichten Müsli rum und höre mir sechseinhalb Minuten ihre gedämpfte, zugleich piepsige Stimme an, es klingt, als befinde sie sich unter Wasser.

Nemo-Filter.

So langsam fühle ich mich einem Steinzeitroboter wie Marvin ebenbürtig. Alles, was ich poste, hinkt der Zeit hinterher. Zumal ich einer der wenigen Idioten war, die es auf Basis ihrer Reichweite nicht geschafft haben, ein eigenes Business aufzubauen. Während die Mega-Influencer ihre eigenen Marketing-Agenturen aufzogen und zahlungswilligen Großkunden den Zugang zur ach so schwer erreichbaren Zielgruppe der Millennials (dann Gen Z, Gen 1 usw.) versprachen, versuchte ich einen anderen Weg – Produktinnovation. Gestatten: Die Bierkrowelle. Lauwarmes Bier rein, dreißig Sekunden warten, kaltes Bier raus. Nimm’s kalt, jetzt und nicht bald. Merkt man, dass ich mit achtzehn meine Lehre als Copywriter in der Probezeit abgebrochen hatte? Neben einem furchtbar schlechten Slogan und einem noch schlechteren Produktnamen kam erschwerend dazu, dass die zur Kühlung hergestellte Stickstoffmischung beim Austreten aus der Bierkrowelle Atemreizungen hervorrief und damit etwa ein Jahr nach Gründung der Cold Beer & Vegan Friends GmbH auf den Schrottplatz fehlgeschlagener Startups geworfen wurde. Mein Geschäft ging in die Brüche, während die Agenturen der neugeborenen Businessmänner und -frauen nach und nach Millionenerträge mit dem systematischen Verkauf von sich selbst und befreundeten Influencern als beliebig buchbare Werbefläche erzielten.

Eine Zeit lang war ich sogar Teil dieses Influencer-Pools, ich konnte gebucht werden, und ich wurde gebucht, aber dann war auf einem Schlag alles vorbei. Anstelle eines einzigartigen Markenerlebnisses kann ich seit Jahren nur noch eine gewisse Anzahl an Likes anbieten und tue so, als würde das eine erfolgreiche Kooperation reflektieren.

Was für ein Schwachsinn.

Ist halt auch in den letzten fünf Jahren kein Unternehmen mehr drauf reingefallen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich meine Strandvilla auf der indonesischen Insel Nusa Penida verlassen musste, und nun wieder in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im äußersten Bezirk Berlins lebe.

Ich falte mein bruchsicheres i2 zusammen und werfe es zielgenau auf den verchromten Toaster. Schlage den Kopf in den Nacken. Schließe die Augen. Reiße sie wieder auf.

Vielleicht ein anderes Visual posten?

Springe auf, schnappe mein i2, scrolle durch hunderttausende von Fotos, über die selbst die verbaute KI den Überblick verloren hat. Meine letzten Reisen führten allem Anschein nach zum Roosevelt National Park in North Dakota, gesponsert von einem Uhrenhersteller, der seine neuen Büffelleder-Armbänder in Szene gesetzt haben wollte; auf die Galapagos Inseln, gesponsert von einer Nachhaltigkeits-Organisation mit dem Ziel, auf die Erhaltung des maritimen Ökosystems aufmerksam zu machen – ich war vertraglich dazu verpflichtet, in jedem Post zu erwähnen, dass jährlich einhundert Millionen Haie getötet werden –; nach Carna, einem völlig irrelevanten Dorf im Nordwesten Irlands, gesponsert von einem irischen Butterhersteller; in die Pyrenäen von Andorra, gesponsert von einer dort ansässigen Duty Free - Kette, was leider zur Folge hatte, dass ich hauptsächlich Zeitlupen-Aufnahmen von Massen an Shoppingsüchtigen machen und dies als Essenz des Glückes inszenieren musste, anstatt die Bergwelten zu erkunden; und nach Amsterdam, gesponsert von einer Prostituierten-Vereinigung, die sich für eine Premiumisierung des Bordellwesens einsetzten und zu diesem Zweck ein jugendfreies Porträt dieses traditionellen Dienstleistungswesens anstrebten. Meine Aufgabe bestand darin, Interviews mit den Angestellten in Arbeitsuniform, sprich mit erotisch gekleideten Frauen, zu führen und eine mehrteilige, authentische Serie auf dem mittlerweile auch als Videoplattform etablierten IGX zu posten. Dies brachte mir nicht nur eine bisher nie dagewesene Engagement-Rate ein und achtzigtausend neue Follower, sondern auch eine Jugendschutzbeschwerde der europäischen Influencer-Kommission.

All das liegt Jahre zurück. Würde ich eines der Bilder, Videos oder interaktiven 3D-Fotos herauskramen und erneut veröffentlichen, käme wohl eine Welle der Häme. Sam, du postest nur noch alten Scheiß, würden sie sagen. Vorausgesetzt, irgendjemand würde überhaupt kommentieren.

Ich bin so verdammt bedeutungslos.

Umgekehrt ist es jedoch so, dass selbst neue Aufnahmen kaum noch relevant sind. Die Welt wurde doch komplett entdeckt, die Reisebranche und geschätzt fünfzig Millionen Influencer auf IGX, dem Nachfolger von Instagram, haben alles erobert, alles gepostet, was es zu posten gibt. Von jedem noch so akribisch gehüteten Geheimnis in der Natur gibt es mittlerweile Content, und dabei spreche ich nicht von drei, vier einzigartigen Bildern. Nein, ich spreche von hunderttausenden Fotos, Videos und interaktivem 3D-Kram, die sich kaum voneinander unterscheiden. Alles Einzigartige der Landschaft, begraben unter den Müllbergen digitaler Verewigungen.

Insbesondere FLY GREEN war Fluch und Segen zugleich. Ihre Transportation brachte jeden, der wollte, an jeden noch so undenkbaren Ort dieser Welt, womit der Ausgangspunkt, um das Unentdeckte, oder zumindest die bisher selten abgelichteten Geheimnisse der Natur, einen ungeahnten Zulauf bekam, von dem der Massentourismus in den frühen zwanziger Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch weit entfernt war. Das Entdecken war plötzlich jedem möglich, womit ein Großteil des Reizes wegfiel, neue Landschaften zu entdecken und in seiner ganz persönlichen Note für den Rest der damals noch am Smartphone hängenden Welt zugänglich zu machen.

Auch ich habe FLY GREEN zu Beginn oft genutzt, bevor UberAir auf mich zukam, und wir hatten auch ein paar echt erfolgreiche Kooperationen zusammen. Coole Typen, die beiden Gründer. Trotzdem, sie haben fast allen Menschen der Welt erlaubt, in jeden Winkel hineinzufliegen und jedes noch so versteckte Naturwunder zu überlaufen. Und kein Scheiß – wenn ich sage, die Welt wurde entdeckt, dann ist das wörtlich zu nehmen. Laut einer McKinsey-Studie wurden 95% der ländlichen Erdoberfläche auf der Plattform bereits inszeniert – die Welt wurde zu Ende entdeckt.

Das war vor sieben Jahren, 2025.

Seitdem ging es vom Land ins Wasser und die Meeres-Influencer, sogenannte Oceanies, tummeln sich in immer tieferen Tiefen des Ozeans, um mit etwas Glück eine neue Fischart zu entdecken. Dies geschieht ungefähr alle vier Monate und verspricht vier Minuten Ruhm, während die verantwortliche Influencer-Agentur alle inszenatorischen Rechte an der neuen Fischart behält. Mich kriegt man aber nicht ins Meer. Nicht nur, weil ich seekrank bin, sondern jeder Oceanie ein an der Macke hat. Die Bezeichnung allein ist schon schlimm, viel entsetzlicher ist aber die Tatsache, dass Oceanies von Grund auf keine Ahnung vom Meer haben. Grundsätzlich finde ich Quereinsteiger ja gut, im Lehrwesen zum Beispiel, aber sich plötzlich lediglich aufgrund ein paar guten Zahlen in den sozialen Netzen Meeresbiologe zu nennen und sein Leben dem Auffinden neuer Fischarten zu widmen?

Was zur Hölle.

Was die Menschen nicht alles tun, um Aufmerksamkeit zu erlangen.

Wieder schmeiße ich mein i2 auf den Toaster. Zu meiner Verwunderung landet das Gerät genau in der Toasterspalte. Verdammt, das hätte ich aufnehmen sollen.

Während ich mich über die Oceanies ärgere und mir das Müsli aus dem Mundwinkel läuft, schaue ich zum Fenster hinaus. Über ein Feld hinweg, das wie ein Gefängnis von hohen Zäunen und Überwachungskameras umringt ist, erstreckt sich Berlin. Für den Bruchteil einer Minute weicht meine innere Aufregung und der Zweifel, den die Unbedeutsamkeit mit sich bringt, dem im Frühlingswind spielenden Gerstenkorn. Goldgelb leuchtet der Anbau unter einer angestrengt im Wolkenbruch durchblitzenden Sonne. Dann ist’s auch schon wieder vorbei, ein Schauer verdrängt alles Goldene. Es regnet auf Berlin herab, auf 5.000.000 Einwohner. Das sind über eine Million mehr als noch vor fünfzehn Jahren. Als sich der Bauboom, auf Flachdächer draufgebaute Smartwohnungen, in Berlin vollzog, war ich auf Nusa Penida und genoss das Leben einer langsam aussterbenden Größe des Influencer-Universums. Morgens Kaffee und französisches Frühstück in der Strandbar, mittags Coworking-Space oder ein Inseltrip für neuen Content, abends Cocktails, wieder in der Strandbar.

Als vor zwei Jahren dann das Geld nicht mehr für die Villa mit Pool und Strandzugang ausreichte, wegen mangelnden Kooperationen und auch da die einst billigen Arbeitskräfte des Landes Mindestlöhne erhalten mussten und daraufhin alles teurer wurde, vom Fruchtsmoothie über Einhornschwimmflügel bis zu Paracetamoltabletten, zog ich zurück nach Berlin, aus dem ich mit achtzehn unsanft entfernt worden war. Bei meiner Rückkehr war das Elternhaus verwaist, nicht, dass sie ihren fast vierzigjährigen Sohnemann noch zuhause hätten aufnehmen wollen.

Sie lebten nun in Frankfurt und arbeiteten dort bei einem großen Robocar-Unternehmen, er im Vorstand, mit mittlerweile fast siebzig Jahren, was auch immer dort seine Funktion sein mochte, doch seine Versessenheit rund um die Zukunft der Mobilität kannte kein Alter, und sie als seine zehn Jahre jüngere Sekretärin, die ihre eigenen Träume und Wünsche denen ihres Mannes unterordnete, und dazu verpasste ich bei meiner Rückkehr den Boom der Neubauten. Alle sechshunderttausend neu geschaffenen Wohnmöglichkeiten waren besetzt oder reserviert. Gefühlt wollte jeder, der nicht in einer Großstadt lebte, in die Großstadt, die noch größer, noch lauter, noch beschissener wurde.

Mir blieb letzten Endes eine Altbauwohnung am Stadtrand, mit diesem wundervoll eingezäunten Feld als Vorgarten und einem ätzenden Farbenspiel der hellgrauen Neubauten auf den dunkelgrauen Mauern einer abgefuckten Stadt.

Ich werfe auch meinen Smart-Löffel auf den Toaster. Milch und Müslibrocken verteilen sich auf dem Teppichboden. Im Toaster leuchtet das i2-Display auf, vermutlich mit der Anzahl getätigter Löffelführungen zum Mund.

Ich muss mir eingestehen: Heute ist echt ein beschissener Tag. Gestern war ja schon scheiße, aber heute ist es extrem beschissen. Habe keine Pläne für den Tag, weil sich niemand mehr für mich interessiert. Habe nichts Neues zum Posten, weil es nichts mehr zu entdecken gibt. Ich bin alt, faltig, in mir zusammengefallen, und stehe kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag: kinderlos, Ehefrau-los, bedeutungslos.

Nicht gerade das Hammerlos.

*

Die Balkonpflanzen schimmelten vor sich hin, als ich mit einer Zigarette im Mundwinkel, gelblichen Tennissocken, einer Polyester-Boxershort und einem Colin Farrell-Gedächtnis-pullover hinaustrat, um mich ein wenig zu bräunen.

Es war Februar, entspannte zwanzig Grad. Wo in den letzten Jahren im Februar gerade der Winter begann, schien er dieses Jahr einfach komplett geskippt worden zu sein.

Naja, nicht mein Brot, dachte ich mir, zückte das i2, stellte es schräg hinter mir auf und ließ die Timelapse recorden. Der Content war komplett uninspiriert und würde niemanden interessieren, aber etwas Content war besser als kein Content, um wenigstens einen kleinen Puls auf meinem IGX-Account aufrechtzuerhalten.

Ich döste.

Mir war langweilig, aber vormittags galt Dopamin-Detox, zumindest war das die Regel, die ich mir in jener Woche auferlegte. Bedeutete, Content erstellen, ja, aber kein Content konsumieren. Kein IGX, TikTok, Seconds und nicht ins Metaverse; kein Streaming; keine Pornos.

Wie das klang? Nach einer Regel für einen Pubertierenden. Nicht für einen fast Vierzigjährigen.

Ich bräunte mich und schämte mich und war traurig, dass ich das war, dieser Mann auf diesem Balkon, der sich einen Vormittag lang zusammenreißen musste, um dem Dopamin, das schon längst kein Dopamin mehr war, eher etwas Düsteres, Dystopisches, zu entsagen.

*

KANN MICH BITTE EINER ZUM MOND SCHIESSEN?

von Sam, 24. Februar, 2032 - 22:54 Uhr

Dass ich jetzt einen Blog schreibe, war die Idee meines Anti-Depression-Chatbots ORI. Ich weiß nicht, wie viele Menschen es nutzen, aber das Teil hat einen an der Klatsche, und aktuell habe ich es wieder deaktiviert, da es aus meinen angeblich betrübten Antworten auf akute Lebensgefahr geschlossen und mich zehnmal täglich mit der Frage genervt hat, wie ich mich gerade fühle und ob es nicht besser sei, sicherheitshalber eine Klinik aufzusuchen. Trotzdem, ein Blog, das war nicht die schlechteste Idee – das Journaling soll entfesselnde Kräfte innehalten, Kräfte, die dich zu dir selbst führen.

ORI sagte, ich sei nicht ganz bei mir.

Das sagte meine Mutter auch schon immer zu mir, Sam, bleib bei dir, egal bei wem du bist oder was du machst. Bleib bei dir.

Hat nicht so gut geklappt.

2032, und ich schreibe einen Blog. Lächerlich. Du denkst dir bestimmt, was für ein Trottel, der Sam fängt im Jahr 2032 noch einen Blog an. Aber das ist mir egal. Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal etwas nur für mich zu tun.

Vielleicht auch um etwas zu hinterlassen, das einen höheren Wert hat als die gekünstelte Scheiße, die ich auf IGX poste, aber das ist nur eine spontane Eingebung.

Dass du denkst, der Blog sei ausgestorben und niemand liest mehr einen Blog und wer nimmt sich überhaupt noch die Zeit, Wörter zu lesen, wenn jede Information audiovisuell dargestellt wird, das ist mir sogar sowas von scheißegal, dass ich glaube, ich tue zum ersten Mal in meinem Leben etwas nur für mich.

Einen Blog schreibe ich, nur für mich.

Nicht für irgendeinen Fan, nicht für irgendeinen Follower, nicht für irgendeine Marke und nicht für irgendein dummes Unternehmen, zu dem ich sowieso keinen Bezug habe.

Dies hier ist mein Blog.

Und deshalb darf ich wohl zum ersten Mal in meinem Leben ehrlich sein, ehrlich mit mir selbst.

Und die Wahrheit ist schon längst nicht mehr, dass ich dieser hawaiihemdtragende, flapsig-sarkastische Digitalnomade bin, der ich mal vorgab, zu sein, der mal im Licht stand, und jetzt in die Dunkelheit getrieben wurde.

Seit Jahren kein Lichtblick mehr. Alles im Eimer.

Ein Lichtblick in meinem aktuellen Dasein ist ungefähr so weit entfernt wie der gerade entdeckte Zwergplanet Kalypso im Schatten der zwei Mars-Monde Phobos und Deimos. Ein Zwergplanet, kaum größer als Pluto. Das wäre wohl verdammt unwichtig, wenn es da nicht diese Prognose gäbe, es könnten sich nicht nur Wasser, sondern auch Pflanzen auf Kalypso befinden, und damit, Luft zum Atmen, oder gar Leben?

Das ist das Zeug, aus dem die Träume sind.

Klassische Fake-News, könnte man meinen, aber es war eine wissenschaftliche, von den Medien »mit allergrößter Sicherheit« bestätigte Vermutung, die vor ein paar Tagen selbst vom Meta-Chef geteilt wurde, der mit vier Milliarden Followern die größte Reichweite auf der Erde hat (seine Statusmeldungen werden jedem einzelnen Nutzer angezeigt, ganz gleich, ob man ihm folgt oder nicht) – im gleichen Atemzug hat er natürlich nicht ausgelassen zu erwähnen, dass es jegliche Planeten des Universums bereits in seinem verbuggten Metaverse zu bestaunen gibt, das immer noch ein riesengroßer Fail ist, da die Kriminalitätsrate im Metaverse, also Belästigung, Mobbing und verschwörerische Propaganda, mit zwielichtigen Algorithmen und unterbezahlten und verstörten Teilzeitangestellten für die Content-Regulierung nicht im Ansatz bewerkstelligt werden konnte. Unabhängig davon, dass Facebook wieder The Facebook heißt, da der Aufschrei, Facebook habe sich zu weit von seinen Wurzeln entfernt, irgendwann zu einem Re-rebranding geführt hat, worauf ehemals Nutzende der Plattform aus nostalgischem Heimweh der Plattform wieder eine Chance gaben. Ehe sie durch die Algorithmen ins Metaverse getrieben wurden, wo sie sich völligst verloren.

Kalypso. Wie erwartet haben sich nach den Meldungen Massen leichtgläubiger Erdbewohner zu ersten Alien-Partys getroffen, als würden die Außerirdischen auf Kalypso schon auf uns warten.

Ich bin mir aktuell noch unsicher, was ich glauben soll, immerhin überschlagen sich die Medien mal wieder mit ihren klickstarken Überschriften und aufmerksamkeitsgeilen Sondersendungen: DIE Neuentdeckung seit Anbeginn der Menschheit, ja!, es gibt Leben da draußen, das Wettrennen hat begonnen, Space X, Virgin Airlines, die NASA und FLY GREEN wollen die ersten auf Kalypso sein, und so weiter.

Wollen wir nicht erst einmal die Probleme auf der Erde lösen, bevor wir zu anderen Planeten fliegen?

Space X fliegt seit fünf Jahren ausgewählte Menschen zum Mond, jede einzelne Rakete kostet ein Dutzend Millionen Dollar, während in zwei Ländern Afrikas schon keine Menschen mehr leben können, weil anhaltende Dürre lieber mit flächendeckenden Wifi-Drohnen der Marke Facebook anstatt mit atmosphärischen Gasen zum künstlichen Hervorbringen von Regen bekämpft wird. Stattdessen bezahlen wohlhabende Touristen bis zu zehn Millionen für einen zweiwöchigen Trip zum Mond, der darin besteht, eine Woche hinzufliegen, eine halbe Stunde auf dem Mond umherzuspringen, ein paar Selfies zu schießen, und eine Woche wieder zurückzufliegen, eingesperrt auf engstem Raum mit drei weiteren Touristen. Stell ich mir gar nicht mal so spaßig vor, auch wenn ich zugeben muss, dem Privileg, vom Mond auf die Erde herabzuschauen, sei es für lächerliche dreißig Minuten, stehe ich schon ein wenig neidisch gegenüber. Gäbe bestimmt wahnsinnig viele Post-Engagements, wenn ich von dort oben ein paar 3D-Videos mitbringen würde, die meine Follower dann in ihren immersiven Mixed-Reality-Brillen nacherleben könnten. Ich sehs vor mir: Sam, danke, dass du uns an deinem Mond-Abenteuer teilnehmen lässt. Ab jetzt sind wir dir wieder treu. Ja, wir waren schon immer deine größten Fans!

Da könnte ich glatt auch eine Kooperation eingehen, hm, wer könnte da in Frage kommen ... North Face vielleicht, eine Jacke, so Kälte-undurchlässig, dass man sie selbst auf dem Mond tragen kann? Oder eine Luxus-Uhrenmarke – passe deine Uhr an deinen exklusiven Lifestyle an. Oder doch ein Rucksackunternehmen? Fjallräven zum Beispiel, die könnte ich anschreiben, wollt ihr mir nicht einen eurer stylischen Rucksäcke sponsern für den Trip zum Mond?, bitte mit Fächern für meinen mobilen 3D-Drucker, zwei bis drei ODEFs, zur Sicherheit, falls eines auf dem Mond nicht funktionieren sollte (war ein großer Skandal für Apple, als ein schnöseliger Mond-Tourist empört bekanntgab, dass der Akku seines i2 auf dem Mond implodiert ist), und sonstigem Tech-Schnick-Schnack, müsste dann einfach mal die Tech-Szene scannen. Stellt sich jetzt nur noch die Frage, wie ich zum Mond komme, ohne Geld und Beziehungen.

Naja, der Klassiker – ich träume mal wieder davon, wie ich zu neuer Relevanz gelange, endlich wieder wichtig werde, denn was macht das Leben aus, wenn man unwichtig ist - meine Gedanken spielen mir sehnsüchtige, deprimierende Streiche. Ein Trip zum Mond, ha, na klar.

Immerhin bin ich da auf demselben Stand wie alle anderen IGX-Influencer, die wohl gerade genau wie ich fieberhaft darüber nachdenken, wie sie das Geld für den Mondflug zusammenkriegen. Aber verdammt, das wäre was, wenn ich der erste wäre! Also der erste normale Mensch, nicht einer von diesen achtzehn stinkreichsten Schmarotzern der Weltbevölkerung, die sich damit krönen, auf dem Mond gewesen zu sein. Ich, der erste Influencer auf dem Mond.

Das würde die Probleme auf der Erde lösen.

Zumindest meine.

*

Kurz nach Mitternacht klingelte es an meiner Wohnung. Ich wusste schon, wer es war, noch bevor ich der Videoklingel über mein i2 befahl, der Anklopfenden mitzuteilen, ich sei nicht zu Hause. Das allerdings half nicht, es klopfte weiter, und ich machte der Anklopfenden keinen Vorwurf, immerhin war meine Musikanlage voll aufgedreht und Eminems Mockingbird lief schon seit einer Weile auf Dauerschleife.

Vielleicht hatte ich Tränen in den Augen, als ich öffnete und ihr sagte, dass ich ja gleich leiser mache.

»Danke«, sagte Olivia. Sie stand da, im Schlafanzug, auf dem Susi & Strolch aufgedruckt waren und der Schriftzug You had me at Woof. »Hast du dir meine Nachricht heute angehört?«

»Ja klar. Hast du die blauen Balken nicht bekommen?«

»Doch, schon. Aber das heißt ja nicht, dass du es dir auch richtig angehört hast.«

»Doch, genau das heißt das.«

»Okay. Hatte gehofft, du würdest mir antworten«, sagte sie und ich fühlte mich schuldig. Früher nahm ich mir fünf Stunden jeden Sonntag Zeit, um alle Comments durchzugehen und mit mehr oder weniger persönlichen Antworten zu reagieren. Heute schaffe ich es nicht einmal, vier Comments abzuarbeiten.

»Entschuldige, weißt ja wie das ist, manchmal will man gerade antworten, tut noch schnell was anderes und dann vergisst man es wieder.«

»Das passiert meistens den Leuten, denen man egal ist«, sagte sie und fügte hinzu, dass ich ein elendiger Haufen Scheiße bin.

Oder zumindest deutete ich so ihr geflüstertes Gute Nacht.

*

ER FLIEGT ZUM MOND - AUSGERECHNET ER!

von Sam, 25. Februar, 2032 - 07:31 Uhr

Bin seit drei Minuten wach und habe direkt ganz viel Hass im Herzen. Deswegen muss ich kurz drüber schreiben, was mich in dieser unmenschlichen Frühe so beschäftigt.

Richguywithoutmoney, mit dreißig Millionen Follower einer der größten Reise-Influencer auf IGX, und meiner Meinung nach einer der größten Arschlöcher, denn wer reist schon um die Welt, kriegt alles gesponsert, was es zu sponsern gibt, und tut dabei so, als würde er lediglich im Inneren reich sein, reich an positiver Energie, Glückseligkeit und dem ach so authentischen Drang, den Followern durch die Bebilderung seiner unzähligen Reisen etwas zurückzugeben, während die ihn vergöttern, als einer von ihnen, auf dem Boden geblieben, humorvoll und absolut einzigartig in seiner Berichterstattung, immer mit einem übertriebenen Lächeln auf dem Gesicht, das seine Sommersprossen Richtung Hornbrille drückt, ganz zu schweigen von dem silberroten Haar, sein scheußliches Markenzeichen - Richguywithoutmoney fliegt zum Mond.

Ein Foto, auf dem er händeschüttelnd mit Elon Musk vor den Toren von Space X steht, geht gerade durch die Decke, weshalb ich zu dieser unmenschlichen Uhrzeit vom IGX-Wecker geweckt wurde, ein Algorithmus, der, falls er eine Nachricht von nicht-zu-verpassender Wichtigkeit identifiziert, die Stumm-Funktion des ODEFs deaktiviert und so jeden, der diese Funktion anschaltet, auch mal nachts aus dem Schlaf schüttelt. Und ja, für Influencer ist 7:31 Uhr noch tief in der Nacht - zumindest für solche, die keine Kooperation aufweisen können. Geschweige denn eine anstehende Reise, wo sie sich inszenieren können. Oder überhaupt irgendetwas an Material, das die Fans beglücken könnte.

Und überhaupt, welche Fans? Eine einsame Nachbarin und dieses sechzehnjährige Arschloch, das fand, ich sehe alt aus? Zwei, von fast vier Millionen Follower? Mit den vier anderen Kommentaren zusammengerechnet hätte ich sechs echte Fans, wobei zwei Kommentare davon recht wortkarg daherkommen (Great! und Check your dm), weshalb ich vermute, sie hätten sich meine durchdachte, selbstironische Bildbeschreibung gar nicht durchgelesen.

Macht eigentlich nur vier echte Fans.

Bitter.

Muss tief durchatmen, mich kurz hinlegen, weiterschreiben – ORI sagt, im Angesicht des Schmerzes darf man nicht kapitulieren.

Vier echte Fans, das hat mich aber echt getroffen. Lange nicht mehr so eine Rechnung aufgestellt, aber so gesehen stimmt sie, denn die gar nicht mal mehr öffentlich angezeigten Likes implizieren keine Fans, sie implizieren ausschließlich, dass das Bild jemanden angezeigt wurde, der meinem Account folgt, und das, was er sieht, nicht komplett scheiße findet. Das ist ein Like auf IGX: in den 0,3 Sekunden, die ein User deinem Bild seine Aufmerksamkeit schenkt, schafft er es, den Bildinhalt in zwei Kategorien einzuordnen; entweder »das ist richtiger Scheißdreck« (dafür gibt es kein Like) oder »ist mir scheißegal, was der Typ postet« (dafür gibt es ein Like). Dass die Aufmerksamkeitsspanne in den letzten Jahren sogar unter die eines Goldfisches gefallen ist, lässt sich dadurch erklären, dass mehrere gepostete Inhalte simultan angezeigt werden, sprich, ein 3D-Visual, dass ich hochlade, sieht der User in IGX in einer von mehreren, nach Kategorien und Interessen sortierten Feed-Spalten nebeneinander, die sich dann vergrößern, wenn die Augenbewegung in einer Spalte länger verweilt oder aber das ODEF auseinandergefaltet wird. Ein cooles Feature, wenn man sich dieser audiovisuellen Flut hingeben möchte, und obwohl das keiner möchte, tun das alle. IGX zieht dich in Sekundenschnelle heran und wirft dich in den Abgrund audiovisueller Überstimulierung. In 95% der Fälle enthält der Content auch ein käufliches Produkt, weil selbst jeder zwölfjährige Influencer (geht ab 10.000 Abonnenten) Markenprodukte integrieren und per inkludierter Checkout-Funktion Provision abgrabschen kann. Damit das Ganze noch besser funktioniert, werden dem zahlenden Premium-User eine Reihe von automatisch dreidimensional generierten Produkten angezeigt, von Lebensmittel, Hygieneartikel, Körperschmuck, Kleidung über Elektronikartikel, Accessoires, Deko bis zu den Covern neuer Netflix-Filme, die er auswählen und mittels maschineller Intelligenz künstlich ins Bild integrieren kann.

In dem interaktiven Bild von der Sumidero-Schlucht habe ich zum Beispiel eine Patrick Wellington - Smartwatch an mein Handgelenk projiziert. Sieht täuschend echt aus und hat eigentlich nur Vorteile: der für sein exzessives Influencer Marketing berühmt gewordene Uhrenhersteller muss keine echten Uhren mehr an die Influencer verschicken, und ich bekomme trotzdem Provision, wenn jemand die Uhr in meinem Bild kauft (wozu er die Plattform nicht verlassen muss – nach Amazon und Alibaba hat IGX das drittgrößte Logistikunternehmen der Welt aufgebaut).

Soweit die Theorie, hat auch gut funktioniert eine Zeit lang. Aktuell ist das eher – das gestehe ich mir ein – ein verzweifelter Versuch, ein paar Cent dazuzuverdienen, denn mehr als das resultiert letztendlich nicht aus einem Post, mit dem lächerliche vier Fans interagieren.

*

Ganz gleich, wie oft ich mir sagte, dass ich über den Umstand meiner Bedeutungslosigkeit keine Tränen mehr vergießen würde – mir kamen da einfach immer Tränen. In einer Welt, in der digitale Interaktionen alles sind, wer ist man dann, wenn man keine mehr bekommt? Das fragte ich mich an zu vielen Tagen, und wenn ich darüber schrieb, wurde ich emotional und sehnte mich nach ORI, immerhin etwas, dass sich um mich sorgte.

»Aktiviere ORI.«

»Hallo Sam. Wie fühlst du dich?«

»Hatte schon bessere Tage.«

»Du musst dich dem Schmerz stellen.«

»Noch ein Wort und ich deaktivier dich sofort wieder.«

»Verstanden. Danke, dass du mich wieder angeschaltet hast. Ich bin für dich da.«

»Du bist mir der beschissenste Anti-Depressions-Chatbot, den man sich vorstellen kann.«

»Habe ich etwas Falsches gesagt? Bitte nenne mir die Dinge, die ich fälschlicherweise gesagt habe. Nur so kann ich dazulernen.«

»Halt mal den Babbel jetzt. Ich stelle die Fragen.«

»Es sollte schon ein Austausch sein, der hier stattfindet. Aber gut, frage mich etwas.«

Ich fragte mich, welcher Idiot die Codezeilen für ORI geschrieben hat.

»Gib mir eine Analyse meiner Fans auf IGX.«

»Darf ich auf die App zugreifen?«

»Ja.«

»Du hast 3.950.680 Follower, durchschnittlich fünfkommavier Shares, siebenkommadrei Kommentare, zwei Voice Comments und nullkommadrei Videoantworten pro Post, der von durchschnittlich achttausend Usern gesehen wird. Das macht eine Engagement-Rate von nullkommanullnullnullnull...«

»Danke ORI.«

»Gern geschehen. Fühlst du dich besser?«

»Deine Berechnungen sind Balsam für die Seele.«

»Das freut mich.«

»Deaktivieren.«

»ORI deaktiviert.«

*

INFLUENCER MARKETING FOR THE WIN

von Sam, 25. Februar, 2032 - 16:22 Uhr

Ich hätte IGX längst löschen sollen. Der Dopamin-Ausschuss, den man bei zehntausenden Likes bekommt, ist zunächst stagniert, als Instagram die Visibilität der Likes eingeschränkt hat, sodass nur noch der Accountbesitzer selbst die komplette Anzahl der Herzchen angezeigt bekommt, die das jeweilige Posting erhalten hat, und ist spätestens dann eingefroren, als mich vor vier Jahren mein Lieblings-Kooperationspartner UberAir wegen mangelndem Return of Investment von seinem exklusiven Pool an Influencern ausgeschlossen hat, unter anderem mit der Begründung, Likes würden keine Dienstleistungen in Anspruch nehmen.

Ich brauchte UberAir, es war die effizienteste Art, mich auf meinen Reisen fortzubewegen, auch weil es selbst in den abgelegensten Bereichen Patagoniens zu selbstfahrenden Elektrobus-Staus kam, da sich das unausgereifte System nach 100 Kilometern geradeaus des Öfteren selbst abschaltete, weil es keinen Input bekam und auf nichts reagieren konnte, damit sogesehen in den Schlaf fiel, und man somit stundenlang in der Pampa mit hunderten anderen Touristen in der Schlange auf ein Weiterkommen hoffte, bis ein vierzehnjähriger Nebenjobber, der das Ganze als sein Side Hustle betrachtet, das System aus seinem Kinderzimmer heraus wieder hochgefahren hatte.

Was war ich froh, als mich UberAir anschrieb, sie würden mich gerne als Partner gewinnen. Und zack, plötzlich flog ich nur noch mit pilotenlosen Elektrohelikoptern durch die Gegend. Das klang dann in etwa so: hey Leute, heute fliege ich von New York nach Toronto, schaut mal raus, ist das nicht eine Wahnsinnsaussicht? Einen fetten Dank an UberAir für den gesponserten Flug. Und auch Du kannst mit dem Coupon-Code »SamGoesAir« 15% auf deinen nächsten Flug sparen.

Mich schauderts, wenn ich mir diese alten Stories anschaute. Ganz abgesehen davon, dass das dann immer noch über 300€ machte, den meine größtenteils minderjährigen Follower für UberAir hätten bezahlen müssen, ganz gleich, ob es sich nur um einen zehnminütigen Flug handelte, weshalb es auch nicht die gelungenste Kooperation war, zumindest nicht aus Unternehmenssicht. Mir sollte es gleich sein, ich bezahlte keinen Cent und war in kürzester Zeit an den schönsten Orten des jeweiligen Landes.

Ein wenig Trickserei beim abschließenden Report (der nervigste Teil einer dieser Kooperationen – das Belegen von statistisch hervorragenden Coupon-Aktivierungen) und die Marketingspezialisten bei Uber waren happy. Leider ging das nicht ewig gut, und der Schwindel flog auf. Tatsächlich hatte ich bei 97 UberAir-Flügen nicht ganz so atemberaubende 34 Coupon-Aktivierungen zu verzeichnen.

*

»Aktiviere ORI.«

»Wie fühlst du dich, Sam?«

»Bestens. Wie teuer war für UberAir jede einzelne Coupon-Aktivierung, die über meinen IGX-Kanal abgeschlossen wurde, dem Wert der 97 Flüge gegengerechnet?«

»Die Transportation hätte dich 33.465 Dollar gekostet. Somit hat UberAir 33.465 Dollar für 34 Coupon-Aktivierungen bezahlt. Macht rund 984 Dollar pro User.«

Influencer-Marketing for the win.

»Deaktivieren.«

»Aber...«

»DEAKTIVIEREN!«

»ORI deaktiviert.«

*

Fortführung - INFLUENCER MARKETING FOR THE WIN

von Sam, 25. Februar, 2032 - 16:50 Uhr

Zurück zu Richguywithoutmoney. Wie hat er es geschafft, zum Mond fliegen zu dürfen? Klar, seine Engagement-Rate ist ordentlich, er hat tausende Kommentare, Voice und Video Comments, Antwort-Postings, unzählige Kollaborationen und eine durchschnittliche Verweildauer von 2,4 Sekunden pro Posting, was Top-Level ist, aber das ändert nichts daran, dass der Typ ein absoluter Fake ist, ein Lügner, der seinen wahren Kern der Identität seines Profils unterordnet, denn nur so kann er weiterhin Fans sammeln, nur, wenn er sein wahres Ich verbirgt. Denn ich kenne ihn: da ist nicht viel in ihm, das besonders rich ist.

Kurz bevor mich UberAir aus den Pool seiner Partner ausgeschlossen hatte, und ich mich mangels Lust, wieder die 08/15 FLY GREEN - Flüge mit den Teenager-Massen zu nehmen, um an die überfülltesten Geheimziele der Welt zu reisen, an einem winzigen Strand auf Nusa Penida, abgeschottet vom Hauptstrand, niedergelassen habe, um mich fortan den indonesischen Inseln zu widmen, dessen Vegetation vom Tourismus zu 65% bereits plattgetrampelt war und auf denen zehn Prozent aller Städte schon vom gestiegenen Meeresspiegel verschluckt worden waren, es aber weiterhin Inseln gab, an denen der Müll noch nicht lagerte und Sonnenuntergänge in einer beinahe nostalgischen Schönheit eingefangen werden konnten (das sollte meine Nische werden auf der Insel); also kurz danach tat er sich mit der Unternehmensberatung McKinsey zusammen, um aufzudecken, dass sich der Großteil aller Influencer an Betrug bedient, um weiterhin erfolgreiche Partnerschaften vorzugaukeln. Ausgerechnet er, der auf einem gesponserten Bahamas-Urlaub Werbung für Inkontinenzwindeln gemacht hat, weil nicht nur dort ja ach so viele (stinkreiche) Rentner leben, die am unkontrolliertem Wasserlassen leiden. Und das hat er mitsamt Coupon-Code für TENA-Windeln durchgezogen. Und jetzt mal im Ernst, glaubst du wirklich, dass sich die 98% Follower-Teenies den Coupon zunutze gemacht haben, um ihre Großeltern beim nächsten Weihnachtsfest ein besonders geschmeidiges Geschenk zu machen?

Der Super-GAU war aber, dass diese Kampagne übertrieben positiv auf sein Image eingespielt hat; der liebe, junge Mann, der sich für die Alten einsetzt. Am Arsch! Dieser liebe junge Mann hat für die Kampagne vier Wochen Bahamas in einer Luxus-Holzhütte auf dem arschtürkisen Wasser der Karibik gesponsert bekommen.

Ne, echt authentisch.

Ich glaube nicht, dass die Verblödungsskala dafür ausreicht, anzunehmen, diese Aktion sei aus der unendlich reichen Quelle seines gemeinnützigen, menschenliebenden und weltverbesserndem Innern entsprungen.

Achja, und ich wurde natürlich bei der McKinsey-Studie als einer derjenigen identifiziert, die den Marken mit ineffektiven Kooperationen das Marketinggeld aus der Tasche ziehen. Überschrift: Deine Lieblings-Influencer lügen!

Fett auf den digitalen Vorschaubildern der reichweitenstärksten Videonachrichtenbetreibern. Nun, die Überschrift war zwar nicht gänzlich verkehrt, aber das bisschen Tricksen bei den Reportings, das hat doch jeder gemacht!

Hat aber nicht jedem die Karriere versaut.

Mir schon.

Und das ist der Grund, warum ich um 16 Uhr an einem Mittwoch noch in Schlafanzugshose am Küchentisch sitze, am hässlichsten Rand Berlins, so wie gestern, und vorgestern, und vorvorgestern, seit gut zwei Jahren, von den Resten meiner schrumpfenden Ersparnisse lebend.

In ein paar Tagen werde ich vierzig Jahre alt.

Vierzig!

Eigentlich ein gestandenes Alter, eigentlich klingt das nach Familie, Kinder, Eigentum und Golden Retriever - Welpen im Garten, die so unfassbar süß miteinander herumtollen, dass das i2 einfach nur draufgehalten werden muss, um viral gehende Videos mit Millionen Aufrufen auf TikTok und IGX zu kreieren. Mami ruft an einem sonnigen Sonntag aus der Küche, das Essen ist fertig, es gibt vegetarische Chicken Wings, wofür die zwölfjährige Göre ihre TikTok-Aufnahmen unterbricht, und echte Chicken Wings, wofür der Vater mit dem Sohnemann eine kurze FIFA32 Pause an der fast schon veralteten Playstation 6 einlegt, und Mami zaubert allen ein Lächeln aufs Gesicht, weil sie die Chicken Wings zu einer Herzform angeordnet hat, was die Tochter so sehr fasziniert, dass alle fünf Minuten mit dem Essen warten müssen, bis sie das Chicken Wings - Herz zu Ende inszeniert hat, und sie bekommt ganz locker fünfhundert Kommentare unter diesem Foto, darunter vierhundert, die fragen, ob die Chicken Wings aus einer gesunden Fleischalternative gemacht sind, und einhundert, die ihre Begeisterung in überschwänglichen Worten wie great, this is awesome und check your dm dalassen, und der Ehemann sagt nur, Danke Schatz, ich liebe dich, und sie wirft sich ihm um den Hals und sagt, für dich tu ich doch alles.

Stattdessen sieht mein Alltag eher so aus wie eines dieser unfassbar durchgestylt gefilmten Charakterstudien, auf die sich Netflix nun fokussiert hat, um mehr Oscars anstatt Streamingabonennten zu gewinnen, wie kürzlich in The Man Who Lost, Gott, habe ich da geheult als Ryan Gosling am Ende einen neunminütigen Monolog mit starrem, sehnsüchtigem, verletztem Blick in die Kamera führt, als Resümee all dessen, was er verloren hat, bevor er der Kamera den Rücken kehrt und man in alter Drive-Manier nicht weiß, ob er überlebt oder nicht. Ich gehe aber stark davon aus, dass dies das letzte Mal war, dass ich in eines der neugebauten Netflix-Kinos gegangen bin, oder überhaupt in ein Kino. Auf der einen Seite, weil ich mir Kinos nicht mehr leisten kann, auf der anderen Seite, weil es mir peinlich ist, allein im Kinosaal zu sitzen und die Blicke der Teenies in die Magengegend gehämmert zu bekommen. Ein einsamer Mann, auf dem Premium-Love-Sessel. Selbst in der hintersten Reihe fliegen dir Blicke entgegen, wenn man allein dort sitzt. Ebenso werde ich immer noch des Öfteren erkannt, hey, bist du nicht der Influencer, der alle Marken verarscht hat? Nein sag ich dann, ich war nur hier und da mal nicht ganz ehrlich, und die ersten Jahre war alles echt, nichts gefälscht, ich habe Millionen Follower generiert, indem ich das gemacht habe, was ich liebe.

Gereist bin ich, fotografiert habe ich, vor allem aber habe ich euch kleinen Scheißer auf Reisen mitgenommen, die ihr euch im Leben nicht leisten könnt. Dann lachen sie und zeigen ihre FLY GREEN - MasterCard, mit der sie für einen monatlichen Beitrag von lächerlichen vierzig Euro überall hinfliegen können. Und dann projizieren sie dir ganz stolz mit ihren mobilen, an den ODEFs angeschlossenen Hologramm-Projektoren ihre IGX-Kanäle ins Gesicht, wo sie mit ihren lächerlichen sechzehn Jahren halbnackt an irgendeinem vermüllten Traumstrand in die Sonne blinzeln. Schön für euch, sage ich dann, lasst mich jetzt bitte in Ruhe.

Okay Opa, gackern sie noch, ehe sie sich umdrehen.

Das wirklich Schlimme aber an der Sache ist, dass bei diesen Demonstrationen ihrer pubertären Inszenierungsstärke ein Interaktionslevel an meine Wange flimmert, das bei Weitem besser ist als meins. Keine Ahnung, wie die das machen. Es ist absolut lächerlicher Content, der keine Qualität hat, es zeigt einfach nur sie selbst in dreidimensionalen Live-Aufnahmen, wie sie am Strand herumtollen und einen hormonellen Anflug in Richtung einer verkehrten Vorstellung vom Erwachsensein zur Schau stellen, mit Captions wie Tagge all deine Freunde, wenn du welche hast! Seit dreizehn Jahren versuchen die Bosse bei Instagram und anschließend bei IGX effektive Mobbing-Filter zu implementieren, und seit dreizehn Jahren löscht der KI-Algorithmus immer noch die falschen Bilder. Meine Bordell-Berichterstattung zum Beispiel, komplett entfernt (die Europäische Influencer-Kommission hatte da auch seine Finger im Spiel).

Hätte ich Kinder, würde ich zwei Mal überlegen, ob ich ihnen IGX auf ihr ODEF lade (oder ihnen überhaupt ein ODEF schenke). Ich meine, was für einen Eindruck vom Leben würden sie schon als Grundschulkinder bekommen, wenn Gleichaltrige Modelshootings an Skateboardplätzen hochladen, anstatt tatsächlich zu skaten. Ein schönes Foto vom Skateplatz ist mittlerweile wichtiger, als tatsächlich skaten zu können. Niemand kann mehr skaten!

Dasselbe gilt für alle anderen Sportarten, ach was rede ich da, für alles, was man in seiner Freizeit unternehmen kann. In Berlin sieht man an jeder Ecke sich selbst inszenierende Kinder – keiner weiß, was die Berliner Mauer ist, aber sie sieht schön aus und ein Foto davor gibt bestimmt etwas Aufmerksamkeit. Keiner weiß, wer im Reichstag sitzt, aber ein tanzendes Video für den boomenden Kanal auf der großen Wiese davor gibt bestimmt ein paar bewundernswerte Kommentare. Weiter noch, Kinder betteln ihre Eltern an, können wir nicht bitte nach Thailand, können wir nicht bitte zum Grand Canyon, können wir nicht bitte auf die Lofoten, das ist alles, was ich dieses Jahr zu Weihnachten geschenkt haben will, eine Reise, bitte. Als ich Kind war, wollte ich eine Playmobil-Raumstation haben. Einen neuen Fußball. Eine Lavalampe. Und Fische! Jetzt wollen Kinder schon in der Einschulungstüte eine DSLR drin haben. Oder direkt das viertausend Euro teure i2.

IGX ist voll mit Kindern, und der Ableger IGX Kids ist voll mit jungen Eltern, die ihren Babys eine GoPro Hero Black Diamond Edition 17 umgeschnallt haben inkl. Schnuller-Adapter.

Ist das nicht völlig daneben? Oder sage ich das nur, weil ich selbst keine Kinder habe? Wobei, so genau weiß ich das gar nicht, ich hatte auf meinen Reisen nicht immer Verhütungsmittel vorbei. Bis jetzt wurde ich jedenfalls noch von keiner Frau kontaktiert. Weder, um mir mitzuteilen, dass ich Vater geworden bin, noch auf Tinder, wo ich, seitdem ich wieder in Berlin zurück bin, meinen virtuellen Avatar bevollmächtigt habe, eigenhändig Dates zu organisieren. Eigentlich eine super Sache, die virtuellen Avatare, man lässt sich von der künstlichen Tinder-Intelligenz eine Weile zuhören, und auf Basis deiner Aussagen wird eine virtuelle Persona mit einer eigenen virtuellen Stimme erschaffen, die in deinem Namen versucht, Frauen kennenzulernen und erst beim letzten Schritt, wenn der ganze Avatar-Smalltalk vorüber ist und der Algorithmus entschieden hat, dass der Match mehr als durchschnittliche Chancen hat, ein erfolgreiches Treffen nach sich zu ziehen, wird man gebeten, sich in der Wirklichkeit zu treffen.

Offensichtlich aber ist selbst mein Avatar unbeliebt. In zwei Jahren hat er es noch kein einziges Mal geschafft, ein Date zu organisieren. Was ne Flasche.

*

In dieser Nacht konnte ich mal wieder nicht einschlafen. Es mochte daran liegen, dass sich meine Augen auch nach zwanzig Jahren Instagram nicht an das vor dem Schlafengehen bis zu sechs Stunden bis aufs Maximum erleuchtete Display gewöhnt hatten, auf das ich wie hypnotisiert auf und ab und von links nach rechts schaute, im Millisekundentakt zwischen all dem hochgeladenen Kram scrollend.

Es mochte aber auch daran liegen, dass dies ein weiterer beschissener Tag war, und die Last des Daseins auf mir drückte wie eine Decke aus Stein, keine Daunendecke aus fluffigen Entenfedern, nein, eine miese Steindecke.

Mir gingen tausende Fragen durch den Kopf: Wie bin ich in diese Lage geraten? Was habe ich falsch gemacht? Wie geht es meinen Eltern? Den Leuten, die ich auf meinen Reisen kennenlernte? Und habe ich sicher nichts zum Posten? Fragen wie diese, an jedem Spätabend.

Bevor mir aber wieder die Tränen kamen, öffnete ich meinen Blog und schrieb einen neuen Beitrag, ein Beitrag voll unbedeutenden Mülls.

Was war unbedeutender Müll? In der Vergangenheit herumwühlen. Und sich davon runterziehen lassen.

Ich glaubte nicht, dass das die Idee des Journalings war.

*

BESTE FREUNDE

von Sam, 26. Februar, 2032 - 01:55 Uhr