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Fichte schrieb dieses Werk 1800 an den Staatsminister von Struensee. Er propagiert ein Rechtssystem, in dem der Handel stärker von staatlicher Seite geordnet wird.
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Seitenzahl: 311
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Uwe Rose
© Parodos Verlag, Berlin 2024
ISBN der Print-Ausgabe: 978-3-96824-027-5
ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-96024-037-2
Sein ganzes Bestreben und Denken fasste Kant am Ende zu einer einzigen Frage zusammen: Was ist der Mensch? Alle anderen berühmten Kant-Fragen: Was kann ich wissen?Was soll ich tun? und Was darf ich hoffen? sind für ihn in dieser einen Frage vereinigt: Was ist der Mensch? Gibt es zwischen dieser allgemeinen Problemstellung und der speziellen Frage, was für ein Mensch Kant war, einen Zusammenhang? Und könnte die Erforschung eines solchen möglichen Zusammenhanges selbst Gegenstand philosophischen Nachdenkens sein?
Philosophen und Philosophinnen sind eine ganz besondere Art von Extremisten. Sie wollen den Anfang und das Ende von allem ergründen und suchen nach dem Unbedingten: Gibt es Gott? Haben wir eine unsterbliche Seele? Warum gibt es die Welt überhaupt? Was ist der Sinn des Lebens? Worin liegt die Bestimmung des Menschen? In den Naturwissenschaften ist für diese Fragen kein Platz und die meisten Menschen kommen auch ohne diese Fragen gut durch den Alltag. Nur die Philosophen und Philosophinnen können nicht von ihnen lassen. Denn es ist – wie Kant feststellte – das Schicksal der menschlichen Vernunft, von solchen Fragen immer wieder und immer weiter belästigt zu werden, ohne sie beantworten zu können. Sollte es tatsächlich unser Schicksal sein, Fragen nachzuspüren, auf die es für uns keine Antworten gibt und geben kann? Warum dann einer solchen Tätigkeit nachgehen? Wieso überhaupt philosophieren? Warum nicht ablassen von diesen Fragen? Kant jedenfalls konnte dies ein Leben lang nicht und ordnete buchstäblich alles dem Philosophieren unter. Im Jahre 1762 glaubte er tatsächlich, einen Beweis für das Dasein Gottes gefunden zu haben. In seinem epochemachenden Meisterwerk Kritik der reinen Vernunft von 1781 zeigte er dann allerdings, dass Gott und die Unsterblichkeit der Seele keine Gegenstände unseres Erkenntnisvermögens sein können und dass wir die damit verbundenen Fragen niemals beantworten können. Die Frage nach der Existenz Gottes ließ ihn aber nicht los und er kam in seiner praktischen Philosophie darauf zurück: In der Kritik der praktischen Vernunft von 1788 postulierte er schließlich das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Bis heute wird darum gerätselt und gestritten, was mit diesen Postulaten genau gemeint ist. Und noch bis in sein unvollendetes Opus postumum hinein, ein Manuskript, an dem er bis zuletzt arbeitete, verfolgen ihn diese Fragen.
Der große Königsberger Philosoph stand allerdings jeder Form von Selbstbeobachtung und grüblerischer Sinnsuche skeptisch gegenüber. Denn für ihn führten Introspektion und Selbstbefragung nur in die Schwärmerei und den Wahnsinn; kaum jedoch zu echten philosophischen Einsichten. Außerdem ist das philosophische Unternehmen, das Kant verfolgte, durch die Suche nach notwendigen und allgemeingültigen Wahrheiten bestimmt – wie sollten diese sich aber aus der privaten und persönlichen Selbstbespiegelung ergeben. Der Professor aus Königsberg hat autobiografische Selbstauskünfte sowie Mitteilungen über seine Person weitestgehend vermieden. Der Kritik der reinen Vernunft stellt er den Satz voran: Von uns selbst schweigen wir. Tagebücher oder Selbstaufzeichnungen hat er nicht geführt, seine Briefe enthalten kaum persönliche oder private Mitteilungen und andere Selbstzeugnisse kennen wir nicht von ihm – keine Bekenntnisse, keine autobiografischen Mitteilungen. Man kann dieses beharrliche Schweigen als Diskretion auffassen, als absolute Priorisierung der Sache vor allem Persönlichen. Man darf in dieser Abgrenzung von allem Individuellen und Persönlichen aber auch eine fragwürdige und hinterfragbare Einstellung sehen – die Fixierung auf ein bestimmtes Bild von Philosophie; die Überzeugung von einer objektiven Wahrheitssuche, in der es das subjektive und individuelle Moment auszuschließen gilt. Zeigt nicht die Art von Philosophie, die man betreibt, was für ein Mensch man ist, oder mit Fichte formuliert: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.«1 Was für ein Mensch also war Kant? Was sagt seine Philosophie über ihn selbst?
Kein geringerer als Heinrich Heine hat in seiner unnachahmlichen Art und Weise mit nur wenigen Strichen ein Persönlichkeitsbild des Königsberger Philosophen entworfen, das fortan nicht mehr aus der Welt zu schaffen war: »Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu schreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte.«2 Hinzu kommt noch das wirkmächtige Bild vom alten Kant, wie es seine frühen und maßgeblichen Biografen – Borowski, Jachmann und Wasianski – zeichneten: ein penibel geregelter Tagesablauf, schrullige Anekdoten und ein endloses Philosophieren in die Hinfälligkeit hinein. Viele Versuche, gegen dieses ›allmächtige‹ Stereotyp andere Facetten Kants ins Spiel zu bringen, blieben nahezu wirkungslos: etwa Kant als »eleganter Magister« (Schöndörffer)3 und als gewandter und geselliger Mann von Welt. Bis zum heutigen Tag charakterisiert man ihn als trockenen und papiernen »Kanzleibeamten des menschlichen Bewusstseins« (Precht)4. Man hat Kant als pathologischen Fall mit zwanghaften Störungen und sexuellen Verdrängungsproblemen (Böhme), aber auch als alten senilen Mann (Schopenhauer) in die Philosophiegeschichte eingeschrieben. Dieses Bild greift auch Nietzsche auf und spricht von der »plumpen Pedanterie und Kleinstädterei des alten Kant« sowie der »grotesken Geschmacklosigkeit dieses Chinesen von Königsberg«.5 Manche sehen in ihm den gewaltigen ›Alleszermalmer‹ der Metaphysik (Mendelssohn)6, für andere ist er der Retter und Neubegründer dieser Disziplin. Diese bizarren und oft geradezu gegenläufigen Kant-Bilder ließen sich noch um viele weitere markante und oft provokante Darstellungen erweitern: Von homoerotischen Männerfreundschaften und Eskapaden mit Studenten ist da die Rede (Jauch), vom anonymen Ironiker in spöttischer Selbstinszenierung (Schepelmann). Einige sehen in Kants Pflichtethik nur eine »Stahl-Ethik« (Jauch)7, die vom preußischen Militarismus geradewegs in den nationalsozialistischen Abgrund führe (Lukács), und selbst ein ganz unverdächtiger Denker wie Bonhoeffer sieht im kategorischen Imperativ nur »die zum frevelhaften Übermut gesteigerten Selbstgerechtigkeit des Gewissens«.8 Einen berüchtigten Höhepunkt erfahren die Schmähungen gegen Kant bei Ayn Rand, die in Kant nichts anderes erblicken konnte, als den »bösesten Mann in der Geschichte der Menschheit«.9 Konträr dazu das Kant-Bild der anderen großen Königsberger Philosophin – Hannah Arendt: Kant als Kosmopolit und Wegbereiter der Menschenrechte. Und für Jaspers ist und bleibt Kant ein »Träger der Humanität« und der bedeutendste Philosoph seit Platon.10 Es sind tausende und aber tausende Bücher und Studien über Kant und seine Philosophie angefertigt worden – und ein Ende ist nicht in Sicht. Hoffnungslos scheint die Frage: Was für ein Mensch war Kant? Warum aus Kant einen Gegenstand des Nachdenkens machen? Wäre es nicht ein Kampf gegen Windmühlen, wollte man mit dem Anspruch auftreten, ein echtes, authentisches Kant-Bild zu entwerfen? Wie sollte das aussehen? Wer kann das noch ernsthaft verlangen – von sich und anderen? Also alle Ansprüche an Objektivität und Wahrheit zur Seite werfen und als Illusion abhaken? Fröhlich einstimmen in den großen Kant-Chor und seine eigene Melodie zwitschern? Alles auf sich beruhen und Kant links liegen lassen? Was für ein Mensch war Kant?
Als Urheber dieses philosophischen Porträts kann und will ich mich von solchen Fragen und Selbstzweifeln nicht freisprechen. Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Versuch, selbst und eigenständig über Kant und die Philosophie nachzudenken und darüber Auskunft zu geben, so gut und so klar, wie es mir möglich ist, und auf diese Art und Weise der obersten Kantischen Erkenntnismaxime zu entsprechen und selbst zu denken. In diesem philosophischen Porträt geht es daher nicht um eine chronologische oder gar vollständige Darstellung der Fakten und Daten zu Kants Leben (im Sinne einer Biografie), auch nicht um eine systematische oder kritische Rekonstruktion seiner Lehre, sondern um einen Einblick und einen sehr individuellen Zugang zu Kants Lebens- und Denkbewegungen und damit ins Philosophieren selbst. Insofern das Fragen, Zweifeln und kritische Denken im Vordergrund stehen, kann man diese Darstellung philosophisch nennen; insofern ein menschliches Dasein und Denken in den Blick genommen wird, scheint der Begriff Porträt nicht ganz unangemessen.
Am 12. Februar 1945 stapft der letzte Königsberger »Bohnenkönig« unter dem Artilleriebeschuss der sowjetischen Streitkräfte durch den Schneematsch, klettert über Barrikaden und steht endlich vor der Grabstätte Kants. Die alte Universität nebenan liegt in Schutt und Asche. Die Türme und Grundmauern des angrenzenden Doms ragen wie riesige Fischgräten in den wintergrauen Himmel. Das Dach der dreischiffigen Halle ist eingestürzt, die Innenräume sind leer und ausgebrannt – nur noch eine Ruine. Auf einem kahlen Baum krächzt ein Rabe und im angrenzenden Fluss, dem Pregel, treibt eine Leiche. Bruno Schumacher, der letzte Direktor von Kants alter Schule, dem Collegium Fridericianum, gibt später zu Protokoll, dass er als letzter Königsberger »Bohnenkönig« trotz der katastrophischen Umstände seiner »Pflicht genügen« und den üblichen Kranz niederlegen wollte. Es war Kants 141. Todestag. In der zerstörten Stadt gab es keine Kränze mehr zu kaufen und so habe er diesen Kranz für Kant aus einer »verlassenen Wohnung annektiert«.11 Das dürfte nichts weiter als eine beschönigende Beschreibung für die Tatsache sein, dass der letzte »Bohnenkönig« den Kranz für Kants Grab unerlaubt entwendet hat. Zu vermuten ist, dass dieser Kranz von seinen Vorbesitzern wohl für ein anderes Grab bestimmt gewesen ist; nun landete der gestohlene Kranz bei Kant.
Traditionsgemäß wurde der »Bohnenkönig« von seinen »zwei Ministern« begleitet, außerdem hatte Schumacher noch seinen Neffen dabei. Die vier grauen Gestalten standen eine Weile vor dem verschlossenen Bronzegitter. Weit und breit niemand, der einen Schlüssel hatte. Schließlich kletterte der Neffe über das Gitter und legte den Kranz an den Sarkophag des Philosophen. Mit diesem Akt endete eine lange Königsberger Kant-Tradition.
Der Ursprung des Philosophierens liegt im Staunen und Fragen, doch die Natur und der Kosmos antworten nicht auf unsere Fragen, sie bleiben stumm. Selbst die Götter, entrückt und fern, schweigen beharrlich. Es sind allein Menschen, die Antworten geben können – im Gespräch. Somit wird die Philosophie geboren aus dem Geiste des Gesprächs. Das Philosophieren und das Erhoffen einer Antwort ist alles, was wir haben, wenn wir unsere bohrenden Fragen hinaus in die Nacht schicken. Zuweilen auch ein stummes Schreien. Fragen, die wir nicht abweisen, Antworten, die wir nicht bekommen können – so hatte schon Kant die menschliche Lage charakterisiert. Das Staunen ist also der Ursprung, das Gespräch aber die Geburt des Philosophierens – und vielleicht wird man noch anfügen müssen, dass im geschriebenen Wort die Reifung und zugleich die Erstarrung der Philosophie liegt. In jedem Falle lässt sich Kants illustre Tischgesellschaft so begreifen: ein Gesprächskreis ganz verschiedener Menschen – Professoren, Studierende, Ärzte, Juristen, Geistliche, Schriftsteller sowie gebildete Kaufleute und Beamte. Menschen aus ganz verschiedenen Ständen und Berufsgruppen, die sich an Kants Mittagstisch täglich versammelten. Machte der Königsberger Denker daraus seine Philosophie? Oder sind seine Gedanken allein das Produkt seines Ingeniums?
Viele von Kants Tischgenossen kamen zu seiner letzten Geburtstagsfeier am 22. April 1803. Im Jahr darauf stirbt der große Denker. William Motherby lud alle Teilnehmer dieser letzten Geburtstagsfeier am 22. April 1805 zu einem gemeinsamen Erinnerungsfest ein. Das Fest fand im ehemaligen Wohnhaus des Philosophen statt, das zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer Gastwirtschaft umfunktioniert worden war. Aus dem Kreise dieser Gäste formierte sich dann die Gesellschaft der Freunde Kants, die es sich zur Aufgabe machte, das Andenken des Philosophen zu wahren. Seit 1814 wird – auf Anregung des Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel – jährlich ein »Bohnenkönig« aus diesem illustren Kreis gewählt. Die Wahl geschieht per Zufall: Bei jedem Gedenkmahl wird zum Nachtisch ein Kuchen serviert, in dem eine silberne Bohne versteckt ist. Wer das Stück mit der Bohne bekommt, ist der nächste »Bohnenkönig« und muss die Feierlichkeiten im nächsten Jahr organisieren. Die beiden Tischnachbarn des frisch gekürten »Bohnenkönigs« werden zu seinen »Ministern« ernannt. Über die Jahre und Jahrzehnte hinweg sind immer wieder neue Personen in den Kreis aufgenommen worden; freilich wurden diejenigen, die den Philosophen noch persönlich gekannt hatten, immer weniger. Mit dem Verwaltungsjuristen Christian Reusch sowie dem Kaufmann Johann Gaedeke sterben Mitte des 19. Jahrhunderts die letzten Tischgenossen, die Kant noch aus eigener Anschauung kannten. Doch die Kant-Tradition lebte fort bis zum letzten »Bohnenkönig« – dem Schuldirektor Bruno Schuhmacher –, der sich zusammen mit seinen »Ministern« auf den Weg zu Kants Grab machte. Nach dem Krieg wurde diese Tradition in Göttingen und später in Mainz fortgesetzt und 2014 hielt sogar die erste »Bohnenkönigin« eine Rede – wieder in Königsberg, das heute Kaliningrad heißt. Doch noch einmal zurück in die Ruinenstadt. Die Innenstadt, aber auch angrenzende Stadtgebiete von Königsberg waren zu diesem Zeitpunkt bereits durch zwei britische Luftangriffe im August 1944 in Schutt und Asche gelegt worden. Ziel des massiven Einsatzes von Brand- und Sprengbomben war es, einen Flächenbrand auszulösen, der sich dann zu einem Feuersturm aufschaukeln sollte. Dieser Plan ist aufgegangen. Was in der Nacht vom 29. auf den 30. August 1944 nicht schon ein Opfer der unmittelbaren Explosionen wurde, ging in der anwachsenden und nicht mehr zu kontrollierenden Feuersbrunst unter. Tagelang nach dem Inferno war es in der Innenstadt noch so heiß, dass die Überlebenden die Schuttberge nicht betreten und die verschütteten und verbrannten Leichen nicht bergen konnten. Die englische Propaganda nannte dies moral bombing – ›moralisches Bombardieren‹ – ein ganz bizarrer Begriff in einem Porträt über Kant. Einrichtungen und Gebäude, die Kant noch gesehen hatte und die in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten, waren völlig zerstört: die alte Universität, das Schloss und seine Bibliothek, die Hartungsche Buchhandlung, das Kneiphöfische Rathaus – ganz zu schweigen von den vielen ehemaligen Wohnquartieren des Philosophen. Auch die Geburtshäuser des Philosophen Hamann und des Schriftstellers E.T.A. Hoffmann sowie das Wohnhaus von Heinrich v. Kleist wurden für immer vom Erdboden getilgt und mit ihnen eine ganze Welt ausradiert. Fügt man dieser Auflistung noch die Tatsache hinzu, dass beim sowjetischen Angriff auf Königsberg im Frühjahr 1945 auch der gesamte Gebäudekomplex der Försterei in Moditten zerstört wurde, in welchem sich Kant im Sommer gerne aufgehalten und auch sein Werk Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) verfasst hatte, muss man mit der Feststellung schließen, dass keine einzige Wohn- und Wirkungsstätte des Königsberger Denkers in und um die Stadt herum erhalten geblieben ist. Einzig und allein das Grab – gleichsam wie ein absonderliches Zeichen – hat das Inferno überdauert und kann heute noch auf der Dom-Insel besichtigt werden.
Der gewaltige, mehrere tausend Grad heiße Feuersturm erzeugte eine riesige Sogwirkung, durch welche buchstäblich alles in die Luft ging: »Der Rauchpilz, der sich immer deutlicher gegen den morgendämmrigen Himmel abzeichnete, war so groß und hoch, daß er den Rauchgebirgen späterer Atomexplosionen glich. Aus den über unseren Köpfen sich türmenden Wolken fielen halbverkohlte Papier-, Stoff- und Holzreste, die der Aufwärtssog durch die Luft fliegen ließ. Ein halbverbranntes Schulheft, Gardinenstücke, Bettzeug, Verpackungspapier, Kartons, alles nur Denkbare regnete vom Himmel und bedeckte die unversehrt gebliebene Umgebung. Es knisterte und krachte ohrenbetäubend […]. Das historische Königsberg musste man seinem Schicksal überlassen. Ohnmächtig sahen wir zu, wie es abbrannte.«12 So schildert später ein Augenzeuge diese menschengemachte Hölle von Königsberg, in die man sich anstelle der halbverbrannten Schulhefte auch die Kantischen Briefkonvolute, Manuskripte und Hinterlassenschaften hinein imaginieren kann.
Wenn wir heute Fotos der zerstörten Stadt betrachten mit all ihren Ruinen, Schuttbergen und Verwüstungen, können diese Bilder vielleicht einen Eindruck von der äußeren Zerstörung vermitteln, aber von den Verheerungen und Verwüstungen im Inneren der Menschen, vom menschlichen Leid und Elend, – davon können diese Fotos keinerlei zureichende Vorstellung geben.
Abb. 1: Königsberg im August 1944
Selbst Kants zum Teil wenig schmeichelhaftes und düsteres Bild von der eigenen Gattung verblasst angesichts der Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs. Dem Königsberger Philosophen war der Mensch immer als ein »krummes Holz« erschienen; als ein Wesen, das mit seiner »Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht« eine beträchtliche Gefahr für seine Mitmenschen darstellt und das in Zeiten wütender Kriege »die Riegel des schwarzen Abgrundes eröffnet« und im Anblick von Not und Tod nur »kaltsinnige Gleichgültigkeit« gegenüber den Mitmenschen erkennen lässt.13 Kant hatte also kein besonders vorteilhaftes Bild vom Menschen. Doch was sich um und in den Ruinen der untergegangenen Zivilisation im Frühjahr 1945 an Plünderungen, Brandschatzungen und Gewalttaten ereignete, sprengt die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft. Die zum Überleben Verdammten irrlichterten wie Untote in und außerhalb der Ruinenstadt umher und hatten jegliche Orientierung verloren. Die seelischen und existentiellen Verwüstungen offenbaren sich in einem Bericht von einer verstörten Frau, die versucht, einen Zug zu erreichen, und dabei zusammen mit einer Gruppe von vierzig oder fünfzig anderen Personen über die Gleise rennt. Ein Pappkoffer fällt »auf den Perron, zerschellt und entleert seinen Inhalt. Spielzeug, ein Nagelnecessaire, angesengte Wäsche. Zum Schluss ein gebratener, zur Mumie geschrumpfter Kinderleichnam, den das halbirre Weib mit sich geschleppt hat als Überbleibsel einer vor wenigen Tagen noch intakten Vergangenheit«.14
Der letzte Kommandant wird später in unverbesserlicher Manier erklären, dass im Kampf um die Festung Königsberg »jeder einzelne in beispielhafter Weise bis zum Ende seine Pflicht« getan habe, »so dass der Endkampf um die ostpreußische Heimaterde immerdar ein Ruhmesblatt in der Geschichte deutschen Soldatentums« bleiben werde.15 Der immer noch im Duktus der nationalsozialistischen Durchhalteparolen und des soldatischen Heldentums 1958 veröffentlichte Bericht vermag indes nicht hinwegzutäuschen über das unvorstellbare Leid und Elend der Menschen. Nach der Eroberung der Stadt durch die sowjetische Armee am 9. April 1945 bestimmen Brandschatzungen, Plünderungen und Vergewaltigungen die Tage und Nächte der verlorenen Bevölkerung in der Geisterstadt. Die marodierenden Soldaten, getrieben von Gier, dem Verlangen nach Zerstörung und einer unendlichen Lust auf Rache, ›feierten‹ hemmungslos ihre Gewaltorgien. Ein Augenzeuge berichtet von einem jungen russischen Soldaten, der im Gegensatz zu seinen Kameraden noch immer keine Uhr erbeutet hatte und den Tränen nah schien. Als er im blinden Zorn mit seinem Gewehr herumfuchtelte und augenscheinlich damit drohte, einem alten Mann die Wangen zu durchschießen, gab ihm jemand eine Taschenuhr. Der Soldat schrie triumphierend ›Gitlär kapuht!‹ und verschwand aus dem Keller. Am Abend kamen die Soldaten betrunken zurück und vergewaltigten die Frauen.16 Ist dieser unfassbare Wille zur totalen Destruktion und die eigene Gefangenschaft im Bann der Triebe noch etwas Menschliches? So wie ein Kind eine Sandburg oder einen Ameisenhaufen niedertrampelt mit seinen Füßen und dabei lacht – ist das der Anblick des Bösen? Was ist das? Was ist dieser stumme Schrei, bei dem dann nur Vergewaltigung auf Vergewaltigung folgt? Was ist dieser tote Blick, der keine Menschen mehr sieht – nur noch das Fleisch – und der verzweifelte Schrei? Was ist das? »Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?«17 Es war eine alptraumhafte Zeit ohne Hoffnung. Der Arzt Hans v. Lehndorff, der Anfang 1945 ein Lazarett in Königsberg leitete, hält über diese endlosen Tage in seinen Aufzeichnungen fest: »Ich bin so ausgelöscht, daß ich nicht einmal mehr beten kann.«18 Das Leben selbst, das Denken und Handeln, das Staunen und Fragen – alles gerät unter einen eklatanten Sinnlosigkeitsverdacht. Während die Stadt bzw. die Ruinenreste in Brand gesetzt werden, müssen große Teile der Bevölkerung auf weite und planlose Märsche durchs Samland; Märsche, die viele nicht überleben werden. Andere kehrten zwar in die Ruinenstadt zurück, hatten aber keine Hoffnung mehr und entschlossen sich, ihrem Leben ein Ende zu setzen, weil sie einfach nicht mehr konnten. Kant – ein strikter Gegner der Selbsttötung – unterstellt in seinen ethischen Überlegungen, dass der potenzielle ›Selbstmörder‹ immer noch in der Lage wäre, die Maxime seines Handelns rational zu überprüfen. Doch möglicherweise ist das gar nicht mehr der Fall und es handelt sich um innere und äußere Umstände, in denen kein klarer Gedanke mehr zu fassen ist. In dieser Ausweglosigkeit und Verzweiflung hat der Mensch vielleicht gar keine Kraft und gar keine Hoffnung mehr, um weiter zu leben, geschweige denn weiter zu denken. Kants rigide Behauptung, dass aus dem moralischen Sollen jederzeit auch ein Können folgt, erscheint nur mehr als zynische Floskel. Aber wer kann und will das schon mit letzter Gewissheit sagen?
Zwischen uns und Kant liegen zwei Weltkriege und eine unvorstellbare, von Menschen gemachte Tötungsmaschinerie. Blickt man durch diese Gräueltaten des 20. Jahrhunderts auf die Ethik Kants, scheint die Kluft unendlich groß. Das eklatante Missverhältnis zwischen dem, was Menschen im Krieg tun, und dem, was sie als moralische Wesen hätten tun sollen und nach Kant auch hätten tun können, ist so gewaltig, dass man sich nur mit Abscheu und Ekel abwenden will. Man will sich mit Verachtung abwenden von einer unbegreiflichen Spezies und jener »furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert«, wie es Hannah Arendt – eine andere Denkerin aus Königsberg – in ihrem Bericht über Eichmann in Jerusalem (1963) formulierte.19 Zugleich aber wird man im Angesicht dieser Realitäten eine Ethik verlachen oder an ihr verzweifeln, die den wechselseitigen Respekt, die Freiheit und die Würde des Menschen in ihr Zentrum stellt, wie keine Sittenlehre zuvor. Angesichts dieser himmelschreienden Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit kann einen das schiere Entsetzen packen.
Nur wenige vermögen heute noch an den Fortschrittsoptimismus, die Rolle der Vorsehung, die Unsterblichkeit der Seele und das gerechte Wirken eines höheren Wesens zu glauben, wie es sich in Kants philosophischen Schriften manifestiert. Der Blick in das 20. Jahrhundert ist der Blick in das Absurde. Angesichts der realen Erfahrungen und Erlebnisse einer kolossalen Tötungsmaschinerie scheint die Ethik des Königsberger Philosophen geradezu lächerlich wirkungslos – wie ein frommer Wunsch. Kaum mehr als ein phantasmagorisches Gedankengespinst, welches durch die blanke Gewalt des Faktischen zerrissen und plattgewalzt wird – wie die Menschen von einem Panzer.
Das sogenannte moral bombing der Briten, die Plünderungen und Vergewaltigungen der Roten Armee sowie die – historisch beispiellosen und singulären – Massentötungen in den Vernichtungslagern der Deutschen sehen und erkennen im Anderen nicht mehr den Menschen. Ganz gleich, ob Frau, Mann oder Kind – es sind nur noch Feinde, seelenlose Gespenster und würdelose Objekte, die man zerstören und vernichten muss. Was aber kann angesichts dieser Verhältnisse eine Ethik der Würde noch ausrichten? Wozu eine solche Ethik? Wozu noch philosophieren? Was soll das Gerede von Gott und einer unsterblichen Seele? Wozu überhaupt noch philosophieren angesichts dieser brutalen Wirklichkeit?
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Diese entsetzliche Kluft! Je tiefer und länger wir in diesen schwarzen Abgrund starren, umso größer werden unser Entsetzen und unsere Verzweiflung, so dass wir im ärgsten Moment des schmerzlichen Empfindens dieser unendlichen Diskrepanz vielleicht nicht einmal mehr in der Lage sind, aufzuschreien und das grausige Gefühl der Widerwärtigkeit und der Absurdität von uns zu schütteln. Dann heißt es mit dieser Absurdität leben – vielleicht wie der Sisyphos von Albert Camus – oder aber allem ein Ende zu setzen. Möglicherweise hat auch Kant diese Kluft und diese Absurdität gesehen und empfunden, aber doch zugleich – wie er uns am Ende seiner Vorlesung über Anthropologie mitteilt – in dieser bitteren Einsicht und Erkenntnis auch den eigentlichen Keim zum Besseren gesehen. War Kant ein hoffnungsloser Optimist? Ein Kind seiner Zeit, das an ein beständiges Fortschreiten zum Besseren glaubte? Oder schreckte ihn die absurde Alternative, einfach nur »in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie« zurückgeworfen zu werden, so sehr, dass ihn ein endliches Dasein ohne Gott zutiefst verstörte?20 Es musste also einen Gott geben. Als traditioneller Metaphysiker wollte Kant das Dasein Gottes noch beweisen, als der ›Alleszermalmer‹ der Metaphysik hat er die Unmöglichkeit jeglichen Gottesbeweises aufgezeigt und als Ethiker postulierte er am Ende die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Die Geschichte zwischen Kant und Gott bzw. Gott und Kant ist sehr wechselvoll und spannungsreich. Liest man dann aber zweihundert Jahre später in dem berüchtigten Spiegel-Interview, das erst nach dem Tod von Martin Heidegger erscheinen durfte, die Worte »Nur noch ein Gott kann uns retten«,21 packt einen das nackte Grausen, wenn man sich vor Augen führt, wie der andere deutsche Meisterdenker sich selbst dem Bösen andiente; was dann ein Gott in Ordnung bringen sollte. Angesichts dieser Sachlage muss die göttliche Anrufung doch geradezu wie Hohn und Spott erscheinen.
Sowohl der letzte »Bohnenkönig«, der seinen gestohlenen Kranz an Kants Grab niederlegte, als auch der letzte Kommandant im Kampf um Königsberg beriefen sich auf »ihre Pflicht«, die es zu erfüllen gelte. Können sich beide wirklich auf Kant und seine Pflicht-Ethik berufen? Was überhaupt meint Kant, wenn er in den höchsten Tönen von der Pflicht spricht? »Pflicht! du erhabener, großer Name!«22 Der Begriff der Pflicht hat mit Blick auf die preußische und deutsche Geschichte einen schalen Beigeschmack, denn welche Untaten sind nicht alle im Namen der Pflicht geschehen? Und wer hat sich nicht alles darauf berufen, nur seine ›Pflicht erfüllt‹ zu haben? Ist es Pflicht, für das Vaterland zu sterben? Wie es die berüchtigten Verse aus Schillers Gedicht Der Spaziergang (1795) suggerieren:
»Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habestUns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.«
Was für eine Pflicht, was für ein Gesetz ist hier gemeint? Ist unbedingter Gehorsam gegenüber den staatlichen Gesetzen Pflicht? Oder anders gewendet: Ist es Pflicht, dem eigenen Gewissen und der Vernunft Folge zu leisten? Bin ich im Falle einer falschen und unmoralischen Entwicklung – auch unter Inkaufnahme persönlicher Opfer – verpflichtet, Widerstand zu leisten? Was soll ich im Konfliktfall tun? Was also ist Pflicht? Was soll ich tun? Das sind die drängenden Fragen, die Kants Ethik in radikaler Weise aufgeworfen hat und bis heute aufwirft.
Nach zwei Weltkriegen, einer totalen Tötungsmaschinerie und im Angesicht der globalen Herausforderungen der Gegenwart bleibt uns Heutigen nur die Einsicht in den Abgrund der Kluft zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein sollten und auch sein könnten. Was wir aus dieser Einsicht machen, ist heute ungewisser als es für Kant gewesen sein mag, ungewisser als je zuvor.
»Lampe hat mir gestern eine Zulage zum ersten Quartal des Jahres 1802 abgedrungen.« (AA 21:128)
Jeden Morgen um Viertel vor fünf betritt der Diener Martin Lampe die Schlafstube Kants und weckt ihn mit dem ernsten militärischen Zuruf: »Es ist Zeit!«. Im Sommer wie im Winter beginnt der Tag des Philosophen mit diesem Ritual. Selbst im seltenen Falle einer schlaflosen Nacht folgt Kant dem strengen Kommando und sitzt Schlag fünf an seinem Teetischchen. So auch an diesem Morgen. Es ist Dienstag, der 14. Oktober 1794. Niemals verlangt Kant Aufschub, er gönnt sich keinen zusätzlichen Moment des Schlummers im Bett. Eiserne Disziplin und Pflicht gegen sich selbst sind seine Maximen, Bequemlichkeit oder gar Verweichlichung sind nicht seine Sache. Nicht ohne ein Gefühl der Selbstschätzung richtet Kant im Kreis seiner Gäste gerne und oft die Frage an seinen Diener: »Lampe, hat er mich in dreißig Jahren nur an einem Morgen je zweimal wecken dürfen (= müssen)?« Und die Antwort des ehemaligen Soldaten lautet stets: »Nein, hochedler Herr Professor!«23 Kant propagierte und pflegte eine stoische Lebensform: wenige Bedürfnisse, Anspruchslosigkeit, Abhärtung des Körpers und des Geistes getreu dem Motto: sustine et abstine – ertrage und entsage! Das ganze verbunden mit einer wackeren Gemütsart, aber fern von jeder mönchischen Askese – die lehnte er entschieden ab und empfahl jedem, auch sich selbst, das fröhliche Herz eines Epikur – ja, das wollte er am liebsten zur Pflicht machen.24
In einer noch zu schreibenden Kulturgeschichte über das Verhältnis zwischen den Philosophen und ihren Dienstboten würde dem Kapitel über Kant und Lampe eine besondere Bedeutung zukommen. Eine solche Kulturgeschichte würde bis auf Thales und jene namenlose thrakische Magd zurückreichen, die sich so köstlich über den Brunnensturz des Philosophen ergötzte, und gewiss noch nicht enden mit Marx und seiner Haushälterin Helena Demuth – genannt »Lenchen« –, die auf die Frage nach dem größten Glück antwortete: »Eine Mahlzeit essen, die ich nicht gekocht habe.«25 In einem solchen Werk würde die Beziehung zwischen Kant und seinem Diener sicherlich einen Höhepunkt einnehmen, denn Martin Lampe avancierte durch sein Wirken im Kantischen Haus zum wohl berühmtesten Diener der Philosophiegeschichte. Wer dagegen kennt schon den Sklaven von Aristoteles oder den Knecht von Hegel?
Der Armee-Veteran stand vier Jahrzehnte in den Diensten Kants und kümmerte sich um dessen Haushalt. Lampe hat uns indes nichts hinterlassen, es existiert auch kein Bildnis von ihm und keinerlei Selbstauskunft. Wir wissen auch nicht, was er über seinen Herren dachte. Zuweilen wünscht man sich eine Art Eckermann im Hause Kant – einen Gesprächesammler, einen Protokollanten, aber Lampe bleibt stumm. Was wir über Lampe wissen, stammt von den spärlichen Notizen Kants und den frühen Biografen.
Was den aus Würzburg stammenden Soldaten am Ende des Siebenjährigen Krieges nach Königsberg verschlagen hat, wissen wir nicht. Genauso wenig ist bekannt, wie und wann genau Lampe in Kants Dienste getreten ist. Der Philosoph jedenfalls erwähnt schon im März 1761 in einem Brief an Borowski einen eigenen Bedienten; ob es sich bei diesem aber bereits um Martin Lampe handelte, ist ungewiss. Kant war zu dieser Zeit noch nicht Professor, hatte auch noch nicht die Stelle als Unterbibliothekar, sondern unterrichtete ausschließlich als Privatdozent. Später wird in einer geradezu mitleiderregenden Lebensbeschreibung von Kants kärglichen und ärmlichen Verhältnissen zu jener Zeit berichtet. Über diese Beschreibung des italienischen Historikers Carlo Denina aus dem Jahre 1790 zeigte sich Kant »sehr befremdet« und wies sie als unrichtig zurück. Der Philosoph stellte klar, dass er vom Beginn seiner akademischen Laufbahn an stets eine große Zuhörerschaft gehabt, über reichliches Auskommen verfügt habe und sich sogar einen »eigenen Bedienten halten konnte«. Er bezeichnet diese Jahre als die angenehmsten seines Lebens.26 Allein die Tatsache, dass Kant schon in dieser Zeit einen Bedienten hatte, lässt sich mit dem Bild vom armen Magister kaum in Einklang bringen. Dennoch bleibt die Frage, wie und warum Kant, der damals über keine feste Besoldung und gewiss auch nicht über große Geldmittel verfügte, sich einen Bedienten leistete. Wie dem auch sei, Kant und Lampe formten über viele Jahre hinweg ein eigenwilliges Dienstverhältnis, welches den Stoff zu zahlreichen Legenden bot. Wie viel in diesem Dienstverhältnis reine Konvention gewesen ist und wie viel an eigenwilligem Charakter von beiden hinzukam, lässt sich nicht mehr auseinanderklauben. Befremdlich jedenfalls bleibt, dass Kant nicht einmal wusste, dass sein Diener Lampe – des Junggesellendaseins überdrüssig – schon lange Zeit in den Stand der Ehe getreten war. Kant erfuhr dies nur zufällig, kurz bevor Lampe bereits seine zweite Eheschließung plante. Der Diener wollte auch diese erneute Heirat offenkundig geheim halten. Was aber sagt dies über das Verhältnis zwischen Kant und seinem Diener aus? Wie konnten Kant diese Umstände so lange verborgen bleiben? Hatte er kein Interesse am Menschen Lampe? War es ein reines Dienstverhältnis? Und was sagen diese Umstände über Lampes Haltung gegenüber Kant aus? Als Dienstherr hätte Kant nach damaliger Rechtslage wohl eine Heiratserlaubnis geben müssen. Fürchtete Lampe, dass Kant diese verweigern würde? Wir wissen es nicht. In seiner Rechtslehre (1797) macht Kant am Beispiel von Frauen, Dienstboten und auch Hauslehrern den Unterschied zwischen aktiven und passiven Staatsbürgern deutlich. Der Diener ist im Hinblick auf Nahrung und Schutz von anderen Individuen abhängig und besitzt daher nicht dieselben bürgerlichen Rechte wie ein aktiver Staatsbürger, obwohl er als Mensch betrachtet gleichgestellt ist. Kant betont, dass jeder Mensch sich in den aktiven bürgerlichen Zustand und damit zur vollen bürgerlichen Persönlichkeit emporarbeiten können sollte, doch in Bezug auf den Fall Martin Lampe wissen wir nicht, wie Kant dachte.27 Fürchtete er, dass eine Eheschließung zur Vernachlässigung seiner Pflichten führen würde? Wollte er den Junggesellenstatus zementieren? Später jedenfalls haben Lampes zweite Frau Anna Charlotte (geb. Kogel) und seine Tochter in Kants Haushalt mitgeholfen. Der Philosoph bedenkt sie in seinem Testament.
Lampe, dem von mehreren Seiten ein sehr eingeschränkter Verstand attestiert wird, führte die Anweisungen Kants mit soldatischem Gehorsam geradezu maschinenmäßig aus und etablierte im Alltag des Philosophen einen festen Ablauf: Kurz vor fünf weckt Lampe den Philosophen, dieser geht dann in sein Studierzimmer und setzt sich an den zurechtgestellten Teetisch. Dort hängt er bei einer Tasse Tee und einer Pfeife allein seinen Gedanken nach. Anschließend bereitet er seine Vorlesungen vor. Die Vorlesungen finden zwischen sieben und neun bzw. zwischen acht und zehn Uhr im Hörsaal von Kants Haus statt. Nach der Vorlesung zieht sich Kant wiederum an seinen Schreibtisch zurück und arbeitet dort an seinen philosophischen Werken, bis Lampe um Viertel vor eins zum Mittagessen ruft. Diese einzige Mahlzeit des Tages nimmt Kant in einem kleinen Kreise wechselnder Tischgenossen zu sich. Sie wird oft bis in die Nachmittagsstunden ausgedehnt. Gegen vier Uhr begibt sich der Philosoph auf einen Spaziergang, der ihn meist zur Festung Friedrichsburg führt. Wenn es regnet, trägt Lampe wohl auch mal den Schirm von Kant. Nach dem etwa einstündigen Spaziergang widmet sich Kant der Lektüre. Er liest Zeitungen, Reiseberichte und kümmert sich auch um die Korrespondenz. Schließlich zieht er sich an den geheizten Ofen zurück oder schaut beim Nachdenken hinaus aus dem Fenster zum Löbenichtschen Turm. Er überdenkt seine Arbeiten für morgen und begibt sich um zehn Uhr zu Bett. Der Philosoph schläft – nach Maßgabe der Alten – sieben Stunden und dann beginnt wiederum alles von vorne – ein wenig so wie in der Filmkomödie Und täglich grüßt das Murmeltier (Originaltitel: Groundhog Day). Im Film ist der Wetteransager Phil Connors (alias Bill Murray) in der Kleinstadt Punxsuatwny in einer Zeitschleife gefangen. In Königsberg aber gibt es zwei wesentliche Unterschiede: Kant liebt die alltägliche Gleichförmigkeit des Tages und er will aus ihr auch gar nicht heraus. Es ist der von ihm bevorzugte und von Lampe arrangierte Tagesablauf. Zum anderen finden in dieser festgefügten Tagesordnung gewaltige, alles umstürzende Gedankenentwicklungen statt. Tag für Tag, Jahr für Jahr beackert Kant das gewaltige Feld der Metaphysik. Er reißt die Kathedralen bzw. Luftschlösser seiner metaphysischen Vorgänger ein und errichtet in den Trümmern und Ruinen eine neue Metropole. Manche Kantforscher und Kantforscherinnen würden vielleicht zurückhaltender behaupten: Kant erlässt neue Bauvorschriften. Auch im Hinblick auf das eigene Werk hat man Kant als »philosophischen Bau- und Abrissunternehmer in einer Person« bezeichnet, da er zeitlebens seine Gedanken entwickelte, revidierte, Umbrüche vollzog und wieder neu ansetzte. Kants Philosophie ist ein immerwährender Prozess, ein stetiges Ringen mit seinen Konzepten.28 Wie dem auch sei, für die Metaphysik ist es eine gewaltige Entwicklung, die sich nur langsam vollzieht und für die ein ganzes Menschenleben kaum ausreicht. Eine Umwälzung von gigantischem Ausmaß, deren Folgen und Wirkungen erst sehr viel später in der Geschichte der Philosophie fassbar werden. Eine riesige Umwälzung, die vielleicht den gleichförmigen und störungsfreien Alltag zur Voraussetzung hatte. In diesem Sinne beruht auch die Kantische Philosophie auf Voraussetzungen – nämlich dem Wirken Lampes –, die sie selbst nicht erbringen konnte.
Abweichungen von diesem gewohnten Tagesablauf störten und verwirrten den Philosophen mit zunehmendem Alter. Alles im Haushalt musste wie ein Uhrwerk ablaufen und so kann man das eigentümliche Verhältnis der beiden als ein – allerdings nicht immer ganz reibungsloses – Ineinandergreifen zweier Zahnräder beschreiben. Kleinste Abweichungen von der gewohnten Ordnung waren ein Ärgernis für den Philosophen. So berichtet beispielsweise Jachmann, dass Kant Lampe in einen weißen Gehrock mit rotem Kragen gekleidet habe. Als dieser nun eines Tages mit einem gelben Rock zum Dienst erschien, den er sich selbst eigenmächtig an einer Trödelbude gekauft hatte, war Kant darüber ziemlich entrüstet und verlangte, er solle diesen Rock sofort wieder verkaufen. Für einen etwaigen Schadensersatz wolle er aufkommen.29 Dies ist nur eine von zahllosen Anekdoten, die von Kant als einem absoluten Gewohnheitsmenschen zeugen, dem es offensichtlich sehr große Schwierigkeiten bereitete, wenn sich die einmal etablierte Ordnung oder auch ›Unordnung‹ des Alltags veränderte. Jedenfalls verwirrten ihn Abweichungen vom Gewohnten. Ein Student, der regelmäßig mit fehlendem Knopf in Kants Vorlesung saß, erschien eines Tages mit angenähtem Knopf. Kant – so wird berichtet – sei die gesamte Vorlesung hindurch unruhig und zerstreut gewesen und habe den Studenten nachher zu sich gerufen. Er sprach ihn auf den neu angenähten Knopf an und bat darum, dass sich der Student den Knopf wieder abtrennen ließe. Der Student sei daraufhin tatsächlich wieder knopflos zur Vorlesung erschienen.30 Der Philosoph konnte seine Vorlesungsreihe konzentriert und geordnet zu Ende bringen. Sind dies nur Anekdoten? Maßlose Übertreibungen und Zuspitzungen oder doch Anzeichen eines Kantischen Ordnungsfetischismus? Ein seltsamer Hang zur Gleichförmigkeit? Oder am Ende sogar ein Anzeichen für eine psychische Auffälligkeit – eine Art Asperger-Syndrom, mit dem man Kant immer wieder in Verbindung brachte. Wie auch immer: Lampe jedenfalls sorgte für die Ordnung und Routine im häuslichen Alltag.
Vielleicht – aber wer kann das schon sagen – war auch nur durch dieses routinemäßige Alltagsgerüst, bei dem Rädchen in Rädchen griff, und in dessen Maschinenraum Lampe die größte Stütze darstellte, vielleicht waren nur unter solchen Entlastungen vom alltäglichen Kleinkram und der Etablierung einer maschinenmäßigen und störungsfreien Tagesordnung jene außergewöhnlichen Denkleistungen zu vollbringen, die der Philosoph über Jahrzehnte hinweg vollbrachte. Vielleicht waren jene außergewöhnlichen und abenteuerlichen Gedankenexpeditionen nur möglich in der absoluten Sicherheit und Gleichförmigkeit eines ewigen Alltags. Lampe selbst dürfte – nach allem was wir mutmaßen können – von den revolutionären und genialen Gedankengängen seines Dienstherren nichts verstanden haben, aber er festigte seine Stellung und wollte auch später – als Kant noch zusätzlich eine Köchin beschäftigte – von seinen Vorrechten nichts preisgeben. Die unselige Folge davon war ein beständiger häuslicher Streit zwischen Lampe und der Köchin Luise Nitsch. Dieser Unfrieden in den Räumen des großen Denkers störte die Kopfarbeit des Philosophen. Lampes zunehmende Trunkenheit sowie seine unverschämten Geldforderungen verschärften die Situation zusätzlich. Schließlich ist sogar von Lampes »Brutalität« die Rede.31 Der alte Diener, der den noch älteren Philosophen hätte stützen und ihm helfen sollen, wurde selbst zur Belastung. Davon zeugen Kants Randnotizen in seinem letzten unvollendeten Manuskript, in welchem er die ganze Metaphysik von einem höchsten und endgültigen Standpunkt aus betrachten wollte. In diesem Manuskript, das in der Kantforschung unter dem Namen Opus postumum bekannt ist, finden sich zwischen den tiefsten metaphysischen Überlegungen immer wieder unzusammenhängende Notizen, die auf die dramatische – oder soll man besser sagen tragikomische – Situation im Hause Kant nach 1800 hindeuten. Mitten im tiefsten metaphysischen Dickicht lesen wir da Sätze wie: »Die Köchin hat wie rasend dem Lampe vorgeworfen, daß er ihr den Willen lasse und ihn nicht als Herr des Hauses im Gehorsam zu erhalten wisse. Sie aber will selbst den Herren spielen. Homo homini lupus (= der Mensch ist dem Menschen ein Wolf).«32