Werner - Jan Kronies - E-Book

Werner E-Book

Jan Kronies

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Beschreibung

Wie schnell die Zeit vergeht - wer fragt sich das nicht mindestens einmal in seinem Leben? Auch Ellie sieht sich damit konfrontiert, als sie ihren im Sterben liegenden Großvater Werner besucht. Zusammen begeben sie sich auf eine Reise in die großen Themen des Lebens und des Todes, um zu verstehen, was war, nun enden wird und wie Zeit begriffen werden kann: damit wir nie wieder daran verzweifeln, wie schnell sie vergangen ist. "Werner - Wie schnell die Zeit vergeht" ist ein Buch, mit dem wir lernen können, achtsamer mit unserer so begrenzten, so schnelllebigen Zeit umzugehen, sei es auf der Arbeit, in der Liebe oder in unserer Familie. Es geht um die Zeit vor, während und nach der Trauer, und um die Frage, wie wir die Vergangenheit akzeptieren können, um in der Zukunft glücklich zu sein. Ein Roman für Fans von John Strelecky ("Das Café am Rande der Welt", "The Big Five for Life").

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INHALT

Prolog

Zeit für Neues

Zeit zum Lieben

Zeit zum Nachdenken

Zeit in den Bergen

Zeit zum Arbeiten

Zeit zum Träumen

Zeit zum Altwerden

Zeit für Empathie

Zeit zum Trauern

Zeit zum Leben

Epilog

Für Heidi

Noch viele Jahre später erinnerte sich Ellie daran, wie sie da zusammen ein letztes Mal auf der Holzbank saßen, draußen auf der Veranda.

Ihr Opa und sie.

Diese Erinnerung suchte sie fortwährend heim, aber auf eine schöne Art und Weise. Es war nicht so, dass sich dann etwas in ihr verkrampfte, im Gegenteil, das Gefühl, das am Band dieser Gedanken hang, war friedlich. Ihr gelang es sogar bisweilen, zu lächeln, wenn sie an seine Worte dachte, an seine Leidenschaft, an sein Wesen, das sich zum Schluss noch einmal aufraffte, um ihr all das mitzugeben, das er zuvor verpasst hatte, auszusprechen.

All das – waren Geschenke.

Geschenke, die Ellie wieder und wieder auf ihrem weiteren Lebensweg öffnen konnte, wann immer ihr Hürden bevorstanden, wann immer Schwierigkeiten ihren Weg kreuzten, wann immer sie dachte, sie wäre mit ihren Problemen allein.

Doch wenn man die Worte eines geliebten Menschen so sehr verinnerlicht hat, ist es dann überhaupt möglich, zu verzweifeln, weil dieser Mensch von uns gegangen ist? Spricht da nicht immerzu jemand in unseren Gedanken, der einmal sagte, ich werde für immer bei dir sein? Was Ellie, als das junge Mädchen, das sie damals war, kaum glauben, kaum verstehen konnte – doch so musste es sein.

Kurzum: die letzten Tage mit ihrem Großvater hatte Ellie verändert. Auf einmal sah sie das Leben aus einer anderen Perspektive, auf einmal sah sie das, was wirklich wichtig ist, und das, wie sie sein möchte.

Sie wollte ein guter Mensch sein und die Welt bewusst wahrnehmen.

Und das war es, was Werner ihr mitgeben wollte.

Prolog

»Opa.«

Ellie steht in der Tür zum Schlafzimmer ihres Großvaters. Es ist ein Samstagmorgen im Februar. Dichte Nebelschwaden ziehen vor dem großen Fenster her. Eiskristalle glänzen an den Rändern.

Werner richtet sich schwer atmend auf. Mit den Fäusten abstützen, hochziehen, jetzt noch einmal, mit aller Kraft hochziehen, anlehnen.

»Komm, setz dich zu mir.«

Mit leisen Schritten gleitet Ellie über den knarrenden Holzboden. In der Luft liegt der Geruch eines alten, aber gepflegten Holzhauses. Über der Haustür steht in metallenen Buchstaben: „Anno 1809“.

»Mama hat gesagt, ich soll dieses Wochenende zu euch aufs Land kommen. Ich wollte das sowieso demnächst mal wieder, aber sie hat darauf bestanden und gesagt, dass ich nicht damit warten soll. Ist es … so dringend?«

»Ich freue mich sehr, dich zu sehen. Es ist schon länger her … und dringend … das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass demnächst einen Tag zu spät hätte sein können. Also, ja, vielleicht doch, der Besuch hat eine gewisse«, Werner schluckt behaglich, »Dringlichkeit.«

»Tut mir leid, dass ich lange nicht mehr da war«, sagt Ellie.

»Oh nein, das muss dir nicht leidtun. Du bist da drüben in der Stadt, da ist dein Leben. Und es ist ja schon eine längere Fahrt hier her.«

»Ja, aber trotzdem…«

Werner betrachtet seine Enkeltochter. Wie groß sie nun schon ist! Dann überkommt ihn ein unbestimmtes Gefühl, er kann nicht sagen, ob es Trauer oder Sehnsucht ist, dass ihn plötzlich an Elisabeth denken lässt.

»Deine Großmutter wartet bestimmt auf mich.«

»Sie kann aber doch noch etwas länger warten«, sagt Ellie entrüstet.

»Sie wartet schon zwanzig Jahre auf mich. Stell dir vor, wie einsam sie ist.«

»Ach, Opa.«

»Nun, lassen wir das. Wie … ist es zuhause, seitdem deine Mutter hier ist?«

»Manchmal etwas komisch. Vor allem abends. Sie war ja eh die meiste Zeit arbeiten und kam spät nach Hause, aber dass ich mit Papa allein zu Abend esse, daran habe ich mich noch nicht gewöhnt.«

»Es wird nicht allzu lange dauern, bis sie wieder bei euch ist.«

Ellie schlägt die Augen nieder. Ob es am Alter liegt, dass das Unausweichliche direkt angesprochen und fast nicht gesehen wird, wie etwas derartiges bei Familienmitgliedern für verletzte Gefühle sorgt?

»Es geht schon, ich weiß ja, wie wichtig es für Mama ist, jetzt bei dir zu sein.«

»Sie kümmert sich gut um mich. Ich empfinde es als großes Geschenk, dass sie ihren Job vorübergehend aufgegeben hat und zu mir gezogen ist. Es ist der Traum aller Eltern: das Kind, das dich im Alter pflegt.«

»Sie weint oft, wenn sie mit Papa telefoniert.«

»Ja. Das höre ich aus dem Schlafzimmer, auch wenn sie zum Rauchen vor die Haustür geht.«

»Manchmal höre ich das Gespräch mit, und sie sagt fast immer, dass wenn du nicht mehr da bist, sie keine Eltern mehr hat.«

»Nein, das ist nicht wahr … sie wird für immer Eltern haben. Ich gehe ja nicht fort. Also, zumindest nur auf eine Weise. Trotzdem werde ich auf sie Acht geben, wo auch immer ich sein werde. Und auch auf dich, glaub mir, du wirst für immer deinen Opa haben.«

»Und wie? Ich bin nicht gläubig, das weißt du, und Mama auch nicht.«

»Ich spreche nicht vom Glauben. Sondern von der Erinnerung. Sie ist es, die ein für immer möglich macht.«

Ellie zuckt mit den Schultern.

»Es hat mit der Zeit zu tun«, sagt Werner.

»Wie meinst du das?«

»Nun, es ist ganz einfach: Wer erinnert wird, wird nicht gehen.«

Ellie versteht nichts, aber spürt, jetzt kommt einer der für ihren Großvater so typischen ellenlangen, philosophischen Monologe. Und sie hat richtig getippt, Opa ist in dieser ganz bestimmten Stimmung, etwas loswerden, etwas mitgeben zu wollen.

»Ist der … nun, lass es uns aussprechen … wird der Tod kommen, verlagert sich die Wahrnehmung.“ Werner nickt in sich hinein. „Von da an gibt es keine neuen Erfahrungen mit, die wir zusammen machen können, nein, von da an gibt es für dich nur noch vergangene Erfahrungen, die du mit mir geteilt hast. Und diese existieren an Orten, die nicht so leicht zugänglich sind. Schau mal, es ist ja so, obwohl wir heutzutage überall hinkommen, alles besuchen, alles bereisen können, ist doch eine Reise ganz besonders schwierig. Das ist die Reise in dir. Nein, besser: die Zeitreise in dir. In deine Erinnerungen, die du mal gemacht hast, vor ein paar Monaten oder vor vielen Jahren, und in die Gefühle, die in diesen Erinnerungen eingeschlossen sind. In diesen liegt übrigens deine Großmutter für mich und … ich hoffe, in diesen werde auch ich immer bei euch sein. Auch wenn ihr mich nicht mehr sehen könnt.« Werner atmet laut, schließt und öffnet die Augen, als hätte erneut in sich hineingeblickt, um sicherzugehen, dass das, was er sagte, auch so war, wie er es meinte. »Es steckt mehr dahinter, als du vielleicht denkst. Oder glaubst du, dies ist das wirre Sprechen eines alten Mannes auf dem Höhepunkt seiner Krankheit?«

»Das habe ich nicht gedacht.«

Vorsichtig bringt Werner ein Lächeln hervor. Wie schafft er nun den Anschluss, fragt er sich, als Ellie ihr piepsendes Handy hervorholt. Schon mitten in der Nacht fing irgendetwas in Werner an, sich artikulieren zu wollen, eine Unruhe, aber auch eine Hoffnung, und da war ihm klar, es gibt da ein paar Dinge, die er loswerden möchte. Die er loswerden muss.

»Ellie?«

»Ja?«

»Es liegt mir sehr am Herzen, mit dir über etwas zu reden, über das ich sehr lange nachgedacht habe in den letzten Monaten, seitdem du mich das letzte Mal besucht hast. Ich ... habe es bisher nicht vollkommen entschlüsseln können, doch da waren Gedanken, die mir sehr wahr vorkamen und die ich dir mitgeben möchte.«

»Oh … okay.«

»Ich möchte, dass du verstehst«, er pausiert kurz, dann dreht er den Kopf zu Ellie und als sie von ihrem Handy aufschaut, blickt er ihr tief in die Augen, »was Zeit ist.«

»Was Zeit ist?«, fragt Ellie und Werner fühlt sich, als hätte er etwas verbrochen. »Was gibt es an der Zeit zu verstehen? Wollen wir nicht lieber über … zum Beispiel über die Sommerferien reden, die ich bei dir auf dem Land verbracht habe?«

»Unbedingt! Denn das sind wertvolle Erinnerungen. Die Zeit ist flüchtig, sie vergeht. Unaufhörlich. Doch Erinnerungen können bleiben, das sagte ich ja schon, aber du glaubst gar nicht, wie viel wir anhand von Erinnerungen über die Zeit lernen können. Ich war selbst überrascht, als ich anfing, mehr darüber nachzudenken.«

Ellie zupft an den zerschlissenen Fäden ihrer Jeans.

»Weißt du, in letzter Zeit beschleicht mich die Gewissheit, dass mein Name ein … ein aussterbender Name ist. Er ist unmittelbar mit der Zeit verbunden, die vorübergeht. Nach mir kommt sehr wahrscheinlich kein neuer Werner, ihr jungen Leute habt alle so moderne Namen, kaum ein Elternpaar kommt auf die Idee, ihr Kind noch Werner zu nennen.«

»Das stimmt, ich kenne niemanden in meinem Alter, der so heißt. Aber ich mag deinen Namen.«

»Das ist lieb von dir. Ich weiß jedoch, mein Name zeigt etwas Abschließendes. Darum ist es mir, glaube ich, so wichtig, dass ich mich dir mitteilen kann, denn alles …«, er schaut aus dem Fenster, ein Zucken durchfährt ihn, »ja, all mein Wissen und all meine Erkenntnisse, die sich in mir über viele Jahre angestaut haben, stehen an der Klippe des ewigen Nichts. Entschuldige, dass ich das so dramatisch ausdrücke, aber das empfinde ich - wenn ich also die Erfahrungen, die ich gemacht habe, und was ich aus ihnen gelernt habe, für mich behalte, dann ist es doch so, als hätte dieses eine Menschenleben, das ich führen durfte, eine unglaublich wichtige Chance verpasst. Natürlich, ich hinterlasse etwas, meine Tochter und unsere Erinnerungen, aber sollte es nicht so sein, dass am … Lebensabend ein alter Mann noch einmal Revue passieren lässt, und dem jüngsten Menschen in seiner Familie alles erzählt, was diesem jungen Menschen vielleicht helfen könnte? Ich glaube, es ist sogar meine Pflicht, das zu tun. Von welchem altgewordenen Menschen sonst würdest du erfahren, was ein altgewordener Mensch denkt, an seinem … ja, Lebensabend. Wie ich dich gerade sehe, dein junges Gesicht, das mit so viel Zukunft gesegnet ist, habe ich dieses ganz bestimmte Gefühl, dir unbedingt etwas mitgeben zu wollen.«

»Hm …«, murmelt Ellie und überspielt ihre Gänsehaut, die Großvaters Worte ihr auf die Arme gezaubert haben, aus einem Grund, den sie nun allmählich versteht; hier ist ihr Großvater, und bald wird es ihn nur noch in ihrer Erinnerung geben. Aber doch, was war es, was er ihr mitteilen wollte? »Also, über die Zeit möchtest du reden?«

»Ja, über die Zeit. Es klingt abstrakt, das verstehe ich. Aber Zeit steckt in allen Dingen, allen Gefühlen, der Vergangenheit, Gegenwart und unserer Vorstellung von der Zukunft«, kurz hält Werner inne, dann nickt er heftig, »ich möchte dir davon erzählen, stellvertretend für jeden Werner dieser Welt, für jeden altgewordenen Menschen, dessen Name bald nur noch eine Erinnerung sein wird. Lass es mich so sagen: Ich wünsche mir, dass ich dir etwas über die Zeit mitgeben kann, bevor ich …«

Eine nasser Film gleitet jetzt über Ellies Augen. »Oh, wie schnell die Zeit vergeht!«

»Wie schnell die Zeit vergeht!«, wiederholt Werner laut, als hätte er nur darauf gewartet. »Ja, an keinem anderen Satz lässt sich unsere Unkenntnis über die Zeit, lassen sich unsere Zweifel, besser veranschaulichen. Dabei ist es wichtig«, so verdammt wichtig, denkt Werner leidenschaftlich, »darüber nachzudenken, warum wir das eigentlich so oft sagen. Ich habe diesen Satz in meinem Leben bestimmt eintausendmal gehört und immer klingt es, als sei die Person über diese scheinbare Tatsache verzweifelt. Stets habe ich mich gefragt, ob es auch einen anderen Weg gibt. Ein so klares Verständnis von der Zeit zu haben, dass wir diesen Satz … ebenso gut feierlich aussprechen können.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, mich schon einmal darüber gefreut zu haben, dass die Zeit schnell vergangen ist. Außer vielleicht, als es mir schlecht ging.«

»Das ist mehr als verständlich. Und genau darüber möchte ich mit dir reden. Dass es nicht darum geht, sich zu wünschen, die Zeit solle langsamer oder schneller vorüberziehen. Es geht nur um eines, und davon bin ich felsenfest überzeugt: dass wir, wenn wir die Zeit verstehen, oder lass es mich besser sagen, wenn wir verstehen, was die Zeit füllt, wie wir unsere Zeit füllen, und worauf es dabei ankommt, dass wir dann auch das Leben besser verstehen können.«

»Das Leben verstehen?«

»Oh ja! So Sachen wie: warum wir die lieben, die wir lieben. Wer wir sind. Was wir denken und was wir tun. Wie wir auf die Welt blicken und welche Perspektiven wir dabei einnehmen. Lauter solche Dinge: alles menschliche Geheimnisse, denen wir nahekommen können … wenn du es zulässt.« Mit erwartungsvollen Augen schaut Werner in das junge Gesicht seiner Enkeltochter.

Die nachfolgende Stille ist von lauten Gedanken unterlegt. Ellie weiß nicht so recht, was sie über Großvaters Worte denken soll und ob sie wirklich das Wochenende damit verbringen sollen, über etwas Abstraktes wie die Zeit zu reden. Auch Werner ist sich unsicher, unabhängig von seinem unbedingten Willen, über den er selbst ein wenig erschrocken zu sein scheint, so als würde der Wille in Eigenregie und mit absoluter Vehemenz Ellie zu überzeugen versuchen. Während sie schweigen, knackt es in den Holzwänden, der Nebel gleitet dahin und irgendwo gehen Menschen zur Schule oder zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Kaffeetrinken, zum Wandern, zu Freunden und Verwandten, zu Konzerten und Ausflügen, zu Geburten und Friedhöfen, und in diesem Gewusel des Lebens vergeht Zeit, für alle gleich, für alle unterschiedlich.

»Das Leben verstehen …« Ellie dreht sich weg, um eine große Träne fortzuwischen. »Eine schöne Vorstellung. Mama streitet ständig mit mir, die Sache mit Jessi, dass du … wer soll das verstehen. Du weißt ja, ich schreibe ab und zu meine Gedanken auf, aber wenn ich sie mir später durchlese, streiche ich das meiste wieder durch. Und das ist echt … scheiße.«

»Dann lass es mich versuchen.«

In Ellies Jackentasche vibriert das Handy. Eine Mitteilung ihrer Freundinnengruppe, sie fragen, ob Ellie abends mit in das neue Café geht, das in der Innenstadt aufgemacht hat. Schnell tippt sie: Ich kann nicht, bin das Wochenende auf dem Land. Sie wäre gerne mitgegangen, fühlt jedoch, dass sie ebenso froh ist, hier zu sein. Hier, bei ihrem Opa, der irgendwie traurig zu sein scheint. Oder dass ihn etwas sehr bedrückt. Und gleichzeitig ist sie auch selbst traurig und bedrückt und verzweifelt, sie will doch nur, dass ihr Opa nicht fortgeht. Er, der schon immer für sie da war – kann sie ihm jetzt nicht einfach den Gefallen tun, dass er ihr etwas über die Zeit erzählt? Er klingt ja so, als gehe es bei der Zeit um Leben und Tod. Ein Stich durchzieht Ellie, denn so gesehen geht es wirklich darum.

Neben der Nachricht piepst eine Erinnerung auf ihrem Handydisplay auf: Blumen mitbringen. Verdammt, das hat sie vergessen.

»Ja gut, Opa«, sie drückt den Ausschaltknopf, »erzähl mir alles, was ich wissen muss.«

»Hast du denn etwas Zeit mitgebracht?«

»Das ganze Wochenende.«

Werner lächelt zart. In seinen knittrigen Augenwinkeln löst sich eine Träne. Ellie beißt sich auf die Lippen. Vielleicht ist es eine Träne der Traurigkeit. Vielleicht aber wird er gerade von Glück durchströmt.

I. Zeit für Neues

»Der Tag nach meinem Tod …«, beginnt Werner.

»Das ist ein ganz schlimmer Gedanke, Opa.«

Werner zieht die linke Augenbraue hoch und nickt. Blaue Linien zieren die Blässe auf seinem Gesicht. Dicke Adern am Hals. Sein Atmen ist langsam und schwer. All das hat etwas Kaltes an sich, doch sein Blick ist mit Wärme aufgeladen.

»Ich weiß. Auch für mich ist das eine schwierige Vorstellung, die mich manchmal auch ganz aufgeregt macht. Was ich aber weiß, ist, der Tag nach meinem Tod wird ein neuer Tag für dich sein. Gewissermaßen ein neuer Lebensabschnitt. Es wird einen Abschnitt mit mir gegeben haben, die ersten sechzehn Jahre deines Lebens, und es wird einen Abschnitt nach mir geben. Wie neu sich dieser Abschnitt für dich anfühlen wird, wird dadurch entschieden, wie du mit meinem Tod umgehen wirst. Und entschuldige, dass ich das so direkt anspreche, aber du wirst verstehen, dass ich keine Zeit mehr habe, Dinge zu verschleiern.«

»Das verstehe ich«, sagt Ellie und schluckt das Gefühl herunter, dieses Gespräch am liebsten nicht führen zu müssen.

»Du bist ein junges, fröhliches, unbefangenes Mädchen. Und wie groß du bereits geworden bist! Nun, dir wird es zunächst sicherlich schwerfallen, zu akzeptieren, dass du mich nicht mehr auf dem Land besuchen kannst. Du wirst traurig sein, dass ich dort nicht mehr bin. Vielleicht auch verzweifelt, das ist ja völlig normal. Und doch, da bin ich mir ganz sicher, wirst du schnell wieder zu der Lebensfreude finden, die dich ausmacht. Darüber möchte ich mit dir reden. Denn dies wird eine Zeit sein, die ich Zeit für Neues nennen möchte.«

Trotz ihres Verständnisses für das, was ihr Großvater anspricht, war Ellie nicht darauf gefasst, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Das ist Werner bewusst, doch ihm ist es wichtig, das, was kommen wird, konkret anzusprechen, es aber auch in ein Verhältnis zur Vergangenheit zu setzen. Damit sie unser Verständnis von Zeit aus neuen Perspektiven betrachten kann, denkt Werner. Damit auch er versteht, was war und nun zu Ende geht.

»Mach dir keine Sorgen, hörst du? In nur seltenen Fällen wird die Zeit für Neues durch den Tod eines Angehörigen ausgelöst. In den allermeisten Fällen ist dies jedoch der schwerwiegendste Eingriff in die Gegenwart, der etwas, das mal war, in das ändert, was sein wird, unter neuen Umständen. Aber, und das ist der Grund, warum du dir keine Sorgen machen brauchst: das Band, das zwischen uns existiert – dass ich dein Opa bin, mit dir hunderte Erinnerungen teile und du mir einer der liebsten Menschen der Welt bist –, ist davon nicht betroffen. Das wird so bleiben, auch wenn ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Nur, und das ist die Schwierigkeit, die eintritt: die Erinnerungen, die mit dem beendeten Lebensabschnitt verbunden sind, verschieben sich, irgendwohin, an eine schwer zugängliche Stelle deiner Gedankenwelt.«

»Also wird es dann schwieriger, mich daran zu erinnern, was ich mit dir zusammen erlebt habe? Aber nur schwieriger und nicht … unmöglich?«, fragt Ellie. Sie bemüht sich, kluge Fragen zu stellen, um ihren Großvater stolz zu machen. Sie will ihm beweisen, dass es sie interessiert, was er ihr mitgeben möchte.

»So sehe ich das, ja. Dafür müssen wir aber auch das Vergessen an sich anders betrachten. Ich bin der festen Überzeugung, das Alte ist immer da, das bereits Erlebte und zur Erinnerung Erhobene kann niemals ganz vergessen werden. Es ist nur nicht immer an vorderster Front, nicht immer gleich … für unser Bewusstsein verfügbar. Lass mich das verständlich machen. Nach dem Tod deiner Großmutter begann ich, jeden Tag an sie zu denken. Manchmal den ganzen Tag lang, manchmal erst beim Einschlafen und manchmal, wenn ich es am wenigsten erwartete. Scheinbar willkürlich tritt das Vergangene hervor. Es kann also passieren, dass an einem beliebigen Tag von beliebiger Schönheit etwas Altes an die Grenze zum Bewusstsein tritt, dort in einem knappen Monolog den Grund erläutert, weshalb es gekommen sei, oftmals vage und von zwiespältiger Verständlichkeit, sodass du nicht immer verstehen wirst, weshalb diese oder jene Erinnerung aufgetaucht ist, und du wie benommen stehen bleibst, einen Punkt in der Landschaft oder in der Stadt bis zum völligen Verlust jeglicher Schärfe anvisierst und dem Alten Gehör schenkst – und das, liebe Ellie, ist ein Augenblick der Wertschätzung für das Auftauchen dieser alten Erscheinung.«

»Das hast du schön gesagt. Und das habe ich auch manchmal. Ich bin dann für einen Moment lang wie weggetreten, weil ich so sehr auf diese Erinnerung in meinem Kopf fokussiert bin.«

»Ja. Und vielleicht sagst du instinktiv: Oh, das hatte ich ganz vergessen! Worte jedoch, liebe Ellie, kommen selten … wie sage ich das nun … an die Eigenschaft einer Erinnerung heran. Das Instinktive, also dein erster Gedanke, versucht dir mitzuteilen, dich gar zu überzeugen, dass die Erinnerung fort war, doch jetzt mit kleinstem Lichte aufflackert. Dabei war die Erinnerung niemals fort. Sie steht nur nicht immer in der ersten Reihe. Wie sollten wir damit auch leben können, dass alle Erinnerungen an jedem Tag präsent sind?«

Der Elan, mit dem Werner seine Reise in die Zeit beginnt, ist ungebrochen. Beinahe vergisst Ellie, wie er sich noch eben, vor ein paar Minuten kräftezehrend aufgesetzt und dabei offenbart hat, wie schwach er doch schon ist.

»Manchmal bin ich traurig darüber, dass ich mich nur in Bruchstücken erinnern kann.«

»Nun«, sagt Werner, »dafür gibt es einen Trick, denn mit Behutsamkeit und viel Geschick kann alten Erinnerungen eine neue Fülle verliehen werden. Eine Art zweites Leben, eine neue, gleichwohl bereits erlebte Ebene des Vergangenen. Auch hier bin ich der Meinung, die Erinnerung, in ihrer ganzen Fülle, ist immer in dir gewesen. Sie ist, wenn man so will, unendlich geworden dadurch, dass sie erlebt und … konserviert wurde, weil es irgendetwas gab, das unserem Erinnerungsvermögen mitgeteilt hat: Ich bin eine wichtige Erinnerung, ich bleibe. Dadurch wird sie Teil der Unendlichkeit eines vorübergegangenen Lebensabschnittes. Lass es mich so sagen: Was wir aufnehmen, wird abgespeichert, ähnlich wie bei einem Schatz, nach dem wir ständig auf der Suche sind und von dem wir, wenn wir ihn finden, eigentlich gar nicht wissen, was es ist. Es ist das Unendliche, das uns gehört und zu dem wir in ähnlicher Beziehung stehen wie zu jenem Ort, zu dem wir wieder und wieder zurückkehren; es ist Zeit, beheimatet.«

»Ein schöner Gedanke«, sagt Ellie, leicht verlegen und ein wenig erschlagen, aber so kannte sie ihn. Wenn er leidenschaftlich bei der Sache war, konnte er stundenlang darüber reden, in ellenlangen Monologen und Sätzen, von denen man ahnte, dass sie wahr und groß, aber nicht immer gleich verständlich waren. »Und wie funktioniert dieser Trick?«

»Oft eignen sich dafür Gegenstände, Gerüche, Orte, an denen wir einmal waren. Darin liegen Erinnerungen, die sich erst dann wieder aus ihrem Kokon befreien und entfalten, wenn wir sie erneut erfahren. Ist da etwas Vages, an das du dich nur zart erinnerst, hilft es, dieser Erinnerung zu jenem Ort, zu jenem Geruch oder einem Gegenstand, den du einmal in den Händen hieltest, zu folgen. Ist dies nicht möglich, hilft es aber auch schon, sich Ruhe zu geben und zu schauen, wohin die Gedanken fliegen. Viel zu oft geben wir viel zu schnell nach, widmen uns einer anderen Tätigkeit oder bauen eine innere Ignoranz auf, mit der wir intensive Gefühle, und damit auch jeglichen Schmerz, der vielen Erinnerungen beiwohnt, vermeiden. Weil wir glauben, wir seien zu schwach, uns dieser Erinnerung zu stellen. Weil wir auch ganz generell keinen Schmerz fühlen wollen. Deshalb vermeiden wir unsere Erinnerungen. Aber das kann nicht der richtige Weg sein – man muss einer aufblitzenden Erinnerung folgen. Sich ihr stellen.«

»Also du sagst, wenn ich einen Gegenstand wiederfinde, den ich früher einmal in einer bestimmten Situation benutzt habe, oder einen altbekannten Ort aufsuche, kommen all die Erinnerungen wieder hoch?«

»Das kann damit ausgelöst werden, ja. Vorausgesetzt, du gibst der Erinnerung eine Chance, damit aus den aufblitzenden Gedanken mehr werden kann.«

»Mehr was?«

»Ein Gefühl, wie es damals war.«

»Oh. Ja. Verstehe«, sagt Ellie und lächelt, auch wenn sie ahnt, dass mit gewissen Erinnerungen sehr schmerzhafte Gefühle verbunden sind, die auch sie fast vollständig verdrängt hat; aber auch dass in Erinnerungen schöne Gefühle mitschwingen könnten, die wir fast sehnsüchtig wieder hervorholen wollen. »Ist es okay, wenn ich mir ein paar Notizen mache? Ich möchte das behalten, was du sagst.« Sie wiederholt leise: »An das Gefühl von damals erinnern, wenn ich mich auf eine Erinnerung konzentriere.«

»Natürlich. Schau mal in die oberste Schublade der Kommode.«

»Nicht nötig«, sagt Ellie, lehnt sich kurz vom Bett herunter, greift in ihren Rucksack und holt ein schwarzes Notizbuch hervor. Sie legt es auf ihren Schoß, blättert durch ein paar Seiten, auf denen ein paar lyrische Texte zum Vorschein kommen, öffnet eine leere Seite, legt ihre Hände hinten auf das weiche Kunstleder und begegnet dabei Werners Blick. Für einen Moment steht die Zeit still, es ist, als befänden sie sich zusammen in einer Erinnerung.

»Ah, das gute alte Notizbuch.«

»Du hast es mir geschenkt, als ich auf das Gymnasium gewechselt bin.«

»Wie viele Jahre das schon her ist.«

»Vier Jahre. Schau her.«

Ellie deutet auf die Inschrift: Ich wünsche dir eine schöne Zeit auf der neuen Schule. Dein Opa Werner. 1. August, 2011.

»Erinnerst du dich noch an diesen Moment, als ich dir das Notizbuch gab? Es war so warm an diesem Tag. Ich saß mit dir und deinen Eltern in eurem Garten. Da war der dunkelgrüne Gartentisch, die dunkelgrünen Plastikstühle mit der beweglichen Lehne. Die Sonne machte mir zu schaffen, aber …«

»Die Markise war kaputt.«

»Genau, und ich wollte es nicht ansprechen«, lacht Werner, »weil ich ja wusste, dass dein Vater sie schon längst hätte reparieren sollen, so oft wie deine Mutter sich darüber aufgeregt hatte. Immerhin war er es, der die Markise mit einem seiner gekonnten Handgriffe kaputt gemacht hatte. Aber Mensch, was war das warm an diesem Tag!«

»Du saßt einfach nur da und hast aus allen Poren geschwitzt. Und dann hast du auf das Geschenk gedeutet, das neben der Kaffeekanne lag, du meintest nur: Das ist für dich.«

»Ha, ja, so war es. Das ist eine einfache Erinnerung, oder? Du hast das Notizbuch bei dir, was dich daran erinnert. Meistens ist es jedoch so, dass da nichts ist, was du greifen kannst, und trotzdem taucht eine Erinnerung auf, scheinbar ausgelöst durch etwas, das dir nicht bewusst ist.«

»Und dieser Erinnerung muss ich Zeit geben? Einfach ein paar Minuten lang versuchen, sie besser zu verstehen?«

»Sie verstehen, ihr folgen, sie erkunden, genau! Und der Lohn ist das Gefühl, das wie von etwas Unsichtbarem berührt auftaucht. So war das, ahhh.«

»Jetzt wo du es sagst … letztens habe ich ein Käsebrötchen gegessen, nach langer Zeit wieder einmal. Und da kam eine Erinnerung hoch, aus dem Kindergarten. Kannst du das glauben? Ich konnte in diesem Moment wieder verstehen, wie es war, im Kindergarten zu sitzen, das Käsebrötchen herauszuholen und es in der Pause zu genießen.«

»Als würdest du für einen Moment wieder genau dort sitzen, nicht wahr? Genau davon spreche ich. Und ist es nicht fantastisch zu wissen, dass ein solches Gefühl, ummantelt von seiner Erinnerung, in dir liegt? Tausende davon? Die besonderen, auch die weniger besonderen, die für das große Ganze jedoch nicht unwichtiger sind. Irgendwo versteckt, aber existierend, mit einem eigenen Puls, den du erst dann wieder spürst, wenn die Erinnerung ausgelöst wird.«

»Es passiert nur so selten.«

»Weil wir Erinnerungen so wenige Chancen geben, sich erneut zu entfalten.«

Ellie überlegt, es stimmt, wann hat sie das letzte Mal Zeit damit verbracht, sich einfach nur zu erinnern? Sich eine ausgelöste Erinnerung zu schnappen und darin zu verweilen? Erzähl das einmal den anderen, denkt sie sich. Es klingt komisch.

Dann kommt ihr in den Sinn, doch, tatsächlich ist das ein paarmal in den letzten Wochen so gewesen. Allerdings nicht gewollt, sie lag auf ihrem Bett und dachte an Jessi. An das, was sie miteinander erlebt hatten, bis Jessi aus heiterem Himmel schlussgemacht hat. Wehmütig senkt sie den Kopf, ist es das, was ihr Opa ihr zu erzählen versucht? Wenn ja, was soll daran Schönes sein? Es macht doch nur traurig.

»Du fragst dich jetzt bestimmt, was eine vergangene Zeit mit der Zeit für Neues zu tun hat.«

Ellie schüttelt ihren Gedanken ab. »Ja, Zeit für Neues, das verstehe ich nicht.«

»Lass mich etwas ausholen. Zunächst muss das Vergangene akzeptiert werden. Um in der neuen Zeit aufzugehen, muss eine Erfahrung, also etwas Altes, in deinem Bewusstsein einsortiert werden: als etwas, das geschehen ist. Und genau dieser Umstand der Zeit muss akzeptiert werden.«