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Best of Edgar Allan Poe Meistererzählungen Band 34: Der entwendete Brief
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Seitenzahl: 33
LUNATA
Der entwendete Brief
© 1844 Edgar Allan Poe
Originaltitel The Purloined Letter
Aus dem Englischen von Gisela Etzel
Umschlagbild Frédéric Théodore Lix
© Lunata Berlin 2021
ISBN 9783753427751
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt
Der entwendete Brief
Nil sapientiae odiosus acumine nimio.
Seneca
Es war in Paris an einem stürmischen Herbstabend des Jahres 18 . . Ich saß im dritten Stockwerk des Hauses Nr. 33 der Rue Donot, Faubourg St. Germain, in dem nach hinten gelegenen Bibliothekzimmerchen bei meinem Freund August Dupin und gab mich dem zwiefachen Genuß des Nachdenkens und einer Meerschaumpfeife hin. Seit mindestens einer Stunde hatten wir beide kein Wort gesprochen. Ein zufälliger Beobachter hätte sicherlich geglaubt, wir seien einzig und allein damit beschäftigt, die kräuselnden Rauchwolken zu verfolgen, die in dichten Schwaden das Zimmer füllten. Indessen, was mich betraf, so sann ich dem Gesprächsstoff nach, mit dem wir uns zu einer früheren Stunde desselben Abends eifrig befaßt hatten; ich meine die Affäre aus der Rue Morgue und den geheimnisvollen Mordfall der Marie Rogêt. Es erschien mir daher als ein wunderbares Zusammentreffen, daß sich die Tür unseres Zimmers plötzlich öffnete und unser alter Bekannter, Herr G., der Polizeipräfekt von Paris, eintrat.
Wir begrüßten ihn herzlich; denn wenn wir den Mann auch nicht eben achteten, so war er andrerseits doch unterhaltend, und wir hatten ihn seit Jahren nicht gesehen. Wir hatten im Dunkeln gesessen, und Dupin erhob sich nun, um die Lampe anzuzünden; er unterließ es jedoch, und setzte sich wieder, als G. sagte, er sei gekommen, uns um Rat zu fragen oder vielmehr die Meinung meines Freundes zu hören in einer Amtsangelegenheit, die ihm schon viel Beschwer gemacht habe.
»Wenn es eine Sache ist, die Nachdenken erfordert«, bemerkte Dupin, indem er mit Anzünden des Dochtes innehielt, »so ist es besser, wir prüfen sie im Dunkeln.«
»Wieder so eine Ihrer sonderbaren Ansichten!« sagte der Präfekt, der alles »sonderbar« nannte, was über sein Begriffsvermögen hinausging, und sich daher von einer Legion von »Sonderbarkeiten« umgeben sah.
»Sehr wahr«, sagte Dupin, während er seinem Besuch eine Pfeife reichte und einen bequemen Sessel hinschob.
»Und um was für Schwierigkeiten handelt es sich diesmal?« fragte ich. »Hoffentlich nicht wieder eine Mordgeschichte?«
»O nein; nichts dergleichen. In der Tat – die Sache ist an sich sehr einfach, und ich bezweifle nicht, daß wir ganz gut allein damit fertig werden könnten; aber dann dachte ich, der Fall würde Dupin interessieren, denn er ist höchst sonderbar.«
»Einfach und sonderbar!« sagte Dupin.
»Nun ja; und doch wieder keins von beiden. Es hat uns nur alle so verwirrt, daß die Geschichte so einfach ist und man ihr doch nicht beikommen kann.«
»Vielleicht ist es gerade die Einfachheit der Sache, die Sie irreleitet, mein Freund.«
»Was für Unsinn Sie reden!« erwiderte der Präfekt lachend.
»Vielleicht ist das Geheimnis ein wenig zu klar«, sagte Dupin.
»O Himmel! Welche verrückte Idee!«
»Ein wenig zu durchsichtig.«
»Ha, ha, ha! – Ha, ha, ha! – Ho, ho, ho!« brüllte unser Besuch aufs höchste belustigt. »O Dupin, Sie werden noch an meinem Tod schuld sein.«
»Was für eine Sache ist es denn nun aber eigentlich?« fragte ich.
»Schön, Sie sollen es hören«, erwiderte der Präfekt und tat einen langen kräftigen und nachdenklichen Zug aus der Pfeife; dann rückte er sich im Stuhl zurecht und begann: »Ich will es Ihnen in kurzen Worten sagen; doch ehe ich anfange, muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Sache tiefstes Geheimnis ist und größte Diskretion verlangt und daß ich höchstwahrscheinlich meinen Posten verlieren würde, wenn es herauskäme, daß ich sie jemand erzählt habe.«
»Fahren Sie fort«, sagte ich.
»Oder auch nicht«, sagte Dupin.
»Also gut; ich wurde von sehr hoher Stelle benachrichtigt, daß ein Dokument von höchster Wichtigkeit aus den königlichen Gemächern entwendet worden sei. Die Person, die den Diebstahl ausführte, kennt man; das steht fest, denn sie wurde bei der Tat beobachtet. Man weiß ferner, daß sie noch im Besitz des Dokumentes ist.«
»Woher weiß man das?« fragte Dupin.