Der Erlöser - J. R. Ward - E-Book

Der Erlöser E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Einst verlor der mächtige Vampirkrieger Murhder seine große Liebe – und darüber den Verstand. Den BLACK DAGGER blieb damals nichts anderes übrig, als ihn aus der Bruderschaft zu verstoßen. Nach Jahren des Exils und der Einsamkeit kehrt Murhder nun nach Caldwell zurück, um das begangene Unrecht wiedergutzumachen. Als er der schönen Wissenschaftlerin Sarah Watkins begegnet, schöpft er neue Hoffnung. Gibt es vielleicht sogar für ihn eine zweite Chance – in der Liebe und in der Bruderschaft? Doch Sarah ist einem schrecklichen Geheimnis auf der Spur. Einem Geheimnis, das Murhder erneut in den Abgrund reißen könnte ...

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Das Buch

Angesichts eines grausamen Unrechts verlor der Vampirkrieger Murhder einst seinen Verstand – und seine große Liebe Xhex. Wie ein wildes Tier streifte er daraufhin durch die Nacht und machte keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind. Den BLACK DAGGER blieb damals nichts anderes übrig, als Muhrder zu verstoßen – etwas, das es in der jahrtausendealten Tradition der Bruderschaft noch nie gegeben hatte. Nun, nach Jahren des Exils und der Einsamkeit, ist Murhder nach Caldwell zurückgekommen, um das begangene Unrecht wiedergutzumachen. Als er bei seiner Rückkehr allerdings feststellen muss, dass Xhex inzwischen mit John Matthew verbunden ist und dass ihn die Brüder nicht gerade mit offenen Armen empfangen, beschließt Murhder, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber dann begegnet er der schönen Wissenschaftlerin Sarah Watkins und schöpft neue Hoffnung. Gibt es vielleicht sogar für ihn eine zweite Chance – in der Liebe und in der Bruderschaft? Doch Sarah ist einem schrecklichen Geheimnis auf der Spur. Einem Geheimnis, das Murhder erneut in den Abgrund reißen könnte ...

Die Au­torin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die ­amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden ­Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

J. R. Ward

Der Erlöser

Ein Black dagger-Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

THE SAVIOR

Aus dem Amerikanischen

von Dorothee Witzemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2019 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Autorenfoto © by John Rott

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23979-4V003

www.heyne.de

Gewidmet:

Dir. Wir sind wieder da, du und ich. Es ist wunderschön, zu Hause zu sein.

Danksagung

Vielen, vielen Dank an die Leser der Black Dagger! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Lauren McKenna, Jennifer Bergstrom und allen bei Gallery Books und Simon&Schuster.

Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Und wie immer tue ich alles, was ich tue, aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.

Ach ja, und danke an Naamah, meinen WriterAssistant Nummer zwei. Sie arbeitet genauso hart an meinen Büchern wie ich!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs-­ und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft derLesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder dem Abhandenkommen eines Fahrzeugs oder anderen motorisierten Transportmitteln führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

 Trahyner – Respekts­- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Eliahu Rathboone House, Sharing Cross, South Carolina

»Ich bring sie um, ich schwör’s.«

Rick Springfield – nein, nicht der Sänger, aber hätten sich seine Eltern bitte ein bisschen mehr Mühe geben können? – setzte sich auf dem Queen-Size-Bett auf und rollte die aktuelle Vanity Fair zu einer Schlagwaffe zusammen. Gut, dass der Großteil der Werbung heutzutage im Internet stattfand und Zeitschriften dafür immer dünner wurden, denn so ergaben die spärlichen Seiten eine kompakte Rolle.

»Können wir die Fledermaus nicht einfach durch ein Fenster rauslassen?«

Dieser hilfreiche Vorschlag kam von dem »Jessie’s Girl«, das er beeindrucken wollte – ihr Name war Amy Hongkao –, und bisher war das gemeinsame Wochenende gut gelaufen. Sie hatten sich beide den halben Tag freigenommen und Philly am Freitagmittag verlassen. Auf den Straßen war nicht allzu viel los gewesen. Sie waren gegen acht im Eliahu Rathboone B&B angekommen, in das Bett gefallen, auf dem er momentan zu balancieren versuchte, und hatten am nächsten Morgen dreimal Sex gehabt.

Jetzt war es Samstagabend, sie wollten morgen am frühen Nachmittag aufbrechen, vorausgesetzt, es gab keine Schneestürme an der Küste …

Die Fledermaus kam auf seinen Kopf zugeschossen und flog wie eine Motte, ein einziges wirres Flattern mit der Flugbahn eines Betrunkenen. Rick rief sich die Baseballkünste des berühmten Pee Wee Reese aus seiner Kindheit in Erinnerung, stellte sich breitbeinig hin, hob den Vanity-Fair-Schläger und zog kräftig durch.

Die verdammte Fledermaus schnellte aus dem Weg, aber seine Arme bewegten sich ziellos weiter, und die Schwerkraft tat ihr Übriges. Das Ganze wurde zu einem Fall fürs Handbuch der Gehirnerschütterungen.

»Rick!«

Amy fing ihn ab, indem sie sich seitlich gegen seinen Oberschenkel stemmte, und er streckte die Hand nach dem nächstbesten stabilen Gegenstand aus, an dem er Halt fand – nach ihrem Kopf. Als sich seine schweißnasse Hand in ihre Haare grub, waren Flüche zu hören. Von ihm und von ihr.

Die Fledermaus kam zurück und stieß im Sturzflug auf sie beide nieder, ganz nach dem Motto »Na, wie gefällt dir das?« In einem Anfall von Männlichkeit kreischte Rick auf, wich zurück und warf dabei eine Lampe um. Als sie zersprang, wurde es fast völlig dunkel im Raum. Lediglich ein Streifen Licht unter der Tür bot dem Auge etwas, woran es sich festhalten konnte.

Das war’s, Rick ging zu Boden. Er fiel ausgebreitet wie eine Daunendecke aufs Bett und zog Amy mit sich. In­einander verkeilt lagen sie schwer keuchend auf der ­Ma­tratze, auch wenn nichts Romantisches an dieser Umarmung war.

Nope. Das war eine Aerobic-Übung zu diesem altmodischen Song »I Will Survive«.

»Sie muss durch den Kamin reingekommen sein«, sagte er. »Übertragen die nicht die Tollwut?«

Über ihnen hörte man wieder den Typen aus Zimmer 214 seine Kreise drehen. Und das ganze Geflatter und Gequieke war überraschend Furcht einflößend, wenn man bedachte, dass das Vieh wahrscheinlich nicht mehr wog als eine Scheibe Brot. Die Dunkelheit verlieh dem Ganzen aber etwas von einer steinzeitlichen Todes­gefahr: Auch wenn seine männliche Seite das Problem lösen und ein Held sein wollte – damit er vor der Frau, die er erst vor Kurzem kennengelernt hatte, möglichst gut dastand –, verlangte seine Angst, dass er diese Katastrophe auf jemand anderen abwälzte.

Bevor ihr erster gemeinsamer Wochenendtrip als Story viral ging, von wegen, dass man sich vor Fledermäusen hüten sollte, weil man sonst vierzehn Tage im Krankenhaus verbrachte.

»Das ist doch lächerlich.« Amys minzfrischer Atem strich über sein Gesicht, und ihr Körper fühlte sich gut an, auch wenn sie in ernster Gefahr waren. »Wir rennen einfach zur Tür und gehen nach unten zur Rezeption. Das kann nicht das erste Mal sein, dass so was passiert, und es ist schließlich nicht Dracula …«

Im selben Moment schwang die Tür auf.

Kein Klopfen. Keinerlei Knarzen der Türangeln. Kein klarer Hinweis darauf, wie sie aufgegangen war. Denn draußen stand niemand.

Das Licht aus dem Flur tauchte ins Zimmer ein wie eine rettende Hand ins Wasser, um einen Ertrinkenden zu bergen, doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Wie aus dem Nichts materialisierte sich eine langhaarige, männliche Gestalt, und eine gigantische Silhouette schob sich vor das Licht, die Schultern so massig wie die eines Schwergewichtboxers, die Arme lang und muskulös, die Beine massiv wie Stahlträger. Im Gegenlicht konnte man ihr Gesicht nicht erkennen, aber Rick war froh darum.

Denn alles an der Erscheinung, ihre Größe und der Geruch in der Luft – nach Aftershave, aber keinem billigen –, sagte ihm, dass das ein Traum sein musste.

Oder ein Albtraum.

Die Gestalt hob die Hand – zumindest sah es so aus. Vielleicht zog sie einen Dolch aus einem Brustholster?

Einen Moment lang passierte nichts. Dann streckte sie den Zeigefinger aus.

Entgegen aller Wahrscheinlichkeit und Logik kam die Fledermaus zu ihr, als sei sie zu ihrem Herrn gerufen worden, und als die geflügelte Kreatur wie ein Vogel landete, drang eine tiefe Stimme mit Akzent in Ricks Gehirn, als würde sie nicht durch seine Ohren, sondern durch seinen Stirnlappen in seinen Schädel gepresst.

Ich mag es nicht, wenn auf meinem Grundstück getötet wird, und er ist mir hier willkommener als ihr.

Etwas tropfte von diesem Finger. Etwas Rotes und Furchterregendes. Blut.

Die Gestalt verschwand auf dieselbe Art, wie sie gekommen war, mit der schlagartigen Geschwindigkeit eines panisch rasenden Herzens. Und jetzt, wo das Licht aus dem Flur nicht mehr von der Gestalt verdeckt wurde, beleuchtete der angenehme Streifen Helligkeit den gemusterten Teppich des Fremdenzimmers, die Unordnung in ihren offen stehenden Koffern und die antike Kommode, die Amy bei ihrer Ankunft so sehr bewundert hatte.

So gewöhnlich, so unspektakulär.

Nur dass sich die Tür nun von selbst wieder schloss.

Als hätte sie jemand mittels Willenskraft bewegt.

»Was war das?«, fragte Amy kleinlaut. »Träume ich?«

Über ihnen überquerten Schritte, schwer und langsam, die Bodendielen des Dachbodens. Der eigentlich unbewohnt war.

Noch eine Erinnerung aus seiner Kindheit, und zwar nicht die vom Stadtpark mit seinem Kinder-Baseballfeld und der gestreiften Mini-Yankees-Uniform, die er mit Stolz getragen hatte. Es war eine Erinnerung an das Farmhaus seiner Großmutter mit den knarrenden Treppenstufen und dem Flur im ersten Stock, bei dem sich ihm jedes Mal die Nackenhaare sträubten – denn er führte zu dem hinteren Schlafzimmer, in dem dieses Mädchen an Tuberkulose gestorben war.

Das Röcheln.

Der pfeifende Atem.

Leises Weinen.

Von diesen Geräuschen war er jede Nacht um Punkt zwei Uhr neununddreißig aufgewacht. Und jedes Mal, wenn er von dem geisterhaften Keuchen geweckt worden war, war er sich, wenn er hochgeschreckt dasaß, obwohl das Ringen nach Luft in seinen Ohren und in seinen Gedanken war, einer Verdichtung in der Stille bewusst, die wie ein schwarzes Loch die Echos der Vergangenheit verzehrte und drohte, ihn durch ihre Schwerkraft ebenfalls zu verschlucken, sodass keine Spur seines jüngeren Ichs zurückblieb, nur ein leeres Bett mit einer warmen Stelle, wo sein lebender Körper einst gelegen hatte.

Rick hatte mit der glasklaren Überzeugung des kindlichen Selbsterhaltungstriebs immer gewusst, dass die Stille, diese entsetzliche Ruhe, für den Geist des kleinen Mädchens den Moment des Todes darstellte, der Schlusspunkt eines endlosen, qualvollen Kreislaufs, den sie jede Nacht genau zu dieser Stunde noch einmal durchlebte; ihr Wille verlor den Kampf, als ihr Körper versagte, ihr langes Hinabgleiten ins Grab war vorbei, ihr Ende kam nicht mit einem Wimmern, sondern mit einer schauderhaften Abwesenheit von Lauten, der Abwesenheit jeglichen Lebens.

Eine unheimliche Erfahrung für den Neunjährigen, der er damals gewesen war.

Als Erwachsener hatte er sich nie wieder auch nur annähernd so verstört oder ängstlich gefühlt. Doch das Leben hatte so seine eigene Art, Speziallieferungen an der emotionalen Adresse abzugeben, und leider konnte man die Annahme nicht verweigern, man musste unterschreiben und sie entgegennehmen.

Die Vergangenheit war so endgültig, wie die Zukunft immer nur hypothetisch war, zwei Enden eines Spek­trums, in dem das eine Beton war und das andere Luft, und das unmittelbare Jetzt, der aktuelle Moment, war der Fixpunkt, an dem das Gewicht des Lebens hin und her schwang.

»Ist das ein Traum?«, fragte Amy noch einmal.

Als er seine Sprache wiedergefunden hatte, flüsterte Rick: »Das will ich lieber nicht so genau wissen.«

Oben auf dem Dachboden des alten Herrenhauses nahm Murhder wieder Gestalt an und ging zu einer der Dachgauben. Als Vampir sah er es als kollegiale Aufmerksamkeit, dass er die Fledermaus gerettet hatte, die jetzt das Blut aufleckte, das aus seinem Zeigefinger quoll, und die Bedeutung der Rettung, die ihr gerade zuteilgeworden war, nicht erahnen konnte.

Vorausgesetzt, man richtete sich nach der menschlichen Mythologie.

In Wahrheit hatten sie nicht viel gemeinsam. Vampire brauchten das Blut eines Angehörigen des anderen Geschlechts, um bei optimaler Kraft und Gesundheit zu bleiben – eine Nahrung, die er seit vielen Jahren nicht gehabt hatte, und ein Bedürfnis, das er aus geringeren Quellen hatte speisen müssen. Die meisten Fledermäuse dagegen ernährten sich von Insekten, auch wenn dieses kleine Kerlchen nun eindeutig eine Ausnahme machte, indem er das ihm angebotene Blut aufleckte. Die beiden Spezies waren so verschieden wie Hund und Katze, auch wenn der Homo sapiens sie durch verschiedenste Geschichten, Bücher, Filme, Serien und so weiter miteinander verknüpft hatte.

Er öffnete einen Flügel des Rundbogenfensters, streckte den Arm hinaus und schüttelte die Fledermaus ab; die Kreatur flog in die Nacht davon und kreuzte dabei vor der leuchtenden Fläche des Mondes.

Als er das Eliahu Rathboone B&B ungefähr anderthalb Jahrhunderte zuvor seinem vorherigen Besitzer abgekauft hatte, war sein Plan gewesen, seinen Lebensabend hier allein zu verbringen. So war es nicht gekommen. Zwanzig Jahre zuvor hatte er zwar noch immer in der Blüte seines Lebens gestanden, war aber wegen seines Zusammenbruchs in den Fängen des Wahnsinns gelandet. Ausgebrannt und wie von Sinnen war er durch die leeren Räume gewandelt, in der Hoffnung, sein Geist würde diesem Beispiel folgen und sich von den Bildern befreien, die seine Gedächtnisspeicher verstopften und seine Seele töteten.

Fehlanzeige. Also, zum Thema Alleinsein. Zu dem Haus hatte Personal gehört, das Arbeit brauchte, und wiederkehrende Gäste, die jedes Jahr dasselbe Zimmer für ihren Hochzeitstag wollten, außerdem Buchungen für Hochzeiten, die schon Monate im Voraus gemacht worden waren.

In einer früheren Inkarnation hätte er sie alle rausgeschmissen. Nach allem, was passiert war, hatte er jedoch nicht mehr gewusst, wer er war. Seine Persönlichkeit, sein Charakter, seine Seele waren durch eine Feuerprobe gegangen und hatten versagt. Mit dem Ergebnis, dass sein Überbau zusammengebrochen war, das Gebäude eingestürzt, sein einst starker und entschlossener Charakter in Schutt und Asche gelegt.

Also hatte er die Menschen weiterhin herkommen und in seiner Nähe arbeiten, schlafen, essen, streiten, Liebe machen und leben lassen. So etwas tat man nur, wenn man verloren war in der Welt, ein Akt der Verzweiflung, der uncharakteristisch für ihn war, getrieben von dem Gedanken: »Vielleicht hält mich das auf dem Planeten fest.« Die Erdanziehungskraft schien jedenfalls nicht mehr allzu viel Interesse an ihm zu haben.

Gütige Jungfrau der Schrift, es hatte eine schreckliche Leichtigkeit, verrückt zu sein. Sich wie ein Ballon an einer Schnur zu fühlen, keinen Boden unter den Füßen, nur eine dünne Leine, die einen an die Realität bindet, der man beinahe entschlüpft wäre.

Er schloss das Fenster und ging zu dem Brett auf zwei Tischböcken hinüber, seinem behelfsmäßigen Schreibtisch, an dem er so viele Stunden verbrachte. Kein Computer stand auf der alten, zerfurchten Oberfläche, kein Telefon oder Handy, kein iPad oder Flachbildfernseher. Nur ein Kerzenständer mit einer brennenden Bienenwachskerze, drei Briefe und ein flacher Umschlag, auf dem FedEx stand, fanden sich darauf.

Murhder setzte sich auf den alten Holzstuhl; die Stuhlbeine protestierten knarrend unter seinem Gewicht.

Aus den Falten seines schwarzen Hemdes zog er seinen Talisman. Die Scherbe aus heiligem Glas, mit schwarzen Seidenbändern umwickelt, fühlte sich zwischen Daumen und Zeigefinger vertraut an, beruhigend. Doch es war mehr als ein Schmuckstück.

An seiner langen Seidenschnur konnte er es so weit von sich halten, dass er das Glas sehen konnte, und im Moment starrte er in seine durchsichtige Fläche.

Vor ungefähr dreißig Jahren hatte er diese Scherbe, ein Teil von einer Glaskugel, aus dem Tempel der Schreiberinnen gestohlen. Absolut verboten. Er hatte es niemandem erzählt. Die Bruderschaft war zum Heiligtum der Jungfrau der Schrift gegangen, wo ihre Auserwählten abgesondert wurden, um zu verteidigen, was für Eindringlinge ihrer Spezies eigentlich unantastbar sein sollte. Der Primal, der männliche Vampir, der den heiligen weiblichen diente, um für neue Generationen der Bruderschaft und der Auserwählten zu sorgen, war abgeschlachtet worden, und die Schatzkammer mit ihren unschätzbaren Reichtümern war gerade im Begriff, geplündert zu werden.

Wie bei den meisten Straftaten war es um unrechtmäßig erworbenen finanziellen Gewinn gegangen.

Murhder hatte einen der Plünderer in den Tempel der Schrift verfolgt, und im darauffolgenden Kampf waren mehrere der Tische, an denen die Auserwählten in die Kristallkugeln schauten und notierten, was unten auf der Erde vor sich ging, zu Bruch gegangen. Nachdem er den Verbrecher getötet hatte, war er zwischen den Trümmern der ursprünglich ordentlichen Reihen von Tischen und Stühlen gestanden und hätte am liebsten geweint.

Das Heiligtum hätte nie entweiht werden dürfen, und er betete, dass keine Auserwählte verletzt worden war – oder Schlimmeres.

Er war gerade dabei gewesen, den Leichnam auf den Rasen hinauszuschleppen, als etwas aufblitzte und ihm ins Auge fiel. Das Heiligtum lag auf der anderen Seite und besaß keine erkennbare Lichtquelle, nur ein Glühen am milchweißen Himmel, also wusste er nicht recht, was diese Reflexion verursacht haben könnte.

Und dann passierte es wieder.

Er hatte sich einen Weg durch Schutt und Blutlachen gebahnt und dann über der Glasscherbe gestanden. Sie war knappe zehn Zentimeter lang und breit gewesen, hatte die Form einer Raute gehabt und auf ihn gewirkt wie ein toter Krieger auf einem Schlachtfeld.

Das Ding hatte zum dritten Mal aufgeleuchtet, ein Aufblitzen aus dem Nichts.

Als wollte es mit ihm kommunizieren.

Murhder hatte es in die Tasche seiner Kampfweste gesteckt und nicht mehr an die Scherbe gedacht. Das geschah erst drei Nächte später. Er war auf der Suche nach einem verschwundenen Messer seine Ausrüstung durchgegangen, als er sie wiederfand.

Da hatte das heilige Glas ihm das Gesicht der schönen Frau gezeigt.

Das hatte ihn so schockiert, dass ihm die Scherbe aus den Fingern glitt und er sich schnitt, als er sie auffangen wollte.

Als er das Ding wieder aufhob, hatte das Blut das Por­trät rot gefärbt. Doch sie war wirklich da – und ihr Anblick schnitt ihm ein Stück aus dem Herzen. Sie hatte Angst, ihre großen, furchtsamen Augen waren so weit aufgerissen, dass man das Weiße sehen konnte, der Mund stand vor Entsetzen offen, die Haut spannte sich straff über ihre Gesichtszüge.

Die Vision ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren und drang prompt in seine Albträume ein. War sie eine Auserwählte, die beim Überfall auf das Heiligtum verletzt worden war? Oder eine andere Vampirin, der er noch helfen konnte?

Jahre später hatte er erfahren, wer sie war. Und sie zu enttäuschen war der letzte Schlag gewesen, der ihn seine geistige Gesundheit gekostet hatte.

Er steckte die heilige Scherbe wieder unter sein Hemd, dann fiel sein Blick auf den FedEx-Umschlag. Die Dokumente darin waren bereits von ihm unterschrieben, das Erbe, das ihm ein Verwandter hinterlassen hatte, an den er sich nur schemenhaft erinnerte, war abgelehnt und an den Nächsten in der Blutlinie weitergereicht: auch so jemand, den er nur flüchtig kannte.

Wrath, der große Blinde König, hatte verlangt, dass das Erbe geregelt wurde. Und Murhder hatte diesen königlichen Befehl als Vorwand benutzt, um eine Audienz bei ihm zu bekommen.

Es ging um die drei Briefe.

Er zog sie näher zu sich heran. Die Schrift auf den Umschlägen war mit richtiger Tinte geschrieben, nicht mit dem Zeug, das aus den heutigen Schreibgeräten kam. Die Buchstaben waren ungleichförmig, anscheinend mit zittriger, schwacher Hand geschrieben.

Eliahu Rathboone

Eliahu Rathboone House

Sharing Cross,

South Carolina

Kein Straßenname. Keine Postleitzahl. Aber Sharing Cross war eine kleine Stadt, und alle wussten, wo das Bed&Breakfast zu finden war. Auch der Postvorsteher, der außerdem der Briefträger und der Bürgermeister war – und genau wusste, dass sich die Leute manchmal einen Spaß aus der Kommunikation mit einer toten historischen Gestalt machten.

Murhder war genau genommen nicht Eliahu Rathboone. Er hatte aber ein altes Porträt von sich selbst in der Eingangshalle aufgehängt, um das Haus zu seinem zu machen, und das hatte zu der falschen Zuordnung geführt. Die Leute »sahen« den Geist von Eliahu Rathboone ab und zu auf dem Grundstück und im Haus, und in der modernen Zeit hatten diese Berichte einer langhaarigen Schattengestalt zunächst Amateur-Geisterjäger und dann die Profis auf den Plan gerufen, die kamen, weil sie auf Filmmaterial hofften.

Jemand hatte sogar irgendwann ein kleines Schild unten am Rahmen angebracht, auf dem »Eliahu Rathboone« und sein Geburts- und Todestag standen.

Die Tatsache, dass er dem Menschen, der das Haus vor Jahrhunderten gebaut hatte, nur flüchtig ähnlich sah, schien niemanden zu interessieren. Dank des Internets konnte man sich körnige Bilder von antiken Bleistiftzeichnungen des echten Rathboone anschauen, aber abgesehen davon, dass sie beide lange, dunkle Haare besaßen, hatten sie wenig gemeinsam. Das störte die Leute, die es dennoch glauben wollten, aber nicht. Sie fühlten, dass er der erste Besitzer des Hauses war, deshalb war er der erste Besitzer des Hauses.

Menschen waren große Anhänger des magischen Denkens, und er ließ sie gern in ihrem eigenen Aberwitz schmoren. Wer war er, über sie zu richten? Er war verrückt. Und es war gut fürs Geschäft – weshalb die Angestellten die Gäste ebenfalls in dem Glauben ließen.

Die Verfasserin des Briefes kannte jedoch die Wahrheit. Sie wusste vieles.

Sie musste das B&B im Fernsehen gesehen und die Verbindung hergestellt haben.

Den ersten Brief hatte er ignoriert. Der zweite hatte ihn mit Einzelheiten verunsichert, die nur er selbst kennen konnte. Der dritte hatte ihn zum Handeln gezwungen, auch wenn er nicht sofort gewusst hatte, wie er vorgehen sollte. Und da war der Rechtsbeistand des Königs mit der Nachricht über das Erbe gekommen, und Murhder hatte entschieden, was zu tun war.

Er würde den König um Hilfe bitten. Ihm blieb keine Wahl.

In einem der unteren Stockwerke, auf dem Treppenabsatz der Haupttreppe, schlug die Standuhr neun. Bald würde es Zeit sein, dorthin zurückzukehren, von wo er geflohen war, um die wiederzusehen, deren Anblick er sich gern erspart hätte. Für kurze Zeit wieder in das Leben einzutreten, das er verlassen hatte, unter Eid, niemals wieder dorthin zurückzukehren.

Wrath, Sohn des Wrath. Die Bruderschaft der Black Dagger. Und der Krieg gegen die Gesellschaft der Lesser.

Auch wenn Letzteres nicht mehr sein Problem war. Die anderen beiden eigentlich auch nicht. In den illustren und uralten Annalen der Bruderschaft war er als der Einzige verschrien, der je ausgeschlossen wurde.

Nein, Moment … der Bloodletter war ebenfalls verbannt worden. Nur nicht dafür, dass er den Verstand verloren hatte.

Er hatte sich keinen Grund vorstellen können, warum er je wieder mit diesen Kämpfern oder diesem König zu tun haben sollte.

Doch dies war sein Schicksal. So hatte es ihm die heilige Scherbe offenbart.

Diese Vampirin erwartete, dass er ihr gegenüber endlich das Richtige tat.

Tatsächlich hatte er sich in seinem Leben oft schuldig gemacht, viele seiner Taten hatten andere verletzt, ihnen Schmerz zugefügt, sie verkrüppelt, getötet. Ein Kämpfer war er einst gewesen, ein Mörder für eine Sache, die im Prinzip edel gewesen war, in der Ausführung aber blutrünstig. Das Schicksal hatte jedoch einen Weg gefunden, ihn für all das, was er getan hatte, zur Rechenschaft zu ziehen, und auch jetzt drückte das Gewicht dieser Last ihn gnadenlos nieder.

Plötzlich hatte er wieder das Bild einer Vampirin vor sich, ein starker Körper, ein unbeugsamer Wille, mit kurzen Haaren und funkelnden, metallisch grauen Augen sah sie ihn mit nüchterner Direktheit an.

Es war nicht die aus der Glasscherbe.

Er sah Xhex oft in seinem gebrochenen Geist, Visionen von ihr, Erinnerungen sowohl an sie beide als auch an alles, was später passiert war, der einzige Kanal, auf den sein mentaler Bildempfänger eingestellt war. Er begab sich zögernd in den Dunstkreis der Bruderschaft zurück, aber ein Wiedersehen mit der Vampirin würde seinen kaputten Verstand vollends zerstören, da war er sich ziemlich sicher. Wenigstens musste er sich keine Sorgen machen, dass er ihr über den Weg lief. Seine ehemalige Geliebte war ihr ganzes Leben lang ein einsamer Wolf gewesen, und diese Eigenschaft gehörte wie ihre metallische Augenfarbe zu ihr, weshalb er keine Bedenken haben musste, dass sie sich womöglich mit jemandem zusammenfand.

Das tat man, wenn man ein Symphath war, der unter Vampiren lebte: Man hielt diesen Teil des eigenen Wesens vor allen verborgen, indem man sich anderen so weit wie möglich entzog.

Selbst wenn es um die Vampire ging, mit denen man schlief. Die glaubten, einen zu kennen. Die törichterweise in die Symphathenkolonie rannten, um einen aus der Gefangenschaft zu befreien – nur um dort zu erfahren, dass man gar nicht entführt worden war.

Man hatte nur seine verfluchte Familie besucht.

Diese edelmütige Tat seinerseits, verwurzelt in seinem Bedürfnis, sich als Retter zu gerieren, war der Beginn ihrer beider Albtraum gewesen. Seine Entscheidung, sie zu suchen, hatte den Kurs ihrer beider Leben nachhaltig verändert, denn sie hatte ihre wahre Natur vor ihm geheim gehalten.

Und nun … weitere Nachwirkungen, unerwartet und unbestreitbar, waren über ihn hereingebrochen. Wenigstens würden sie aber letztendlich vielleicht zu einer Lösung führen, die er mit so etwas wie Frieden mit ins Grab nehmen konnte.

Murhder fächerte die Briefe auf. Eins, zwei, drei. Erster, zweiter, dritter.

Er war dieser Aufgabe nicht gewachsen.

Und so, wie er tief in seinem Inneren wusste, dass er diese Pilgerschaft nicht verkraften würde, war er sich bewusst, dass es keine Rückkehr von der Reise geben würde. Dennoch war es an der Zeit, alldem ein Ende zu setzen. Als er ursprünglich hierhergekommen war, hatte er einen Rest Hoffnung gehabt, dass er mit der Zeit vielleicht wieder in seinen Körper zurückfinden würde, wieder darin wohnen, seine Bestimmung erneuern und die Verbindung zu der gewöhnlichen Wirklichkeit, in der alle anderen Sterblichen lebten, wiederherstellen würde.

Zwei Jahrzehnte waren lang genug, um abzuwarten, was passierte, und in diesen zwanzig Jahren hatte sich rein gar nichts geändert. Er war noch genauso durch den Wind wie damals, als er angekommen war. Das Mindeste, was er tun konnte, war, sich selbst ein für alle Male aus diesem Elend zu befreien, und das auf die redliche Art.

Seine letzte Tat sollte tugendhaft sein. Für die Frau, die das Schicksal für ihn bestimmt hatte.

Ungefähr so, wie man einen Raum nach der Benutzung sauber hinterließ, würde er, bevor er aus dieser Welt schied, das Chaos wieder in Ordnung bringen, das er unwissentlich ausgelöst hatte. Und danach? Das Nichts.

Er glaubte nicht an den Schleier. Er glaubte an gar nichts.

Außer an das Leiden. Und das würde für ihn bald vorüber sein.

2

Ithaca, New York

»Guten Abend, Ma’am. Ich bin Special Agent Manfred vom FBI. Sind Sie Dr. Watkins?«

Sarah Watkins beugte sich vor und musterte die Marke und den Ausweis, die der Mann hochhielt. Dann warf sie einen Blick über seine Schulter. In ihrer Einfahrt parkte hinter ihrem eigenen Auto ein dunkelgrauer Viertürer.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

»Dann sind Sie also Dr. Watkins.« Als sie nickte, lächelte der Mann und steckte seinen Ausweis weg. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich kurz reinkomme?«

Draußen auf der ruhigen Straße zockelte der neue Honda Accord ihres Nachbarn vorbei. Eric Rothberg, der zwei Häuser weiter wohnte, wurde noch langsamer und winkte.

Sie winkte zurück, um ihn zu beruhigen. Er fuhr weiter. »Worum geht es?«

»Dr. Thomas McCaid. Ich glaube, Sie haben bei RSK BioMed mit ihm zusammengearbeitet.«

Sarah runzelte die Stirn. »Er war einer der Vorgesetzten im Labor. Aber nicht in meiner Abteilung.«

»Kann ich reinkommen?«

»Selbstverständlich.« Während sie einen Schritt zurücktrat, besann sie sich auf ihre Gastgeberinnenpflichten. »Möchten Sie etwas zu trinken? Kaffee vielleicht?«

»Das wäre großartig. Ich habe noch einen langen Abend vor mir.«

Ihr kleines Haus hatte drei Schlafzimmer und stand auf einem nicht besonders großen Grundstück in einer netten, normalen Straße, in der vor allem junge Familien lebten. Vor vier Jahren, als sie es zusammen mit ihrem Verlobten gekauft hatte, war sie davon ausgegangen, dass sie irgendwann selbst dieses Familiending mitmachen würde.

Sie hätte das Haus schon längst verkaufen sollen. »Zur Küche geht’s da lang.«

»Nette Hütte, wohnen Sie allein hier?«

»Ja.« In der grau-weißen Küche deutete sie auf den runden Tisch mit den drei Stühlen. »Ich habe Kapselkaffee. Oder wonach sind Sie süchtig? Oh, Entschuldigung. Unglücklich ausgedrückt.«

Agent Manfred lächelte wieder. »Schon okay. Und ich nehme alles, solange es Koffein enthält.«

Er war einer von diesen gut aussehenden kahlen Typen, irgendwo jenseits der vierzig, der dem beginnenden Haarschwund ins Follikel geschaut und beschlossen hatte, nichts vorzutäuschen, was nicht da war. Er hatte eine Stupsnase, die aber krumm war, als wäre sie ein paarmal gebrochen gewesen, und seine Augen waren strahlend blau. Er trug diese typische dunkle Stoffhose, eine dunkelblaue Windjacke und ein schwarzes Polohemd mit aufgesticktem goldenen FBI-Logo auf der Brust. Der Ehering war einer von diesen titandunkelgrauen und beruhigte sie.

»Also, worum geht es?« Sie öffnete einen Küchenschrank. »Ich weiß, dass Dr. McCaid letzte Woche gestorben ist. Ich habe es im Labor gehört. Es gab eine Mitteilung.«

»Wie war sein Ruf in der Firma?«

»Gut. Nun, er war ein hohes Tier. Schon lange dort. Aber um das noch mal klarzustellen: Ich kannte ihn nicht persönlich.«

»BioMed ist ein großes Unternehmen. Wie lange arbeiten Sie schon dort?«

»Vier Jahre.« Sie füllte den Wassertank der Maschine nach. »Wir haben dieses Haus gekauft, als wir herzogen und bei BioMed anfingen.«

»Genau. Sie und Ihr Verlobter. Wie war sein Name?«

Sarah zögerte, während sie eine Tasse auf das Abtropfgitter stellte. Der Agent lehnte sich auf ihrem Pottery-Barn-Stuhl an dem Pottery-Barn-Tisch zurück, ganz beiläufig. Aber er musterte sie mit seinen blauen Augen, als zeichnete er in seinem Kopf alles auf Video auf.

Er kennt die Antwort auf diese Fragen, dachte sie.

»Sein Name war Gerhard Albrecht«, sagte sie.

»Er war auch Arzt. Bei BioMed.«

»Ja.« Sie drehte sich um und schob eine Kapsel Starbucks Morning Blend in die Maschine. Dann drückte sie den Hebel nach unten, und es zischte und tröpfelte in die Tasse. »War er.«

»Sie haben ihn kennengelernt, als Sie beide am MIT waren.«

»Das stimmt. Wir waren im Harvard-MIT-HST-Programm.« Sie sah sich zu dem Agenten um. »Ich dachte, es ginge um Dr. McCaid?«

»Darauf kommen wir noch. Mich interessiert zunächst Ihr Verlobter.«

Sarah wünschte, sie hätte sich die Höflichkeit mit dem angebotenen Kaffee gespart. »Viel gibt es nicht zu erzählen. Möchten Sie Zucker oder Milch?«

»Nein, danke, schwarz ist perfekt.«

Als das Tröpfeln aufhörte, trug sie den Kaffee hinüber und setzte sich ihm gegenüber. Sie verschränkte unbehaglich die Hände, denn sie kam sich vor, als wäre sie ins Rektorat gerufen worden. Nur dass dieser Rektor mit allen möglichen Anklagen ankommen konnte, und zwar mit solchen, die einem Gefängnis statt Nachsitzen einbrachten.

»Also, erzählen Sie mir von Dr. Albrecht.« Er trank einen Schluck. »Aaah ja, das ist jetzt genau das Richtige.«

Sarah blickte auf ihren eigenen Ringfinger. Hätten sie es bis zur Hochzeit geschafft, würde sie immer noch einen Ehering tragen, auch wenn Gerry seit zwei Jahren tot war. Aber sie hatten das, was sie geplant hatten, um vier Monate verpasst, als er damals im Januar gestorben war. Und auf den Diamanten zur Verlobung hatten sie wegen des Hauskaufs verzichtet.

Als sie den Veranstaltungsort, die Band und die Caterer anrufen musste, um abzusagen, hatten sie ihr alle die Anzahlung rückerstattet, weil sie in den Nachrichten gesehen hatten, was passiert war. Nur das Hochzeitskleid war nicht voll erstattbar gewesen, aber die Leute im Brautmodengeschäft hatten ihr immerhin die zweite Hälfte der Kosten nicht in Rechnung gestellt, als es kam. Sie hatte das Kleid an Goodwill gespendet, und zwar an dem Tag, an dem ihr erster Hochzeitstag gewesen wäre.

Ach, und dann war da noch der Anzug, den sie für Gerry bei Macy’s im Schlussverkauf ergattert hatten. Den hatte sie nicht zurückgeben können, und sie hatte das Ding immer noch im Schrank hängen. Er hatte immer gescherzt, er wolle in einem »Möge die Macht mit dir sein«-Shirt begraben werden.

Sie hatte nicht ahnen können, dass sie diese Bitte so schnell würde einlösen müssen.

Das erste Jahr nach seinem Tod hatte sie alle großen Feiertage durchstehen müssen – seinen Geburtstag, seinen Todestag und diesen nie stattgefundenen Hochzeitstag. Der Kalender war der reinste Hindernislauf gewesen. Und das war heute noch so.

»Ich befürchte, Sie müssen sich ein wenig präziser ausdrücken«, hörte sie sich selbst sagen. »Was genau möchten Sie wissen?«

»Dr. Albrecht hat mit Dr. McCaid zusammengearbeitet, nicht wahr?«

»Ja.« Sie schloss die Augen. »Hat er. Er wurde nach dem Examen in der Abteilung für Infektionskrankheiten eingestellt. Dr. McCaid war sein Vorgesetzter.«

»Aber Sie waren woanders in der Firma.«

»Das ist richtig. Ich arbeite in der Abteilung für Genetik und Zelltherapie. Ich bin auf Krebsimmuntherapie spezialisiert.«

Sie hatte immer den Eindruck gehabt, BioMed habe eigentlich nur Gerry haben wollen und lediglich zugestimmt, sie ebenfalls einzustellen, weil er es zur Bedingung für seine Zusage gemacht hatte. Das hatte er natürlich nie gesagt – und letztendlich war es auch nicht wichtig gewesen. Ihr Arbeitsplatz war mehr als sicher, und akademische Forschungszentren im ganzen Land versuchten regelmäßig, sie abzuwerben. Warum blieb sie also in Ithaca? Das hatte sie sich in letzter Zeit öfter gefragt und war zu dem Schluss gekommen, dass es daran lag, dass BioMed ihre letzte Verbindung zu Gerry war, die letzte Entscheidung, die sie gemeinsam getroffen hatten … das verblassende Trugbild der Zukunft, die sie sich lang, glücklich und erfüllend vorgestellt hatten.

Die sich dann aber ganz anders entwickelt hatte.

In letzter Zeit beschlich sie zusehends das Gefühl, dass ihr Trauerprozess ins Stocken geriet, weil sie immer noch in diesem Haus und bei BioMed war. Sie wusste nur nicht, was sie deswegen unternehmen sollte.

»Meine Mom ist vor neun Jahren an Krebs gestorben.«

Sarah konzentrierte sich wieder auf den Agenten und versuchte, sich zu erinnern, worauf er sich bezog. Ach ja. Ihr Job. »Ich habe meine vor sechzehn Jahren an die Krankheit verloren. Als ich dreizehn war.«

»Sind Sie deshalb in diesem Beruf?«

»Ja. Meine Eltern sind beide an Krebs gestorben. Vater Bauchspeicheldrüse, Mutter Brust. Meine Forschung ist also zumindest ansatzweise dem Selbsterhaltungstrieb geschuldet. Ich entstamme offenbar einem fragwürdigen Genpool.«

»Sie mussten ziemlich viele Verluste durchmachen. Die Eltern, der zukünftige Ehemann.«

Sie betrachtete ihre bis aufs Nagelbett abgekauten Fingernägel. »Trauer ist ein kalter Strom, an den man sich gewöhnt.«

»Trotzdem muss der Tod Ihres Verlobten Sie sehr hart getroffen haben.«

Sarah beugte sich vor und schaute dem Mann in die Augen. »Agent Manfred, warum sind Sie wirklich hier?«

»Ich stelle nur Routinefragen.«

»Laut Ihres Ausweises kommen Sie aus Washington, D.C., nicht von einer Dienststelle in Ithaca. In diesem Haus herrschen vierundzwanzig Grad, weil ich im Winter immer friere, und doch legen Sie Ihre Windjacke nicht ab, während Sie heißen Kaffee trinken. Und Dr. McCaid ist an einem Herzinfarkt gestorben, zumindest sagen das sowohl die Papiere als auch die Mitteilung bei BioMed. Also frage ich mich, warum ein importierter Special Agent aus der Hauptstadt hier verkabelt auftaucht und dieses Gespräch ohne meine Erlaubnis oder mein Wissen aufzeichnet, während er Fragen zu einem Mann stellt, der vermutlich eines natürlichen Todes gestorben ist, und zu meinem Verlobten, der seit zwei Jahren tot ist, Opfer der Diabetes, an der er seit seinem fünften Lebensjahr gelitten hat.«

Der Agent stellte die Tasse ab und stemmte die Ellbogen auf den Tisch. Jetzt lächelte er nicht mehr. Und tat auch nicht mehr so, als plauderten sie nur. Kein Reden um den heißen Brei mehr.

»Ich will alles über die letzten vierundzwanzig Stunden im Leben Ihres Verlobten wissen, vor allem, was passiert ist, nachdem Sie nach Hause kamen und ihn auf dem Boden Ihres Badezimmers fanden. Und dann werden wir sehen, was ich noch von Ihnen brauche.«

Special Agent Manfred ging eine Stunde und sechsundzwanzig Minuten später wieder.

Nachdem Sarah die Haustür geschlossen hatte, schob sie den Riegel vor und trat ans Fenster. Durch die Jalousien sah sie zu, wie der graue Viertürer rückwärts aus der Einfahrt stieß, auf der schneebedeckten Straße in drei Zügen wendete und davonfuhr. Ihr war bewusst, dass sie sichergehen wollte, dass der Mann wirklich verschwand, auch wenn bei den vielen Möglichkeiten, die die Regierung hatte, jede vermeintliche Privatsphäre sicherlich reine Illusion war.

Sie kehrte in die Küche zurück, goss den kalten Kaffee in die Spüle und fragte sich, ob er das Zeug wirklich schwarz trank oder ob er gewusst hatte, dass er nicht viel davon trinken würde, und deshalb weder Zucker noch Milch vergeuden wollte.

Am Ende saß sie wieder an dem Tisch, auf dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, als würde ihr das irgendwie helfen, die Gedanken und das Wissen des Agenten zu erraten. In klassischer Verhörmanier hatte er wenig preisgegeben, sie nur mit Informationshäppchen gefüttert, die bewiesen, dass er den ganzen Hintergrund kannte, dass er sie drankriegen konnte, dass er es merken würde, wenn sie ihn anlog. Abgesehen davon, hatte er seine Gedanken schön für sich behalten.

Alles, was sie ihm gesagt hatte, war die Wahrheit. Gerry war Typ-1-Diabetiker gewesen und ziemlich gut mit seiner Krankheit klargekommen. Er hatte sich regelmäßig getestet und seinen Insulinspiegel überwacht, aber seine Ernährung hätte besser sein können, und seine Mahlzeiten waren unregelmäßig. Sein einziges wirkliches Versagen, wenn man es so bezeichnen konnte, war, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich eine Insulinpumpe zu besorgen. Er machte selten Pausen bei der Arbeit und hatte keine Zeit damit verschwenden wollen, eine »einbauen« zu lassen.

Als wäre sein Körper ein Haus, das eine Klimaanlage brauchte oder so was.

Trotzdem hatte er seinen Blutzuckerspiegel ziemlich gut geregelt. Natürlich hatte es ein paar Zwischenfälle gegeben, und sie hatte ihm ein paarmal helfen müssen, aber im Großen und Ganzen hatte er seine Krankheit im Griff gehabt.

Bis zu dieser einen Nacht vor fast zwei Jahren.

Sarah schloss die Augen und erlebte in der Vorstellung noch einmal, wie sie mit indischem Take-away-­Essen nach Hause gekommen war, die Papiertüten an instabilen Griffen in ihrer linken Hand baumelnd, während sie mit der rechten mit dem Schlüssel und dem Schloss kämpfte. Es hatte geschneit, und sie hatte ihre Last nicht in den Schneewehen abstellen wollen, denn das Knoblauch-­Naan und das Hähnchencurry waren auf der Fahrt durch die Stadt sowieso schon kalt genug geworden. Ihr selbst war eher heiß gewesen, denn sie war vorher in ihrem Spinning-Kurs gewesen, den sie jeden Samstag am späten Nachmittag besuchte, weil sie es während der Woche nie rechtzeitig aus dem Labor schaffte.

Halb sieben. Puh.

Sie erinnerte sich noch, dass sie ihn von unten gerufen hatte. Er war zu Hause geblieben, um zu arbeiten, denn etwas anderes tat er nicht, und auch wenn ihr der Gedanke nicht richtig erschien, jetzt, wo er nicht mehr da war: Seine Fixierung auf dieses Projekt, an dem er mit Dr. McCaid arbeitete, hatte zusehends an ihr gezehrt. Sie konnte diese Hingabe an eine Thematik, an die Wissenschaft, an die Möglichkeit einer Entdeckung, die für sie beide stets greifbar schien, sehr gut nachvollziehen. Aber in ihren Augen hatte das Leben mehr zu bieten als Wochenenden, die sich nicht wesentlich vom Rest der Woche unterschieden.

Während sie in die Küche ging, hatte sie seinen Namen noch einmal gerufen. Sie war genervt gewesen, weil er nicht antwortete. Wütend, weil er sie wahrscheinlich nicht einmal gehört hatte. Traurig, dass sie wieder zu Hause blieben, nicht weil es Winter war in Ithaca, sondern weil sie nichts anderes vorhatten. Keine Freunde. Keine Familie. Keine Hobbys.

Kein Kino. Kein Essengehen.

Kein Händchenhalten.

Eigentlich auch keinen Sex.

In letzter Zeit waren sie zu zwei Menschen mutiert, die gemeinsames Wohneigentum erworben hatten und Wegen folgten, die auf derselben Linie begonnen hatten, sich dann aber geteilt hatten und jetzt nur noch Parallelen ohne Schnittpunkt darstellten.

Es war vier Monate vor der Hochzeit gewesen, und sie wusste noch, dass sie daran dachte, den Termin zu »verschieben«. Sie hätten an diesem Punkt auf die Bremse treten können, die geladenen Gäste hätten ihr Geld für Flugtickets und Hotelreservierungen wiederbekommen. Denn hier in Ithaca hätte die Hochzeit stattgefunden, weil Gerry sich nicht hatte freinehmen wollen, um nach Deutschland zu reisen, wo seine Familie lebte, und weil Sarah ohne Eltern und Geschwister keine Verbindung mehr zu Michigan hatte, wo sie aufgewachsen war.

Als sie die Tüten mit dem Essen auf die Küchenablage stellte, war sie plötzlich wie erstarrt gewesen – und das nur, weil sie dringend eine Dusche brauchte. Das Bad war oben neben dem Schlafzimmer, und um dort hinzukommen, würde sie an seinem Büro vorbei müssen. Das Klappern seiner Tastatur hören. Den Schein der Computermonitore mit den Bildern von Molekülen sehen. Die Kälte des Ausgeschlossenseins spüren, die irgendwie noch eisiger war als das Wetter draußen.

An diesem Abend war sie an eine Grenze gestoßen. Sie konnte nicht mehr. So oft war sie an diesem improvisierten Büro vorbeigegangen, seit sie eingezogen waren. Am Anfang hatte er sich immer über die Schulter umgesehen, wenn sie die Treppe heraufkam, und sie hereingebeten, um ihr etwas zu zeigen, sie etwas zu fragen. Mit der Zeit hatte er das auf ein Hallo über die Schulter reduziert. Und war dann zu einem kurzen Knurren übergegangen. Zuletzt hatte er gar keine Reaktion mehr gezeigt, selbst dann nicht, wenn sie seinen Namen sagte, wenn sie hinter ihm stand.

Irgendwann um Thanksgiving herum war sie nur noch auf Zehenspitzen die Treppe hinaufgeschlichen, um ihn nicht zu stören, auch wenn das lächerlich war, weil er in seiner Konzentration nicht zu stören war. Doch wenn sie kein Geräusch machte, konnte er sie nicht ignorieren, oder? Und sie konnte nicht verletzt und enttäuscht werden.

Nach all den gemeinsamen Jahren durfte es nicht sein, dass sie sich in der ungewollten, unbegreiflichen Lage wiederfand, ihre Beziehung infrage stellen zu müssen.

Auch an diesem Abend, als sie wie erstarrt in der Küche stand, hatte sie sich nicht eingestehen können, wie zutiefst unglücklich sie war … und doch hatte sie es nicht mehr abstreiten können. Und genau dieser Widerspruch hatte sie zwischen ihrem Bedürfnis nach einer heißen Dusche und ihrer Kopf-im-Sand-Haltung im Erdgeschoss verharren lassen.

Denn wenn sie noch einmal an diesem Büro vorbeiging und wieder ignoriert wurde, dann würde sie etwas dazu sagen müssen.

Irgendwann hatte sie sich trotz eines inneren Widerstands gezwungen, die Treppe in Angriff zu nehmen, begleitet vom »Sei nicht dumm«-Rhythmus einer gedanklichen Marschkapelle.

Eine erste Ahnung, dass etwas nicht stimmte, hatte sie beschlichen, als sie den leeren Drehstuhl vor dem Schreibtisch sah. Außerdem war es dunkel im Zimmer, was an und für sich nicht ungewöhnlich war, denn die Computermonitore spendeten ausreichend Licht, um sich in dem spärlich möblierten Raum zurechtzufinden. Aber Gerry verließ seinen Arbeitsplatz nicht allzu oft.

Sie hatte sich eingeredet, dass er wahrscheinlich dem Ruf der Natur gefolgt war, und hatte ihn prompt dafür gehasst: Jetzt würde sie ihn im Badezimmer treffen.

Was es ihr noch schwerer machen würde, ihre Gefühle in die Springteufelkiste zurückzustopfen.

Special Agent Manfred hatte die Todesszene richtig wiedergegeben. Sie hatte ihren Verlobten sitzend an den eingebauten Whirlpool gelehnt gefunden, die Beine ausgestreckt, die Hände auf den Oberschenkeln zu Fäusten geballt, sein Notfall-Armband lose an seinem rechten Handgelenk. Sein Kopf war schlaff zu einer Seite gesunken, neben ihm ein Insulinfläschchen und eine Spritze. Seine Haare oder das, was von den blonden Boris-Becker-Strähnen übrig war, waren durcheinander, wahrscheinlich von einem Krampfanfall, auf sein Dropkick-Murphys-T-Shirt war Speichel getropft.

Sie war zu ihm geeilt.

Hatte sich hingekauert. Gebettelt, gefleht, selbst dann noch, als sie seine Halsschlagader ertastet und unter der erkalteten keinen Puls mehr gefunden hatte.

In diesem Moment des Verlusts hatte sie ihm sämtliche Verfehlungen vergeben, ihre Wut hatte sich aufgelöst, als hätte es sie nie gegeben, ihre Frustration und die Zweifel waren denselben Weg wie seine Lebenskraft gegangen.

In den Himmel. Angenommen, es gab so einen Ort.

Den Notruf wählen. Ankommender Krankenwagen. Bestätigung des Todes.

Man hatte den Leichnam mitgenommen, und an dieser Stelle war alles verschwommen; sie konnte sich nicht erinnern, wer ihn abtransportiert hatte, ob die Sanitäter oder der Leichenbeschauer oder der Bestatter … Ähnlich wie jemand mit einer Kopfverletzung hatte sie keine Erinnerung an diesen Teil und einiges andere. Daran, dass sie seine Eltern angerufen hatte, erinnerte sie sich aber noch genau, und dass sie in dem Moment, als sie die Stimme seiner Mutter gehört hatte, zusammengebrochen war. Weinend. Schluchzend. Das Versprechen seiner Eltern, den nächsten Transatlantikflug zu nehmen, die Gelöbnisse, sie würden stark sein und ihr zur Seite stehen.

Auf ihrer Seite der Familie gab es niemanden, den sie anrufen musste.

Als Todesursache wurde Unterzuckerung festgestellt. Insulinschock.

Gerrys Eltern hatten seinen Leichnam am Ende nach Hamburg mitgenommen, damit er auf dem Familienfriedhof begraben werden konnte, und einfach so war Sarah hier in diesem kleinen Haus in Ithaca zurückgeblieben und hatte nur noch sehr wenig, das sie an ihren Verlobten erinnerte. Gerry hatte nicht viel gebraucht, abgesehen davon hatten seine Eltern den Großteil seiner Sachen mitgenommen. Ach, und BioMed hatte jemanden geschickt, der die Computertürme aus seinem Homeoffice wegschaffte, nur noch die Bildschirme waren übrig geblieben.

Nach seinem Tod hatte sie die Tür zu diesem Raum geschlossen und gute anderthalb Jahre nicht mehr geöffnet. Als sie sich schließlich doch wieder über die Schwelle wagte, waren beim Anblick dieses Schreibtisches und des Stuhls sofort Risse in ihrer Alles-ist-vergeben-Rüstung entstanden, mit der sie sich gewappnet hatte.

Sie hatte alles wieder weggesperrt.

Sich an Gerry anders als an einen guten, hart arbeitenden Mann zu erinnern, hatte sich wie Verrat angefühlt. So erging es ihr auch heute noch.

Sarah war nach dem Tod ihrer Eltern das erste Mal diese Charakter-Neubewertung gegangen. Es gab verschiedene Maßstäbe für die Lebenden und die Toten. Die Lebenden wurden in Abstufungen betrachtet, eine Kombination aus guten und schlechten Eigenschaften, und da es sie sowohl in Farbe als auch dreidimensional gab, konnten sie einen abwechselnd enttäuschen und aufrichten. Wenn jedoch ein geliebter Mensch fort war, verblassten die Enttäuschungen, wie sie festgestellt hatte, und nur die Liebe blieb.

Wenn auch nur durch Willenskraft.

Sich auf etwas anderes als die guten Zeiten zu konzen­trieren, vor allem, wenn es um Gerry ging, fühlte sich einfach vollkommen falsch an – vor allem, weil sie sich selbst die Schuld an seinem Tod gab. Bei ihrem zweiten Date hatte er ihr beigebracht, wie man die Symptome eines Insulinschocks erkannte und ein Glukagon-Kit benutzte. Sie hatte während ihrer Zeit in Cambridge sogar dreimal die Lösung mixen und ihm in den Oberschenkel spritzen müssen: auf der Hochzeit seines Cousins Gunter, als er zu viel getrunken und nichts gegessen hatte. Dann, als er versucht hatte, den Fünf-Kilometer-Lauf mitzumachen. Und schließlich, nachdem er als Vorbereitung auf ein Friendsgiving-Dinner eine große Dosis Insulin genommen und sie auf dem Storrow Drive eine Reifenpanne gehabt hatten.

Hätte sie nicht in der Küche vor dem blöden indischen Essen gestanden und wäre sie nicht so stinksauer auf ihn gewesen, hätte sie ihn dann retten können? Neben dem Spülbecken in der obersten Schublade lag ein Glukagon-­Kit.

Wäre sie direkt zum Duschen nach oben gegangen, hätte sie es dann rechtzeitig benutzen und den Rettungswagen rufen können?

Diese Fragen quälten sie, denn die Antwort lautete stets ja. Ja, sie hätte den Insulinsturz abfangen können. Ja, er würde noch leben. Ja, sie war für seinen Tod verantwortlich, weil sie ihm vorgeworfen hatte, seine Arbeit zu lieben und seine Berufung im Retten von Menschenleben gefunden zu haben.

Sie schlug die Augen wieder auf und schaute zum Küchentresen hinüber. Sie konnte sich erinnern, dass sie, als der Leichnam weg, Polizei und Sanitäter gegangen und der Anruf in Deutschland gemacht waren, sich ermahnt hatte, etwas zu essen, und in die Küche geschlurft war. Die Stille im Haus war so nachhallend gewesen, dass es ihr vorkam, als müssten die Nachbarn die Schreie in ihrem Kopf hören.

Die Küche betreten. Wie angewurzelt stehen bleiben. Die zwei Papiertüten mit völlig kaltem und geronnenem Essen sehen.

Ihr erster Gedanke war, wie dumm es gewesen war, sie nicht kurz in den Schnee stellen zu wollen, um die Tür aufzuschließen. Sie waren sowieso dazu bestimmt gewesen, kalt zu werden.

Genau wie Gerrys einst lebendiger Körper.

Wieder weinen. Zittern. Weiche Knie, die unter ihr nachgaben. Sie war auf dem Boden aufgeschlagen und hatte geweint, bis es an der Tür klingelte.

BioMed-Security. Zwei von ihnen. Sie kamen die Computer abholen.

Sarah kehrte in die Gegenwart zurück, drehte sich um und blickte durch den Türbogen und das Wohnzimmer zur Haustür.

Sie war ehrlich zu Agent Manfred gewesen und hatte ihm die ganze Geschichte erzählt – nun ja, nur ohne die emotionalen Einzelheiten wie das mit dem Anruf bei Gerrys Eltern und ihr Zusammenbruch wegen des kalt gewordenen indischen Essens.

Auch nicht, dass sie sich für seinen Tod verantwortlich fühlte – und das nicht nur, weil sie die intimen Details des Verlustes nicht einem Fremden anvertrauen wollte. Sie hielt es schlicht nicht für ratsam, einem Bundesagenten gegenüber ihren Verdacht, sie könnte eine wenn auch nur passive Rolle bei dieser Sache gespielt haben, auch nur anzudeuten. Schließlich war genau diese Angelegenheit der Grund für sein Kommen und seine Fragen.

Abgesehen von diesen zwei Auslassungen, die beide nichts zur Sache taten, hatte sie nichts über den natürlichen Tod zurückgehalten, der einen Typ-1-Diabetiker auf tragische Weise ereilt hatte, obwohl der seinen Insulinplan zwar sehr wahrscheinlich eingehalten, aber den ganzen Tag nichts gegessen hatte.

Furchtbar tragisch, aber keineswegs ein außergewöhnlicher Tod für jemanden mit Gerrys Krankheit.

Stirnrunzelnd dachte sie über ihre Aussagen gegenüber Manfred nach. Als sie dem Agenten erzählt hatte, was genau in welcher Reihenfolge passiert war, hatte sie Gerrys Tod von Anfang bis Ende noch einmal durchlebt. In den zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sie massenhaft Flashbacks gehabt, doch sie waren durcheinander abgelaufen, ein unendlicher Strom ungeordneter, aufdringlicher Momentaufnahmen, die alle möglichen vorhersehbaren und unvorhersehbaren Auslöser haben konnten.

Doch das heute Abend war die erste komplette Wiederholung des Horrorfilms gewesen.

Und deshalb wunderte sie sich jetzt, obwohl sie unzählige Stunden damit verbracht hatte, über den natürlichen Tod ihres Verlobten nachzugrübeln …

… wie es sein konnte, dass BioMed wusste, dass sie kommen und die Computer abholen mussten, bevor sie überhaupt jemandem in der Firma gesagt hatte, dass Gerry tot war.

3

Anwesen der Bruderschaft,Caldwell, New York

Geboren an einer Bushaltestelle. Zum Sterben dort zurückgelassen. Gerettet von der menschlichen Welt durch einen Glücksfall.

Wenn John Matthews Leben einen Identitätsnachweis gebraucht hätte, irgendeine laminierte Karte mit seinen Daten, wäre genau das darauf zu lesen gewesen.

Außerdem stünde darauf »stumm« und »gebunden«. Ersteres war ihm eigentlich unwichtig, denn er hatte das Sprechen nie gekannt. Letzteres war alles für ihn.

Ohne Xhex wäre ihm sogar der Krieg egal.

Als er das Arbeitszimmer des Königs betrat – dieses französische Heiligtum in Hellblau, das zu Wrath und der Bruderschaft der Black Dagger ungefähr so gut passte wie ein Ballkleid zu einem Alligator –, traf er dort auf eine Ansammlung von kräftigen Körpern, die entlang der vier Wände standen und die seidenbespannten Möbel belagerten. Sie warteten alle auf den König, diese erstklassigen männlichen Vertreter der Spezies, diese Lehrer und Klugscheißer, diese Kämpfer und Liebhaber.

Sie waren auf einer derart tief gehenden Ebene seine Familie, dass er das Gefühl hatte, er müsste dem ein »von Geburt an« voranstellen.

Nicht alle waren Brüder. Trotzdem kämpften er und Blay Seite an Seite mit ihnen im Krieg gegen die Gesellschaft der Lesser, und das taten auch Xcor und seine Bande. Außerdem gab es hier auch solche, die praktisch ausgebildet wurden, und Vampirinnen. Das Team wurde unterstützt von einem Chirurgen, ausgerechnet ein Mensch, man stelle sich vor. Und von einer Ärztin, die ein Geist war, und einem Ratgeber, dem König der Symphathen, sowie einer Therapeutin, die die Jungfrau der Schrift aus dem Zeitkontinuum genommen hatte.

Das war die Gemeinschaft, die unter Darius’ ehemaligem Dach entstanden war, sie alle lebten hier auf dieser Anhöhe in den Adirondacks. Ein Mhis schützte sie vor Eindringlingen, die Zeit vertrieb man sich mit dem gemeinsamen Daseinszweck, Omegas Lesser auszulöschen.

Er quetschte sich an Butch und V vorbei und ging zielstrebig auf eine Ecke zu. Er hielt sich immer im Hintergrund, auch wenn keiner von ihm verlangte, sich in die letzte Reihe zu stellen.