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Das schönste Märchen von Oscar Wilde, das erste Mal erschienen 1891 als Teil der Sammlung "A House of Pomegranates" ("Ein Granatapfelhaus"), in vollständiger Neuübersetzung von 2021: Ein Fischer verliebt sich in eine Meerjungfrau und will nun seine Seele loswerden, weil er seine größte Liebe sonst nicht gewinnen kann. Mit Hilfe einer Hexe gelingt ihm zunächst auch, sein Ziel zu erreichen, doch seine Seele geht eigene Wege und die Geschichte anders aus, als sich der Fischer erhofft hat, weil es ihm nicht gelingt, seine Begierden zu beherrschen; er nicht zufrieden ist mit dem, was er erreicht hat. Eine meisterhafte Parabel über den Wert der Seele und den freien Willen des Menschen. Und über Liebe, Reue und Vergebung.
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Seitenzahl: 64
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Jeden Abend fuhr der junge Fischer auf das Meer hinaus und warf die Netze ins Wasser.
Wenn der Wind vom Land her wehte, dann fing der junge Fischer nichts oder nur wenig, denn es war ein bitterer und schwarzgeflügelter Wind, und rauhe Wellen erhoben sich ihm entgegen. Aber wehte der Wind zum Ufer hin, dann kamen die Fische aus der Tiefe und schwammen in die Maschen der Netze, und der junge Fischer verkaufte seinen Fang auf dem Marktplatz der Stadt.
Jeden Abend fuhr der junge Fischer auf das Meer hinaus, und eines Abends war das Netz so schwer, dass er es kaum ins Boot ziehen konnte. Und der junge Fischer lachte und sagte zu sich selbst: „Sicherlich habe ich alle Fische gefangen, die hier schwimmen, oder ein träges Ungeheuer, das den Menschen als ein Wunder gelten wird, oder etwas Schreckliches, das die große Königin unbedingt besitzen will“, und indem er all seine Kraft aufbrachte, zerrte er an den groben Seilen, bis die langen Adern an seinen Armen wirkten wie Linien aus blauer Emaille um eine Vase aus Bronze, und immer näher kam der Kreis der Schwimmkorken, und das Netz stieg schließlich zur Oberfläche des Wassers auf.
Aber es war überhaupt kein Fisch darin und auch kein Ungeheuer oder etwas Schreckliches, sondern eine kleine Meerjungfrau, in tiefem Schlaf.
Ihr Haar war wie ein nasses Vlies von Gold und jedes einzelne Haar wie ein goldener Faden in einem gläsernen Becher. Ihr Leib war wie weißes Elfenbein, und ihre Schwanzflosse war von Silber und Perlen, und die grünen Pflanzen des Meeres schlängelten sich darum; und wie Muscheln waren die Ohren der kleinen Meerjungfrau, und ihre Lippen waren wie die roten Korallen des Meeres. Die kalten Wellen schlugen über die kalten Brüste der kleinen Meerjungfrau, und das Salz glitzerte auf ihren Augenlidern.
So schön war die kleine Meerjungfrau, dass der junge Fischer, als er sie sah, von Staunen erfüllt war, und er streckte seine Hand aus und zog das Netz dicht an sich heran und beugte sich aus dem Boot hinaus und legte die Arme um die kleine Meerjungfrau. Und als er sie also berührte, da schrie sie kurz auf wie eine aufgeschreckte Möwe und erwachte und schaute ihn entsetzt mit ihren amethystfarbenen Augen an und wehrte sich, auf dass sie von ihm loskommen könnte. Aber der junge Fischer hielt die kleine Meerjungfrau fest und wollte nicht zulassen, dass sie ihn wieder verließ.
Und als sie verstand, dass es ihr nicht möglich war, dem jungen Fischer zu entfliehen, da begann sie zu weinen und sagte: „Ich bitte dich, lass‘ mich frei, denn ich bin die einzige Tochter eines Königs, und mein Vater ist alt und allein.“
Aber der junge Fischer antwortete: „Ich werde dich erst freilassen, wenn du mir versprichst, jedes Mal, wenn ich dich rufe, zu mir zu kommen und für mich zu singen, denn die Fische hören gern den Gesang des Volkes des Meeres, und so werden meine Netze voll sein.“
„Ist das auch die Wahrheit? Wirst du mich freilassen, wenn ich dir das verspreche?“, fragte die Meerjungfrau.
„Das ist die Wahrheit. Ich werde dich loslassen“, sagte der Fischer. Da gab die Meerjungfrau ihm das Versprechen, das er verlangt hatte, und schwor darauf den Eid des Volkes des Meeres. Und der junge Fischer löste seine Arme von ihr, und sie sank in das Wasser hinab, zitternd vor einer seltsamen Angst.
Und so fuhr der junge Fischer nun jeden Abend auf das Meer hinaus und rief die kleine Meerjungfrau, und sie stieg aus dem Wasser und sang für ihn. Um sie herum schwammen die Delphine, und die wilden Möwen kreisten über ihrem Kopf.
Und sie sang ein wundervolles Lied: Sie sang vom Volk des Meeres, das seine Herden von Höhle zu Höhle treibt und dabei die Kälbchen auf den Schultern trägt; von den Tritonen, die lange grüne Bärte haben und eine behaarte Brust und in gedrehte Muscheln blasen, wenn der König vorübergeht; von dem Königspalast, der ganz aus Bernstein ist, mit einem Dach aus klarem Smaragd und einem Boden aus schimmernden Perlen, und von den Gärten des Meeres, in denen die großen filigranen Fächer der Korallen den ganzen Tag lang winken und die Fische vorbeischießen wie silberne Vögel und die Anemonen sich in die Felsen krallen und die Grasnelken aus dem geriffelten gelben Sand sprießen. Sie sang von den großen Walen, die aus dem Nordmeer kommen und an deren Flossen scharfe Eiszapfen hängen; von den Sirenen, die so wunderbare Dinge erzählen, dass die Kaufleute sich die Ohren mit Wachs verstopfen müssen, damit sie nicht zuhören, ins Wasser springen und ertrinken; von den versunkenen Galeeren mit ihren hohen Masten und den erfrorenen Matrosen, die sich an die Takelage klammern, und den Makrelen, die durch die offenen Bullaugen hinein- und hinausschwimmen; von den kleinen Seepocken, die große Reisende sind und sich an die Kiele der Schiffe heften und immer wieder die ganze Welt umrunden, und von den Tintenfischen, die in den Wänden der Klippen leben und ihre langen schwarzen Arme ausstrecken und die Nacht beginnen lassen können, wann immer sie es wollen. Sie sang von der Nautilus, die ein eigenes Boot hat, das aus einem Opal geschnitzt ist und mit einem seidenen Segel gesteuert wird; von den glücklichen Wassermännern, die auf Harfen spielen und den großen Kraken in den Schlaf wiegen können; von den kleinen Kindern, die glitschige Tümmler fangen und lachend auf ihrem Rücken reiten; von den Meerjungfrauen, die im weißen Schaum liegen und den Seefahrern die Arme ausstrecken, und von den Seelöwen mit ihren gebogenen Stoßzähnen und den Seepferdchen mit ihren schwebenden Mähnen.
Und während die Meerjungfrau sang, kamen alle Thunfische hinauf aus dem Meer, um zuzuhören, und der Fischer warf sein Netz aus und fing sie damit und benutzte dafür auch den Speer. Und wenn das Boot dann gut beladen war, sank die Meerjungfrau wieder ins Meer hinab und lächelte dem Fischer zu.
Doch wollte sie niemals nahe kommen, auf dass er sie berühren könne. Oft rief er nach ihr und flehte sie an, aber sie wollte nicht; und als er sie zu ergreifen suchte, tauchte sie wie eine Robbe ins Wasser, und der junge Fischer sah die kleine Meerjungfrau an diesem Tag nicht wieder. Und mit jedem Tag wurde der Klang ihrer Stimme süßer in des jungen Fischers Ohren. So süß war ihre Stimme, dass er seine Netze und seine Aufgaben vergaß und sich auch nicht mehr um sein Boot kümmerte. Mit zinnoberroten Flossen und goldenen Augen zogen die Thunfische in Schwärmen vorbei, aber der Fischer beachtete sie nicht. Sein Speer lag unbenutzt herum, und die Körbe aus geflochtenem Weidengeflecht blieben leer. Mit aufgesperrten Lippen und vor Staunen getrübten Augen saß der junge Fischer stattdessen nur noch müßig in seinem Kahn und hörte zu; lauschte, bis die Meeresnebel um ihn herumkrochen und seine braune Haut im Licht des Mondes wie mit Silber gefärbt erschien.
Und eines Abends rief der junge Fischer nach der Meerjungfrau und sagte: „Kleine Meerjungfrau, kleine Meerjungfrau, ich liebe dich! Nimm mich zu deinem Bräutigam, denn ich liebe dich!“
Aber die Meerjungfrau schüttelte ihren Kopf. „Du hast eine menschliche Seele in dir“, antwortete sie. „Wenn du nur diese Seele wegschicken würdest, dann könnte ich dich lieben.“
Und der junge Fischer sagte zu sich selbst: „Welchen Nutzen hat meine Seele für mich? Ich kann sie nicht sehen. Ich darf sie nicht berühren. Ich kenne sie nicht. Sicherlich werde ich sie von mir wegschicken, und viel Freude wird mein sein.“ Und ein Jubelschrei brach über die Lippen des jungen Fischers, und er stand in dem bemalten Boot auf und streckte der Meerjungfrau die Arme entgegen. „Ich werde meine Seele fortschicken“, rief er, „und du sollst meine Braut sein, und ich will dein Bräutigam sein, und in der Tiefe des Meeres wollen wir zusammen wohnen, und alles, was du besungen hast, sollst du mir zeigen, und alles, was du dir wünschst, will ich tun, und unsere Leben sollen gemeinsam sein.“
Und die kleine Meerjungfrau lachte vor Vergnügen und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
„Aber wie soll ich meine Seele wegschicken?“, rief der junge Fischer. „Sag‘ mir, wie ich das tun kann, und sofort wird es geschehen!“