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Kornelkirschen, Magnolien, Feuerdorn - als Gartenarchitektin kennt Julie die Vorlieben der Pflanzen. Dicht an Dicht blühen manche in ihrer ganzen Farbpracht, andere brauchen Abstand, um sich entfalten zu können. Eine lebensnotwendige Distanz, die auch Julies Verhältnis zu ihrer Mutter kennzeichnet. Alle Versuche, gegen die unsichtbare Wand aus Unverständnis und Zurückweisung anzurennen, hat sie längst aufgegeben. Der plötzliche Tod der Mutter macht jede Hoffnung auf eine späte Aussöhnung zunichte. Wie betäubt folgt Julie der Verlesung des Testaments. Sie erbt ein Cottage in der Normandie, doch ist sie nicht Alleinerbin. Zum ersten Mal hört sie von Florence, ihrer Halbschwester. Warum wurde sie ihr verheimlicht? Was wusste ihr Vater, der sich in eine dunkle Wolke aus Vergessen hüllt? Julies Versuche, Florence in Frankreich aufzuspüren, schlagen fehl. Und so entschließt sie sich zu einer Reise durch Nordfrankreich, von Le Havre über Dieppe bis nach Étretat. Doch jemand versucht, ein Zusammentreffen der Schwestern gezielt zu verhindern. Sogar Julies Ex-Freund, der als Galerist nach unentdeckten impressionistischen Gemälden aus dem 19. Jh forscht, scheint Teil der Wahrheit zu sein. Je länger ihre Suche andauert, desto dichter wird das Geäst des Familienstammbaums und ungeheuerlicher seine Verzweigungen. Vor der atemberaubenden Kulisse der nordfranzösischen Küstenlandlandschaft erzählt Christa Hein in »Der Glasgarten« von der zerstörerischen Kraft lang gehüteter Geheimnisse und einer Suche nach der Wahrheit, deren glasscharfe Kanten der Protagonistin schließlich nichts mehr anhaben können; glatt geschliffen, nicht durch die Zeit, sondern von der tröstlichen Magie wiederentdeckter Wünsche.
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Seitenzahl: 404
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Vor der atemberaubenden Kulisse der nordfranzösischen Küste erzählt Der Glasgarten von der zerstörerischen Kraft eines lang gehüteten Familiengeheimnisses und von der Magie wiederentdeckter Wünsche.
Erst das Testament der Mutter bringt ans Licht, was diese ihrer Tochter ein Leben lang vorenthalten hat: Julie erbt ein Cottage in der Normandie – und sie erfährt von der Existenz ihrer Halbschwester Florence. Der Grund für dieses lebenslange Schweigen liegt weit in der Vergangenheit der Mutter und führt Julie nach Nordfrankreich, über steinige Strände entlang der normannischen Steilküste, vorbei an opulenten Gärten mit versteckt liegenden Anwesen.
Doch jemand scheint die Spuren, die zu ihrer Schwester führen, vorsätzlich zu verwischen. Als Julie ihren Ex-Freund Fabian trifft, einen Galeristen, der mit Gemälden aus dem 19. Jahrhundert handelt, rührt diese Begegnung an ein Kapitel ihrer eigenen Vergangenheit. Nach und nach wird Julie das ganze Ausmaß des Familiengeheimnisses bewusst und sie erkennt, dass ihr Leben nie wieder sein wird wie zuvor.
Comment vivre sans inconnu devant soi?Wie leben, ohne vor sich ein Unbekanntes?
René Char
Inhalt
Über dieses Buch
Motto
Roman
Impressum
Über die Autorin
Leseprobe aus dem Debütroman der Autorin »Der Blick durch den Spiegel«
Gerade steigt wieder die Flut. Die Frauen kehren mit ihren Muschelkörben aus den algenbedeckten Felsen zurück. Sie tragen die blauen Arbeitshosen hochgekrempelt über den Gummistiefeln, den Korb in der Hand, das Arbeitsgerät – Muschelnetz und Messer – am Seil über der Schulter. Sie setzen ihre Schritte stetig und gezielt. Ein paar unaufmerksame Augenblicke, und schon ist das Wasser schneller als die eigene Rückkehr.
Nie steht das Wasser still. Nur die Möwen wirken manchmal so unbeweglich, als seien sie aus Porzellan. Diese Vögel, so heißt es, haben an allen Orten verschiedene Stimmen. Wenn sie ihre Rufe hört, Tag für Tag, klingen sie immer gleich. Aber schon draußen bei den Felsen, wo die besten Muscheln wachsen, schreien sie anders.
Als Kind spielte sie oft in einer solchen Landschaft: lief weit hinaus ins Watt, bis die Küste hinter ihr versank und sie nur noch der Himmel umgab. Dann kniete sie sich auf den trockengefallenen Meeresboden und ließ die Horizontlinie steigen, bis auch der Möwenschwarm, ein eben vorüberfahrendes Schiff darüberhinaus verschwanden. Irgendwann müsste sie doch jenen Punkt erreichen, von dem aus es nur noch ein Schritt wäre hinaus ins All, um die blauweiße Erdkugel unter sich schweben zu sehen. Horizontspiel hatte sie es getauft.
Sie sieht alles wieder vor sich: In der Sonnenhitze zittern die Luftschichten über dem Watt, Himmel und Erde fließen ineinander, vertauschen ihre Plätze. Von irgendwoher dazwischen gespiegelt eine Insel, blaugrün schillerndes Eiland, ein schwebender Garten. Ein Mädchen spielt darin, weltvergessen zwischen hohen weißen Lilien und grünem Kohl. Hinter dem Zaun wuchert ein zweiter Garten, dunkel und voller Schatten, mit tiefen Kelchen und gierigen Ranken, deren handgroße Blätter über den Zaun greifen. Jede Nacht rücken sie näher, schon werfen sie ihre Schatten auf die Madonnenlilien und das Mädchen, das dort spielt, so ganz allein. Warum ist es nicht bei seiner Mutter?
Sie sitzt an dem aus angeschwemmten Planken gezimmerten Tisch, der violettblau gestrichen ist, in der Farbe der Blumen vom Delta. Von einem großen Zeichenblock reißt sie ein Blatt und legt es vor sich hin. Dann taucht sie eine Feder in das Tintenfass und bedeckt das Papier mit Worten. Im Laufe der Stunden, in denen die Sonne über den Himmel zieht, füllen sich die Bögen; erst wenn es dunkel wird, legt sie die Feder fort. So wächst der Stapel mit den blauen Schriftzügen.
Jeden Tag erfindet sie eine neue Erinnerung. Es geschieht ohne ihr Zutun. Die Erinnerungen kommen zu ihr, so selbstverständlich wie die Wellen vom Meer auf den Strand zurollen.
1
Den ganzen Sommer über hat sie in der Stadt gearbeitet. Einer der heißesten Sommer, die man je erlebt hat. Sie gewöhnte sich an, schon bald nach Sonnenaufgang mit der Arbeit zu beginnen, wenn die kühle Feuchtigkeit der Nacht auch auf dem Dach noch spürbar war, auf dem sie für eine Hausgemeinschaft einen Garten anlegen sollte. Ein Himmelswäldchen wünschten sie sich, und sie pflanzte Zwergbirken und Zwergkiefern mit Lichtungen aus Moos, über die Pfade aus niedrigwüchsigem Thymian führten, der duftete und den Vorteil hatte, nicht gemäht werden zu müssen. Wenn die Sonne höher stieg, wechselte sie hinunter in einen Hof, der zu dem Geschäftshaus eines Goldschmieds in der Einkaufspassage gehörte. Er hatte die fixe Idee, seinen Schmuck im Freien zu präsentieren, und sie hatte für seine gläsernen Vitrinen einen Schattengarten gestaltet, in dem das Gold verlockender glänzte: schwarze Eiben vor hellgrünem Farn, blaue Anemonen in silbrigem Mädchenhaargras, Buchs neben Bambus. Eine Gartenanlage inspiriert von der japanischen Auffassung von Licht und Dunkelheit, wonach Gegenstände aus Metall erst in einer dunklen Umgebung ihre Wirkung entfalten.
Sie liebt ihren neuen Beruf, den sie wie eine Art Fortsetzung der Malerei empfindet. In den wenigen Jahren, seit sie das Malen aufgab, um Gartenbau zu lernen, hat er ihr Kunden im ganzen Land gebracht, die geduldig warten, bis sie die Zeit findet, sich zu ihnen zu begeben. In diesem Jahr hat sie für ihre Reise die letzten warmen Spätsommertage gewählt, jene Zeit, in der die Luft durchsichtiger zu werden beginnt und die besondere Stille der Nachsaison spürbar wird; wenn sich die Hotels am Meer und in den Küstenorten geleert haben, die Scharen von Kindern und weißgekleideten Frauen abgereist sind und man sich in den südlicheren Regionen auf die Weinlese vorbereitet.
Zunächst ist sie zu den Stationen gefahren, die sie von ihrer Wohnung aus gut mit dem Auto erreichen kann. Ihr letzter Besuch gilt einem Arzt, der seinen Beruf aufgeben musste, weil er erblindet ist. Ein ehemaliger Augenarzt ausgerechnet.
»Julie Zurbrüggen«, meldet sie sich über die Sprechanlage. Ein großer, hagerer Mann mit graumeliertem Haar und einer Sonnenbrille im schmalen Gesicht öffnet ihr und begrüßt sie mit Handschlag. Er führt sie in ein weitläufiges Wohnzimmer, zeigt auf einen Sessel für Julie.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
Sie schüttelt den Kopf, fügt schnell hinzu: »Danke, nein.«
Er nimmt in einem Ledersessel am Fenster Platz, schlägt die Beine übereinander.
»Sie wissen ja, wie es um mich bestellt ist. Aber ich habe eine gute Vorstellungskraft. Dieser Garten ist viel zu eintönig, nicht wahr?«
»Sie haben wohl recht. Er besteht meinem ersten Eindruck nach vor allem aus immergrünen Pflanzen, Ilex, Heide, Thuja und Feuerdorn.«
»Das hat der Architekt damals so angelegt. Wir wollten einen Garten, den man sich selbst überlassen kann und der im Winter nicht kahl ist.«
»Ein nur auf Zweckmäßigkeit angelegter Garten wirkt oft erstarrt.«
»Genau das hat mich immer an ihm gestört. Man wird das Gefühl nicht los, von Stacheldraht umgeben zu sein.«
Er wendet sein Gesicht dem Fenster zu. Ein großer Ausschnitt Himmel mit schnellziehenden Wolken.
»Ich habe gelesen, dass bei Menschen mit Sehschwäche nicht nur das Gehör, sondern auch der Tastsinn die Rolle der Augen übernimmt. Es wäre also gut, Pflanzen zu wählen, die man gern berührt. Lammfellöhrchen zum Beispiel. Wenn man ihre Blätter anfasst, glaubt man, über ein weiches Fell zu streichen. Bei Regen werden sie wunderbar glatt.«
Während sie spricht, beginnt er, mit der Hand über seinen Kaschmirpullover zu fahren. »Sehschwäche ist nett formuliert. Ich bin nahezu blind. Aber Sie haben recht. Ich glaube inzwischen, meine Haut ist wie ein lichtempfindlicher Film. Jede Berührung vermag mir etwas zu zeigen.«
»Und wir sollten Pflanzen aussuchen, die biegsam sind, deren Blätter und Zweige der Wind zum Klingen bringt, Bambus zum Beispiel, Birke oder Silberpappel. Auch Gräser. Sie sind oft schön anzufassen, und viele haben auch eine Stimme. Es gibt Sorten, die rascheln, andere rauschen, sirren oder knistern.«
Er wendet sein Gesicht zum Fenster, durch das jetzt Sonnenlicht fällt. Dann spreizt er seine Hand und bewegt sie langsam vor den Augen hin und her. Seine Züge entspannen sich. »Das ist mein Kinoprojektor. Licht- und Schattenmuster, die sich mit Erinnerungen füllen lassen.«
Er beugt sich vor und streckt ihr eine Hand entgegen. »Darf ich Sie anfassen? Dann kann ich Sie nämlich sehen.« Sie lässt es zu, dass er mit den Fingern ihren Handrücken, ihr Handgelenk, den Armansatz berührt. »Sie sind viel jünger, aber Sie erinnern mich an meine Großmutter aus England. Eine schöne Frau. Sie war die Erste, die hier einen englischen Garten anlegte. Direkt am Meer. Ich habe oft dort gespielt.«
Wieder bewegt er die Hand vor den Augen. »Auf einer weißen Bank nach Norden hin konnte man die Wellen hinter den Dünen hören. Im Sommer ging ich nach dem Schwimmen mit meinem Porzellanschälchen zu den Johannisbeersträuchern und pflückte die vom Tau feuchten Beeren für mein Frühstück. Immer blühte etwas, als Erstes im Jahr die Kornelkirsche, dann die Magnolien. Zum Herbst wanderte der Kürbis aus dem Gemüsegarten, zog seine schnurgeraden Stengel über die Wege. Auch wenn ich mein Augenlicht verloren habe, wie man so schön sagt, – die Erinnerungen sind lebendig. Wenn ich heute die Wurzel des Storchenschnabels rieche, dann sehe ich sein Pink wieder vor mir. Und der Duft der Nachtkerzen lässt ihr helles Neapelgelb in mir aufleuchten.«
»Wir könnten den Garten Ihrer Kindheit nachpflanzen. Ein Garten ist ein Ort, an dem sich vergangene Zeit wiedergewinnen lässt.«
»Das haben Sie schön formuliert. Darf ich fragen, was Sie vorhaben?«
»Ich habe eine Auswahl Pflanzen mitgebracht: Gräser, Blüten, Stauden, Duftkräuter. Ich lasse sie Ihnen als Proben hier. Sie haben sicher einen Gärtner, der sie einpflanzen kann.«
»Gehen wir hinaus.«
Draußen muss sie die Augen mit der Hand abschirmen, so stark blendet das Licht. Jetzt erst bemerkt sie die Wasserfläche zwischen den Bäumen, reflektierend wie ein Spiegel. Das Grundstück grenzt an einen See.
»Mein See ist das Herz des Gartens. Sein Gleißen dringt sogar bis in meine Dunkelheit vor. Im Winter höre ich das Knacken des Eises, im Frühjahr das leise Klirren der tauenden Eisstückchen am Uferrand.«
Während sie die Pflanztaschen auslädt, nimmt er seine Brille ab. Seine Augen sehen normal aus. »Ich trage diese Brille nur, um mir einzubilden, dass sie der Grund für die Finsternis ist, die mich umgibt. Ich danke Ihnen. Sie müssen wiederkommen, wenn alles gewurzelt hat.«
»Das verspreche ich gern.«
Am nächsten Tag nimmt Julie den Zug. Sie will ins Badische zu einem Paar, das eine ehemalige Postkutschenstation in einen Gasthof umgewandelt hat. Er, ein erfahrener Koch, der lange mit seiner Frau in der Provence gelebt hatte, holt regelmäßig mit seinem Van frischen Ziegenkäse, Trüffel, Wein und Leberpasteten aus Frankreich. Dafür lieben ihn seine Gäste. Nur gibt es zu wenige von ihnen. Julie soll eine Art Park entwerfen, der mehr Publikum anzieht. Eine kleine Kräuterreise durch die Welt, eine Symbiose von Provence, japanischem Garten und Bauerngarten, hat er ihr seine Vorstellungen am Telefon beschrieben.
Das Anwesen liegt hinter einer Mauer aus Buntsandstein, die überwuchert ist von Thymian, Lavendel und Rosmarin. Ein hohes schmiedeeisernes Gittertor verschwindet unter der Blütenpracht einer duftenden Kletterrose. Es ist nicht abgeschlossen, und Julie betritt das Gelände. Eine schwarze Katze huscht ihr über die Füße. »Von rechts nach links, Glück bringts!«, hört sie im Geiste ihre Mutter. In Finnland aufgewachsen, ist sie über die Maßen abergläubisch – im Gegensatz zu Julie selbst. Wie sie überhaupt große Gegensätze sind. Die Mutter will vom neuen Beruf der Tochter nichts wissen. Hatte sie sie nicht davor gewarnt, Malerei zu studieren, diese brotlose Kunst? Aus ihrer Sicht ist Julie gründlich gescheitert. Während das Tier die Kräuter streift und ein intensiver Duft aufsteigt, nimmt sie sich vor, die Mutter bald zu besuchen. Sie will den Graben nicht zu tief werden lassen. Es ist ziemlich lange her, dass sie sich gesehen haben.
Mit energischem Schritt kommt ein Mann vom Haus auf sie zu. Er trägt schwarze, mit grellen Neonmustern bedruckte Pluderhosen und ein schwarzes T-Shirt, das sich über seinem muskulösen Oberkörper spannt. Sein braungebranntes Gesicht wirkt besorgt.
»Eine schöne Einfahrt, ein Empfang wie im Süden«, lobt Julie und ergreift die ausgestreckte Hand.
»Ja, ja.« Er streicht sich eine Strähne hinters Ohr, die sich aus seinem Zöpfchen gelöst hat. »Das hier ist alles schön. Aber sehen Sie mal dort.« Er weist auf einen Hang, wo Mangold, Rittersporn und Purpur-Sonnenhut blühen, dazwischen Ringelblumen, Grünkohl, Lilien und Lauch, alles eingerahmt von dunkelgrünen Buchsbaumhecken.
»Ein prachtvoller Bauerngarten! Wie im Mittelalter. Was stimmt nicht damit?«
»Ja, prachtvoll ist er – aber viel zu normal. So etwas hat hier inzwischen fast jeder.« Hinter ihm erscheint eine hochaufgeschossene Blondine, ganz in Weiß gekleidet, die Haare zu einem Knoten gesteckt. »Janina«, stellt sie sich vor und reicht Julie eine feuchte Hand. »Ich habe gerade Pfirsichkonfitüre gemacht.«
»Pfirsichkonfitüre, Johannisbeerlikör, Pesto. Meine Frau kocht wunderbar. Nur leben hier so viele Aussteiger … jeder verkauft sein eigenes Gelee, seine Fruchtweine, und auch Imker gibt es mehr als genug. Mit solchen Produkten kommen wir auf keinen grünen Zweig.«
Die frisch gekalkte Gaststube mit ihren niedrigen Decken und einem alten Kachelofen hat viel Atmosphäre. Durch große, offenstehende Fenster blickt man in ein unbebautes idyllisches Tal. Janina bringt drei Cappuccino und einen Teller Gebäck. »Quittentaler. Selbstgemacht«, sagt sie stolz.
»Wissen Sie: Wir brauchen etwas Besonderes, damit die Leute den Umweg zu uns in Kauf nehmen. Dann würden sie auch meine Kochkurse und das Restaurant besuchen.«
Janina macht eine wegwerfende Handbewegung. »Scharenweise würden sie kommen, alles zertrampeln, die Pflanzen auszupfen und vielleicht gerade mal ein Wasser bestellen, während sie ihr mitgebrachtes Picknick verzehren.« Tränen stehen ihr in den Augen. »Mein Mann ist einfach viel zu gutgläubig. Unser Schuldenberg wächst und wächst, und die Aussicht, die wir von ihm aus haben, ist alles andere als schön.«
»Ich glaube, ich habe eine Idee. Eine Schlossgärtnerei bei Paris züchtet vergessene Obst- und Gemüsesorten. Demnächst findet dort eine Saatgutauktion statt.«
Seine Miene hellt sich auf. »Genau so was meine ich! Für Birnenteig, zum Beispiel. Oder für Marillenknödel mit diesen besonders saftigen kleinen Aprikosen, die nirgendwo mehr zu haben sind. Ich habe tolle Rezepte. Schon meine Großmutter war Köchin. Allerdings gibt es ein Problem: Ich kann hier jetzt nicht weg.«
»Ich könnte für Sie fahren und einkaufen.«
»Das würden Sie tun? Die Kosten für die Reise übernehme ich natürlich.«
Sie halten alles schriftlich fest, dann bringt er Julie zum Bahnhof. Das Angebot, bei ihnen zu übernachten, hat sie ausgeschlagen. Als sie auf dem Bahnsteig steht, trägt der Wind den spätsommerlichen Geruch blühender Dahlien und reifender Äpfel heran, und sie bedauert, in den übervollen Zug steigen zu müssen. Die Luft im Abteil ist stickig, und bald stellt sie sich hinaus auf den Gang. Als die Rebhänge vor den Fenstern vorbeiziehen, in der Ferne die blauen Kuppen der Berge sichtbar werden, beschließt sie, an der nächsten Station wieder auszusteigen. Sie will in eines der Dörfer am Fuße der Weinberge wandern und diesen vielleicht letzten warmen Abend des Jahres unter einem Sternenhimmel im Garten eines Gasthauses verbringen. So wie einst, als der Vater sie auf eine Geschäftsreise in diese Gegend mitnahm. Unauslöschliche Eindrücke waren das für ein Kind aus dem Norden gewesen: Weintrauben, frische Feigen und Pfirsiche, die in den Gärten wuchsen. Wieder zurück, schenkte der Vater ihr Schaufel und Gießkännchen und legte ein Beet für sie an. Über die keimenden Halme auf dem kahlen Flecken Erde war sie zunächst enttäuscht gewesen – bis wie über Nacht ihr Name in hellem Grün heranwuchs. Damals hatte der Vater in ihr mehr als die Liebe zum Gärtnern geweckt. Indem er ihr zeigte, wie sie mit Blüten malen konnte, erhielt sie eine erste Ausdrucksmöglichkeit für ihr Verlangen, die Wirklichkeit um sich her zu verwandeln. Ein Gefühl von Freiheit, das er ihr damit eröffnete, etwas, das ihm selbst unverzichtbar gewesen war. Weshalb er dort, wo er jetzt lebt, so manches Mal aneckt.
Sie hat den Ton ihres Mobiltelefons ausgestellt, jetzt beginnt es zu vibrieren, eine pulsierende, schillernde Medusa, die sie aus dem Meer ihrer Erinnerungen reißt. Sascha? Ihr Freund hat einen unglaublichen Instinkt für Momente, in denen sie etwas ohne ihn zu unternehmen plant. Doch die Nummer auf dem Display sagt ihr nichts. Sie nimmt das Gespräch an, nennt ihren Namen, und im nächsten Moment redet eine aufgeregte Frauenstimme auf sie ein. Die Verbindung ist schlecht, sie versteht nur einzelne Satzfetzen »Hören Sie …«, unterbricht sie, »ich kann Sie kaum verstehen.« Die Stimme klingt fern, ein Pfeifen dazwischen. Plötzlich weiß sie, wer am anderen Ende spricht. Louise, eine Freundin der Mutter. »… Schlafzimmer gefunden … es geht ihr nicht gut, man versucht gerade, sie zu sta…« »Was versucht man?«, ruft sie so laut, dass einige Passagiere sie missbilligend ansehen. »Zu stabili…«, kommt es verzerrt zurück. »Ich verstehe immer noch nicht. Um was geht es?« Plötzlich ganz klar: »Julie – deine Mutter wurde mit dem Notarzt ins Krankenhaus gebracht. Ein Schlaganfall.« Wieder ertönt dieses Pfeifen, ein Rauschen. Dann bricht das Gespräch ab. Julie starrt auf die vorbeiziehende Landschaft.
Wie endlos langsam sie vorankommt. Wie viel Zeit vergeht, bis sie endlich da ist! Die Stadt ihrer Kindheit, ein Ort, an dem sie sich oft wie eine Fremde gefühlt hat. Für die letzte Strecke muss sie in ein Taxi umsteigen. Sie lässt sich direkt ins Krankenhaus fahren. Der Pförtner am Eingang nennt ihr die Station und das Zimmer. Sie klopft an die Tür, als sie nichts hört, öffnet sie. Da liegt die Mutter, allein, die Augen geschlossen, schwer atmend. Sie tritt ans Bett. »Mutter«, sagt sie und berührt ganz leicht mit dem Finger den nackten Unterarm mit der Kanüle am Handgelenk, »ich bin’s.«
Es dauert einen Moment, bis die Augen sich öffnen. Ein Blick, der aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Dann belebt sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich. »Du bist es! Das hätte ich nicht für möglich gehalten!«
»Mutter, ich bin so froh, dass ich so schnell hier sein konnte.« Die Mutter versucht sich aufzurichten, beginnt zu husten. »Meine älteste …« Ihre Worte gehen in einem Husten unter. Julie beugt sich zu ihr hinab. »Was willst du sagen, Mutter?« Ihre Lippen bewegen sich, aber sie kann nicht sprechen. »Bleib ganz ruhig liegen«, sagt Julie, »ich fahre dir das Kopfteil hoch, dann bekommst du besser Luft.« Sie hört das Surren des Elektromotors überlaut. Dann klappt sie das Seitenteil des Bettes herunter und zieht sich einen Stuhl heran, um ganz nah bei der Mutter zu sitzen.
»Die Tochter …«, flüstert sie, dann greift sie mit der Hand nach Julies Gesicht. »Was steht da geschrieben?« Sie versucht sich aufzurichten, kneift die Augen zusammen, als wolle sie eine Schrift entziffern. Plötzlich weiten sich ihre Pupillen, und ihr Kopf sinkt aufs Kissen zurück. Julie nimmt die Hände in ihre, hält sie fest, wie um sie am Leben zu erhalten. Die Mutter bewegt die Lippen, Julie beugt sich noch tiefer hinab. »Die Tochter«, hört sie, ein ums andere Mal, und danach ein Wort, das sie nicht verstehen kann. Der Atem der Mutter geht jetzt stoßweise, ihre Hände bedecken sich mit kaltem Schweiß, Julie weiß sich nicht mehr zu helfen und drückt den roten Knopf über dem Bett; eine Schwester erscheint kurz danach, verschwindet, und im nächsten Moment drängt ein ganzes Team von Pflegern und Helfern mit einer Sauerstoffflasche ins Zimmer. »Bitte gehen Sie hinaus.« Verstört wartet Julie draußen im Gang, ein Mann mit roter Weste, auf der groß NOTARZT zu lesen steht, kommt gerannt und verschwindet in dem Zimmer. Nach endlos langen Minuten öffnet sich die Tür. Der Arzt tritt auf sie zu. »Wir haben ihr Sauerstoff gegeben, sie hat sich gefangen.«
»Was ist überhaupt mit ihr? Ich weiß nichts Genaues.«
»Sie wurde mit akutem Herzinfarkt und akuter Niereninsuffizienz eingeliefert. Die haben wir jetzt kompensiert. Gegen eine beginnende Lungenentzündung bekommt sie Antibiotika. Die Situation ist kritisch, aber im Moment stabil. Wir müssen sie weiter beobachten. Sie darf nicht mehr trinken als eineinhalb Liter Flüssigkeit.« Er reicht ihr die Hand. »Wir kümmern uns.« Dann verschwindet er den Gang hinunter.
»Und was glauben Sie?«, fragt Julie die Schwester, die noch neben ihr steht. »Sie haben doch viel Erfahrung.«
»Das weiß man nie. Die eine schaffts, die andere nicht. Aber wir haben Ihre Mutter hier gut im Blick«, sagt sie, wie um ihr zu verstehen zu geben, dass sie gehen könne.
Julie setzt sich zurück auf den Stuhl am Bett. Die Mutter schläft. Die Zeit scheint stillzustehen. Julie merkt jetzt, wie müde sie ist. Irgendwann muss auch sie eingeschlafen sein. Sie erwacht, als eine Hand sie an der Schulter berührt. Es ist die Schwester der Morgenschicht.
»Wollen Sie nicht nach Hause fahren und sich auch ein bisschen ausruhen? Wenn etwas ist, rufen wir Sie an.«
Die Mutter atmet ruhiger. Sie scheint fest zu schlafen. Zögernd erhebt sich Julie von ihrem Stuhl und geht.
2
Rot leuchten die Flaggen und Geranien auf Monets Terrasse à Sainte-Adresse auf, jetzt erstrahlt das weiße Kleid des kleinen Mädchens auf Seurats La Grande Jatte. Dann ist der Streifen Sonnenlicht weitergeglitten. Die Kopien dieser beiden Gemälde haben seit jeher bei den Eltern gehangen. Den Monet hatte der Vater geerbt. Den Seurat hatte die Mutter sich gekauft. Aus der Menge der Pariser Sonntagsausflügler auf der Seine-Insel blickt das Mädchen als einziges den Betrachter direkt an. Als Kind hatte sie sich in ihrem weißen Kleid davorgestellt und sich gewünscht, diese imaginäre Schwester träte heraus in die Wirklichkeit. Die Mutter wollte davon nichts hören.
Die Mutter! Erst jetzt fällt ihr alles wieder ein. Mit einem Ruck fährt Julie vom Sofa hoch, greift nach ihrem Telefon auf dem Teppich davor, aber es ist nichts – kein verpasster Anruf, keine neue Mitteilung vom Krankenhaus. Erleichtert steht sie auf.
Sie stellt sich unter die Dusche, schlingt einen Handtuchturban um ihre nassen Haare, zieht sich an, brüht sich einen Kaffee. Mit der Tasse in der Hand geht sie ins Schlafzimmer. Dort sei es passiert, hatte Louise gesagt. Die hellblauen Schränke stehen sperrangelweit offen. Alben und Aktenordner, Papiere und Fotos, sonst säuberlich neben Twinsets und Seidenblusen gestapelt, sind herausgerissen und liegen über Bett und Boden verstreut. Als habe die Mutter nach etwas gesucht. Als sei sie durch irgendetwas aufgestört worden. Auf dem Teppich liegt ein kleines Foto. Ihre Mutter als junges Mädchen. Strahlend, auf einem Bootssteg vor einem finnischen Holzhaus am See. Welch verblüffende Ähnlichkeit zwischen der Abgebildeten und ihr selbst in diesem Alter, geradezu wie Zwillinge zweier Generationen!
In diesem Moment hört sie ihr Telefon. Sie rennt zurück ins Wohnzimmer, es ist nur eine SMS von der Redakteurin einer Gartenzeitung. Julie hat ihr einen Beitrag zum Thema Grüngürtel versprochen, man brauche ihn so schnell wie möglich. Sie blickt auf die Pendeluhr an der Wand. Fast Mittag. Sie wird am frühen Nachmittag ins Krankenhaus fahren. Bis dahin kann sie arbeiten.
Sie steckt das Telefon ein und holt ihren Laptop. Dann öffnet sie die Datei mit ihrem Textentwurf. Nur noch eine Passage gefällt ihr: »Grüngürtel sind Zwischenwelten, jenes Terrain, in dem sich die Stadt an ihren Rändern auflöst und übergeht in verwilderte Gegenden, Schutthalden, Niemandszonen, in denen Kamille, Mohn und Brennnesseln sich den Platz streitig machen. Dort geriet ich oftmals in bewegende Situationen. Wie die Begegnung mit einem Vogel. In der abgelegenen Ecke eines Parks nahe den überwucherten Gleisen, wohin an vielen Tagen sicher überhaupt niemand kommen mochte, hing ein Messingkäfig hoch unter einem Glasdach. Ein Schild war an den Gitterstäben befestigt mit dem Hinweis: Je m’apelle Java. Ich sah nichts in dem Käfig bis auf eine leere Sitzstange, und rief: ›Java, Java!‹ Und noch einmal: ›Java!‹ Plötzlich bewegte sich etwas am Boden des Käfigs, etwas Schwarzes wurde größer, und schließlich hüpfte ein Vogel auf die Stange und blickte mich an. ›Java?‹, sagte ich und erhielt ein so freudiges Zwitschern als Antwort, dass es mir schwerfiel, wieder zu gehen.
Solche unvorhersehbaren Augenblicke in Zwischenwelten – sind nicht sie das eigentliche Leben?«
Der Text ist eher ein Brief geworden, den sie an sich selbst geschrieben hat. Vielleicht wird die Redakteurin ihn nicht akzeptieren.
In der Küche sichtet Julie die Vorräte, nimmt sich eine Tomatensuppe, den Klassiker der Mutter. Die leere Dose passt nicht mehr in den übervollen Müllbeutel, sie bindet ihn zu, um ihn in den Hof zu tragen. Im Treppenhaus meldet sich ihr Telefon. Es ist das Krankenhaus. Eine Männerstimme, wahrscheinlich der Arzt. »Es tut mir sehr leid für Sie, Frau Zurbrüggen, aber Ihre Mutter ist soeben verstorben. Ein erneuter Schlaganfall, Herzrhythmusstörungen, alles ging ganz schnell. Ich kann Ihnen versichern, sie musste nicht leiden. Sie hatte keine Schmerzen, aber wir konnten nichts mehr für sie tun.«
Julie setzt die Mülltüte ab.
»Hat sie noch etwas gesagt?« Sie wundert sich, wie gefasst sie ist.
»Sie hat anscheinend einen Vogel gesehen, vorm Fenster. Sie wollte wissen, ob ich ihn auch bemerkt hätte. Das war alles.«
»Java«, flüstert Julie.
»Wie bitte?«
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Am besten beauftragen Sie gleich ein Bestattungsinstitut, dort wird man alles Nötige veranlassen. Die werden sich auch um die persönlichen Sachen Ihrer Mutter kümmern und sie für Sie mitnehmen.«
Das Gespräch ist zu Ende. Die kühle Sachlichkeit des Mannes hat ihr geholfen. Hupen von Autos in der Ferne, Motorengeräusche anfahrender Busse, Rufe, gedämpftes Lachen, alles scheint sich gleichmäßig von ihr zu entfernen. Sie spürt einen schmerzhaften, stetig zunehmenden Druck im Kopf. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie hat das Gefühl, ihre Augen füllten sich mit Sand, und sie schließt die brennenden Lider. Wie oft hat sie den Tod der Mutter in Gedanken vorweggenommen. In ganz verschiedenen Phasen ihres Lebens. Aber nie hat sie erwartet, dass er Wirklichkeit werden könnte. Es hatte eine Fremdheit zwischen ihnen geherrscht, unter der sie vermutlich beide gelitten haben. Die Gründe für dieses Gefühl waren ihr unverständlich geblieben. Ihre Versuche, sich der Mutter zu nähern, sich in sie hineinzudenken, waren immer wieder gescheitert. Und jetzt ist es zu spät.
Sie hört die Eingangstür unten, Schritte, die heraufkommen. Sie nimmt den Müllbeutel wieder in die Hand und geht zurück in die Wohnung. Alles scheint wie sonst: der Geruch nach Lavendel und Waschpulver. An der Garderobe der helle Staubmantel der Mutter. Ihr Lieblingstuch aus violettem Chiffon auf die Kommode geworfen, als sei sie eben zurückgekehrt von einer kleinen Besorgung.
3
Julie nimmt sich das Telefonbuch, wählt die Nummer eines Bestattungsunternehmens, das auf dem Einband wirbt. Eine unangemessen fröhliche Frauenstimme antwortet und erklärt ihr wortreich den Ablauf von Dingen, um die sie sich nicht zu kümmern brauche. Zuerst müsse man allerdings den Kostenträger wissen. Sie nennt ihren Namen, die Anschrift der Mutter, auch das Krankenhaus. »Wir holen Ihre Mutter jetzt gleich zu uns, Frau Zurbrüggen, dann können Sie sie schon heute Abend besuchen.« Es gelingt ihr nicht, zu antworten. Nach kurzem Zögern fügt die Stimme hinzu: »Sie können sich aber auch Zeit lassen. In unserer Stadt wird die Sechsundneunzig-Stunden-Frist sehr liberal gehandhabt. Unsere Firma hat einen modernen Kühlraum, in dem ist Ihre Mutter bestens aufgehoben. Rufen Sie nur kurz vorher an.«
Irritiert legt Julie auf. Sie hält es nicht länger aus in der Wohnung, nimmt ihre Jacke und geht. Im Treppenhaus lauscht sie. Alles ist still. Dann steigt sie bis ganz nach oben, zieht die Ausstiegsluke mit der Leiter herab und klettert hinaus. Die leichte Neigung des Flachdachs und der Blick in die Tiefe lassen sie schwindeln. Auf allen vieren kriecht sie zum gemauerten Schornstein hinüber, die körnige Dachpappe schmerzt an ihren Handballen und Knien. Mit dem Rücken lehnt sie sich gegen die Ziegel, die ein bisschen Sonnenwärme gespeichert haben. Ein Schwarm Vögel fliegt aufs Dach gegenüber. Java ist nicht dabei. Es sind Krähen, Seelenvögel, wie sie bei anderen Völkern heißen. Ihre Mutter hat diese Tiere gehasst. An manchem Abend war sie auf ihren Balkon hinausgetreten und hatte in die Hände geklatscht, um die schwarzen Vögel zu vertreiben. »Ihre Stimmen sind so hässlich. Sie töten die Kleinen, die Zaunkönige und Rotkehlchen. Schwarze Mörder sind das. Man sollte ihnen die Schnäbel abtrennen.« Worte der Mutter, die sie hundertfach gehört hat.
Die Hinterhöfe liegen im Schatten. Irgendwo fegt jemand mit einem Reisigbesen. Das regelmäßige Geräusch schallt überlaut herauf. In den Straßenschluchten flimmern Lichter. Der Himmel über ihr wie aus Brokat gewirkt: blutrot. Rotgold. Flugzeuge ritzen leuchtende Linien hinein. Kondensstreifen, die anfangen, zu verschwimmen, weil Julie endlich weinen kann.
4
Im Regal an der Wand gegenüber bewegt sich etwas. Ein feiner Silberstreifen. Sie schiebt die Bettdecke beiseite, steht vom Sofa auf. Es ist der Plattenteller, der sich immer noch dreht. Kyllikki von Sibelius, die drei lyrischen Klavierstücke, die für ihre Mutter so oft Erinnerungen an ihre Heimat heraufbeschworen haben. Julie schaltet das Gerät aus und steckt die Platte in die abgenutzte Hülle. Der wie stets melancholisch lächelnde Pianist darauf mit seiner weißen Fliege. Die Mutter besaß all seine Aufnahmen. Es waren nicht viele, denn er war jung gestorben. Als Kind hatte Julie manchmal gedacht, er sei ihr Vater. Aber ihr Vater spielte ein anderes Instrument. Querflöte. Ziemlich gut sogar. Oft hatte sie ihn am Klavier begleitet. Sie sieht ihn vor sich, wie er seine Flöte zusammensetzt, den Notenständer aufbaut, behutsam die Notenblätter darauflegt. Er hatte sein Üben intensiviert, nachdem die Eltern in diese Wohnung gezogen waren. Sie hatten ihr großes Haus aufgegeben, weil es dem Vater angeblich zu viel Arbeit machte. Die Mutter war glücklich, endlich ein überschaubares Reich zu bekommen. Für den Vater jedoch wurde der Verlust seines Gartens zur Vertreibung aus dem Paradies. Nie wird sie den Tag nach dem Umzug vergessen, als sie mit ihm in die Gärtnerei fahren wollte, um Erde und Blumen für die neuen Balkonkästen zu kaufen. Sie tat es im Glauben, es würde ihm Freude bereiten, etwas zu pflanzen. Aber schon beim Frühstück stand er unschlüssig vor ihr, entrollte einen Zettel zwischen den Fingern, rollte ihn wieder auf, entrollte ihn wieder. Ein ums andere Mal fragte er: »Was wollen wir denn da eigentlich, Julie?« Sie verstand ihn nicht. Wenig später fand sie den Zettel auf dem Boden. Winzige, in seiner Handschrift geschriebene Wörter darauf, als habe er Angst, jemand anderes könne sie entziffern. Es waren banale Notizen zum Tagesablauf, der Ort, wo er etwas abgelegt hatte, Erinnerungshilfen zu Namen aus dem Bekanntenkreis. Da endlich begriff sie: Er konnte sich nicht mehr auf sein Gedächtnis verlassen. Immer mehr dieser kleinen Zettel fanden sich in der Wohnung verteilt.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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