Der Gärtner von Samarkand - Hans-Jürgen Schleicher - E-Book

Der Gärtner von Samarkand E-Book

Hans-Jürgen Schleicher

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Beschreibung

Ein fernes Land, eine ferne Zeit, eine Welt, in der es Götter, Drachen und Zauberer gibt - und mittendrin zwei Freunde, die in ein Abenteuer geworfen werden, das sie vereint, entzweit, und welches sie am Ende doch gemeinsam bestehen werden. Die Zeit ist die des Übergangs von der Antike in das Mittelalter. Der Ort ist ein kleiner Garten nahe der Stadt Samarkand in Zentralasien, ein kleines, grünes Paradies inmitten einer steinigen, bergigen Öde, welches, wie es sich für Heldenreisen gehört, verlassen werden muss. Es ist eine Erzählung, die von jungen Menschen gelesen werden möchte, und von Junggebliebenen jeden Alters. Eine Geschichte für solche, die Spannendes lieben, die Nachdenklich machendes lieben, die es lieben, in Gedanken fremde Gegenden zu bereisen und sich in vergangenen Zeiten aufzuhalten. Also eine Erzählung für dich.

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

Im Garten

Flucht

Treffen

Unterwegs

Kawas

Karawanenhof

Fayamir

Die Geschichte von Arustam

Arustam: Begegnung

Arustam: Feder und Schwert

Der Drachenbund

In Anahitas Palast

Wie’s mit Arustam weiterging

Schwertertausch

Anahitas Rede

Eine Beratung

Sordyan

Stadt der schwarzen Wüste

Zahak

Im Dewabor

Am Ende der Reise

Im Garten

War einmal ein Junge, der hieß Thamaz. Er war für sein Alter eher klein, von etwas gedrungener Gestalt, hatte dunkelbraune, kurzlockige Haare und ebenso dunkelbraune Augen, die groß und wissbegierig in die Welt blickten. Von der hatte er aber noch nicht allzu viel gesehen, da er sein ganzes bisherige Leben an einem abgeschiedenen Ort verbracht hatte.

Er lebte mit seinem Onkel Bandak, einem Gärtner, in einem kleinen Haus. Es lag nahe der hohen, honigfarbenen Lehmmauer, die den Garten umgab, den sein Onkel pflegte. Thamaz half ihm dabei. Er lernte von ihm alles, was es brauchte, um ein guter Gärtner zu werden.

Der Ort, an dem die beiden wohnten, lag weit entfernt von hier, und die Zeit, in der die beiden lebten, ist schon lange vergangen. Es gab noch keine Computer und auch keine Autos, keine Eisenbahn und natürlich auch keine Flugzeuge. Überhaupt keine Maschinen, wie bei uns, es gab nur die kräftigen Arme der Menschen und die Unterstützung durch Esel, Pferd oder Kamel.

Die Krieger waren mit Schwert, Bogen und Schild bewaffnet, trugen Rüstung und kämpften in blutigen Schlachten Mann gegen Mann, für ihren Fürsten, ihre Stadt oder einfach als Söldner, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Die Bauern lebten in Armut, wie ihre Väter zuvor und deren Väter, abhängig vom Wind, der den Regen brachte oder auch nicht, hin und wieder den Sandstürmen oder der Käferplage ausgesetzt. Und abhängig auch von ihren Herren, die den Steuereintreiber vorbeischickten, um bei ihnen so viel von der Ernte einzufordern, dass ihnen kaum selbst etwas zu essen übrig blieb.

Thamaz und sein Onkel gehörten nicht zu den Bauern, sie hatten es besser: Der Onkel war Gärtner des Fürsten und wurde von diesem geschätzt und gut entlohnt.

Der Garten lag in einer Ebene zwischen unwegsamen Bergen, ringsum war alles steinig und öde, die Berge waren baumlos, felsig und steil, die Ebene war eine schattenlose Geröllwüste. Tagsüber zu heiß, nachts frostig kalt. Nur der Garten war grün, angenehm kühl und erfrischend feucht, lag im Schatten hochgewachsener Bäume und enthielt eine Vielzahl von Pflanzen und auch Tieren, die hierher gebracht worden waren, um zu gefallen. Ein unterirdischer Kanal von den hohen Schneebergen weit im Osten leitete das ganze Jahr über frisches Schmelzwasser zu dem Garten hin, sogar in der trockensten Zeit sprudelte der große Brunnen in der Mitte der Anlage und verteilte das belebende Nass an weitere Brunnenteiche, verbunden mit ihm durch schmale Wasserläufe, die kreuzförmig vom Hauptbrunnen ausgingen. Auch die Nebenbrunnen verteilten das Wasser weiter, bis jedes Beet, jeder Baum, jeder Busch, jede Blume, bis alle Pflanzen des Gartens ihren Anteil bekommen hatten. Deswegen war der Garten so frisch und grün und so blüten- und früchtereich, wie es sonst nirgends in der ganzen Gegend etwas Ähnliches gab.

Am inneren Rand des ummauerten Gartengevierts und entlang der offenen Kanäle und der Wege standen hohe, schattenspendende Bäume in dichten Reihen: schlanke, ritterliche Zypressen, groß-blättrige und glattrindige Platanen, laubreiche Pappeln. Verstreut dazwischen blühten Mandel-, Pfirsich- und Granatapfelbäume, Rosenbüsche verschiedener Sorten gab es jede Menge, und der Boden war bedeckt mit Blumen jeder Art: mit weißen und blauen Hyazinthen, Narzissen, Tulpen, Nelken, Levkojen, Veilchen, Maiglöckchen - jede Farbe und jeder Duft war vertreten. Die Bienen hatten reichlich zu tun, um all den Blütenstaub einzusammeln.

Thamaz’ Onkel Bandak hatte den Garten entworfen und auch bepflanzt. Der vorvorige Fürst hatte auf seine Vorschläge hin alles an Materialien und Gewächsen herbeischaffen lassen, was notwendig war, um ein solches Paradies in der Steinwüste zu erschaffen. Aber er und der nachfolgende Fürst war nur selten in ihren Garten gekommen, zu viel hatten sie mit Kriegszügen für ihre Oberherren und mit Intrigen zu Hause in ihrer Residenz zu tun gehabt. Und auch der jetzige Herrscher hatte keine Zeit gefunden, sich in diesen Erholungsort zurückzuziehen.

So blieb der Garten die meiste Zeit in einem verschlafenen Ruhezustand, nur Bandak, die Gärtnergehilfen und deren Familien und natürlich Thamaz selbst betraten ihn und kümmerten sich um seine Pflege. Dann gab es noch den Hausverwalter mit seinen Dienern im Palastpavillon am nördlichen Ende der Anlage, einige Bauern und Hirten, die ihre Häuser und Zelte in der Nähe der Wasserverteilungsstelle hatten, die mit dem überschüssigen Wasser des Gartens versorgt wurde, und sonst nur durchreisende Händler, Abenteurer und Boten des neuen Oberherrn, des Khagans, die kurz Station machten und dann weiterzogen.

Thamaz kannte sich schon gut aus mit den verschiedenen Pflanzen, wusste genau, ob sie mehr das Licht oder mehr den Schatten liebten, ob sie trockene, sandige Erde bevorzugten oder feuchten, dunklen Lehm. Er war dabei, ein guter Gärtner zu werden, doch irgendwie genügte ihm das nicht. Jeder Tag sah gleich aus: Aufstehen, frühstücken, in den Garten gehen und anfangen zu arbeiten, in der größten Tageshitze ein wenig dösen, dann wieder arbeiten, essen und schließlich schlafen gehen.

Es musste doch noch etwas anderes geben in der Welt! Er tagträumte von Abenteuern und Reisen in ferne Länder, in denen der Sand der Flüsse aus Gold und Edelsteinen bestand (so hatte er es von den Hausdienern gehört) und wo der Vogel Simurgh zu Hause war, der den Helden bei ihren Heldenaufgaben half. Träumte davon, eine Prinzessin vor einem Ungeheuer zu retten oder ein fremdes Königreich zu erobern.

Aber nichts geschah, was dem auch nur im Entferntesten ähnlich war. Alles ging seinen gewohnten Gang, er stand morgens früh auf, half seinem Onkel im Garten, schnitt die Bäume zurück, band die Ranken an die Rankengitter, grub und harkte, riss Unkraut aus und sammelte die schädlichen Käfer ein, die es irgendwie doch geschafft hatten, durch die leblose Öde in den Garten zu gelangen. Und, was ihm große Freude machte, er fütterte die zahmen Tiere, für die ein Teil des Gartens durch einen Zaun abgetrennt war.

Da waren Fasane, Perlhühner, eine Pfauenfamilie mit ihren prächtigen Federn, kleine Enten, Vögel, die besonders schön anzusehen waren, und Vögel, die besonders schön sangen. Und dann noch einige merkwürdig aussehende Antilopen mit einem kurzen Doppelrüssel als Nase, eine nicht sehr umfangreiche Herde grau-brauner Steppenhirsche mit verspielten Hirschkindern und ebenso Gazellen. Eine davon war ihm am liebsten, er hatte sie schon fast gezähmt, so zutraulich war sie durch sein tägliches Füttern geworden, obwohl sie ihre natürliche Scheu nie richtig ablegen konnte. So also sah sein Leben aus.

Doch eines Tages wurde alles anders, und es fing tatsächlich das große Abenteuer an, von dem er geträumt hatte. Und das begann an jenem Morgen, an dem er den fremden Jungen im Garten entdeckte. Thamaz kannte jeden Menschen, der an seinem Ort zuhause war, deswegen wusste er gleich, dass der Junge nicht hierher gehörte. Er wollte ihn schimpfen und ihm sagen, dass es verboten sei, sich einfach in den Garten zu setzen, als er sah, dass der Junge sich nicht nur ausruhte oder etwa von dem Obst gepflückt hatte, sondern ein Brett vor sich hatte, auf dem ein Bogen Papier lag, und dass er einen feinen Pinsel in der Hand hielt, mit dem er schrieb oder malte.

Da wurde er neugierig, er ging zu ihm hin und begrüßte ihn höflich. Der Junge hatte ein zartes Gesicht, seine Gestalt war feingliedrig, die Hand, mit der er den Pinsel führte, war schmal, und der Schwung des Pinsels genau und sicher. Seine Fingernägel waren ohne Schmutzränder, die schwarzen Haare kurzgeschnitten, seine Kleidung war sauber und aus besserem Stoff als gewöhnlich.

Thamaz sah ihm über die Schulter.

„Wie schön!“, rief er.

Der Junge hatte einen Teil des Gartens gezeichnet – den Brunnen, den Wasserlauf, die Zypressen im Hintergrund und einen blühenden Mandelbaum ganz vorne im Bild. Nur die kleine Gazelle war ihm nicht so richtig gelungen, aber vielleicht lag das auch daran, dass sie sich schon wieder fortbewegt hatte, während die Bäume und der Brunnen selbstverständlich an ihren Plätzen blieben und in Ruhe betrachtet und abgemalt werden konnten.

„Findest du?“, fragte der Junge.

„Ja, wie schön! Ich kenne sonst niemanden, der so etwas kann.“

Der fremde Junge freute sich: „Und die Gazelle?“, fragte er ein wenig unsicher.

„Die sieht nicht besonders ähnlich aus“, sagte Thamaz, „aber warte, ich locke sie her, dann kannst du es nochmals versuchen.“

Und tatsächlich gelang es Thamaz, die Gazelle durch leises Rufen herbei zu locken und mit ein wenig Futter in seiner offen hingehaltenen Handfläche so lange zu beschäftigen, dass der fremde Junge genug Zeit hatte, seine Zeichnung zu verbessern.

Beiden gefiel das Ergebnis. Und ab diesem Moment an waren sie Freunde. Sie redeten viel miteinander, Thamaz führte seinen neuen Freund durch den Garten und erklärte ihm alles so gut er konnte, und der andere zeigte ihm weitere Bilder, die er früher gemalt hatte und die er in einem kleinen Köcher bei sich trug, zusammen mit dem Malgerät.

Als Thamaz seinem Onkel am Abend von dem fremden Jungen erzählte, er hieß übrigens Ulug, wunderte sich dieser nicht.

„Er ist gestern Abend angekommen, zusammen mit seinem Erzieher und einem Wächter. Sie wohnen im Pavillon, der Hausverwalter ist ganz aufgeregt gewesen, weil niemand sie angekündigt hatte. Der Junge ist der zweitgeborene Sohn des Fürsten, ein Prinz also, aber ich möchte nicht mit ihm tauschen.“

“Warum nicht?“, fragte Thamaz.

„Weil sein Vater, wie du bestimmt gehört hast, vor kurzem an einer Krankheit gestorben ist und wir keinen richtigen Fürsten mehr haben. Sein älterer Bruder sollte der neue Fürst sein, aber er ist noch zu jung dafür und deshalb ist seine Mutter mit ihm unterwegs zum Khagan, um sich bestätigen zu lassen, dass sie an seiner Stelle regieren darf, bis er selbst alt genug dafür ist. Ein Bruder des Vaters aber macht Ärger. Er will selbst Fürst werden, und das kann noch zu Schlimmem führen. Am besten, wir kümmern uns nicht um die Angelegenheiten der Fürsten, sondern nur um unseren Garten. Wer immer auch Fürst sein wird, ist hier willkommen und kann sein Eigentum in Ruhe nutzen.“

„Und was geschieht mit Ulug, wenn sein Onkel der neue Herrscher und Besitzer sein wird?“

Bandak wiegte bekümmert den Kopf hin und her: „Es kommt viel vor in der Welt, und es ist oft genug geschehen, dass ein überflüssiger Prinz beiseitegeschafft worden ist. Keiner kann im Augenblick sagen, was passieren wird. Wollen wir hoffen, dass ihm nichts Böses angetan wird. Aber sein Onkel ist jemand, dem alles zuzutrauen ist.

Doch erzähle niemandem davon, was ich dir eben gesagt habe. Vielleicht wird sein Onkel der neue Fürst, viele der Stammesführer halten nichts davon, von einer Frau regiert zu werden, auch wenn es im Namen ihres ältesten Sohnes geschieht. Wir werden sehen.“

Thamaz konnte sich nicht damit zufrieden geben, ruhig zu bleiben und abzuwarten. Sein neuer Freund war in Gefahr!

Am nächsten Tag traf er ihn wieder im Garten, diesmal war er ein wenig befangen, wusste er doch, der andere war ein Prinz, doch Ulug war offen und freundlich wie gestern und Thamaz verlor rasch seine Scheu.

„Warum bist du hier und nicht mit deiner Mutter unterwegs zum Khagan?“, fragte er ihn.

Ulug machte ein trauriges Gesicht, als er erklärte: „Meine Mutter hält mich nicht für so wichtig wie meinen Bruder. Für einen turanischen Prinzen beschäftige ich mich viel zu sehr mit anderen Dingen als mit Bogenschießen, dem Kampf und der Jagd. Ich höre gerne Geschichtenerzählern zu, lese auch, male gerne, du hast es ja gesehen, mir gefällt viel mehr, wie die Menschen in den Städten leben als unsere Art von Weide zu Weide zu ziehen. Ein festes Haus finde ich wohnlicher als ein Zelt. Ich finde es auch besser, einen Garten anzulegen und zu pflegen, wie dein Onkel und du es tun, als ihn zu plündern und dann weiter zu reiten. Mein Bruder ist da anders. Er wird bestimmt ein guter Krieger werden. Ein richtiger Turanfürst, der unsere Stammesgesetze ehrt.

Ich bin zu Hause gelassen worden, zusammen mit meiner jüngeren Schwester, weil meine Mutter mir nicht zutraut, so schnell und so ausdauernd zu reiten, wie notwendig, um rechtzeitig ins Winterlager des Khagans zu kommen, wo sie sich von ihm bestätigen lassen will, dass sie in der Nachfolge meines Vaters regieren kann, solange mein Bruder noch nicht alt genug dafür ist.

Aber ich weiß, mein Onkel ist dagegen, deswegen bin ich nicht im Palast geblieben. Die Diener sind nicht alle auf unserer Seite, viele der Krieger und Anführer auch nicht, es könnte zu Kämpfen kommen, und ich hatte Angst, getötet zu werden. Ich glaube nicht, dass ich hier im Garten wirklich sicher bin, aber ich bin wenigstens nicht sofort zu finden, niemand weiß genau, wohin ich gegangen bin, ich hoffe, es bleibt so.“

Flucht

Doch es blieb nicht so. Einige Tage später kündigte eine Staubwolke am Horizont von einer sich nähernden Reitertruppe, und das bedeutete wahrscheinlich nichts Gutes. Thamaz war gerade auf eine der höchsten Pappeln geklettert, um einen vom letzten Sturm geknickten Ast mit welken Blättern zu entfernen, als er die Staubwolke bemerkte, weit entfernt noch, aber rasch größer werdend. Er hangelte sich eilig hinab, fiel beinahe aus dem Blattgewirr, mit einem Sturzsprung landete er auf dem Boden und rannte so schnell er konnte - nein, nicht zu seinem Onkel, sondern in den Winkel des Gartens, in dem er Ulug wusste.

„Reiter kommen, Reiter kommen!“, rief er ihm schon von Weitem entgegen.

Ulug saß mit erschrockenem Gesicht wie erstarrt da, den Pinsel in der Hand, dann schob er ihn in seinen Köcher, fragte „Woher?“ und „Wie weit entfernt?“ und rannte zu dem Pavillon am Ende des Gartens.

„Ich muss mich verstecken, bis ich weiß, wer sie sind und was sie hier wollen.“

„Wenn sie gekommen sind, um dich zu fangen, werden sie alles auf den Kopf stellen, bis sie dich entdeckt haben. Du musst so schnell wie möglich in die entgegengesetzte Richtung reiten.“

„Sie würden meiner Spur folgen, Krieger kann man nicht so leicht überlisten, sie haben Augen wie Adler und sehen jedes frisch weggerollte Steinchen auf dem Weg, als ob es eine Markierung wäre. Gibt es im Garten ein gutes Versteck?“

Thamaz fiel nur die Zisterne ein, ein dunkler, feuchter Ort, bloß durch eine kleine Reinigungsöffnung zugänglich. Doch zuerst mussten sie sich um Ulugs Ausrüstung kümmern.

Sie erreichten Ulugs Zimmer, schnappten sich seine Sachen und Waffen – einen Bogen mit Pfeilköcher, einen gekrümmten Säbel, einen Dolch – und liefen so schnell sie konnten weiter zum Stall, in dem die Pferde des Prinzen und seiner Begleiter untergestellt waren. Ulug führte sein Pferd vor das Tor, schlug ihm mit der flachen Klinge auf die Hinterbacken, schrie es an, bis es empört wieherte und mit großen Sprüngen davonlief – hoffentlich weit genug, um die Krieger eine Weile zu beschäftigen.

Dann hasteten sie zu der Zisterne, wobei sie trotz der Eile immer wieder kleine Umwege machten, um nicht zufällig von irgendwem gesehen zu werden, der sie dann, freiwillig oder gezwungen, hätte verraten können.

„Du musst dich mit mir verstecken, sie werden dir jedes Geheimnis entlocken, das sie wittern. Du kannst nichts vor ihnen verbergen. Sie sehen es dir an, riechen es, wenn du lügst.“

Die Zisterne lag vor ihnen wie ein in den Boden eingelassener großer gemauerter Krug, mit einer kleinen Öffnung im Scheitel der Kuppel. Sie griffen sich die Leiter, die an ihr lehnte, stiegen auf die Zisterne, ließen die Leiter in die Öffnung hinab und kletterten bis zu einem Absatz, der noch über dem Wasserspiegel lag.

Es war dämmerdunkel hier, nur von oben fiel ein Strahl Sonnenlicht in das hallige Rund, das erfüllt war vom leisen, aber stetigen Plätschern des zu dieser Jahreszeit nicht sehr reichlich fließenden Wassers.

„Wir müssen uns in den Tunnel zurückziehen, falls sie hinunterschauen“, flüsterte Thamaz, „dort können sie uns hoffentlich nicht sehen.“

Vorsichtig bewegten sie sich bis zur Tunnelöffnung - ein schwarzes Loch in der dämmrigen Kammer. Die Leiter nahmen sie mit sich, es war nicht einfach, das sperrige Gerät möglichst geräuschlos im Tunnel unterzubringen.

Dann warteten sie. Lange. Unendlich lange. Jetzt hatten sie richtig Angst, zuvor war alles so schnell gegangen, dass sie nicht zum Nachdenken und zum Angsthaben gekommen waren. Und plötzlich erschien oben in der Öffnung ein verschattetes Gesicht, die Silhouette eines Kopfes. Verschwand wieder, ein Arm mit einer angezündeten Fackel streckte sich stattdessen in die Höhlung, die Flamme flackerte, doch sie erleuchtete genügend den Innenraum, um zu zeigen, dass sich niemand in ihm verbarg. Nur in die Tunnelöffnung fiel, zum Glück, nicht genug von dem Flackerlicht, um die Beiden sichtbar zu machen. Der Arm mit der Fackel zog sich zurück, das Gesicht dahinter war weg. Nur das leise Plätschern des Zuflusses blieb. Und ihr erschrockenes Atmen, vorher fast gestockt, jetzt allmählich wieder sich beruhigend. Sie waren nicht entdeckt worden!

Aber für wie lange konnten sie sich in der Zisterne verbergen?

„Wenn es dunkel wird, werde ich zum Haus gehen und meinen Onkel fragen, was los ist.“, sagte Thamaz, erneut flüsternd.

„Ich glaube aber nicht, dass die Männer freundlich sind. Sie suchen dich, das ist klar.“

Die Zeit, die sie abwarten mussten, bis es endlich Nacht wurde, erschien ihnen endlos. Die kühle Feuchtigkeit, die sonst so angenehm war, kam man aus der Sonnenhitze an einen schattigen Ort mit strömendem Wasser, wurde zur peinigenden Kälte, die sie, in der Dunkelheit sitzend und frierend, ertragen mussten.

Endlich verblasste der Lichtausschnitt oben in der Kuppelwölbung und sie trauten sich aus ihrer unbequemen Zuflucht im Tunnelausgang. Ulug half Thamaz die Leiter aufzustellen, dieser kletterte nach oben und steckte vorsichtig den Kopf aus der Öffnung: Ja, es war Nacht geworden, die Sterne standen schon in aller Pracht am Himmel, nein, niemand erwartete ihn, um ihn zu packen und zu fesseln.

Er turnte vom Rand der Zisterne in den Garten, huschte so geräuschlos wie möglich von Rosenbusch zu Rosenbusch und näherte sich seinem Zuhause. Dort blieb er eine Weile vor dem Eingang stehen, in der Dunkelheit verborgen, und versuchte herauszufinden, ob irgendwer hinter der Tür auf ihn lauerte. Dabei hörte er im Haus ein merkwürdiges Geräusch, ein tiefes Rasseln und Brummen, ein Knarren und Schaben, wie wenn irgendetwas wiederholt hin und her geschleift werden würde, eine Truhe vielleicht oder ein Tischchen, und es dauerte eine Zeit, bis er begriff, dass es ein würgendes Röcheln war, ein Schmerzlaut, und dass es sein Onkel sein musste, der dort drinnen stöhnte.

Rasch betrat er das Haus, sein Onkel lag auf dem Bett, noch angezogen wie für den Tag, zusammengekrümmt auf der Seite, und von Zeit zu Zeit wimmerte er.

„Was ist geschehen?“, flüsterte Thamaz, noch immer nicht sicher, ob er unbeobachtet wäre.

„Thamaz, bist du es?“, fragte Bandak ebenso leise. „Du musst fliehen, sie werden dich quälen, wie sie mich gequält haben, um den Prinzen zu finden, weißt du, wo er ist?“

Er wartete die Antwort nicht ab:

„Du kannst nicht nach draußen in die Ebene gehen und du kannst nicht im Garten bleiben. Du musst durch den Wassertunnel in die Berge flüchten, erst wenn du weit genug entfernt vom Garten bist, darfst du den Tunnel verlassen.“

Er sprach mühsam, aber eindringlich, es kostete ihm viel Kraft, Thamaz zu sagen, was er ihm sagen wollte.

„Erinnerst du dich an unseren letzten Ausritt zum Schacht im Gebirge? Ich habe einen Kadaver, der den Zufluss aufgestaut hatte, aus dem Tunnel geholt und ihn freigeräumt, die Leiter steht noch im Schacht, wenn du ihn erreichst, kannst du aufsteigen, sonst wird es schwierig.“

Nun murmelte er nur noch.

„Thamaz, ich muss dir etwas geben. Öffne meine Kleidertruhe und nimm alles heraus. Unten an der Innenseite siehst du ein kleines Ornament, drücke darauf und verschiebe es, es ist ein Riegel. Hebe denn Boden aus der Truhe, darunter ist ein Fach. Das, was dort ist, gehört dir. Thamaz, ich bin nicht dein leiblicher Onkel. Dein Vater hat dich zu mir geschickt, damit ich dich verberge und großziehe. Dein Vater...“

Jetzt konnte Thamaz ihn nicht mehr verstehen. Zu leise war seine Stimme geworden, verstummte dann ganz. Er atmete schwer und röchelte wie vorher. Thamaz war verzweifelt. Er war sich der Gefahr bewusst, in der er sich befand, musste so schnell wie möglich das tun, was sein Onkel ihm gesagt hatte und dann wieder verschwinden, konnte daher dem Onkel nicht helfen, hoffte nur, dass die Diener sich um ihn kümmern würden. Und später konnte er über dessen Worte nachdenken.

Er öffnete die Truhe, warf alles, was drinnen war auf den Fußboden, tastete nach dem Ornament, fand es und drückte darauf, verschob den Riegel und hob den doppelten Boden aus der Truhe, öffnete so das verborgene Fach.

In ihm lag ein Schwert und eine Feder. Sonst nichts: Eine schöne weiße Feder, wahrscheinlich die eines Schwanes, irisierend glänzend, und ein Schwert mitsamt Scheide. Das altertümliche Schwert eines iranischen Ritters, mit gerader Klinge, ornamentierter, vergoldeter Parierstange mit eingravierten Schriftzeichen und einem Griff mit einem goldenen Knauf in Form eines Schwanenkopfes.

Später, später konnte er darüber grübeln, was das alles zu bedeuten hatte, jetzt wickelte er schnell Schwert mitsamt Scheide und Feder in ein Tuch und knüpfte es zu, griff nach einer Umhängetasche, in die er Brot verstaute, nahm einen leeren Wasserschlauch mit (im Tunnel gab es genügend Wasser zum Auffüllen) und suchte in der Gerätekammer nach Fackeln und Zündsteinen.

Als er sein Bündel beisammen hatte, ging er zurück zum Onkel, der schwer atmete, bewusstlos oder schlafend, aber noch lebend. Wie lange noch? Für Thamaz schien es, dass Bandak starb, doch hatte er noch nie jemand sterben gesehen, also wusste er nicht, wie das war. Er kniete sich neben das Bett, schluchzte, küsste die kraftlose Hand des einzigen Menschen, der für ihn Onkel, Vater, Familie war, der allezeit für ihn da gewesen war und von dem er alles gelernt hatte, was er wusste. Ob nun sein leiblicher Onkel oder nicht, für ihn würde er immer sein Onkel bleiben.

Doch nun musste er sich beeilen, wieder zur Zisterne zurückzukehren, da er nicht wusste, wo die Krieger geblieben waren und ob sie nicht Wächter aufgestellt hatten, die den Garten überwachten.

Er war froh, als er bei Ulug zurück war. Rasch erzählte er ihm, was sich zugetragen hatte.

„Wir müssen noch in der Nacht durch den Tunnel gehen, damit die Krieger uns nicht hören, wenn sie morgen bei der Suche nach uns zufällig an einem Luftschacht vorbeikommen. Oder auf die Idee kommen, die Schächte abzuhorchen. Ich habe Fackeln mitgenommen und Zündsteine, doch wir sollten die erste Strecke im Dunkeln laufen, damit nicht ein Lichtschimmer aus den Schächten auf uns aufmerksam macht. Der Zufall kann uns verraten.“

Ulug stimmte zu. Sie ordneten und befestigten ihre Sachen und wagten sich im stetig rieselnden Strom des Wassers, das ihnen aus den Bergen entgegenkam, ins Innere des Tunnels. Dort war es eng und unheimlich. In der Zisterne hatten Mond und Sterne noch ein diffuses Licht bis auf den Grund des Brunnens gestrahlt und die auf der Wasseroberfläche tanzenden Lichtreflexe hatten noch den Tunneleingang erreicht, aber jetzt wurde es pechfinster.

Für einen Erwachsenen wäre die Decke zu niedrig gewesen, er hätte sich die ganze Zeit bücken müssen, aber für sie ging es gerade so. Langsam und vorsichtig tasteten sie sich hintereinander in den beklemmend schmalen Gang hinein, Thamaz voraus - weil er hier zu Hause war oder weil er selbstverständlich die Führung übernahm - das weiß man nicht. So verging Stunde um Stunde. Waren sie endlich weit genug vom Garten entfernt?

Sie beschlossen, eine Fackel anzuzünden, um schneller vorwärts zu kommen. Was für eine Freude, Licht zu haben! Danach ging es besser und rascher voran. Doch nun wurden sie müde. Sie konnten sich nicht in das Wasserrinnsal setzen, ohne völlig durchnässt zu werden - sich ein wenig an die Tunnelwand anlehnen schon, doch wollten sie nicht etwa eindösen, also liefen sie nach einigen Minuten Rast wieder weiter. Und weiter.

Schließlich konnten sie nicht mehr. Sie befanden sich gerade unter einem der Lüftungsschächte, als sie ihrer Erschöpfung nachgaben. Sie löschten die Fackel, kauerten sich in die Hocke, lehnten sich an die Wand und überließen sich einem unruhigen Schlaf. Ferne Stimmen weckten sie. Ein dünner Lichtstrahl, wie ein einsamer Stern am sonst dunklen Himmel, drang von oben in ihre Finsternis, und auch der nachhallende Klang undeutlicher Rufe. Die sich dann verzogen, doch hatten sie ihnen heftiges Herzklopfen gebracht.

„Wir müssen weiter, es ist Tag geworden und die Männer suchen uns in der Ebene“, sagte Ulug leise, „Wir müssen es einfach bis zum Aufstieg schaffen!“.

Die Fackel wurde erneut angezündet und, noch immer müde, weil vom unbequemen Schlaf nicht sehr erfrischt, machten sie sich wieder auf den Weg, mit inzwischen durch die Kälte steif gewordenen Gliedern, durchnässten Kleidern, und geängstigt durch die unheimliche Dunkelheit vor und hinter ihnen, jenseits des flackernden Lichtscheins.

Weiter, immer weiter. Bald stolpernd, sich Schritt um Schritt ums Vorankommen mühend, eine nochmalige Runde in einem sich endlos hinziehenden Kampf. Sie sollten jetzt an dem Ort angekommen sein, an dem sie aufsteigen konnten – aber kein Schacht mit Leiter tauchte im Licht ihrer Fackel vor ihnen auf. Sie hatten sich wohl verschätzt. Wie lange noch mussten sie im Tunnel vorwärtsgehen? Und wie lange konnten sie das durchhalten?

Schließlich erreichten sie doch noch einen größeren Schacht. Den Reinigungszugang. Doch ihre Hoffnung wurde mit einem Schlag zunichte, als sie keine Leiter fanden. Jemand musste sie entfernt haben.

Thamaz fühlte, wie nahe er am Weinen war, aus Erschöpfung, aus Angst, aus Enttäuschung, doch wollte er sich vor Ulug keine Blöße geben.

„Wir werden weitergehen, bis wir einen Schacht finden, der nicht so hoch ist und in dem wir klettern können.“

Er wusste, dass sie erst weit im Gebirge auf einen solchen Ausstieg hoffen konnten, nahe der eingefassten unterirdischen Quelle. Aber sie mussten es einfach schaffen. Und sie schafften es.

Wie, wusste weder er noch Ulug zu sagen, nur Erinnerungsfetzen an eine endlose Strecke ewigen Gehens im tanzenden Lichtschein der Fackel blieb ihnen im Gedächtnis, als sie plötzlich auf einen Schacht stießen, in dem, oh Wunder, eine Leiter lehnte. Die verschwundene Leiter des anderen Schachtes!

Beinahe zu erschöpft, um auch noch klettern zu können, fingen sie jedoch sofort an aufzusteigen, aus Angst, keine Kraft mehr dafür zu haben, wenn sie zögerten. Endlich erklommen sie den Rand der Öffnung, die mit einer Art Gitter abgedeckt war, zum Schutz gegen das Eindringen von Tieren, welches sie jedoch kaum hochheben konnten, so schwach waren sie geworden.

Ohne an Gefahr zu denken und außerstande, irgendetwas dagegen tun zu können, legten sie sich neben die Schachtöffnung und fielen in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf. Aus dem sie durch einen lauten Streit gerissen wurden. Zwei dröhnende Stimmen brüllten einander an, das ganze Tal, in dem sie aufwachten, hallte davon.

Treffen

Sie hatten sich in ihrer Dumpfmüdigkeit hinter einen schützenden Felsbrocken gelegt, so dass sie weder vom Tal her gesehen werden noch selbst in das Tal sehen konnten – nun spähten sie, aufgeschreckt durch den Lärm, vorsichtig in die Weite. Es war niemand zu erblicken. Doch das kleine Tal war erfüllt von den Stimmen, die sich in einer altertümlich anhörenden Sprache gegenseitig beschimpften.

„Du wirst die Welt zerstören! Deine kleinen Jungs wissen nicht, was sie tun. Aber du solltest es wissen.“

„Kümmere du dich um deinen eigenen Kram! Ich lasse mir von dir nichts sagen.“

„Das ist mein eigener Kram, um den ich mich kümmere. Ich bin dazu da, mich genau darum zu kümmern!“

„Nach welchem Recht? Du bist doch nur ein Dieb, dem das Diebesgut jetzt Sorge macht! Denkst du, ich hätte nicht bemerkt, was du beiseite geschafft hast? Misch dich nicht ein, sage ich dir, oder…“

Thamaz und Ulug sahen noch immer nicht, wo die Streitenden sich befanden. Es war fast so, als kämen die Stimmen aus der Luft selbst, körperlos, aber heftig und gereizt, den Talkessel mit Tumult und Widerhall ausfüllend. Dann hörten sie ein Geräusch, wie es ein Schwert macht, wenn es aus der Scheide gezogen wird.

„Was, du bedrohst mich?!“

Unwillkürlich hatte Thamaz nach dem, in das Tuch eingewickelten, eigenen Schwert gegriffen, warum wusste er selbst nicht, denn weder wurde er bedroht noch konnte er mit dem Schwert umgehen. Doch in dem Augenblick, da er den Griff berührte, standen plötzlich zwei Männer im Tal, er sah sie deutlich vor sich.

Der eine war eine hochgewachsene Gestalt in einer goldenen Rüstung, Brust und Oberarme in fester Panzerung, die über und über verziert war mit ineinander wirbelnden Spiralen aus Pflanzen und Tieren, das Schulterstück sogar ein Eberkopf, durch dessen aufgerissenes Maul der Arm hindurchlangte, bedeckt bis zur Handwurzel mit einem am Eberkopf angefügten Ärmel aus Kettengewebe, vergoldet wie alles und glänzend wie der Rest der Rüstung. Der bestand aus bis zu den Waden reichenden Lamellengliedern, wie ein an den Brustteil angehängtes Mantelstück aus undurchdringlichem Metall, zusammengehalten und geschnürt durch einen kunstvoll gefügten Gürtel aus goldglänzenden Scheiben, an dem die jetzt leere Schwertscheide befestigt war. Auf dem Kopf trug der Krieger einen ebenso goldenen Helm, der wie von selbst schimmerte und leuchtete, mit einem Hals- und Nackenschutz aus Kettengewebe wie die Ärmel. Das Rund des Helms war überwölbt von einer Vogelfigur, deren Kopf mit dem scharfen Schnabel nach vorne zeigte, während sich Flügel nach links und rechts spreizten, die wie lebendige goldene Flammen aus dem Helm zu schlagen schienen. In der Hand hielt der Krieger das gezogene Schwert, auch das Schwert glänzte golden im Sonnenlicht.

Der andere Mann war von gedrungener Statur, doch auch nicht gerade klein. Er hielt einen mächtigen Hammer in der Hand und sah eher wie ein Handwerker aus als wie ein Krieger. Statt einer Rüstung trug er einen robusten Lederschurz, um die Schultern hatte er einen Fellmantel geschwungen und ähnelte dadurch fast einem Bären, auf dem Kopf saß eine Mütze, wie sie die Steppenkrieger haben.

„Du willst mir drohen? Mich angreifen?“, fragte er zornig den in der Goldrüstung.

„Wage es! Du wirst sehen, was passiert!“

Statt einer Antwort schlug dieser nach ihm, nicht um ihn hart zu treffen, eher um ihn zu ärgern, doch der im Fellmantel parierte mit dem Hammer und blockte ab. Nun starrten sich beide wütend in die Augen, dicht an dicht beieinander, keiner bewegte sich auch nur einen Millimeter zurück.

Thamaz war wie gebannt von dem, was er sah, daher zuckte er zusammen als Ulug ihn stupste und fragte:

„Was ist los, warum schaust du so, siehst du etwas? Wo? Und was?“

„Guck’ doch, die beiden Männer, gleich fangen sie an zu kämpfen, sei leise, sie könnten uns hören.“

Ulug war verwirrt:

„Ich sehe niemanden. Die beiden Männer, die miteinander streiten? Ich kann sie nicht sehen.“

Thamaz kam eine Idee. Er berührte noch immer sein Schwert, nun ließ er den Griff los. Die beiden Männer verschwanden. Niemand war da. Er fasste den Griff an. Die beiden Männer standen sich noch immer wütend gegenüber, verbissen schweigend.

„Berühre das Schwert. Hier“, sagte Thamaz leise und reichte ihm den Schwertgriff, ohne selbst loszulassen.

Ulug fasste danach. Und hielt den Atem an. Jetzt sah auch er plötzlich die Krieger leibhaftig vor sich.

Er hatte jedoch keine Zeit, sich über diesen Effekt zu wundern, denn etwas weiteres Überraschendes geschah: Der Krieger in der Goldrüstung löste sich auf, wie wenn ein Spiegelbild, auf ruhiges Wasser geworfen, sich durch das Aufrühren von Wellen in tausend Lichtreflexe auflöst und undeutlich wird, und an Stelle des Mannes stand ein wildschnaubender Eber, von einem Wimpernschlag auf den anderen.

Der Eber wirkte gefährlich, mit seinen riesigen Hauern, die wie aus Stahl glänzten, ebenso wie seine scharfen Hufe, welche die Feinde zermalmen und zerfetzen konnten. Gefährlich funkelten auch seine Augen aus dem schwarzen, struppigen Borstenfell. Er war viel größer als ein gewöhnliches Tier, und er konnte sprechen, denn er brüllte schnaubend:

„Und du, wage es, dich mir in den Weg zu stellen!“

Der Mann mit dem Hammer wich noch immer keinen Schritt zurück. Er hob die Hand, rief ein paar Worte in einer unbekannten Sprache und plötzlich wimmelte es überall von Wölfen, die sich von allen Seiten auf den Eber stürzten. Ein wildes Getümmel begann.

Der Eber war stark, so stark, dass ihn kein normaler Mensch und auch kein Held hätte bezwingen können, aber die Wölfe waren zu zahlreich, ein Rudel von mindestens zwölf ebenso ungewöhnlich großen und wilden Exemplaren, und es schien Ulug und Thamaz, die mit großen Augen auf das Schauspiel blickten, dass die Wölfe allmählich die Oberhand gewannen.

Wieder zerrann die Gestalt des Kämpfenden, der Eber zerfloss und an seiner Stelle schwang sich flügelschlagend ein riesiger schwarzer Rabe in die Höhe, außerhalb der Reichweite des Wolfsrudels. Nur der größte der Wölfe setzte in einem gewaltigen Sprung nach und bekam ihn fast mit seinen Zähnen zu fassen. Eine Feder, die er ihm dabei ausriss, trudelte zu Boden, dann flog der Rabe auch zu hoch für ihn.

„Du kannst nicht verhindern, was geschehen soll, kleiner Schmied, halb Mensch, halb Gott, wie willst du dich mit einem wirklichen Gott messen?“

Der Rabe war verschwunden. Nur der Schmied stand da, den Hammer noch immer erhoben, sein Gesicht war eher traurig als zornig. Dann drehte er sich um und stapfte dem Talausgang zu, fast wie ein normaler Wanderer, nur dass Thamaz und Ulug wussten, sie würden ihn nicht mehr sehen können, wenn sie das Schwert losließen.

„Beeindruckend, nicht wahr? So sind sie eben, die Götter und Halbgötter“, sagte eine Stimme in einem leicht spöttischen Unterton hinter ihnen.

Erschrocken wandten sie sich um. Ein eher schmächtig wirkender Mann in der einfachen Tracht der Bergbewohner stand vor ihnen, mit schwarzem, etwas struppigen Bart, als Kopfbedeckung hatte er eine hohe, in einer leicht gekrümmten Spitze auslaufenden Filzmütze mit herabhängenden Ohrenklappen auf, die ihm ein fremdländisches Aussehen gab. Über die Schulter hatte er einen Gurt gelegt, an dem ein seltsames Musikinstrument hing, wie sie es noch nie gesehen hatten, er war wohl ein Wandermusikant.

„Nun, was schaut ihr so verdattert, ich will euch nichts Böses, sonst hätte ich euch längst etwas antun können, unvorsichtig, wie ihr wart. Ihr dürft nicht zulassen, dass sich jemand so an euch heranschleichen kann, wie ich es konnte. Aber der Kampf war zu spannend, ich will es zugestehen, wie sollte man nicht davon gebannt sein.“

Der Mann sprach in einem freundlichen, aber auch ein wenig ironischem Tonfall; die beiden wussten nicht, wie sie auf ihn reagieren und was sie von ihm halten sollten. Sie verharrten regungslos, stumm und misstrauisch.

„Vielleicht sollte ich mich vorstellen, ich bin Sordyan, und unterwegs in diesen Bergen, um umherschweifendem Ärger aus dem Weg zu gehen. Ich bin schon zu oft hinter einem Pferdearsch mitgezerrt worden, um noch Vergnügen daran zu haben, also gehe ich deinen wilden Landsleuten lieber aus dem Weg,“ sagte der Mann und sprach mit dem letzten Satz Ulug an.

„Und ihr, seid ihr nicht noch ein wenig zu klein, um allein in der Einöde zu sein? Oder seid ihr Hirtenjungen, aber wo ist dann eure Herde? Ich höre weit und breit kein Schafsgeblöke oder Ziegengemecker.“

Thamaz antwortete stockend „Wir sind keine Hirten, ich bin Gärtner...“,

wusste aber nicht weiter, er wollte ihre Absichten nicht verraten, hätte sie aber auch nicht verraten können, da ihm selbst nicht klar war, was sie als Nächstes tun sollten.

Ulug sagte an seiner Stelle: „Wir sind wie ihr in den Bergen unterwegs. Wir wollen weiter nach Westen. Und so klein sind wir nicht.“

„Nun gut“, sagte der Mann, „lassen wir es dabei, aber zu dritt wandert es sich doch besser, und sicherer auch, hättet ihr etwas dagegen, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg nach Westen machten? Auch ich will in diese Richtung.“

Thamaz wusste noch immer nicht, was er von ihm halten sollte. Unauffällig löste er seine Hand von dem Schwertgriff, den er noch immer berührte, und erwartete, dass sich die Gestalt vor ihm in Nichts auflösen würde, aber der Mann stand noch immer da, blickte sie fragend an und wartete auf eine Antwort.

Anstatt darauf einzugehen, fragte Thamaz ihn: „Wie kommt es, dass du die Kämpfenden sehen konntest?“

„Warum sollte ich nicht? Sie haben doch genügend Lärm gemacht!“