Der Erlöser - Jo Nesbø - E-Book

Der Erlöser E-Book

Jo Nesbø

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Beschreibung

Oslo im Weihnachtslichterglanz, ein kaltblütiger Killer und ein Kommissar, dessen Leben aus den Fugen zu geraten droht. Harry Hole steht in seinem sechsten Fall vor einer ganz besonderen Herausforderung. In Oslo wird ein junger Mann auf offener Straße ermordet. Robert Karlsen, Offizier der Heilsarmee, wurde das Opfer des berüchtigten kroatischen Auftragskillers Stankic. Hauptkommissar Harry Hole, der gerade andere Probleme hat, hofft auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Seine Freundin Rakel hat ihn verlassen und der eigenwillige Kommissar will endlich versuchen, die Beziehung zu kitten. Doch Stankic erweist sich als ebenbürtiger Gegner. Als Hole merkt, dass der Mörder es auch auf Roberts Bruder Jon Karlsen abgesehen hat, beginnt eine atemberaubende Verfolgungsjagd. In wessen Auftrag ist Stankic unterwegs? Was ist das Motiv für die Mordanschläge? Und was spielt sich hinter der makellosen Fassade der norwegischen Heilsarmee wirklich ab? Ein eindringlicher Kriminalroman und ein düsteres Porträt unserer Zeit. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

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Das Buch

In Oslo wird ein junger Mann auf offener Straße ermordet. Robert Karlsen, Offizier der Heilsarmee, wurde das Opfer des berüchtigten kroatischen Auftragskillers Stankic. Hauptkommissar Harry Hole, der gerade andere Probleme hat, hofft auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Seine Freundin Rakel hat ihn verlassen und der eigenwillige Kommissar will versuchen, die Beziehung endlich zu kitten. Doch Stankic erweist sich als ebenbürtiger Gegner. Als Harry merkt, dass der Mörder es auch auf Roberts Bruder Jon abgesehen hat, beginnt eine atemberaubende Verfolgungsjagd. In wessen Auftrag ist Stankic unterwegs? Was ist das Motiv für die Mordanschläge? Und was spielt sich hinter der makellosen Fassade der norwegischen Heilsarmee wirklich ab?

Der Autor

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Der erfolgreichste Autor Norwegens ist längst auch international ein Bestsellerautor, seine Romane um Kommissar Harry Hole werden in dreißig Sprachen übersetzt. Sowohl sein Debütroman Der Fledermausmann als auch Schneemann wurden als »Bester Kriminalroman des Jahres« ausgezeichnet. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:

Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)Fährte (Harry Holes 4. Fall)Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)Erlöser (Harry Holes 6. Fall)Schneemann (Harry Holes 7. Fall)Leopard (Harry Holes 8. Fall)Larve (Harry Holes 9. Fall)Koma (Harry Holes 10. Fall)Durst (Harry Holes 11. Fall)Messer (Harry Holes 12. Fall)

Außerdem:

HeadhunterDer Sohn

Jo Nesbø

Erlöser

Kriminalroman

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein.de

Die Übersetzung wurde gefördert durch NORLA –

Norwegian Literature Abroad, Oslo

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage September 2008

6. Auflage 2010

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH,

Berlin 2007/Ullstein Verlag

© 2005 by Jo Nesbø

Published by agreement with Salomonsson Agency

Titel der norwegischen Originalausgabe:

Frelseren (H. Aschehoug & Co., Oslo 2005)

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Titelabbildung: plainpicture / © Bjanka Kadic (Architektur, Oper, Oslo); Shutterstock / © Le Panda (Ausfransung); © Archiv Büro Jorge Schmidt (Hintergrund)

Satz: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-548-92070-2

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

KAPITEL 1

August 1991. Sterne

Sie war vierzehn und glaubte fest daran, dass sie die Sterne auch durchs Dach hindurch sehen konnte, wenn sie die Augen zukniff und sich richtig konzentrierte.

Rundherum hörte sie den Atem der Frauen. Die gleichmäßigen, schweren Atemzüge von Schlafenden. Nur eine schnarchte, Tante Sarah, man hatte ihr eine Matratze unter dem geöffneten Fenster gegeben.

Sie schloss die Augen und versuchte zu atmen wie die anderen. Das Einschlafen fiel ihr schwer, vor allem seit ihre Umgebung plötzlich so neu und anders war. Hier auf dem Østgård hörte sie draußen vor dem Fenster die fremden Geräusche der Nacht und des Waldes. Die Menschen, die sie von den Versammlungen im Tempel und von den Sommerlagern kannte, waren irgendwie nicht mehr die gleichen. Auch sie selbst war nicht mehr die gleiche. Das Gesicht und der Körper im Spiegel über dem Waschbecken erschienen ihr in diesem Sommer so neu. Und ihre Gefühle, diese seltsamen Wallungen, mal heiß, mal kalt, wenn einer der Jungs sie ansah. Besser gesagt, ein ganz spezieller. Robert. Auch er war in diesem Jahr ein anderer geworden.

Sie schlug die Augen wieder auf und starrte ins Dunkel. Sie wusste, Gott hatte die Macht, Großes zu vollbringen, sie die Sterne durch das Dach sehen zu lassen. Wenn Er nur wollte.

Es war ein langer, ereignisreicher Tag gewesen. Der trockene Sommerwind rauschte durch die Getreidefelder, und die Blätter tanzten ekstatisch an den Bäumen, so dass das Licht glitzernd auf die im Gras sitzenden Sommergäste herabrieselte. Sie lauschten einem Kadetten von der Offiziersschule der Heilsarmee. Er berichtete ihnen von seiner Tätigkeit als Prediger auf den Färöer. Ein hübscher Kerl, der mit großer Inbrunst und Eifer erzählte. Doch sie war mehr damit beschäftigt, eine Hummel zu verscheuchen, die ihr um den Kopf schwirrte. Als das Insekt dann plötzlich verschwunden war, spürte sie, wie müde die Hitze sie gemacht hatte. Sowie der Kadett fertig war, richteten sich alle Augen auf den Kommandeur. David Eckhoff sah sie mit seinen lachenden, jungen Augen an, die schon über fünfzig Jahre alt waren, vollführte den Gruß der Heilsarmee, indem er die rechte Hand über die Schulter hob und den Zeigefinger zum Himmel emporstreckte, und rief ein klangvolles »Halleluja!«. Dann bat er um den Segen für die Arbeit des Kadetten unter den Armen und Ausgestoßenen und erinnerte sie alle an die Worte des Evangelisten Matthäus. Jesus, der Erlöser, konnte als Fremder unter ihnen sein, auf jeder Straße, möglicherweise als Häftling, als Ausgestoßener, hungrig und ohne Kleider. Und die Gerechten, all jene, die diesen Geringsten halfen, würden am Tage des Jüngsten Gerichts das ewige Leben erhalten. Es sah so aus, als würde es eine längere Rede werden, doch da flüsterte ihm jemand etwas zu, und er sagte lachend, heute stehe natürlich die Stunde der Jugend auf dem Programm und nun sei Rikard Nilsen an der Reihe.

Sie hörte, wie sich Rikard räusperte und seiner Stimme einen erwachseneren Klang gab, als er dem Kommandeur dankte. Wie gewöhnlich hatte er seinen Vortrag schriftlich ausgearbeitet und dann auswendig gelernt. Jetzt stand er da und leierte herunter, wie er sein Leben dem Kampf Jesu für das Reich Gottes widmen wollte. Nervös, aber zugleich monoton, einschläfernd. Sein verstohlener, nach innen gerichteter Blick ruhte auf ihr. Sie blinzelte. Seine verschwitzte Oberlippe bewegte sich und formte die vertrauten, langweiligen Phrasen. Deshalb reagierte sie nicht gleich, als sie die Hand am Rücken spürte. Erst als die Finger langsam über ihr Rückgrat nach unten wanderten und ihr unter ihrem dünnen Sommerkleid ein Schauer über den Rücken lief.

Sie drehte sich um und blickte in Roberts lachende braune Augen. Und sie wünschte sich, doch auch so dunkle Haut zu haben wie er, damit er nicht sah, wie sie rot wurde.

»Psst«, sagte Jon.

Robert und Jon waren Brüder, und obwohl Jon ein Jahr älter war, hatte man sie in ihrer Kindheit häufig für Zwillinge gehalten. Jetzt war Robert siebzehn, ihre Gesichtszüge ähnelten sich zwar noch, doch ansonsten überwogen die Unterschiede. Robert war fröhlich und unbekümmert, er neckte die Menschen gerne mal ein bisschen, konnte gut Gitarre spielen, nahm es aber mit den Gottesdienstzeiten nicht immer so genau. Manchmal übertrieb er seine Neckereien auch, vor allem dann, wenn er bemerkte, dass er andere damit zum Lachen brachte. Dann war es oft Jon, der eingriff. Jon, ein redlicher, pflichtbewusster Junge, von dem die meisten erwarteten – auch wenn es niemand laut aussprach –, dass er auf der Offiziersschule aufgenommen werden würde und sich ein Mädchen innerhalb der Armee suchte. Letzteres war bei Robert alles andere als selbstverständlich. Jon war zwei Zentimeter größer als sein Bruder, aber seltsamerweise wirkte Robert größer. Was daran lag, dass Jon bereits im Alter von zwölf Jahren begonnen hatte, etwas gebeugt zu gehen, als trage er die Last der ganzen Welt auf den Schultern. Beide waren dunkel und hatten schöne, ebenmäßige Züge, doch Robert hatte etwas, was Jon fehlte. In der Tiefe seiner Augen lag etwas Schwarzes, Verspieltes, das sie manchmal zu gerne ergründet hätte, das sie dann aber auch wieder abschreckte. Während Rikards Rede war ihr Blick über die Anwesenden geschweift. Bekannte Gesichter. Eines Tages würde sie einen Jungen aus der Heilsarmee heiraten, und dann würden sie vielleicht in eine andere Stadt oder einen anderen Teil des Landes abkommandiert werden. Aber immer würden sie hierher auf den Østgård zurückkehren, auf das Gut, das die Armee gerade gekauft hatte und das von jetzt an ihre gemeinsame Sommerfrische sein würde.

Etwas abseits, auf der Treppe des Hauses, saß ein Junge mit blonden Haaren und streichelte eine Katze, die ihm auf den Schoß geklettert war. Sie sah ihm an, dass er sie gerade heimlich beobachtet, seinen Blick aber noch rechtzeitig abgewandt hatte. Er war der Einzige hier, den sie nicht kannte, sie wusste aber, dass er Mads Gilstrup hieß und der Enkel des früheren Gutsbesitzers war. Er war ein paar Jahre älter als sie und gehörte zur wohlhabenden Gilstrup-Sippe. Eigentlich ein hübscher Junge, aber er hatte so etwas Einsames. Und was machte er überhaupt hier? Er war am Abend zuvor gekommen und war mit gerunzelter Stirn herumgelaufen, ohne mit jemand zu sprechen. Nur seinen Blick hatte sie ein paarmal gespürt. In diesem Jahr hingen alle Augen an ihr. Auch das war neu.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Robert ihre Hand nahm, etwas hineinlegte und sagte: »Komm in die Scheune, wenn der General in spe da fertig ist. Ich will dir was zeigen.«

Dann stand er auf und ging. Sie blickte auf ihre Hand hinunter und hätte beinahe laut aufgeschrien. Sie musste sich mit der anderen Hand den Mund zuhalten, während sie ins Gras fallen ließ, was Robert ihr gegeben hatte. Es war eine Hummel. Sie bewegte sich noch, hatte aber weder Beine noch Flügel.

Rikard kam endlich zum Schluss, aber sie blieb sitzen und sah zu, wie ihre Eltern mit denen von Robert und Jon auf die Kaffeetische zustrebten. Sie galten in ihren jeweiligen Gemeinden in Oslo als »starke Familien« innerhalb der Armee, und sie wusste, dass man besonderes Augenmerk auf sie legte.

Dann ging sie in Richtung Toilette. Erst als sie um die Ecke gebogen war und sie niemand mehr sehen konnte, huschte sie in die Scheune.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Robert mit einem Lachen in den Augen und dieser tiefen Stimme, die er letzten Sommer noch nicht gehabt hatte.

Er lag auf dem Rücken im Heu und schnitzte mit dem Taschenmesser , das er immer am Gürtel trug, an einer Baumwurzel herum.

Als er das Holzstück hochhielt, sah sie, was es war. Sie kannte es von Zeichnungen und hoffte nur, dass er in der Dunkelheit der Scheune nicht sah, wie rot sie wurde.

»Nein«, log sie und setzte sich neben ihm ins Heu.

Abermals sah er sie mit seinem neckenden Blick an, als wüsste er etwas über sie, wovon sie selbst keine Ahnung hatte. Sie erwiderte seinen Blick, lehnte sich zurück und stützte sich mit den Ellbogen auf.

»Etwas, das hierhin muss«, sagte er, und plötzlich war seine Hand unter ihrem Rock. Sie spürte die harte Baumwurzel an der Innenseite ihrer Schenkel, und noch ehe sie die Beine schließen konnte, presste er sie gegen ihre Unterhose. Sein Atem lag warm auf ihrem Hals.

»Nein, Robert«, flüsterte sie.

»Aber ich hab es extra für dich gemacht«, zischte er.

»Hör auf, ich will nicht.«

»Du sagst nein? Zu mir?«

Ihr stockte der Atem, und sie konnte weder antworten noch schreien, als sie plötzlich Jons Stimme vom Scheunentor her hörte: »Robert! Nein! Robert!«

Sie merkte, wie er losließ. Die Wurzel blieb zwischen ihren zusammengepressten Schenkeln stecken, als er seine Hand zurückzog.

»Komm her!«, kommandierte Jon, als hätte er es mit einem ungehorsamen Hund zu tun.

Robert stand mit einem kurzen Lachen auf, blinzelte ihr zu und trat zu seinem Bruder in die Sonne.

Und sie richtete sich auf, zupfte sich das Heu vom Kleid und fühlte sich gleichermaßen erleichtert und beschämt. Erleichtert, weil Jon dem wilden Spiel ein Ende bereitet hatte. Und voller Scham, weil es so gewirkt hatte, als sei es für Robert mehr als nur ein Spiel gewesen.

Später, beim Tischgebet vor dem Abendessen, blickte sie direkt in Roberts braune Augen und sah, wie seine Lippen ein Wort formten, das sie aber nicht verstand. Trotzdem begann sie zu kichern. Er war verrückt! Und sie war … Ja, was war sie? War auch sie verrückt? Verrückt und verliebt? Ja, verliebt, das war es wohl. Und nicht so, wie sie es mit zwölf oder dreizehn gewesen war. Jetzt war sie vierzehn, und auf einmal war alles größer, wichtiger, spannender.

Sie spürte, wie das Lachen in ihr hochstieg, während sie auf der Matratze lag und versuchte, Löcher ins Dach zu starren.

Tante Sarah grunzte und hörte auf zu schnarchen. Draußen heulte etwas. Eine Eule.

Sie musste pinkeln.

Eigentlich wollte sie nicht aufstehen, aber sie musste. Musste durch das nasse Gras laufen, vorbei an der Scheune, die sich dunkel und fremd vor dem Nachthimmel abzeichnete. Sie schloss die Augen, doch es half nichts. Sie kroch aus dem Schlafsack, schob die Füße in die Sandalen und schlich sich zur Tür.

Ein paar Sterne waren jetzt am Himmel zu sehen, aber sie würden bald verblassen, wenn in einer Stunde im Osten die Dämmerung begann. Die Luft strich ihr kühl über die Haut, während sie durch das Dunkel huschte und den unbekannten Geräuschen der Nacht lauschte. Insekten, die tagsüber still waren. Jagende Tiere. Rikard hatte behauptet, am Waldrand Füchse gesehen zu haben. Vielleicht waren es aber auch die gleichen Tiere wie tagsüber, die nachts einfach andere Geräusche machten. Sich veränderten. Irgendwie ein anderes Wesen annahmen.

Das Plumpsklo stand für sich allein auf einer kleinen Anhöhe hinter der Scheune. Sie sah es aus dem Boden emporwachsen, als sie sich näherte. Das seltsame, schiefe Häuschen war aus rohen Brettern zusammengezimmert worden, die sich mit den Jahren verzogen hatten und rissig und grau geworden waren. Keine Fenster, bloß ein Herz in der Tür. Aber das Schlimmste an diesem Plumpsklo war, dass man nie wissen konnte, ob es nicht etwa besetzt war.

Vielleicht hatte sie deshalb auch jetzt das unbestimmte Gefühl, dass jemand dort war. Sie hustete, damit sich der Betreffende bemerkbar machen konnte, der vielleicht auf dem Klo saß.

Eine Elster flog von einem Ast am Waldrand auf. Ansonsten war es vollkommen still.

Sie trat auf die steinernen Stufen. Packte den Holzklotz, der als Türgriff diente. Zog. Der schwarze Raum gähnte ihr entgegen.

Sie atmete aus. Neben dem Sitz stand eine Taschenlampe, aber sie brauchte sie nicht einzuschalten. Sie klappte den Klodeckel hoch, ehe sie die Tür schloss und mit dem Haken verriegelte. Dann zog sie ihr Nachthemd hoch, streifte die Unterhose herunter und setzte sich. In der Stille, die folgte, glaubte sie etwas zu hören. Etwas, das weder Tier noch Elster, noch irgendein nachtaktives Insekt war. Etwas, das sich rasch durch das hohe Gras auf der Rückseite des Häuschens bewegte. Doch dann übertönte ihr Plätschern die Geräusche. Trotzdem schlug ihr das Herz bis zum Hals.

Als sie fertig war, zog sie rasch die Unterhose hoch und blieb dann einen Moment lauschend in der Dunkelheit sitzen. Aber jetzt hörte sie nur noch das leise Rauschen der Baumkronen und das Pochen ihres eigenen Blutes in den Ohren. Sie wartete, bis sich ihr Puls wieder beruhigt hatte, löste den Haken und öffnete die Tür. Die dunkle Gestalt füllte beinahe die ganze Türöffnung aus. Er musste vollkommen still auf den Stufen gewartet haben. Im nächsten Augenblick lag sie auch schon auf dem Klodeckel, während er sich über sie beugte und die Tür hinter sich zuzog.

»Du?«, fragte sie.

»Ich«, sagte er mit fremder, zitternder, belegter Stimme.

Dann war er über ihr. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit, während er ihre Unterlippe blutig biss und eine seiner Hände den Weg unter ihr Nachthemd fand und ihr den Slip herunterriss. Wie gelähmt lag sie unter der Klinge des Messers, das an ihrer Kehle brannte, während er mit dem Unterleib bereits wie ein liebestoller Hund auf sie einhämmerte, obwohl er noch nicht einmal seine Hose heruntergelassen hatte.

»Ein Wort und ich schneid dich in Stücke«, flüsterte er.

Und es kam kein einziges Wort über ihre Lippen. Denn sie war vierzehn Jahre alt und überzeugt davon, dass sie die Sterne durch das Dach hindurch sehen konnte, wenn sie die Augen zukniff und sich richtig konzentrierte. Gott hatte die Macht, Großes zu vollbringen. Wenn Er nur wollte.

KAPITEL 2

Sonntag, 13. Dezember 2003. Hausbesuch

Er betrachtete sein Spiegelbild im Zugfenster. Versuchte zu erkennen, was es eigentlich war, woraus das Geheimnis bestand. Aber er konnte nichts Außergewöhnliches über dem roten Halstuch erkennen, nur ein ausdrucksloses Gesicht mit Augen und Haaren, die im Tunnel zwischen Courcelles und Ternes ebenso schwarz erschienen wie die unendliche Nacht der Metro. Le Monde lag auf seinem Schoß und meldete Schnee, doch die Pariser Straßen über ihm lagen noch immer kalt und nackt unter der dichten, tief hängenden Wolkendecke. Seine Nasenlöcher weiteten sich und sogen die schwachen, aber unverkennbaren Gerüche von nassem Zement ein, menschlichem Schweiß, heißem Metall, Eau de Cologne, Tabak, nasser Wolle und Galle, einem Dunst, den man aus den Zugsitzen nie wieder herauswaschen oder -lüften konnte.

Der Luftdruck eines entgegenkommenden Zuges ließ die Scheiben vibrieren, und das Dunkel wurde vorübergehend von den flackernd vorbeiziehenden blassen Lichtvierecken verdrängt. Er zog den Ärmel seines Mantels hoch und warf einen Blick auf die Uhr, eine Seiko SQ 50, die er als Anzahlung von einem Kunden erhalten hatte. Das Glas hatte bereits Kratzer, so dass er nicht sicher sagen konnte, ob die Uhr echt war. Viertel nach sieben. Es war Sonntagabend und der Waggon nur halb voll. Er sah sich um. Die Menschen schliefen in der Metro, immer schliefen sie. Besonders an Werktagen. Schalteten ab, schlossen die Augen und ließen die tägliche Reise zu einem traumlosen Zwischenraum im Nichts werden, in dem die roten oder blauen Linien auf dem Metro-Plan Arbeit und Freiheit verbanden wie stumme Bindestriche. Er hatte einmal von einem Mann gelesen, der den ganzen Tag über mit geschlossenen Augen in der Metro gesessen hatte und hin- und hergefahren war. Erst am Abend, als man den Waggon reinigen wollte, hatte man festgestellt, dass er tot war. Vielleicht war er ja auch extra in diese Katakomben hinabgestiegen, um in dem blassgelben Sarg ungestört einen blauen Trennungsstrich zwischen dem Diesseits und dem Jenseits zu ziehen.

Er selbst war im Begriff, einen ganz anderen Strich zu ziehen. Eine Entscheidung fürs Leben zu treffen. Es standen noch zwei Aufträge aus. Der Job heute Abend und dann der in Oslo. Das sollte sein letzter sein. Danach wollte er für immer aus den Katakomben emporsteigen.

Ein schriller Signalton ertönte, bevor sich die Türen an der Station Ternes schlossen. Die Metro beschleunigte wieder.

Er kniff die Augen zu und beschwor diesen anderen Geruch herauf. Den Duft von WC-Steinen und warmem Urin. Das Aroma der Freiheit. Aber vielleicht stimmte es, was seine Mutter, die Lehrerin, einmal gesagt hatte. Dass nämlich das menschliche Gehirn in der Lage war, sich zwar an die kleinsten Details zu erinnern, die man gehört oder gesehen hatte, nicht aber an die simpelsten Gerüche.

Geruch. Die Bilder begannen vor seinem geistigen Auge vorbeizuziehen. Er war fünfzehn Jahre alt gewesen, hatte auf dem Krankenhausflur in Vukovar gesessen und gehört, wie seine Mutter wieder und wieder den Apostel Thomas angefleht hatte, den Schutzheiligen der Bauarbeiter. Gott möge ihren Mann verschonen. Er hatte das Grummeln der serbischen Artillerie gehört, die vom Fluss aus die Stadt beschoss, und die Schreie all jener, die im Kreißsaal operiert wurden. Dort kamen schon lange keine Kinder mehr zur Welt, seit dem Beginn der Belagerung war keine Frau mehr niedergekommen. Er hatte als Laufbursche im Krankenhaus gearbeitet und gelernt, die Geräusche der Artillerie und die Schreie auszublenden. Nicht aber die Gerüche. Insbesondere den einen nicht. Bei Amputationen mussten die Chirurgen zuerst das Fleisch bis auf den Knochen abtrennen und dann die Arterien mit einer Art Lötkolben verschließen, damit die Patienten nicht verbluteten. Dieser Gestank von verbranntem Fleisch und Blut war mit keinem anderen zu vergleichen.

Ein Arzt trat auf den Flur und rief seine Mutter und ihn ins Zimmer. Er wagte es nicht, seinen Vater anzusehen, sondern starrte nur auf seine große, braune Faust, die die Matratze gepackt hielt und sie anscheinend in Stücke reißen wollte. Und das hätte sie ohne Zweifel auch geschafft, denn die Hände seines Vaters waren die stärksten der ganzen Stadt. Sein Vater war Eisenbieger. Ihn rief man zu den Baustellen, wenn die Maurer fertig waren. Dann legte er seine Hände um die Armierungseisen, die aus den Fundamenten herausragten, und bog sie mit einer raschen, aber genau eingeübten Bewegung gegeneinander, so dass sie sich miteinander verflochten. Er hatte seinem Vater bei der Arbeit zugesehen; es wirkte, als wringe er einen Lappen aus. Noch hatte niemand eine Maschine erfunden, die diese Arbeit besser erledigte.

Er kniff seine Augen zu, als er seinen Vater vor Schmerzen und Verzweiflung schreien hörte:

»Schaff den Jungen raus!«

»Er hat darum gebeten «

»Raus!«

Die Stimme des Arztes: »Die Blutung ist gestillt, wir fangen jetzt an!«

Jemand packte ihn unter den Armen und hob ihn hoch. Er versuchte sich zu wehren, aber er war zu klein, zu leicht. Und in diesem Moment nahm er den Geruch wahr. Verbranntes Fleisch und Blut.

Das Letzte, was er hörte, war die Stimme des Arztes:

»Säge.«

Dann fiel die Tür hinter ihm zu, und er sackte auf die Knie und setzte die Gebete seiner Mutter fort. Rette ihn. Verstümmle ihn, aber lass ihn leben. Gott hatte die Macht, so etwas zu tun. Wenn Er wollte.

Er spürte, dass ihn jemand ansah, öffnete die Augen und war plötzlich wieder in der Metro. Ihm gegenüber saß eine Frau mit angespannten Kiefermuskeln und müdem, abwesendem Blick, der seinem auswich, als er sie musterte. Der Sekundenzeiger der Uhr bewegte sich ruckweise, während er sich noch einmal die Adresse ins Gedächtnis rief. Er überprüfte seinen Puls. Alles normal. Sein Kopf war leicht, aber nicht zu leicht. Er fror nicht, schwitzte nicht und spürte weder Furcht noch Freude, weder Unbehagen noch Behagen. Die Metro wurde langsamer. Charles de Gaulle – Étoile. Er warf einen letzten Blick auf die Frau. Sie hatte ihn genau angesehen, aber sie würde ihn nicht wiedererkennen – selbst dann nicht, wenn sie sich noch am selben Abend ein zweites Mal begegneten.

Er stand auf und trat an die Tür. Die Bremsen jammerten leise. WC-Steine und Urin. Freiheit – sie konnte man sich genauso wenig vorstellen wie einen Geruch. Die Türen glitten auf.

*

Harry trat auf den Bahnsteig, blieb stehen und atmete die warme U-Bahnluft ein, während er einen Blick auf den Zettel mit der Adresse warf. Er hörte, wie sich die Türen schlossen, und spürte einen Luftzug im Rücken, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Er steuerte auf den Ausgang zu. Das Werbeplakat über der Rolltreppe verkündete ihm, dass es Wege gab, Erkältungen zu vermeiden. Wie zur Antwort hustete er, dachte »ihr könnt mich mal«, fuhr mit der Hand in die tiefe Tasche seines Wollmantels und stieß unter dem Flachmann und dem Döschen mit den Halstabletten auf die Schachtel Camel.

Die Zigarette wippte zwischen seinen Lippen, als er durch die Glastür trat. Er ließ die raue, unnatürliche Wärme von Oslos Untergrund hinter sich und trat in die alles andere als unnatürliche Kälte und Dezemberdunkelheit der Stadt hinaus. Harry zog unwillkürlich die Schultern hoch. Egertorg. Der kleine, offene Platz war eine Kreuzung von Fußgängerzonen im Herzen von Oslo, sofern die Stadt in dieser Jahreszeit denn überhaupt so etwas wie ein Herz hatte. Die Geschäfte hatten am vorletzten Wochenende vor Weihnachten auch sonntags geöffnet. Der Platz wimmelte von Menschen, die im gelben Licht hin und her rannten, das durch die Fenster der bescheidenen, dreistöckigen Geschäftshäuser fiel. Harry sah die Taschen mit den eingepackten Geschenken und rief sich ins Gedächtnis, dass er noch etwas für Bjarne Møller kaufen musste, der am kommenden Tag seinen Abschied vom Polizeipräsidium feiern sollte. Harrys Chef, der in all den Jahren bei der Polizei auch so etwas wie sein oberster Schutzheiliger gewesen war, hatte sein Vorhaben, es langsamer angehen zu lassen, tatsächlich in die Tat umgesetzt. Ab kommender Woche wollte er als sogenannter Senior-Sonderermittler für die Polizeikammer in Bergen arbeiten, was in Wahrheit nichts anderes bedeutete, als dass Bjarne Møller von nun an bis zu seiner Pensionierung tun und lassen konnte, was er wollte. An sich ja ganz schön, aber ausgerechnet Bergen? Regen und nasse Felsen. Møller kam nicht einmal von dort. Harry hatte Bjarne Møller immer gemocht – wenn er ihn auch nicht immer verstanden hatte.

Ein Mann im Ganzkörperdaunenanzug wankte wie ein Astronaut vorbei, er grinste mit roten Backen, während ihm der Atem in weißen Wölkchen aus dem Mund quoll. Gekrümmte Rücken und verschlossene Wintergesichter. Harry fiel eine blasse Frau auf, die eine dünne, schwarze Lederjacke mit löchrigen Ärmeln trug. Sie stand an der Mauer neben dem Uhrmachergeschäft, trat von einem Bein aufs andere und hielt mit flackerndem Blick nach ihrem Dealer Ausschau. Ein Bettler saß im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken an einen Laternenpfahl gelehnt und den Kopf wie in Meditation zur Seite geneigt. Er hatte lange Haare und war unrasiert, trug aber gute, warme, durchaus moderne Kleider. Vor ihm stand ein brauner Pappbecher aus einem Café. Harry waren im letzten Jahr immer mehr Bettler aufgefallen, und irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie sich alle ähnlich sahen. Sogar die Pappbecher waren die gleichen, als gäbe es da einen geheimen Code. Vielleicht waren es Außerirdische, die im Stillen dabei waren, seine Stadt zu übernehmen, seine Straßen. Und wenn schon. Sollten sie doch!

Harry betrat das Uhrmachergeschäft.

»Können Sie die reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter dem Tresen und reichte ihm eine Großvateruhr, die tatsächlich die Uhr seines Großvaters war. Harry hatte sie als Junge in Åndalsnes bekommen, bei der Beerdigung seiner Mutter. Ihm hatte das beinahe Angst gemacht, aber sein Großvater hatte ihn beruhigt und gesagt, dass Uhren dazu da seien, weitergegeben zu werden, und dass auch er das eines Tages tun sollte:

»Ehe es zu spät ist. «

Harry hatte die Uhr vollkommen vergessen, bis er im Herbst bei sich in der Sofies gate Besuch von Oleg bekommen hatte, der auf der Suche nach Harrys Gameboy in einer Schublade auf die silberne Uhr gestoßen war. Und Oleg, der neun Jahre alt war, Harry aber längst beim Tetris-Spielen schlug – ihrer gemeinsamen Leidenschaft–, hatte das Duell, auf das er sich so gefreut hatte, vergessen und stattdessen an der Uhr herumgefingert, um sie wieder in Gang zu setzen.

»Die ist kaputt«, sagte Harry.

»Blödsinn«, antwortete Oleg. »Man kann alles reparieren.«

Harry hoffte aus tiefstem Herzen, dass diese Behauptung stimmte, es gab aber Tage, an denen er es aufs Stärkste bezweifelte. Trotzdem fragte er sich kurz, ob er Oleg mit der Gruppe »Jokke & Valentinerne « bekannt machen sollte, die ein Album mit genau diesem Titel herausgebracht hatte: »Man kann alles reparieren«. Doch dann war ihm in den Sinn gekommen, dass Olegs Mutter, Rakel, sicher nicht begeistert wäre von der ganz besonderen Konstellation, dass nämlich ihr Exlover und Alkoholiker ihrem Sohn die Lieder eines verstorbenen Junkies vorspielte, der sein Alkoholikerdasein besang.

»Kann man die reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter dem Tresen. Wie zur Antwort wurde die Uhr von raschen, kundigen Händen geöffnet.

»Das würde sich nicht lohnen.«

»Sich lohnen?«

»Gehen Sie zu einem Antiquitätenhändler. Da bekommen Sie bestimmt bessere Uhren, die auch noch laufen – und das für weniger Geld, als die Reparatur kosten würde.«

»Versuchen Sie es trotzdem«, sagte Harry.

»Gut«, erwiderte der junge Mann, der bereits begonnen hatte, das Innere der Uhr zu studieren. Eigentlich schien er ganz froh über Harrys Entscheidung zu sein. »Kommen Sie nächste Woche Mittwoch wieder.«

Als Harry wieder auf die Straße trat, hörte er den dünnen Ton einer einfachen Gitarrensaite durch einen Verstärker. Er wurde höher, als der Gitarrist, ein Junge mit spärlichem Bartwuchs und Pulswärmern, an einem Wirbel herumdrehte. Jetzt begannen wieder die traditionellen Vorweihnachtskonzerte, bei denen bekannte Künstler zugunsten der Heilsarmee auf dem Egertorg auftraten. Die Menschen scharten sich bereits um die Band, die sich hinter dem schwarzen Kessel der Heilsarmee aufgestellt hatte, der mitten auf dem Platz an einem dreibeinigen Ständer hing.

»Bist du das?«

Harry drehte sich um. Es war die Frau mit dem Junkieblick. »Du bist es doch, oder? Kommst du für Snoopy? Ich brauch sofort einen Null-eins, ich hab «

»Sorry«, unterbrach Harry sie. »Ich bin nicht der, den du meinst.«

Sie sah ihn an, legte den Kopf schräg und kniff die Augen zusammen, als wollte sie überprüfen, ob er sie anlog. »Doch, ich hab dich doch schon mal gesehen.«

»Ich bin Polizist.«

Sie hielt inne. Harry atmete ein. Ihre Reaktion kam allerdings mit einer gewissen Verzögerung, als müsste diese Nachricht erst ein paar Umwege nehmen, um verkohlte Nerven und zerschossene Synapsen zu meiden. Dann ging die matte Lampe des Hasses an, auf die Harry schon gewartet hatte.

»Ein Bulle?«

»Ich dachte, wir hätten ein Abkommen, dass ihr auf der Plata am Bahnhofsvorplatz bleibt«, sagte Harry und blickte an ihr vorbei zum Sänger der Band.

»Pah«, sagte die Frau, die sich direkt vor Harry aufgebaut hatte. »Du bist doch gar keiner von diesen Drogenbullen. Du bist doch der, der da im Fernsehen war, der diesen Typen abgeknallt «

»Dezernat für Gewaltverbrechen.« Harry packte sie leicht am Arm. »Hör mal, das, was du brauchst, findest du auf der Plata. Zwing mich nicht, dich festzunehmen.«

»Geht nicht.« Sie wand sich los.

Harry bereute es sofort und nahm beide Hände in die Höhe. »Sag mir trotzdem, dass du hier jetzt nichts kaufen willst, damit ich gehen kann. Okay?«

Sie legte den Kopf auf die Seite. Ihre dünnen, blutleeren Lippen strafften sich ein wenig. Als sähe sie in der ganzen Situation auch etwas Amüsantes. »Soll ich dir sagen, warum ich nicht runter zur Plata gehen kann?«

Harry wartete.

»Weil mein Junge da unten rumläuft.«

Harry spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.

»Ich will nicht, dass er mich so sieht. Verstehst du das, Bulle?« Harry blickte in ihr trotziges Gesicht und suchte nach Worten.

»Fröhliche Weihnachten«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu.

Harry ließ die Zigarette in den braunen, pulverisierten Schnee fallen und ging. Er musste diesen Job endlich hinter sich bringen. Er sah die Menschen nicht an, die ihm entgegenkamen, und sie beachteten ihn auch nicht, sondern richteten ihre Blicke auf den vereisten Boden, als hätten sie ein schlechtes Gewissen; als schämten sie sich als Bürger der großzügigsten Sozialdemokratie der Welt. »Weil mein Junge da unten rumläuft.«

Im Fredensborgvei blieb Harry unweit der Deichmann’schen Bibliothek vor der Hausnummer stehen, die auf seinem Briefumschlag notiert war. Er legte den Kopf in den Nacken. Die grauschwarze Fassade war frisch gestrichen. Der feuchte Traum eines jeden Sprayers. An einigen Fenstern hob sich Weihnachtsdekoration als dunkle Silhouette von diesem weichen, gelblichen Licht ab, das jeder unweigerlich mit einem sicheren warmen Zuhause in Verbindung bringt. Und vielleicht war das ja auch richtig, zwang sich Harry zu denken. Was ihm freilich nur mit Mühe gelang, denn man konnte nicht zwölf Jahre bei der Polizei sein, ohne von der Menschenverachtung angesteckt zu werden, die der Job mit sich brachte. Aber er wehrte sich, das musste man ihm lassen.

Er fand den Namen auf den Klingelschildern, schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, um die passenden Worte zu finden. Es half nichts. Ihre Stimme stand ihm noch immer im Weg.

»Ich will nicht, dass er mich so sieht «

Harry gab auf. Gab es passende Worte für das Unmögliche?

Er drückte mit dem Daumen auf den kalten Metallknopf, und irgendwo im Haus erklang eine Türglocke.

*

Kapitän Jon Karlsen nahm den Finger vom Klingelknopf, stellte die schwere Plastiktüte auf den Bürgersteig und blickte an der Fassade empor. Das Haus sah aus, als wäre es von leichter Artillerie beschossen worden. Der Putz war großflächig abgeblättert, und die Fenster einer ausgebrannten Wohnung im ersten Stock waren mit Brettern vernagelt. Zuerst war er pfeilgerade an Fredriksens blauem Haus vorbeigelaufen, denn irgendwie schien die Kälte alle Farben aus den Gebäuden gesaugt zu haben, so dass sich die Fassaden der Häuser in der Hausmansgate kaum mehr unterschieden. Erst als er das besetzte Haus bemerkte, auf dessen Wand »Westbanks« geschrieben stand, erkannte er, dass er zu weit gelaufen war. Ein Sprung im Glas der Haustür bildete ein V. Das Zeichen des Sieges.

Jon schauderte in seiner Windjacke. Er war froh, dass die Uniform der Heilsarmee, die er darunter trug, aus dicker, reiner Wolle war. Als er nach Abschluss der Offiziersschule seine neue Uniform erhalten sollte, hatte ihm keine der handelsüblichen Größen der Armee gepasst, so dass man ihm Stoff gegeben und ihn zu einem Schneider geschickt hatte, der ihm Zigarettenqualm ins Gesicht geblasen und Jesus den Erlöser unaufgefordert verleugnet hatte. Trotzdem hatte dieser Mann gute Arbeit geleistet, und Jon dankte ihm von ganzem Herzen. Er war es nicht gewohnt, Kleider zu tragen, die ihm wirklich passten. Es hieß, das liege an seinem krummen Rücken. Wer ihn an diesem Nachmittag über die Hausmansgate kommen sah, dachte sicher, er gehe gebeugt, um sich vor dem eiskalten Dezemberwind zu schützen, der Eisnadeln und gefrorenen Müll über den Bürgersteig der stark befahrenen Straße fegte. Wer Jon Karlsen kannte, wusste aber, dass er seinen Rücken krümmte, um seine Größe zu verbergen. Und um denen näher zu kommen, die unter ihm standen. So wie er sich jetzt hinabbeugte, um die Zwanzigkronenmünze in den braunen Pappbecher zu werfen, den eine schmutzige, zitternde Hand neben der Tür in die Luft reckte.

»Wie geht’s?«, fragte Jon das menschliche Bündel, das auf dem verschneiten Bürgersteig mit verschränkten Beinen auf einem Stück Pappe hockte.

»Ich warte auf die Methadonbehandlung«, sagte der Arme, und es klang tonlos und brüchig wie ein schlecht eingeübter Psalm. Er starrte auf Jons Knie unter der schwarzen Uniformhose.

»Du solltest mal in unser Café in der Urtegata kommen«, sagte Jon. »Dich ein bisschen aufwärmen, etwas essen «

Der Rest ging im brüllenden Verkehr unter, als die Ampel hinter ihnen auf Grün schaltete.

»Hab keine Zeit«, sagte das Bündel am Boden. »Du hast nicht zufällig einen Fuffziger?«

Jon war immer wieder verblüfft über die unerschütterliche Zielstrebigkeit der Junkies. Er seufzte und stopfte ihm einen Hunderter in den Pappbecher.

»Sieh wenigstens zu, dass du im Fretex ein paar warme Kleider bekommst. Sollte es da nichts geben, geh ins Fyrlyset, da haben wir neue Winterjacken gekriegt. In deiner dünnen Jeansjacke wirst du noch erfrieren.«

Er sagte das mit der Resignation eines Mannes, der bereits wusste, dass seine Gabe doch nur für Drogen draufgehen würde, aber was sollte man tun? Es war immer der gleiche Refrain, mal wieder eines dieser moralischen Dilemmas, die sein Alltag mit sich brachte.

Jon drückte noch einmal auf den Klingelknopf. Er sah sein Spiegelbild in dem schmutzigen Schaufenster neben der Haustür. Thea meinte, er sei groß. Er war alles andere als groß. Er war klein. Ein einfacher Soldat. Aber wenn das hier erledigt war, würde der einfache Soldat befreit über die Møllergata und den Akerselva-Fluss laufen, hinter dem mit dem Stadtteil Grünerlokka der Osten der Stadt begann, und weiter durch den Sofienbergpark bis zu dem Haus in der Gøteborggata 4, das die Armee an ihre Mitarbeiter vermietete. Er würde die Tür von Aufgang B aufschließen und vielleicht einen der anderen Mieter grüßen, die hoffentlich annahmen, er sei auf dem Weg zu seiner Wohnung in der dritten Etage. Stattdessen würde er aber mit dem Aufzug bis in die vierte fahren, über den Dachboden zum Aufgang A hinübergehen, lauschen, ob die Luft rein war, und dann zu Theas Tür huschen und das vereinbarte Klopfzeichen geben. Und sie würde die Tür und ihre Arme öffnen, in denen er versinken und wieder auftauen konnte.

Es vibrierte.

Zuerst dachte er, es sei der Boden, die Stadt, das Fundament. Er stellte die Tasche ab und griff in seine Hose. Das Handy brummte in seiner Hand. Im Display wurde Ragnhilds Nummer angezeigt. Bereits zum dritten Mal an diesem Tag. Er wusste, dass er es nicht länger aufschieben konnte, dass er ihr von seiner bevorstehenden Verlobung mit Thea erzählen musste. Wenn er denn endlich die richtigen Worte gefunden hatte. Er steckte das Telefon wieder in die Hosentasche und vermied es, sein Spiegelbild anzusehen. Doch dann fasste er einen Entschluss. Er wollte nicht mehr feig sein. Er wollte mutig werden. Ein großer Soldat sein. Für Thea in der Gøteborggata. Für Vater in Thailand. Für Gott im Himmel.

»Ja?«, kam es brummend aus dem Lautsprecher über den Klingelknöpfen.

»Oh, hallo, hier ist Jon.«

»Häh?«

»Jon, von der Heilsarmee.«

Jon wartete.

»Was wollen Sie?«, brummte es.

»Ich habe Lebensmittel dabei. Sie brauchen vielleicht « »Haben Sie auch Zigaretten?«

Jon schluckte und stampfte mit den Füßen auf dem Boden auf. »Nein, ich hatte dieses Mal nur Geld für Essen.«

»Scheiße.«

Es wurde still.

»Hallo?«, rief Jon.

»Ja doch. Ich denke nach.«

»Wenn Sie wollen, kann ich auch später wiederkommen.«

Der Türöffner summte und Jon beeilte sich, die Haustür aufzudrücken.

Überall im Treppenhaus lagen leere Flaschen und Zeitungspapier herum, und auf dem Boden glänzten gelbe Pfützen gefrorenen Urins. Aber durch die Kälte blieb Jon wenigstens der durchdringende süßsaure Gestank erspart, der bei wärmerem Wetter im Hausflur hing.

Er versuchte unbeschwert und leicht zu gehen, aber trotzdem dröhnten seine Schritte auf der Treppe. Die Frau, die in der Tür auf ihn wartete, hatte ihren Blick auf die Taschen gerichtet. Um ihn nicht direkt ansehen zu müssen, dachte Jon. Sie hatte das aufgedunsene, schwammige Gesicht einer langjährigen Alkoholikerin, war übergewichtig und trug ein schmutziges, weißes T-Shirt unter dem Morgenmantel. Aus der Wohnung drang ein beißender Gestank.

Jon blieb auf dem Treppenabsatz stehen und stellte die Taschen ab. »Ist Ihr Mann zu Hause?«

»Ja, er ist da«, sagte sie in weichem Französisch.

Sie war hübsch. Hohe Wangenknochen und große, mandelförmige Augen. Schmale, blutleere Lippen. Und gut gekleidet. Jedenfalls galt das für den Teil von ihr, den er durch den Türspalt sehen konnte.

Automatisch zupfte er sein rotes Halstuch zurecht.

Das Sicherheitsschloss zwischen ihnen war aus solidem Messing und an der schweren Eichentür befestigt, die kein Namensschild trug. Als er vor dem Haus in der Avenue Carnot darauf gewartet hatte, dass ihm die Concierge öffnete, hatte er registriert, dass alles neu und teuer wirkte: die Türbeschläge, die Klingelanlage, die Zylinder des Schlosses. Und die Tatsache, dass die blassgelbe Fassade und die weißen Jalousien von einer hässlichen schwarzen Schmutzschicht überzogen waren, unterstrich nur die Etabliertheit und Solidität dieser Pariser Wohngegend. Im Flur hingen echte Ölgemälde.

»Worum geht es? «

Ihr Blick und ihr Tonfall waren weder unfreundlich noch freundlich, verrieten aber eine Spur Skepsis, die wohl mit seinem schlechtem Französisch zusammenhängen mochte.

»Eine Nachricht, Madame.«

Sie zögerte, reagierte dann aber wie erwartet:

»Wenn das so ist. Würden Sie bitte hier warten, ich werde ihn holen.«

Sie machte die Tür zu, die mit einem gut geölten, weichen Klicken ins Schloss fiel. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Er sollte besser Französisch lernen.

Mutter hatte abends immer Englisch mit ihm gepaukt, aber an seinem Französisch hatte sie nie etwas verbessern können. Er starrte auf die Tür. Französische Eröffnung. Französischer Besuch. Nett.

Er dachte an Giorgi. Giorgi mit dem weißen Lächeln war ein Jahr älter als er, er musste jetzt also 24 Jahre alt sein. Ob er noch immer so hübsch war? Blond und klein und zierlich wie ein Mädchen? Er hatte Giorgi geliebt, vorurteilsfrei und bedingungslos, wie nur Kinder einander lieben können.

Drinnen hörte er Schritte. Ein Mann kam. Jemand hantierte am Schloss herum. Ein blauer Strich zwischen Arbeit und Freiheit, von hier zu Seife und Urin. Bald würde der Schnee kommen. Er machte sich bereit.

*

Das Gesicht des Mannes erschien im Türspalt.

»Verdammt, was wollen Sie?«

Jon hob die Plastiktüte hoch und versuchte zu lächeln: »Frisches Brot. Riecht gut, nicht wahr?«

Fredriksen legte eine große braune Hand auf die Schulter der Frau und schob sie zur Seite. »Ich rieche nur das Blut einer frommen Seele « Die Worte kamen wohlartikuliert und nüchtern, aber die verwässerte Iris in dem bärtigen Gesicht sprach eine andere Sprache. Die Augen versuchten, die Tüten zu fokussieren. Er sah aus wie ein großer, kräftiger Mann, der in sich zusammengesunken war. Als wären Skelett und Schädel unter der Haut geschrumpft, so dass diese nun schwer und drei Nummern zu groß von dem bösartigen Gesicht herabhing. Fredriksen fuhr sich mit einem schmutzigen Finger über die frischen Kratzer auf dem Nasenrücken.

»Wollen Sie uns jetzt wieder eine Predigt halten?«, fragte er. »Nein, ich wollte eigentlich nur «

»Erzählen Sie keinen Mist, Soldat. Ein bisschen wollen Sie dafür doch wohl haben, oder? Wie wäre es denn zum Beispiel mit meiner Seele?«

Jon schüttelte sich in seiner Uniform. »Über Seelen kann ich nicht verfügen, Fredriksen. Ich kann Ihnen nur ein bisschen zu essen « »Komm schon, eine kleine Predigt geht doch wohl.«

»Wie gesagt, ich «

»Los!«

Jon blieb stehen und sah Fredriksen an.

»Jetzt machen Sie schon Ihr dummes Maul auf und predigen Sie! «, brüllte Fredriksen. »Predigen Sie da oben auf Ihrem hochnäsigen Thron, damit wir mit gutem Gewissen essen können! Los jetzt, bringen Sie es hinter sich, wie lautet die heutige Botschaft des Herrn?«

Jon machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Schluckte. Versuchte es erneut, und dieses Mal gelang es ihm, Schwingung in seine Stimmbänder zu bekommen. »Die Botschaft lautet, dass Gott seinen Sohn für uns gegeben hat … zur Erlösung unserer Sünden.«

»Sie lügen!«

*

»Nein, das tue ich leider nicht«, sagte Harry und blickte in das entsetzte Gesicht des Mannes, der vor ihm in der Tür stand. Es roch nach Essen, und im Hintergrund war das Klirren von Besteck zu hören. Ein Familienmensch. Ein Vater. Bis zu diesem Augenblick. Der Mann kratzte sich am Unterarm und hatte seinen Blick auf einen Punkt etwas oberhalb von Harry geheftet, als stehe da irgendjemand. Das Kratzen machte ein unangenehmes schabendes Geräusch.

Jetzt hatte das Klirren des Bestecks aufgehört. Stattdessen hörte man vorsichtige Schritte, und dann legte sich von hinten eine kleine Hand auf die Schulter des Mannes. Eine Frau mit großen, ängstlichen Augen erschien:

»Was ist los, Birger? «

»Dieser Polizist will uns etwas mitteilen«, sagte Birger tonlos. »Was ist denn los?«, fragte die Frau und sah Harry an. »Geht es um unseren Jungen? Wo ist Per? «

»Ja, Frau Holmen«, sagte Harry und sah die Angst in ihre Augen steigen. Wieder einmal suchte er vergebens nach den richtigen Worten. »Wir haben ihn vor zwei Stunden gefunden. Ihr Sohn ist tot. «

Er musste ihrem Blick ausweichen.

»Aber er … er … Wo ? « Ihr Blick huschte von Harry zu ihrem Mann, der immer weiter an seinem Arm kratzte und kratzte.

Gleich fängt er an zu bluten, dachte Harry und räusperte sich. »In einem Container in Bjørvika. Es war so, wie wir befürchtet hatten. Er war schon eine ganze Weile tot. «

Es schien so, als würde Birger Holmen plötzlich das Gleichgewicht verlieren, er taumelte nach hinten in den hell erleuchteten Flur und musste sich an einem Garderobenständer festhalten. Die Frau trat in die Türöffnung, und Harry sah, wie der Mann hinter ihr in die Knie ging.

Harry hielt die Luft an und schob die Hand unter seinen Mantel. Das Metall des Flachmanns schmiegte sich eiskalt an seine Fingerkuppen. Er fand den Umschlag und zog ihn heraus. Obwohl er den Brief nicht gelesen hatte, wusste er nur zu gut, was darin stand. Die offizielle Todesmeldung, kurz und sachlich, ohne ein überflüssiges Wort. Der Tod als bürokratischer Vorgang.

»Es tut mir leid, aber ich habe den Auftrag, Ihnen das hier zu geben.«

*

»Was haben Sie für einen Auftrag?«, fragte der kleine Mann. Er war mittleren Alters und hatte die übertrieben mondäne französische Aussprache, die nicht die Oberklasse kennzeichnet, sondern diejenigen, die gerne dazugehören würden. Der Besucher betrachtete ihn. Alles stimmte mit dem Bild im Briefumschlag überein, sogar der geizige Schlipsknoten und die schlaff herabhängende rote Hausjacke.

Er wusste nicht, was dieser Mann falsch gemacht hatte. Er hatte sicher niemand ein körperliches Leid zugefügt, denn trotz des irritierten Gesichtsausdrucks war die Körpersprache defensiv, beinahe ängstlich, und das sogar hier, in der Tür zu seiner eigenen Wohnung. Hatte er Geld gestohlen? Etwas unterschlagen? Er sah so aus, als könnte er mit Zahlen arbeiten. Aber es handelte sich nicht um große Beträge. Trotz seiner hübschen Frau machte er eher den Eindruck, als reiße er sich nur hie und da Kleinigkeiten unter den Nagel. Vielleicht war er untreu, hatte mit der Frau des falschen Mannes geschlafen? Nein. Kleinwüchsige Männer mit durchschnittlichem Vermögen und einer Ehefrau, die deutlich attraktiver ist als sie selbst, sind in der Regel eher von dem Gedanken besessen, dass die Frau ihnen untreu ist. Der Mann nervte ihn. Aber vielleicht war es ja genau das. Vielleicht hatte er bloß jemand genervt. Er schob seine Hand in die Tasche.

»Mein Auftrag ist«, sagte er und legte den Lauf einer Llama MiniMax, die er für nur dreihundert Dollar gekauft hatte, auf die gestraffte Messingkette, »… das hier.«

Er zielte über den Schalldämpfer. Ein schlichtes Metallrohr, einfach in das Gewinde des Laufes geschraubt, das er sich in Zagreb bei einem Schmied hatte schneiden lassen. Der schwarze Klebestreifen, mit dem der Übergang umwickelt war, sollte ihn luftdicht abschließen. Natürlich hätte er auch einen sogenannten Qualitätsschalldämpfer für mehr als hundert Euro kaufen können, aber wozu? Weder der eine noch der andere vermochte wirklich das Geräusch einer Kugel zu schlucken, die die Schallmauer durchbrach, des warmen Gases, das plötzlich in die kalte Luft austrat, oder der mechanischen Metallteile der Pistole, die aufeinanderschlugen. Nur in Hollywood gab es Pistolen mit Schalldämpfern, die wie Popcorn unter einem Deckel klangen.

Der Schuss kam wie ein Peitschenknall, und er presste sein Gesicht in den schmalen Türspalt.

Der Mann von dem Foto war verschwunden, er war lautlos nach hinten gekippt. Die Eingangshalle war nur schwach beleuchtet, doch in einem Spiegel an der Wand sah er das Licht der Türöffnung und sein eigenes, weit aufgerissenes Auge, eingerahmt in Gold. Der Tote lag auf einem dicken, burgunderfarbenen Teppich. Persisch? Vielleicht war er doch vermögend gewesen.

Jetzt hatte er allerdings ein kleines Loch in der Stirn.

Er sah auf und begegnete dem Blick der Frau. Wenn es denn seine Frau war. Sie stand auf der Schwelle einer anderen Tür in der Wohnung. Hinter ihr hing eine große, gelbe Reispapierlampe. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und starrte ihn an. Er nickte ihr kurz zu. Dann schloss er die Tür vorsichtig, schob die Pistole zurück ins Schulterhalfter und ging die Treppe hinunter. Er benutzte nie den Fahrstuhl, wenn er auf dem Rückzug war. Oder Leihwagen, Motorräder oder andere Dinge, die plötzlich stehen bleiben konnten. Und er rannte nicht. Verhielt sich still, denn auch seine Stimme konnte ihn verraten.

Der Rückzug war der kritischste Teil seiner Arbeit, aber auch derjenige, den er am meisten mochte. Es war wie ein Schweben, ein traumloses Nichts.

Die Concierge war herausgekommen. Sie stand vor der Tür ihrer Erdgeschosswohnung und sah ihn unsicher an. Er flüsterte ihr einen Abschiedsgruß zu, aber sie starrte ihm nur stumm hinterher. In einer Stunde würde die Polizei sie um eine Täterbeschreibung bitten. Und sie würde ihnen eine geben. Von einem mittelgroßen Mann durchschnittlichen Aussehens. Zwanzig Jahre alt. Oder vielleicht dreißig. Sicher nicht vierzig, glaube sie.

Er trat auf die Straße. Paris grummelte leise, wie ein Gewitter, das nicht näher kam, aber auch kein Ende finden konnte. Er warf seine Llama MiniMax in einen Mülleimer, den er sich zuvor bereits ausgeguckt hatte. Zwei neue, noch nicht benutzte Waffen gleichen Typs warteten in Zagreb auf ihn. Er hatte Mengenrabatt bekommen.

Als der Flughafenbus eine halbe Stunde später Porte de la Chapelle an der Autobahn zwischen Paris und dem Flughafen Charles de Gaulle passierte, war die Luft voller Schneeflocken. Sie legten sich zwischen die spärlichen, blassgelben Halme, die sich steifgefroren in den grauen Himmel reckten.

Nachdem er eingecheckt und die Sicherheitskontrolle hinter sich gebracht hatte, ging er geradewegs auf die Toilette. Er stellte sich ganz ans Ende der Reihe der weißen Urinale, öffnete seine Hose und ließ den gelben Strahl auf die weißen WC-Steine rieseln, die am Boden des Beckens lagen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den süßlichen Geruch von Paradichlorbenzol und das Zitronenaroma von J&J Chemicals. Auf der blauen Linie in die Freiheit gab es jetzt nur noch eine Haltestelle. Er ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Os-lo.

KAPITEL 3

Sonntag, 13. Dezember. Biss

Harry saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl im Büro 605, einem zehn Quadratmeter großen Viereck in der roten Zone der sechsten Etage des Polizeipräsidiums, dem Glas- und Betonklotz mit der größten Ansammlung von Polizisten in ganz Norwegen. Er teilte sich das liebevoll als »Aufklärungsbüro« bezeichnete Zimmer mit dem jungen Beamten Halvorsen, wobei er manchmal, wenn er seinen Kollegen zusammenstauchen wollte, auch vom »Ausbildungsbüro« sprach.

Aber jetzt war Harry allein. Er starrte an die Wand, an der vermutlich das Fenster gewesen wäre, wenn das Aufklärungsbüro denn eines gehabt hätte.

Es war Sonntag, er hatte seinen Bericht geschrieben und konnte nach Hause gehen. Warum tat er es also nicht?

Durch das imaginäre Fenster sah er das eingezäunte Hafengelände von Bjørvika. Der Neuschnee legte sich wie Konfetti auf die roten, grünen und blauen Container. Der Fall war aufgeklärt. Per Holmen, ein junger Heroinabhängiger, hatte von seinem Leben genug gehabt und sich drinnen im Container seinen letzten Schuss gesetzt. Mit einer Pistole. Keine Zeichen äußerer Gewaltanwendung, die Waffe hatte neben ihm gelegen. Nach Auskunft der Informanten hatte Per Holmen niemand Geld geschuldet. Aber wenn die Dealer jemand wegen Drogenschulden hinrichteten, versuchten sie ohnehin nicht, dies zu verbergen. Ganz im Gegenteil. Also eindeutig Selbstmord. Warum sollte er sich also den Abend damit versauen, in einem zugigen Containerhafen herumzulaufen, in dem er doch auf nichts anderes stoßen würde als noch mehr Tristesse?

Harry blickte auf seinen Wollmantel, der an der Garderobe hing. Der kleine Flachmann in der Innentasche war voll. Und unberührt, seit er im Oktober ins Vinmonopol, das staatliche Spirituosengeschäft, gegangen war, sich eine Flasche seines schlimmsten Feindes, Jim Beam, gekauft und sie in den Flachmann umgefüllt hatte. Den Rest hatte er ins Waschbecken gekippt. Seither trug er das Gift bei sich, etwa so, wie die Nazigrößen früher mit Zyankalikapseln in den Absätzen herumgelaufen waren. Wie war er nur auf diese bescheuerte Idee gekommen? Er wusste es nicht. Es war auch nicht so wichtig. Es funktionierte.

Harry sah auf die Uhr. Bald elf. Zu Hause wartete eine oft benutzte Espressokanne und eine noch nie gesehene DVD, die er sich für solche Abende aufgehoben hatte. »All About Eve«, Mankiewicz’ Meisterwerk von 1950 mit Bette Davis und George Sanders.

Er horchte in sich hinein. Und wusste, dass es der Containerhafen werden würde.

Harry hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und stellte sich mit dem Rücken in den Nordwind, der durch das hohe Gitter vor ihm fegte und an den Containerecken hinter dem Zaun kleine Schneewehen zusammenblies. Das Hafengelände sah mit seinen großen, kahlen Flächen aus wie eine Wüste. Jedenfalls jetzt, mitten in der Nacht.

Das eingezäunte Gelände war hell erleuchtet, aber die Laternenpfähle schwankten im Wind, und tiefe Schatten verliefen zwischen den Reihen der Container, von denen jeweils zwei oder drei übereinandergestapelt waren. Der Container, den Harry betrachtete, war rot, eine Farbe, die furchtbar schlecht zum orangen Absperrband der Polizei passte. Aber in Oslo im Dezember gab er einen guten Zufluchtsort ab, etwa in der Größe einer Ausnüchterungszelle im Polizeipräsidium.

Im Bericht der Einsatzgruppe – die kaum eine Gruppe gewesen war, bloß ein Kommissar und ein Beamter der Spurensicherung – war festgehalten worden, dass der Container bereits einige Zeit leer gestanden hatte. Und unverschlossen gewesen war. Der Aufseher des Containerhafens hatte erklärt, dass sie es nicht so schrecklich genau damit nahmen, leere Container abzuschließen, da das Gelände ja abgesperrt und bewacht sei. Trotzdem war es diesem Junkie gelungen, einen Weg hinein zu finden. Vermutlich war Per Holmen einer der vielen gewesen, die sich rund um Bjørvika aufhielten, da dieser Teil des Hafens nur einen Steinwurf vom Drogensupermarkt Plata entfernt lag. Vielleicht hatte der Aufseher ja ganz bewusst ein Auge zugedrückt, wenn seine Container als Übernachtungsgelegenheit benutzt wurden. Möglicherweise wusste er auch, dass sie dem einen oder anderen das Leben retten konnten?

Es war kein Schloss am Container, aber das Tor des Zauns war mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert. Harry ärgerte sich, nicht aus dem Polizeipräsidium angerufen und sein Kommen angemeldet zu haben. Sollte es hier wirklich Wachen geben, waren sie nirgends zu sehen.

Harry sah auf die Uhr. Dachte nach und blickte am Zaun nach oben. Er war gut in Form. So gut wie schon lange nicht mehr. Er hatte seit dem fatalen Aussetzer im letzten Sommer keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt und regelmäßig im Kraftraum des Präsidiums trainiert. Mehr als regelmäßig. Noch vor dem ersten Schnee hatte er im Stadion von Økern Tom Waalers alten Rekord im Hindernislauf gebrochen. Ein paar Tage später fragte Halvorsen vorsichtig, ob all das Training mit Rakel zusammenhing. Er habe nämlich den Eindruck, dass sie sich nicht mehr sähen? Harry erklärte dem jungen Beamten kurz und knapp, dass sie sich zwar das Büro teilten, nicht aber das Privatleben. Halvorsen zuckte bloß mit den Schultern und fragte, mit wem Harry denn sonst reden wolle, und sah seine Annahme bestätigt, als Harry aufsprang und aus dem Zimmer 605 marschierte.

Drei Meter. Kein Stacheldraht. Leicht. Harry packte das Gitter so weit oben, wie er konnte, stemmte die Füße gegen den Zaunpfahl und richtete sich auf. Dann schob er die rechte Hand hoch, danach die linke, hing einen Moment an gestreckten Armen, bis er mit den Füßen erneut Halt fand. Wie eine Spannerraupe. Schließlich schwang er sich auf die andere Seite hinüber.

Er zog den Bolzen hoch und öffnete die Containertür, nahm die solide schwarze Army-Taschenlampe, ging gebückt unter der Absperrung hindurch und trat ein.

Drinnen war es seltsam still, als seien auch die Geräusche eingefroren.

Harry schaltete die Taschenlampe ein und richtete sie auf die hinterste Ecke des Containers. Im Lichtschein sah er die Kreidestriche am Boden. Dort hatten sie Per Holmen gefunden. Beate Lønn, die Leiterin der Kriminaltechnik in der Brynsallee, hatte ihm die Bilder gezeigt. Per Holmen hatte mit einem Loch in der rechten Schläfe mit dem Rücken an der Wand gelehnt, rechts neben sich die Pistole. Wenig Blut. Das war das Gute an Kopfschüssen. Das einzig Gute. Die Pistole brauchte nur ein sehr bescheidenes Kaliber, so dass die Einschusswunde minimal war und es auch keine Austrittswunde gab. Die Rechtsmedizin würde die Patrone demnach im Kopf finden, wo sie vermutlich wie eine Flipperkugel hin und her geschnellt war und Brei aus dem Teil von Per Holmens Kopf gemacht hatte, den er zuvor zum Denken genutzt hatte. Der ihm geholfen hatte, diesen Entschluss zu fassen, und seinem Zeigefinger zu guter Letzt den Befehl gegeben hatte, den Abzug zu drücken.

»Unbegreiflich«, pflegten seine Kollegen zu sagen, wenn sie junge Menschen fanden, die sich für den Freitod entschieden hatten. Harry nahm an, dass sie das sagten, um sich selbst zu schützen, um die Idee als solche als absurd hinzustellen. Ansonsten verstand er aber nicht, was daran so unbegreiflich sein sollte.

Trotzdem war es gerade dieses Wort gewesen, das er noch am Nachmittag benutzt hatte, als er im Treppenhaus stand und in den dunklen Flur blickte, auf Per Holmens knienden Vater, auf seinen Rücken, der von Schluchzern geschüttelt wurde. Und da Harry angesichts des Todes keine Worte des Trostes hatte, keinen Gott, keinen Erlöser, kein Leben danach und auch keinen tieferen Sinn, murmelte er nur dieses eine hilflose Wort: »Unbegreiflich «

Harry machte die Lampe aus, steckte sie in die Tasche und war umschlossen von Dunkelheit.

Er dachte an seinen eigenen Vater, Olav Hole, den pensionierten Lehrer und Witwer, der in einem Haus in Oppsal wohnte. Daran, wie seine Augen aufleuchteten, wenn er einmal im Monat Besuch von Harry oder dessen Schwester Søs bekam, und wie dieses Leuchten langsam wieder verlosch, während sie Kaffee tranken und über belangloses Zeug redeten. Denn die Einzige, die ihm etwas bedeutete, thronte in einem Bilderrahmen auf jenem Klavier, auf dem sie immer gespielt hatte. Olav Hole tat fast nichts mehr. Er las nur noch seine Bücher. Über Länder und Reiche, die er niemals mehr zu Gesicht bekommen würde und die er wohl auch nicht mehr sehen wollte, nicht jetzt, da sie ihn nicht mehr begleiten konnte. »Den größten Verlust«, nannte er es, wenn sie, was selten vorkam, darüber sprachen. Was würde Olav Hole wohl sagen, wenn sie eines Tages kamen und ihm vom Tod seines Sohnes berichteten?, fragte sich Harry.

Er trat aus dem Container und ging zum Zaun. Packte mit den Händen zu. Dann kam einer dieser merkwürdigen Augenblicke von plötzlicher, vollkommener Stille, in denen der Wind den Atem anhielt, wie um zu lauschen oder nachzudenken, so dass nur das vertraute Rumoren der Stadt im winterlichen Dunkel zu hören war – und das Flattern von Papier, das über den Asphalt wehte. Aber der Wind hatte sich gelegt. Das war kein Papier, das waren Schritte. Rasche, leichte Schritte. Nicht von Menschenfüßen.

Pfoten.

Harrys Herzschlag beschleunigte rasant, und er zog blitzschnell die Knie unter sich hoch. Richtete sich auf. Erst später sollte er sich daran erinnern, was ihm derart die Furcht in die Glieder getrieben hatte. Es war die Stille gewesen, und die Tatsache, dass er in dieser Stille nichts gehört hatte, kein Knurren, kein Zeichen von Aggressivität. Als wollte ihn das, was sich dort hinter ihm im Dunkel befand, nicht erschrecken. Ganz im Gegenteil. Als machte es Jagd auf ihn. Und hätte Harry mehr über Hunde gewusst, wäre er sich vielleicht darüber im Klaren gewesen, dass es nur eine Art gab, die niemals knurrte, weder wenn sie Angst hatte noch wenn sie angriff: die Rüden der Rasse Schwarzer Metzner. Harry warf die Arme nach oben und zog erneut die Knie an, als er eine Lücke im Rhythmus wahrnahm, gefolgt von Stille. Er wusste, dass der Hund gesprungen war. Harry trat blindlings nach hinten.

Die Behauptung, man empfinde keinen Schmerz, wenn die Angst das Blut mit Adrenalin vollgepumpt hat, ist bestenfalls unpräzise. Harry brüllte, als die Zähne des großen, schlanken Hundes in sein Bein schlugen und sich immer tiefer gruben, bis sie schließlich auf die empfindliche Knochenhaut trafen. Das Gitter sang, die Schwerkraft zerrte an ihnen beiden, doch mit dem Mut der Verzweiflung gelang es Harry, sich festzuhalten. Normalerweise hätte das seine Rettung sein sollen. Denn jeder andere Hund mit dem Gewicht eines ausgewachsenen Metzners hätte jetzt loslassen müssen. Aber die Zähne und Kiefermuskulatur eines Schwarzen Metzners sind dazu gedacht, Knochen zu zerbeißen; daher auch das Gerücht, er sei mit den knochenfressenden Fleckenhyänen verwandt. Also blieb er, wo er war, die zwei gebogenen Fangzähne des Oberkiefers wie Bolzen in Harrys Bein verankert, während die Zähne des Unterkiefers den Biss stabilisierten. Einen Fangzahn im Unterkiefer hatte sich der Hund an einer Stahlprothese abgebrochen, als er erst drei Monate alt gewesen war.

Harry bekam den linken Ellenbogen über den Rand des Zauns und versuchte, sich und den Hund hochzuziehen, doch das Tier steckte mit einer Pfote im Gitter. Er tastete mit der rechten Hand nach seiner Manteltasche, fand sie und griff nach dem gummierten Griff der Taschenlampe. Als er nach unten blickte, sah er das Tier überhaupt zum ersten Mal. Schwarze Augen blinzelten ihm matt aus einem ebenso schwarzen Kopf entgegen. Harry schlug mit der Taschenlampe zu. Er traf den Hund so hart, dass er es knacken hörte, genau zwischen den Ohren. Wieder hob er die Taschenlampe und schlug ein weiteres Mal zu. Traf die empfindliche Schnauze. Verzweifelt hieb er auf die Augen ein, die jetzt nicht mehr blinzelten. Schließlich rutschte ihm die Lampe aus der Hand und fiel zu Boden. Der Köter hing fest. Harry ging langsam die Kraft in den Armen aus. Er wollte nicht daran denken, wie die Fortsetzung aussehen würde, konnte den Gedanken aber nicht wegschieben.

»Hilfe!«

Harrys unschlüssiger Ruf wurde vom auffrischenden Wind verschluckt. Er hielt sich mit der anderen Hand fest und verspürte plötzlich den unbändigen Drang zu lachen. So konnte es doch unmöglich enden? Dass er mit durchgebissener Kehle in einem Containerhafen gefunden wurde, zur Strecke gebracht von einem Wachhund? Harry holte tief Luft. Die Maschen des Zauns stachen ihm in die Achselhöhle, und seine Finger wurden langsam taub. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis er den Halt verlor. Wenn er nur eine Waffe gehabt hätte. Irgendeine Flasche, die er zerbrechen konnte, um damit zuzustechen, statt dieser blöden Taschenlampe.

Der Flachmann!