Der Geigenschneckenschnitzer - Mary Weißenstein - E-Book

Der Geigenschneckenschnitzer E-Book

Mary Weißenstein

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Beschreibung

Wird der Lumpensammler Tschontschon aus dem Krowotndörfl je erfahren, wer seine Eltern sind? Wird die Tochter des Reichspostmeisters je erfahren, dass ihr Sohn in größter Armut lebt? Dass er der Attentäter ist, der die heilige Pestsäule der Wiener zertrümmern wollte? Der der protestantischen Ketzerei verdächtigt wird? Wien um 1680: Zwischen den wohlhabenden Bürgern in der Stadt und den armen Leuten im Krowotndörfl außerhalb der Mauern liegt eine tiefe Kluft. Als der Kaiser ein Kunst- und Werkhaus gründet, wo auch arme Burschen eine Lehre machen sollen, sehen die stolzen Zünfte die Würde des Handwerks in Gefahr. Doch durch ihre strengen Sitten und starren Regeln haben die Zünfte längst Unglück über ihre eigenen Familien gebracht. Der Mord an einem Schulmeister, viele Jahre später, erweckt die Neugierde eines alten, heimatlosen, polnischen Grafen. Er bringt einen Stein ins Rollen, der nicht mehr aufzuhalten ist.

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Inhalt

Die Personen

Wien, Sommer 1693

Früher und viel früher

Wien, Sommer 1693

Danksagung

Ausblick

Rückblick

Die Personen

Ludwig und Ignaz von Paar

Vater und Sohn, Reichspostmeister

Elise von Paar Doctor Adam von Lebenwaldt

Tochter des Ludwig von Paar Pestarzt und Poet auf Schloss Stibichhofen

Gräfin Diana Sekely

Manufakturbesitzerin ohne Stammbaum

Graf Ladislaus von Wasenau

unehel. Sohn eines polnischen Königs, heimatlos

Wolfgang Prämer

Baumeister und Hofquartiermeister

Ottavio Burnacini

Baumeister und Bühnenbildner aus Mantua

Johann Bernhard Fischer

Baumeister, Steinmetz und Medailleur aus Graz

Franziska Wössner

Tochter des Franz Hieß, Rahmenmacherin

Hermann von Annaberg Herr Lorenzo

Notar viel früher Karel Lorenzy, Sohn des Totengräbers des Krowotndörfls,

Ruschka Hetzer

viel früher Kammermagd des Burnacini

Rosa Hetzer

unehel. Tochter des Burnacini im Krowotndörfl

Köchin Teresa

viel früher Köchin des Burnacini

Tschontschon

Lumpensammler und Schnitzer im Krowotndörfl

Doctor Paul de Sorbait

Pestarzt, Musiker, Rektor der Universität Wien

Wilhelm von Schröder

Ökonom aus Jena in Diensten Leopolds I.

John Miller

Vorarbeiter der englischen Wollweber am Kunstund Werkhaus

Franz Hieß

Steinmetzmeister, verh. mit einer älteren Witwe

Johann Harsleben

Dombaumeister, verh. mit einer älteren Witwe

Gertrud Knox Eugen Curtius Jean Bellemont Ferdinand Schuller „Schwester Pförtnerin“

Geliebte des Franz Hieß Vorsteher des Bürgerspitals Perückenmacher, Hausbesitzer privater Schulmeister Pförtnerin im Konvent der Ursulinen

Wien, Sommer 1693

Einen Augenblick waren sie wie blind, als sie aus dem Dunkel der Stephanskirche in die gleißende Abendsonne traten, obwohl ihre Schleier das scharfe Licht dämpften. Als Catharina schützend die Hand an ihre Stirn hielt, spürte sie plötzlich grobes Tuch über ihren Kopf geworfen und einen Arm, der sie der Menge entgegendrängte, hin zu einer Kutsche, die mit einem Ruck anfuhr, bevor sie beide noch richtig saßen. Gabriela stieß einen kleinen Schrei aus, und Catharina legte ihr rasch die Hand über den Mund.

»Schschsch!«

Eine Verhaftung war das nicht. Eine Verhaftung wäre nicht so heimlich vor sich gegangen. Die Soldaten der Stadtguardia hätten ihren Auftrag mit lautem Getöse ausgeführt. Ketzer zu verhaften war immer noch ein Vergnügen für die Wächter und Rumorknechte.

»Schschsch!«, zischelte Catharina noch einmal und drückte die zitternde Hand neben sich.

Catharina von Greiffenberg hatte nicht viel zu fürchten, außer der neuerlichen Verbannung und der Konfiszierung ihrer Kutsche. Aber Gabriela war nicht adelig, auch wenn Catharina sie als ihre Nichte ausgegeben hatte. Gabriela hatte viel zu fürchten. Eine Protestantin, eine Prädikantin aus Nürnberg, die sich in Wien einschlich, um die armen Seelen der Wienerinnen für den lutherischen Teufel zu verführen. So sah man es hier. So würde die Anklage lauten. Ihre Mission war gescheitert. War wieder gescheitert.

Das grobe Tuch über ihren Köpfen, dieser Geruch … dieser Geruch … dieser Duft. Dieser Duft in ihrer Erinnerung. Unwillkürlich presste sie das Tuch an ihr Gesicht.

*

Wenn die Hütte wenigstens ein kleines Fenster hätte oder breitere Ritzen zwischen den Brettern. Vier Nächte Angst. Der Gestank von Kloake und Pferdedämpfen, von Perückenparfüm und Körperschweiß. Diese Tage im Halbdunkel, mit geschärften Sinnen, ob nicht das gefürchtete Geräusch sich dem Verschlag des Perückenmachers nähert. Die Stiefel der Stadtguardia oder die groben Tritte der Rumorwächter, dazwischen wahrscheinlich die Trippelschritte des Perückenmachers.

Den vierten Tag harrten sie jetzt schon in dieser Bretterhütte aus. Herumliegende und an Schnüren aufgehängte Pferde- und Ziegenhaare, ein paar irdene Töpfe mit weißem, schwarzem und braunem Pulver. Satzfetzen, die an ihre Ohren drangen, wenn draußen jemand vorbeieilte zur Verrichtung seiner Notdurft ganz in der Nähe, vielleicht ein Hinterhof, in dem die Hütte stand. Das Lager eines jener Perückenmacher, wie sie sich seit einiger Zeit in den Städten niederließen. Gegenüber offenbar die Werkstätte. Denn durch die dünnen Holzwände drang manchmal das gedämpfte Geschnatter der Perückenmachermädchen und Bandlbinderinnen, wenn der Meister ihnen erlaubte, das Fenster zu öffnen, ein paar Minuten lang. Bis dann seine grobe Stimme rief: »Fenster zu!«

»… hat zwei Weiber geküsst, eine Junge und die Alte auch. Und in der Sekunde, wie die Messe angefangen hat, sind sie hinaus aus der Stephanskirche, und es hat nach Schwefel gestunken. Alle haben es gerochen. Ihn haben sie gefasst, und jetzt sitzt er im Arrest und stinkt so nach Schwefel, dass die Wächter sich abwechseln müssen.«

»Unsinn! Wer sagt so was? Die Weiber haben nach Schwefel gestunken, nicht der Baumeister.«

»Welcher Baumeister?«

»Na, ein Baumeister halt. Der sich in der Kirche an Frauen heranmacht. Kennst du einen?«

Gelächter antwortete.

»Und die Weiber sind verschwunden?«

»Sind verschwunden.«

»Wegen zwei Weibern kommt man nicht gleich in den Arrest.«

Wieder Gelächter.

»Waren protestantische Weiber.«

»Gibt’s nicht. Wie schauen die aus?«

»Gibt’s doch. Schleichen in Wien herum. Riechen nach Hühnermist. Nicht nach Schwefel.«

»Die können lesen, die Protestanten.«

»Wer’s glaubt.«

»Blödsinn! Riechen nach Hühnermist und können lesen? Woher hast du das?«

»Vom Schuller. Vom Schulmeister.«

»Gans, blöde. Vielleicht beim Schulmeister lesen gelernt? Dann würde er längst schon baumeln. Was tust du beim Schulmeister?«

»Still, still!«

»Fenster zu!«

Das Lachen der Mädchen wurde durch das heftige Zuschlagen des Fensters abgebrochen.

Catharina von Greiffenberg legte den Arm um die Schultern der Jüngeren, die auf dem Strohsack kauerte und ihr Schluchzen unterdrückte. »Nur heute noch, Gabriela, halt aus.«

»Aber können wir nicht wieder bei der Gräfin …«

»Still, Gabriela. Still! Nenn den Namen nie mehr! Sie hat schon genug für uns riskiert. Soll sie auch verbannt werden? Wegen uns?«

»Aber warum nach Süden? Warum in die Steiermark? Noch weiter weg von … zu Hause.«

Catharina wusste, dass sie eigentlich einen Namen hatte sagen wollen.

»Weil wir dort einen Freund haben.«

»Einen Freund im Glauben?«

»Einen Freund im Herzen. Einen Freund in der Vernunft.«

»Aber in Nürnberg erzählt man doch, in der Steiermark sind alle wieder zum Papst zurückgekehrt, alle wieder Katholiken. Wo ist dort ein Freund?«

»Mehr als in Wien. Man erzählt viel. Du darfst nicht alles glauben.«

»Wer ist es, Catharina? Ein Graf? Ein Burgherr?« Es gab immer noch Adelige, die lieber in ihrem herrschaftlichen Hausarrest blieben, als ihrem lutherischen Glauben abzuschwören.

»Ein Schlossherr. Ein Poeta laureatus.«

»Was? Ein kaiserlich gekrönter Dichter? Dann kann er aber kein Freund in unserem Glauben sein.«

»Er ist unser Freund. Und der Freund des Abtes von Admont. Und der Freund vieler kranker Menschen.«

»Aber Catharina! Du willst zum Freund eines Abtes flüchten? Woher kennst du ihn?«

»Von früher. Als der Paul de Sorbait noch lebte.«

»Der Pestarzt? Der Leibarzt der Kaiserin?«

»Eben der. Sie waren Freunde, der Paul de Sorbait und … der Poeta laureatus. Und noch andere.«

»Und jetzt …«

»Jetzt ist er unsere Zuflucht.«

»Und du kennst den Weg zu diesem Schloss in der Steiermark?«

»Der Kutscher wird ihn kennen.«

Gabriela schwieg einige Minuten und schaute sinnend zu einer Ritze im Holz, durch die ein schmaler Sonnenstrahl drang.

»Und wann werden wir wieder …«

»Geduld. Wenn wir sicher sind.«

Gabriele fragte nicht weiter. Sie würde keine Antwort bekommen. Sie hatte sich auf diese Mission eingelassen, aus Liebe zu Gott, dessen Namen die Katholischen missbrauchten. Dessen Namen sie missbrauchten für Geld. Ihre Familie, alle ihre Verwandten dankten Luther, dass er ihnen den rechten Weg gewiesen hatte. Aber nur sie hatte beschlossen, ihr Leben zu riskieren und dieser wunderbaren Frau, dieser Poetin, nach Wien zu folgen. Diese wunderbare Frau hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie sie den Kaiser und das ganze Reich vor dem Irrglauben des Papstes retten konnte. Und sie durfte dabei sein. Ihre Familie würde einmal stolz auf sie sein – wenn ihre Mission beendet war. Wenn sie den Kaiser bekehrt hatten. Der Tag würde kommen.

»Catharina, wer hat uns in dieses Versteck gebracht? Unsere Kutsche war doch nicht so weit entfernt! Ein paar Gassen nur! Wir wären schon fast zu Hause!«

»Wir hätten sie nicht mehr erreicht. Man hat uns beobachtet.«

»Es ist alles so schnell gegangen vor der Kirche, als wenn jemand auf uns gewartet hätte. Hast du jemand bestellt?«

»Nein Gabriela, mein Plan war anders. Ganz anders. Ich habe niemand bestellt.«

»Und wenn diese Botschaft von gestern eine List war? Man hat uns ja auch in der Kirche überlistet.«

»Das nicht gerade, Gabriela. Du bist in Ohnmacht gefallen in den katholischen Weihrauchschwaden. Das hat unseren Plan zunichtegemacht.«

»Ob das ein Wink Gottes …«

»Das darfst du nicht einmal denken! Gott hat uns einen Retter geschickt. Das ist sein Wink.«

»Aber die Botschaft. Der Brief. Das ist jetzt vielleicht eine List. Flut und Flammen gehen zusammen. Lebe wohl morgen nachts. Flut und Flammen gehen zusammen – das sind deine Worte, Catharina, das ist dein Gedicht. Aber hier klingt es nicht wie eine Botschaft. Es klingt wie eine Drohung.«

»Keine Drohung. Keine List. Halte aus, Gabriela. Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Kommt Rat, kommt Tat«, antwortete Gabriela.

»So ist es. ›Lebe wohl‹ schreibt nur einer.«

*

Kein vernünftiger Kavalier lief am frühen Morgen zu Fuß durch die dreckigen Gassen von Wien, wo jetzt noch der Pferdemist und die Küchenabfälle lagen und dazwischen andere Verdauungsreste, weil der Karren des Müllkutschers nicht vor zwölf Uhr kam, damit er dann auch gleich die Jauchenfässer tauschen konnte. Der Pferdemist gehörte bis neun Uhr den Burschen der kaiserlichen Hofgärtnerei. Da durfte nichts durcheinanderkommen. Jetzt um acht Uhr – der Hofquartiermeister Wolfgang Prämer war gerade mit dem Anlegen seiner Hofkleidung beschäftigt gewesen, als er die Nachricht vom Tod des Schulmeisters Schuller erhielt – musste man kreuz und quer über den Unrat springen, wollte man nicht seine Schuhe und womöglich auch gleich die Beinkleider bis zum Knie verdrecken.

Als er einer großen Entladung kaiserlicher Rossäpfel ausweichen musste, denn er konnte nicht mehr so weit springen, hörte er eine Stimme hinter sich rufen:

»Herr Hofquartiermeister! Bitte submissest fragen zu dürfen, ob ein Zimmer …«

»Keine Zeit, mach er eine Eingabe!«, rief Prämer zurück.

Er hasste es, die Leute abzuweisen, deshalb lief er auch selten zu Fuß. Die einen redeten ihn an, ob er nicht doch eine freie Wohnung wüsste, ein Zimmer, ein kleines Zimmer, denn man liefere ja die besten Leinenbänder an den Hof, da sei man ja eigentlich fast Mitglied des Hofes und hätte ja Anspruch auf ein Zimmer, die anderen drehten sich weg, weil der Hofquartiermeister oder seine Adjutanten ihnen ein Zimmer für die Hofleute abgezwungen hatten, und nun erhielten sie nur die halbe Miete. Es hatte kein Jahr gedauert nach der Pest, dass sich die Häuser wieder auffüllten, mit richtigen und mit falschen Erben und mit Fremden aus dem ganzen Reich, die die Gunst der Stunde nutzten, um in die Kaiserstadt zu ziehen. Die Notare und Advokaten hatten gute Geschäfte gemacht.

Der Hofquartiermeister ging eigentlich nicht, sondern eilte, lief, hetzte, den schwarzen Hofrock noch offen, die Manschetten nur halb aus den Ärmelstulpen herausgezupft, die Perücke nicht ganz mittig, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh.

Als er einen Soldaten der Stadtguardia, einen Roten – so wurden sie wegen ihrer roten Pluderhosen genannt – erblickte, winkte er ihn heran.

»Konfiszierung!«, rief er ihm im Laufen zu.

»Gefährlich?«, rief der Rote zurück.

Prämer wollte schon antworten: ›Das nicht‹, aber dann hätte der Rote sich vielleicht wieder entfernt, weil ein Soldat der Stadtguardia ja nicht den Befehlen eines Hofquartiermeisters unterstand, deshalb rief er: »Kann schon sein!«

Der Rote sprang über eine Jauchenlacke an seine Seite und trabte neben ihm her.

»Bitte submissest fragen zu dürfen …« Die Stimme war immer noch hinter ihnen. Der Rote scheuchte sie mit seinem Gewehr davon. Wenn der Hofquartiermeister sich nur eine Minute geduldet hätte, wäre auch seine Sänfte schon bereit gewesen, der Hintermann hätte sich nur noch seinen Dreispitz mit der roten Feder aufsetzen müssen, denn ohne die volle Adjustierung konnte man unmöglich eine Hofsänfte tragen. Nur eine Minute Geduld, dann müsste seine Sänfte jetzt nicht hinter ihm herlaufen und der Rufer hätte keine Gelegenheit gehabt, den Hofquartiermeister submissest zu belästigen.

An der Dreifaltigkeitssäule am Graben, an der nicht mehr viel fehlte, bis sie noch einmal, endgültig, geweiht werden konnte, blieb er dennoch wie immer einen Augenblick stehen und bekreuzigte sich. Jeder, der hier vorbeikam, bekreuzigte sich, denn mit dieser Stein gewordenen Bitte würde man die Pest ein für alle Mal besiegen. Hier unten lag sie, die teuflische Pest, das Pestweib, schrecklich anzuschauen, hingestreckt vom Glauben. Daneben hämmerte gerade ein Geselle am Harnisch des Kaisers herum, bevor man die herrliche Figur wieder hinaufhob, wo sie hingehörte. Alles hatte hier seinen Platz. Die Heiligen, die Engel, die Wolken. Zehn Gesellen und Lehrlinge hoben, schoben und kratzten, von den Meistern war zu dieser Morgenstunde noch nichts zu sehen.

Keine Zeit jetzt, hier herumzustehen. Der Schulmeister Schuller sei ermordet worden, erstochen, hatte man ihm gemeldet, obwohl er ja eigentlich weder für Ermordete, noch für Schulmeister zuständig war. Draußen, vor den Mauern – und das ging ihn dann noch weniger was an. Und gerade heute, wo er doch diesem plötzlich aus Triest aufgetauchten Grafen von Wasenau im Wort war, dass er ihm eine Wohnung suchen werde.

Mord, nein, das war nicht seine Sache. Er hatte darauf zu achten, dass die Leute vom Hof ihre Unterkunft hatten und die Hausbesitzer ihrer Hofquartierspflicht nachkamen. Das war seine Sache. Die Sache war aber auch die: Er war damals ins Gerede gekommen, er hätte nichts dagegen unternommen, dass ein verdächtiger Schulmeister ein Offenes Zimmer in der Griechengasse bewohnte, wo man ein- und ausgehen konnte, ohne dass eine Wirtin das beobachtete, mit einer Türe direkt in die Durchfahrt und mit einem Fenster zur Griechengasse hin, und das ohne Familie. Ein Offenes Zimmer, ohne Zimmerwirtin, die große Ohren hatte, war fast so viel wert wie eine Wohnung. Er hatte einige Neider am Hof, denen es verdächtig vorkam, dass man vom Kammerdiener des Kaisers zum Baumeister und gar zum Hofquartiermeister aufstieg. Das Zimmer in der Griechengasse durfte ihm nicht entgehen, es gab zwei Dutzend Anwärter, und von höherer Stelle hatte man ihm bedeutet, er hätte es schon längst irgendwie für die Hofbediensteten in Beschlag nehmen sollen, gesetzlich, indem er einfach nicht so säumig war wie schon öfters, wenn er erst am nächsten Tag oder gar am übernächsten seine Adjutanten vor die Türe schickte, hinter der schon der nächste Mieter seinen Tisch und sein Bett aufgestellt und dem Hausbesitzer einen Gulden bar in die Hand gezahlt hatte.

Als der Hofquartiermeister in der Griechengasse ankam, vor dem Haus, an dem ein Perückenmacher-Zunftschild hing, zwei lockenverzierte Löwen, die eine Tatze auf eine gespreizte Schere legten und mit der anderen eine Krone mit fünf Zacken darüber hielten, denn vor kurzer Zeit war den Perückenmachern die Zunfterlaubnis erteilt worden, war er schon außer Atem. Es hatte sich schon eine Gruppe Schaulustiger angesammelt, obwohl es eigentlich nichts zu sehen gab, denn der Tote lag im Armenspital draußen und wartete darauf, ob er innerhalb oder außerhalb der Mauern begraben werden würde. Immerhin war er vor den Mauern gestorben, und es gab keine Familie, die auf ihn Anspruch erheben konnte. Und auf den Friedhöfen innerhalb der Mauern wurde der Platz immer knapper.

Aus dem Portal von der anderen Seite der Durchfahrt trat gerade der Hausbesitzer Jean Bellemont heraus, ein dürres Männlein mit rüschenbesetzten Beinkleidern und einer doppelten roten Masche um den Hals, wie man es jetzt in England trug – denn England war der neue Freund des Kaisers –, einen Schlüssel in der vorgestreckten rechten Hand. Mit der linken schob er eine Frau zur Seite, die ihm im Weg stand, und steckte schon den Schlüssel ins Schloss des Offenen Zimmers, und gerade, als er ihn herumdrehen wollte, hörte man:

»Einen Moment, Herr Bellemont, nicht so eilig! Das ist doch das Offene Zimmer des Herrn Schulmeisters Schuller, oder?«

Der Hausbesitzer und Perückenmacher Bellemont zog den Schlüssel verblüfft wieder aus dem Schloss. Er erkannte den fein angezogenen Herrn mit der schiefen Perücke und den verdreckten Schuhen auf den ersten Blick. Jeder Hausbesitzer in Wien kannte ihn.

»Ja, und?«, fragte er und trat einen Schritt zurück.

»Und er wollte ja gerade melden, dass das Zimmer frei geworden ist, oder?«

Bellemont schätze es nicht, von der Obrigkeit als ›er‹ angesprochen zu werden. Immerhin war er Hausbesitzer, und das war ihn teuer zu stehen gekommen vor ein paar Jahren. Aber anders hätte er den Meisterbrief nicht bekommen vom neuen Vorsteher der neuen Zunft, die der Kaiser endlich bestätigt hatte, damit man die Franzosen vor der Türe hielt. Aber der Hof kümmerte sich nicht darum und holte sich weiterhin Franzosen, und die einheimischen Perückenkünstler schauten durch die Finger. Wenn er nicht die Mädchen hinten im Hof hätte, er hätte glatt verhungern müssen. Ungern dachte er daran, wie er sich einmal vom Doctor de Sorbait hatte übertölpeln lassen mit einem undankbaren Luder. Sie hieß Rosa und hatte angeblich, bevor sie zu ihm kam, bunte Federvögel gemacht und sogar auf ein Papier gezeichnet, aber dann hatte sie bei der Perücke der Gräfin Ipphof, die immer besonders heikel war, jedes Löckchen doppelt gedreht und ein paar Federn auf eine Seite platziert, wie es ihr gerade eingefallen war, und die Gräfin hatte die Perücke nicht genommen und ihm angedroht, sie werde allen ihren Freundinnen, und das seien nicht wenige, erzählen, dass seine Perücken die dümmsten in ganz Wien wären. Es hatte ihm auch nichts mehr geholfen, dass er die Rosa aus dem Haus hinausgeohrfeigt hatte.

So undankbare Weibsbilder wie die Rosa gab es immer wieder, und er hatte meistens ein Gefühl dafür, welche Schwierigkeiten machen würden. Die Rosa hätte er eigentlich nicht genommen. Er nahm nur Mädchen vom Land, die nicht gleich nach Hause laufen konnten, wenn ihnen etwas nicht passte. Aber die Sache war damals so gelaufen: Als er eine neue Perücke für die Gattin des Doctor de Sorbait ablieferte – seine Frau Janette war immer dabei und wartete in gehörigem Abstand – und die Sache etwas länger dauerte, weil auch die Kammermagd der Madame de Sorbait anwesend war und ständig um ihre Meinung gefragt wurde, ob nicht die hängenden Locken vielleicht zu keck wären, was schon befremdlich war, wer fragt denn seine Kammermagd um ihre Meinung, trat auf einmal der Hausherr, der Doctor de Sorbait persönlich, in den Raum und schaute den Beratungen einige Minuten zu. Als man sich geeinigt hatte, an welchen Stellen der Aufbau locker und wo er eher streng anzulegen wäre, und Bellemont sich gerade mit mehreren Verbeugungen verabschieden wollte, fragte der Hausherr, ob der Herr Bellemont seinen Künstlerinnen – tatsächlich, so nannte er seine Hinterzimmermädchen – einen Lohn zahle.

»Schon«, hatte Bellemont geantwortet, und ganz gelogen war das ja nicht. Was ging den Sorbait sein Geschäft an? Er fragte ja auch nicht, ob er seiner Kammermagd, die immer noch frech an der Perücke ihrer Herrin herumzupfte, einen Lohn zahle.

»Wo kommen denn Ihre Künstlerinnen her?«, hatte Sorbait ihn weiter gefragt.

»Nicht aus der Stadt«, hatte Bellemont zögernd geantwortet und die Perücke, über deren finales Aussehen man sich geeinigt hatte, an seine Frau zurückgereicht.

»Warum nicht aus der Stadt? Woher dann?«

»Aus der Stadt nehme ich keine. Nur vom Land. Die aus der Stadt sind zu verwöhnt.«

»Und wie suchen Sie die Mädchen aus? Die müssen doch auch sehr geschickt sein, nicht wahr?«

»Sehr Geschickte muss man mit der Lupe suchen. Ich lerne sie natürlich an, aber Sie werden nicht leicht erleben, dass eine besonders wird. Das können die Frauen eben nicht so. Die sind mehr geeignet fürs Sticken, das schon. Da muss man Geduld haben, aber für Perücken braucht man Fantasie, künstlerisches Genie.« Bellemont fühlte wieder Ärger aufsteigen, dass er sich derart ausfragen lassen musste, er fragte Sorbait ja auch nicht, wie dieser sein Hauspersonal fand. Wenn er überhaupt gewissenhaft suchte, denn so eine freche, herumzupfende Kammermagd, die sich einmischte, hätte er, Bellemont, nicht geduldet.

»Und die Mädchen wohnen bei Ihnen und haben es gut?«

»Sie wohnen natürlich bei mir und meiner Gattin, und es geht ihnen besser als Prinzessinnen, wenn man das bisschen Arbeit abrechnet.«

»Ich kenne nämlich ein begabtes Mädchen aus dem Krowotndörfl«, hatte dieser Sorbait dann so zögernd gesagt, als ob er nicht sicher wäre, ob seine Werkstatt das Richtige dafür wäre, »sie ist sehr geschickt und malt sogar Menschen und Vögel auf Papier. Für sie wäre der Beruf einer Perückenmacherin vielleicht sehr passend.«

»Eine Frau kann aber doch keine Perückenmacherin werden, Herr de Sorbait. Und bald gibt es vielleicht auch keine Gehilfinnen mehr, nur mehr Lehrlinge. Und das wäre, unter uns gesagt, auch kein Nachteil für diese wunderbare Kunst. Aber schicken Sie das Mädchen einmal zu mir.« Keinesfalls wollte er sich durch eine voreilige Ablehnung eine Kundschaft wie den Doctor de Sorbait vergrämen, der schließlich bei Hof verkehrte. Er durfte dort sogar die Haupttreppen benutzen, und das bedeutete, man gab dort etwas auf seine Rede.

So war das gewesen damals. So war diese freche Dirne in sein Haus gekommen. Gott sei Dank war er sie jetzt los. Wenn eine gehen will, soll man sie nicht daran hindern.

Es hatte nicht viel genützt, dass er sich schon lange nicht mehr Johann Schönberger nannte, sondern Jean Bellemont. Und es war ihm auch nicht gelungen, die Hofquartierspflicht, die auf dem Haus lag, amtlich löschen zu lassen. Und dieser widerliche Schulmeister in seinem schönen Zimmer. Wie hätte er ahnen können, was für einen Mieter er sich da eingehandelt hatte? Wie hätte er das ahnen können?

»Und er wollte das Zimmer ja gerade melden, nicht wahr?« Die Stimme des Prämer rief ihn wieder aus seinen Gedanken. Er schwieg. So weit war man noch nicht, dass man sich mit ›er‹ anreden lassen musste, mitten auf der Straße, vor allen Gaffern, von einem Quartiermeister. Er steckte den Schlüssel zurück in die bestickte Bauchtasche, die er mit geflochtenen Frauenhaaren umgebunden hatte.

Der Hofquartiermeister dachte an seine Mission, die nicht darin lag, Hausbesitzer gegen sich aufzubringen. Deshalb sagte er jetzt: »Und Sie wollten ja das Zimmer unserem Kaiser als Hofquartier anbieten, nicht wahr, Herr Bellemont?«

»Nun, eigentlich wollte isch zuerst …«, begann Bellemont. Er sagte öfters ›isch‹ anstatt ich, zumindest wenn er mit Kunden redete, weil er dachte, dass das französisch klinge.

»Das dachte ich mir, dass Sie als treuer Untertan zuerst an unseren Kaiser und seine treuen Hofbediensteten gedacht haben. Sie haben ja auch noch ein Hinterzimmer, wo früher junge Helferinnen … Aber jetzt haben Sie ja keine heimlichen Helferinnen mehr, nicht wahr, Herr Bellemont?«

Die Frau, die der Hausbesitzer zur Seite geschoben hatte, gab ein paar murrende Laute von sich, aber mittlerweile war die Sänfte des Hofquartiermeisters angekommen und postierte sich so, dass die murrende Frau zurücktreten musste.

»Das ist doch etwas anderes«, antwortete Bellemont schnell, »das hier …«

»Das hier ist ein Zimmer, auf das die treuen Bediensteten unseres Allerchristlichsten Kaisers Leopold Anspruch haben. Nicht wahr, Herr Hausbesitzer?«

Bellemont wurde es siedend heiß und seine Wangen färbten sich rot, röter als das Rouge, das er jeden Morgen auftrug. Was redete dieser Höfling von seinen geheimen Helferinnen? Die alles freiwillig machten. Alles. Was wusste er noch? Vielleicht auch von den anderen, die man ihm aufzwang, aufpresste? Vielleicht wartete er nur auf eine Gelegenheit, ihm das ganze Haus zu konfiszieren?

Bevor er zustimmen konnte, drängte sich plötzlich ein zweiter Soldat der Stadtguardia durch die Gaffer, hinter ihm ein älterer Mann mit einer runden, schachtelförmigen Kappe auf dem Kopf, der Grieche namens Theodat, der hinter der Schlagbrücke ein Kaffeehaus betrieb.

»Der Herr Kaffeesieder Theodat …«, begann der Stadtwächter und zeigte auf den Mann hinter sich.

»Warte er«, sagte Prämer, denn er wollte seine Amtshandlung zu Ende bringen. Und er konnte sich hier, auf der Straße, auch nicht einfach von einem Kaffeesieder und von einem Stadtwächter anreden lassen, als hätten sie sich verabredet. Der Stadtwächter und der Kaffeesieder blieben erwartungsvoll stehen. Immerhin waren sie zum Warten aufgefordert worden, nicht zum Gehen.

Bellemont kämpfte seinen Schrecken nieder. Fort mit dem Offenen Zimmer. Kein Aufsehen. Ruhe bewahren. Er legte einen trotzigen Ton in seine Stimme: »Aber die Sachen des Schulmeisters muss ich haben, er hat schon länger nicht gezahlt, und der Tisch gehört mir. Der war nur geliehen.«

»Sie bekommen den Tisch, und um die Miete hätten Sie sich kümmern müssen, Herr Hausbesitzer. Die Sachen gehören dem Kaiser, denn der Schulmeister hat keine Erben.«

»Aber vielleicht sind auch andere Sachen von mir«, versuchte es Bellemont noch einmal.

»Dann benennen Sie die Sachen, die Ihnen gehören, Herr Bellemont. Jetzt gleich.« Er hatte schon öfters erlebt, dass die Hausbesitzer sich allerhand Dinge aus dem Hausrat aussuchen wollten.

»Genau weiß isch das nicht mehr, aber isch glaube, eine Schüssel und eine Schere und ein Messer und …«

»Dann kann es nicht so kostbar sein, wenn Sie es nur glauben. Darf ich um den Schlüssel bitten, Herr Hausbesitzer Bellemont?«

Bellemont wollte sich mit dem Hofquartiermeister nicht anlegen, obwohl er der Meinung war, er habe seiner Quartierspflicht schon längst Genüge getan. Er fischte den Schlüssel wieder aus seiner Bauchtasche und überreichte ihn dem Soldaten der Stadtguardia. So musste er ihn nicht persönlich dem Hofquartiermeister aushändigen, und das bereitete ihm eine kleine Genugtuung. Der Soldat der Stadtguardia reichte den Schlüssel weiter. Prämer hatte schon gefürchtet, hier würde sich wieder ein Advokat einschalten, und war froh, dass die Sache so glimpflich abgelaufen war, ohne lautstarken Protest, was er oft erlebte.

»Damit ist der Hausbesitzer Bellemont seiner Hofquartierspflicht vor Zeugen nachgekommen«, sagte er, »das Zimmer wird umgehend seiner Bestimmung zugeführt werden.« Das war eine wichtige Regel zugunsten der Hausbesitzer, denn der Hof durfte die Quartiere nicht auf Vorrat horten. Das hatte sich der Magistrat ausverhandelt. Der Soldat nützte die günstige Gelegenheit, um den Kaffeesieder Theodat nach vorn zu schieben. Dieser sagte rasch: »Es ist wegen dem Grafen aus Triest.«

»Was? Was hat er mit dem Grafen von Wasenau zu tun?« fragte Prämer abweisend, während er den Schlüssel energisch entgegennahm.

»Nun, er hat ja heute bei mir übernachtet, und jetzt wollte ich wissen, ob der Graf von Wasenau jetzt …«

»Er hat bei ihm übernachtet? Der Graf Wasenau? In seinem Kaffeehaus?« Er hatte sich wohl verhört. Er wusste, dass diese Kaffeehäuser beim Adel keinen guten Ruf hatten, jemand am Hof hatte sie ›freigeistig‹ genannt, und das war fast ein Schimpfwort. Aber in der Affäre um den Baumeister Fischer hatten sie eine rettende Rolle gespielt, das musste jeder zugeben. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, dass ein polnischer Königssohn, nicht einmal ein illegitimer, bei einem Kaffeesieder übernachten würde.

»Der Graf wollte nicht mehr gehen, gestern. Weil ihn das lange Stehen in der Kirche doch ermüdet hat. Und der Herr Lorenzo, der Diener des Grafen Harrach, hat mich gefragt, ob es ein gutes Bett gibt bei uns für den Grafen, denn heute würde er vom Herrn Hofquartiermeister eine Wohnung bekommen.«

Heute! Wo sollte er heute eine standesgemäße Wohnung hernehmen? Der Wasenau war ja erst vor zwei Tagen aus Triest gekommen! Überraschend! Natürlich würde er eine Wohnung finden. Er hatte sich gerade ausdenken wollen, welchen unwichtigen Herren, der in einer schönen Hofquartierwohnung logierte, er umsiedeln könne für den Grafen von Wasenau, da kam ihm dieser Schuller dazwischen. Und nun musste er rasch handeln und konnte nicht sorgfältig disponieren, wie er das lieber tat. Immerhin hatte der Graf von Wasenau ihn und noch andere vor einem unverzeihlichen Irrtum bewahrt, dass man einen Unschuldigen verurteilt und wahrscheinlich aus dem Kaiserreich verbannt hätte, weil er in Verdacht geraten war, ein Protestant zu sein. Und immerhin hatte er den Grafen Harrach blamiert mitsamt seinem italienischen Architekten, das war auch was wert.

Er hatte sich allerdings keine Gedanken darüber gemacht, wo der Wasenau die nächsten Tage nächtigen würde. Ein Graf musste doch ohne Probleme einen Gastgeber finden und nicht auf ein Nachtlager bei einem Kaffeesieder angewiesen sein. Plötzlich kam ihm eine Idee, wie er die schwierige Selektion der Anwärter auf ein Offenes Zimmer ein paar Tage verschieben konnte. Das Zimmer musste ja umgehend belegt werden, und niemand konnte leugnen, dass ein plötzlich zugereister polnischer Graf, der wahrscheinlich sogar am Hof empfangen wurde, denn man nahm es jetzt nicht mehr so genau, und immerhin war der Graf vom polnischen König als natürlicher Sohn anerkannt worden, hatte man am Hof erzählt, dass also der Zugereiste Anspruch auf ein Hofquartier hatte.

»Die Wohnung für den Grafen Wasenau wird noch gerichtet«, sagte er zögerlich, aber sein Plan war schon gefasst. »Wo weilt der Graf nun?«

»Er ist … er weilt bei mir im Kaffeehaus mit dem Herrn Lorenzo vom Grafen Harrach und wartet auf die Kutsche, die ihn zu seiner Wohnung bringt.«

Dem Diener Lorenzo des Grafen Harrach war im Laufe der Jahre irgendwann die Bezeichnung Herr angehängt worden, nur inoffiziell natürlich, nur eine Art schlechte Gewohnheit, die sich eingeschlichen hatte, vielleicht, weil er vom Grafen Harrach dahin und dorthin geschickt wurde mit Aufträgen, die er dann in steifer Würde ausführte. Denn natürlich hätte man sonst die vollkommene Konfusion, wenn man die Diener, Zofen und Mägde Herr und Frau nennen würde. Der Diener Lorenzo des Grafen Harrach war gestern, nach der Festmesse zum Geburtstag des Kronprinzen, mit dem Grafen aus Triest in der Stephanskirche zusammengestanden, was eigentümlich war, denn was hatte ein polnischer Graf mit einem Diener aus Wien zu reden? Und es hieß sogar, dieser Lorenzo wäre einmal Totengräber gewesen oder etwas Ähnliches. Der Graf hätte nach der Messe in einer Kutsche der Adeligen sicher leicht Platz gefunden, aber er hatte abgelehnt und sich stattdessen mit dem Diener Lorenzo in einer Sänfte – in der gleichen Sänfte! – zum Kaffeesieder Theodat tragen lassen.

»Aber die Wohnung für den Grafen von Wasenau ist noch nicht bereit. In ein paar Tagen. In zwei Tagen«, sagte Prämer ungeduldig. In zwei Tagen hätte er natürlich noch keine schöne Wohnung für den Wasenau gefunden, aber so genau würde der Wasenau das wohl nicht nehmen. Zumindest sah er nicht so aus, als würde er energisch auf dem voreiligen Versprechen bestehen.

»Es hat sich aber ganz zufällig ergeben, dass ich dem Grafen von Wasenau bis dahin ein Offenes Zimmer anbieten kann, wenn der Graf es nicht doch vorzieht, ein paar Tage die Gastfreundschaft einer der Wiener Familien in Anspruch zu nehmen. Der Herr von Paar zum Beispiel wäre sicher höchst geehrt. Auch die Fürstin Kaunitz führt ein großzügiges Haus.« Prämer ahnte allerdings, dass die Großzügigkeit der Fürstin Kaunitz nicht so weit gehen würde, einem unehelichen Sohn eines verstorbenen polnischen Königs, der aus dem Nichts aufgetaucht war und den Grafen Harrach blamiert hatte, was dieser und andere ihm nie verzeihen würden, Quartier anzubieten. Aber es gehörte sich, auf die Gastfreundschaft der Wiener Adeligen hinzuweisen.

In diesem Moment drängte sich wieder jemand durch die Gaffer, ein großer, hagerer, dunkel gekleideter Mann in schmalen Beinkleidern ohne Bänder und Rüschen, nicht mehr jung, ein schmaler Kopf mit kurzen, schwarzen Haaren bis zu den Ohren, dunkle Augen, eine Hakennase, ohne Dreispitz, ohne Hut, als hätte er nur einen kurzen, eiligen Weg zu erledigen.

»Herr Hofquartiermeister«, sagte der Mann namens Lorenzo mit einer kleinen Verbeugung und mit der leisen Stimme, die man von ihm gewohnt war, wenn er überhaupt redete, »ist es erlaubt zu fragen, wohin der Graf von Wasenau geführt werden soll? Ist es hier?« Dabei blickte er mit einer raschen Drehung seines Kopfes zur Türe der Wohnung, die der Schuller gerade für immer verlassen hatte.

»Das hier war das Zimmer des Schulmeisters. Das ist eigentlich keine Wohnung für einen Grafen. Ich könnte den Postmeister von Paar fragen, der hat so gut wie sicher …«

»Aber der Graf von Wasenau möchte niemand zur Last fallen und würde es bevorzugen, ein- und ausgehen zu können, wie es ihm beliebt. Darf ich dem Grafen von Wasenau melden, dass Herr Hofquartiermeister ihm das Zimmer des verstorbenen Schulmeisters Schuller anbieten? Bis eine Wohnung gerichtet ist? Ist es nicht ein Offenes Zimmer?«

»Ja«, antwortete Prämer, überrascht, dass der Diener des Grafen Harrach offenbar schon die Agenden des Wasenau übernommen hatte. »Aber ich habe es noch nicht in Augenschein genommen. Der Verstorbene ist ein armer Mann gewesen. Man muss es erst reinigen und neu ausstatten, aber das kann man noch heute veranlassen.«

»Ich habe den Er… den Verstorbenen gekannt, den Schulmeister Schuller. Ich bin sicher, der Graf von Wasenau würde das Zimmer gern selbst in Augenschein nehmen, wenn der Herr Hofquartiermeister gestatten.« Das war natürlich nur eine Floskel, denn der Hofquartiermeister konnte dem Grafen schwerlich die Besichtigung des Zimmers verwehren. Lorenzo war voll von Floskeln, die er in den langen Jahren seiner Dienerschaft gelernt und geübt hatte. Prämer erwartete sich nichts von der Einrichtung des Schuller, außer dem Tisch, der dem Hausbesitzer gehörte. Er konnte sich die Inspektion ersparen, sich in seiner Sänfte zurücktragen und seine verschmutzte Kleidung in Ordnung bringen lassen.

Der Kaffeesieder Theodat und der Wachsoldat standen immer noch in einigen Schritten Entfernung, und Bellemont ließ sich kein Wort entgehen und wusste nicht, ob er erfreut oder verärgert sein sollte, dass nun offenbar ein Graf sein schönes Offenes Zimmer beziehen sollte. Vielleicht konnte er in diesem Fall eine höhere Miete fordern.

»Nun, wenn der Graf Wasenau das Zimmer tatsächlich gleich übernehmen will, spricht nichts dagegen«, sagte Prämer, überreichte Lorenzo den Schlüssel und würdigte Bellemont keines Blickes mehr. Um alles Weitere würde sich sein Hofquartieramt kümmern.

Als er endlich in seiner Sänfte saß und seine ruinierten Schuhe inspizierte und die Träger im Laufschritt die Richtung zur Hofburg einschlugen, wo er sich seine Dienstwohnung zugewiesen hatte, wunderte er sich, dass dieser Lorenzo offenbar vom Tod des Schulmeisters und vom Zimmer in der Griechengasse wusste. Das konnte er nicht im Kaffeehaus erfahren haben, wo der Wasenau genächtigt hatte. Denn ein Diener des Grafen Harrach stand seinem Herrn auch in der Nacht zur Verfügung, jederzeit, und konnte infolgedessen das Palais des Harrach nicht verlassen haben.

Dieser Ferdinand Schuller war ein besonderer Fall. Nicht dass er eine besondere Persönlichkeit gewesen wäre, nur ein Einbeiniger ohne Familie, der aus unbekannten Gründen die Erlaubnis erhalten hatte, Schüler in Lesen und Schreiben zu unterrichten. Die Lehrstunde kostete nur einen Kreuzer, wenn mindestens zehn Personen vor ihm standen, fünf mit Sitzplatz auf der Bank. Der Schulmeister war ein eifriger Besucher des Kaffeehauses des Kolschitzky gewesen und durfte dort seine Schüler werben. Alle Buchstaben lesen lernen, kam auf ungefähr dreißig Kreuzer, zum Schreiben musste man die Sitzbank buchen. Die Sache war nur die: Es hatte einmal das Gerücht gegeben, der Schuller würde auch Verlorene Kinder von verurteilten Protestanten unterrichten, geheim im Krowotndörfl draußen, deshalb stand der Schuller unter ständiger Aufsicht des Magistrats und der Jesuiten.

Aber das alles war ja eigentlich nicht die Aufgabe des Hofquartiermeisters. Das war Aufgabe des Stadthauptmannes und der Jesuiten. Dass es immer noch geheime protestantische Messen und verbotene Luther-Bibeln gab, die von Hand zu Hand gingen, wusste jeder in Wien. Und weiter draußen, in den Vorstädten, gab es sogar noch Kirchen, wo die Protestanten Messen abhielten. Aber das war alles nicht seine Sache, nicht seine. Obwohl er es irgendwie verstehen konnte, dass man nicht wollte, dass die Kinder von hingerichteten Protestanten so wurden wie ihre Eltern, deutsche Bibeln lasen und den Papst schmähten. Es gab genug Arbeit in Wien, wofür man nicht lesen und schreiben können musste, wichtige Arbeit. Der Reichspostmeister Ignaz von Paar klagte oft darüber, dass er keine Pferdeknechte bekam, die richtig striegeln und die richtigen Pferde vor die richtigen Wagen spannen konnten und nicht schon am Vormittag betrunken unter dem Stroh lagen. Und die Steinmetzen der Dreifaltigkeitssäule klagten darüber, dass ihnen der Kaiser keine Hilfskräfte zur Verfügung stellte, die den Schutt und Staub entfernten, obwohl das in ihrem Vertrag vereinbart war, und nun mussten sie ihre eigenen Lehrlinge damit beschäftigen, was reine Zeitverschwendung war. Prämer hörte viel über die Knausrigkeit des Kaisers, wenn es um die Bezahlung von Handwerkern und Künstlern ging. Nur die Musiker erhielten immer prompt ihr Honorar.

Aber gerade die Steinmetzen sollten sich eigentlich nicht beklagen. Wer hatte sich denn besonders scharf gegen das Werkhaus am Tabor gestellt, damals, gegen die Manufakturei, die eigene Lehrlinge ausbildete, ohne die Zünfte? Wer hatte denn verhindert, dass sie wieder aufgebaut wurde nach dem Türkensommer? Die Maurer und Steinmetzen und die Zimmerer und Tischler hatten am lautesten geschrien, und als die Wollweber aus England einer nach dem anderen dahinsiechten, tat es ihnen nicht leid. Der Herr von Paar und die Gräfin Sekely und der Herr von Schröder und die Wössnerin konnten jetzt schauen, wie sie wieder eine Manufaktur auf die Beine stellten, denn der Kaiser hatte jetzt auch kein Geld mehr. Er gab es jetzt lieber für ein neues Jagdschloss aus, draußen in Schönbrunn. Es war damals bis zum Kaiser gedrungen, dass es oft innerhalb der Familien Zank und Hader gegeben hatte und nicht erst dann, wenn einer die Zunft verlassen und Meister im Werkhaus werden wollte. Aber ihn hatte der Kaiser damals zum Baumeister ernannt und die Zünfte hatten nichts dagegen tun können, und er wäre gern Lehrer und Meister am Tabor geworden. Ja, so war das gewesen. Und die Gesellen vom Werkhaus waren jetzt im ganzen Reich verstreut und verdienten gutes Geld und zahlten gute Steuern.

Der Herr Ökonom Schröder, der damals die Idee und das Ohr des Kaisers gehabt hatte, schien jedoch nicht aufgeben zu wollen, und angeblich hatte er wieder ein neues Project. Er sagte immer ›Protschekt‹, wie er das in England gehört hatte. Und angeblich war jetzt auch dieser Pestarzt aus Trofaiach dabei, der Freund des Paul de Sorbait, der, Gott hab ihn selig, nicht sterben hätte müssen, wenn man in Wien einen Medicus gehabt hätte, der genau so viel konnte wie Sorbait. Der Pestarzt aus Trofaiach, der Adam von Lebenwaldt, hatte eine Scharte in seinem guten Ruf, denn es ging das Gerücht, er hätte immer wieder Protestanten heimlich aus der Stadt gebracht, wenn er im großen Reisewagen des Abtes von Admont fuhr, was ja wohl eine doppelte Spitzbüberei wäre, aber es war ein Gerücht geblieben, weil der Adam von Lebenwaldt die besten Arzneibücher schrieb, mit wunderbaren Zeichnungen, und immer mehrere Exemplare der Universität schenkte. Aber man musste ihn im Auge behalten.

Prämer dachte an die Liste, die ihm der Graf Harrach vor ein paar Tagen geschickt hatte, damit … ach, das sollte er lieber vergessen. Aber es war schon seltsam, wie Gott die Dinge fügte, oder das Schicksal, das war in diesem Fall nicht zu entscheiden. Die Liste hätte verhindern sollen, dass der Baumeister Johann Fischer den Bauauftrag für Schönbrunn erhielt, und es war genau anders gekommen. Aber er hatte jetzt diese Liste mit Hausbesitzern, die ihrer Hofquartierspflicht noch nicht nachgekommen waren, und er konnte sich dem Grafen Harrach ja einmal auf andere Weise erkenntlich zeigen. Zwar waren seine Jahre als Kammerdiener bei Seiner Majestät schon lange vorbei, aber er hatte immer noch das Zutrittsrecht und das Ohr des Kaisers, und das konnten nicht viele von sich sagen.

*

Als die Gaffer in der Griechengasse, vor dem Haus des Bellemont sich verzogen hatten, und das dauerte eine Weile, denn man wollte nicht gern versäumen, wie ein Graf ein Hofquartierzimmer bezog, wie das ausschaute, wenn ein Adeliger über die Schwelle des Schulmeisterzimmers trat, rollte die Mietskutsche aus den Stallungen des Grafen von Paar in die Durchfahrt. Bellemont stand immer noch in seinem Torbogen und ließ sich die Ankunft seines neuen Mieters nicht entgehen. Der Diener Lorenzo, der Herr Lorenzo, war zum Wagenschlag getreten, und während der Kutscher vom Bock stieg, hatte er ihn schon geöffnet und half nun dem gut beleibten Herrn über das Trittbrett herab, indem er ihm seinen linken Handrücken zur Stütze anbot. Der rundliche Herr war einen Kopf kleiner als Lorenzo und ächzte ein wenig, als er glücklich am Boden angelangt war, und sagte »Grazie, Signor Lorenzo«.

Dann blickte er fragend zu Lorenzo, als wolle er sich orientieren, und Lorenzo sagte: »Das ist das Hofquartierzimmer, das Herr Graf beliebig betreten und verlassen können. Natürlich muss es noch hergerichtet werden.«

Bellemont beobachtete das Geschehen aus dem Hintergrund. Ein großer lederner Sack wurde heruntergereicht. Keine Reisetruhen. Vielleicht waren diese bereits bei Hofe irgendwo gelagert. Er musterte seinen neuen Mieter. Unter dem langen dunkelblauen Umhang – heutzutage trug man eher kurze – konnte man seine Kleidung nicht so genau erkennen. Ein enges rotes Wams, aus der Mode. Dunkelbraune Beinkleider, viel zu weit, und die Stulpen der Stiefel viel zu eng. Alles aus der Mode. Na gut. Alte Herren nahmen es nicht mehr so genau. Interessant war aber, dass man unter der breiten Krempe des Hutes, die seine rechte Gesichtshälfte verdeckte, dichtes graues Haar hervorquellen sah, keine Perücke, aha. Am Morgen sagte das allerdings noch nichts. Aber hier konnte sich eventuell ein neuer Kunde einquartieren. Bellemont nahm in Gedanken bereits Maß. Denn seit die Perückenmacher zünftisch waren und zwei Gesellen erlaubt waren und drei Lehrlinge, baute er auch Männerperücken. Vor allem die Allongen brachten was ein, aber das waren eher seltene Aufträge. Dass er in den zwei Hinterzimmern im Obergeschoß immer noch die Mädchen aus den Dörfern beschäftigte, für die feinen Damenperücken, auch für solche Damen, die nicht adelig waren und infolgedessen eigentlich keine Perücken tragen durften, ging niemand was an. Irgendwie musste sich das teure Stadthaus ja bezahlt machen. Und wenn die Damen außerhalb der Stadt Erledigungen hatten, fragte man ja nicht gleich, ob sie perückenfähig waren. Er beschloss, die zwangsweise Vermietung seines schönen Offenen Zimmers nicht als Ärgernis zu sehen. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit, mit dem Grafen zu parlieren und seine Dienste anzubieten, dass er ihn vielleicht bei Hofe empfehlen könnte.

Als der Graf von Wasenau und der Diener Lorenzo sich noch einmal umdrehten, bevor sie in das Zimmer des verstorbenen Schulmeisters traten, vollführte Bellemont eine Verbeugung, indem er in der Mitte nach vorn knickte. Nach einer weiteren Verbeugung in den Rücken der beiden Männer zog er sich zurück und drehte den Schlüssel zu seiner Haustür zweimal um.

Lorenzo trat als Erster in das Zimmer des toten Schulmeisters. Er war überrascht von der Größe und Helle. Vor ihm, nah bei der Türe, ein Tisch und eine Bank. Bevor er den Raum noch weiter inspizieren konnte, ob es vielleicht Ratten gab, was in den Zimmern im Parterre nicht so selten war, trat der Graf heran, ließ sich auf die Bank fallen, legte seinen großen, schwarzen Kavaliershut auf den Tisch und sagte: »Das geht, Signor Lorenzo. Die nächsten Tage. Wenn man ein gutes Bett hereinstellen könnte?« Sein Blick schweifte leicht verzweifelt zu dem schmalen Bett in der dunklen Nische ganz hinten, die Lorenzo noch nicht bemerkt hatte.

»Natürlich, Herr Graf. Nicht nur ein Bett. Der Hofquartiermeister hat sicher schon veranlasst, dass das Zimmer würdig ausgestattet wird«, antwortete Lorenzo. Er bezweifelte, dass man mehr als ein Bett bringen würde.

Neben dem schmalen Bett stand ein Hocker und darauf eine halb heruntergebrannte Kerze. Mehr Platz war nicht. Am Fußende des Bettes ein Korb mit irgendeinem Stoffteil, vielleicht die zweite Hose des Schulmeisters. In der anderen Ecke ein irdener Wasserkrug, umgestoßen, leer. Unter dem Fenster zur Griechengasse eine Truhe, auf der Zeitungen, Buchstabenzettel und ein paar leere Blätter wild durcheinanderlagen, als hätte jemand etwas gesucht, als hätte vielleicht der Schulmeister sein Zimmer in großer Eile verlassen. Davor auf dem Boden ein paar angespitzte Federn, zertreten, und ein Pinsel. Solche Pinsel konnte man im Kaffeehaus des Theodat kaufen, wenn gerade der Bürstenbinder vorbeikam, denn beim Theodat trafen sich die Maler und Urkundenschreiber, und einmal im Monat kamen die Papiermacher von der Papiermühle in Stattersdorf vorbei. Die meisten Maler banden sich allerdings ihre Pinsel selbst und hatten ihre geheimen Methoden.

Wasenau fragte: »Hat der Schulmeister gemalt?«

»Gemalt? Nein, ich glaube nicht, dass er malen konnte«, antwortete Lorenzo bestimmt, aber zugleich klang seine Stimme unsicher, weil die Worte immer leiser wurden.

»Aber da liegt ein Pinsel. Ein Pinsel ist nicht billig, wenn es gute Haare sind.«

»Nein, soviel ich weiß, hat der Schulmeister nur Buchstaben geschrieben.«

»Aber vielleicht hat er gezeichnet, mit einer Feder, und hat dann die Zeichnung ein wenig gefärbt. Das sieht hübsch aus, mit Ockererde, das geht ganz leicht.« Wasenau hatte am Hofe der Königin Christina von Schweden in Rom gelebt, und da wusste man solche Dinge.

Lorenzo schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er noch einmal, als müsse er den Schuller verteidigen, »der Schulmeister hat nur Buchstaben geschrieben.«

»Nun, das ist ja nicht so wichtig, ob der Signor Schuller malen konnte. Aber er hätte dann vielleicht seine Bilder verkaufen können, dafür bekommt man mehr als für Buchstaben. Oder wenn jemand Gesichter zeichnen kann, das ist noch besser. Ein Konterfei ist modern.«

»Der Schulmeister war nicht modern, Herr Graf. Ich glaube nicht, dass er Gesichter zeichnen konnte.«

Offenbar hatten sie die Türe nicht richtig geschlossen, denn auf einmal stand ein Mann im Raum, barfuß, noch keine dreißig, groß und dünn, dürr, ein schmutziges wollenes Tuch wie einen Turban um den Kopf gewunden, darunter hingen ein paar Strähnen über die Ohren. In der rechten Hand einen mit einer Schnur umwickelten Stoffballen, seine linke hielt noch die Schnalle der Türe umfangen.

»Tschontschon!«, rief Lorenzo und ließ die zertretenen Federkiele wieder fallen, die er gerade aufgehoben hatte. Auch der Angesprochene schien über die Anwesenheit der Herren überrascht zu sein, denn anstatt dass er sich seinem alten Beschützer, den ihm die Ursulinen und der Graf Harrach entwendet hatten, in die Arme geworfen hätte, stammelte er nur: »Ich will … muss zum Schuller. Wegen der Zeichnungen für die Köpfe … für den Peter Strudl … für den Geigenbaumeister Klotz … weil der doch einen Geigenschneckenschnitzer sucht.«

»Aber der Schulmeister ist … gestorben, gestern. Der Schuller ist tot, Tschontschon. Geigenschneckenschnitzer? Bist du jetzt ein Geigenschneckenschnitzer, Tschontschon?«

»N-noch nicht. Nur ein Schnitzer für Geigenköpfchen.«

In Lorenzo mischte sich Freude und Bestürzung. Tschontschon. Das schreckliche Gerücht, ein Hadernlump mit einem dummen Namen hätte damals das Feuer gelegt im Werkhaus am Tabor, das ohnehin schon halb entvölkert war nach dem Wüten der Pest, die sich auch bei den Menschen am Tabor gründlich bedient hatte, auch bei den Wollwebern. Nur zehn von den fünfzig Männern hatten damals überlebt. Lorenzo wusste das. Er war einer der Totengräber gewesen, einer von denen, die in der Stadt geblieben waren. Und dann der Brand. Als die Tischlerei und die Uhrenwerkstatt und noch andere Gebäude abbrannten und nur ein paar halbverkohlte Schuppen blieben, und das Laboratorium des Doctor de Sorbait war mit einem ohrenbetäubenden Knall explodiert. Jedenfalls hatte man Tschontschon damals in der Nähe des Tabors gesehen, das hätte eigentlich genügt, um ihn unter Arrest zu setzen. Aber der Doctor de Sorbait hatte sich gegen diese Anschuldigung gestellt und gedroht, seine freiwilligen Hygienedienste im Bürgerspital einzustellen. Und man wagte es nicht, sich gegen den Doctor de Sorbait zu stellen. Sogar der unerschrockene Fürst Liechtenstein wollte den Pestarzt und Leibarzt der Kaiserin nicht zu seinen Feinden zählen. Deshalb hatte man den Hadernlumpen mit dem dummen Namen laufen lassen.

Einige Gebäude hatte man wieder aufgebaut, die Seiden- und die Wollweberei, die Tischlerwerkstatt, eine Silberdrahtzieherei, die Sattlerei und das Laboratorium. Und die Mühle hatte man natürlich wieder in Betrieb genommen. Aber es war nicht mehr das Gleiche. Und es war auch nicht leicht gewesen, Leute aus den Zünften für den Wiederaufbau anzuwerben. Manche der Zunftmeister hatten es sogar für einen Fingerzeig Gottes gehalten, die Pest und den Brand, und hatten gehofft, die böse, ungerechte, unzünftische Konkurrenz vom Halse zu haben. Diesen Wunsch haben ihnen die Türken dann erfüllt. Nach der Belagerung war nicht mehr viel übriggeblieben. Die meisten der hölzernen Häuser waren zerstört. Nur das Bäckerhaus und die Backöfen hatten die Türken weiter betrieben bis zur Flucht. Und an der Stätte des Laboratoriums hatte man mehrere Röstöfen für die grünen Kaffeebohnen gefunden, die die Türken überallhin mitschleppten, sogar in den Krieg. Es hatte ein ganzes Jahr gedauert, bis wieder ein paar Manufakturbetriebe eingerichtet waren, die Seidenweberei, die Glashütte und auch die Wollweberei und die Färberei wurden wieder in Betrieb genommen, weil ein paar englische Wollweber die großen Katastrophen überlebt hatten und nun die Einheimischen anlernten. Und die Färber hatten Nachzug aus ihrer flandrischen Heimat bekommen, weil sie ihre alten Niederlassungsrechte nicht aufgeben wollten.

Aber der Leiter der Manufaktur am Tabor, dieser Herr von Schröder, wurde vom Grafen nicht eingeladen, weil jeder wusste, dass er erst vor ein paar Jahren und nur, damit der Kaiser Leopold seine Englandreise zahlte, zum wahren Glauben übergetreten war. Im Salon des Grafen Harrach nannte man ihn nur spöttisch ›der Ökonom aus Jena‹. Und auch eine Gräfin Sekely war dabei, die der Graf Harrach nicht ausstehen konnte, weil sie keinen Stammbaum hatte, und außerdem schätzte er Damen, die sich ökonomisch betätigten, nicht. ›Die Herrschaften vom Tabor‹ nannte er die Leute.