Die Frau am Strand - Christa Hein - E-Book

Die Frau am Strand E-Book

Christa Hein

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Beschreibung

Als Liz von ihrer Nichte nach der Familiengeschichte ausgefragt wird, löst das eine wahre Kettenreaktion aus. Mit Hilfe von Dokumenten, Bildern, Briefen, Erbstücken und Erinnerungen macht sich Liz erstmals an die schriftliche Rekonstruktion vergangener Schicksale, Ende des 19. Jahrhunderts beginnend, und gerät dabei immer tiefer in ebenso ungeahnte wie abenteuerliche Lebensläufe. Große und kleine Katastrophen, zwei Welt- kriege, Scheidungen, Insolvenzen, Auswanderung und Tod führen die Figuren ihres Romans an Orte wie Gibraltar, Lissabon, Sylt, Spanien, Kalifornien, Riga, Palau, an den Monte Cassino und bis nach Finnland. Da ist ihre Großmutter Annie und deren Kindheit in den USA, geprägt durch den frühen Verlust der Eltern und die schmerzhafte Trennung vom geliebten Bruder, ihre Versuche als Malerin, die Bekanntschaft mit Ernst Ludwig Kirchner auf Fehmarn und mit dem spanischen Maler Sorolla, der ihr sein Gemälde »Die Frau am Strand« schenkt, ein Sinnbild ihres Lebens; und da ist Lena aus Riga, die ihre Ambitionen als Pianistin in einer norddeutschen Kleinstadt und einer schwierigen Ehe begraben muss. Und immer spielt dabei die Nähe des Meeres eine alles verbindende Rolle, und das Scheitern von Lebensentwürfen wird zum Auslöser neuer Perspektiven.

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Als Liz von ihrer Nichte nach der Familiengeschichte ausfragt wird, löst das eine wahre Kettenreaktion aus. Mit Hilfe von Dokumenten, Bildern, Briefen, geerbten Gegenständen und Erinnerungen macht sich Liz erstmals an die schriftliche Rekonstruktion vergangener Schicksale, Ende des 19. Jahrhunderts beginnend, und gerät dabei immer tiefer in ebenso ungeahnte wie abenteuerliche Lebensläufe. Große und kleine Katastrophen, zwei Weltkriege, Scheidungen, Insolvenzen, Auswanderung und Tod führen die Figuren ihres Romans an Orte wie Gibraltar, Lissabon, Sylt, Spanien, Kalifornien, Riga, Palau, an den Monte Cassino und bis nach Finnland. Da ist ihre Großmutter Annie und deren Kindheit in den USA, geprägt durch den frühen Verlust der Eltern und die schmerzhafte Trennung vom geliebten Bruder, ihre Versuche als Malerin, die Bekanntschaft mit Ernst Ludwig Kirchner auf Fehmarn und mit dem spanischen Maler Sorolla, der ihr sein Gemälde »Die Frau am Strand« schenkt, ein Sinnbild ihres Lebens; und da ist Lena aus Riga, die ihre Ambitionen als Pianistin in einer norddeutschen Kleinstadt und einer schwierigen Ehe begraben muss. Und immer spielt dabei die Nähe des Meeres eine alles verbindende Rolle, und das Scheitern von Lebensentwürfen wird zum Auslöser neuer Perspektiven.

Eindrucksvoll verknüpft Christa Hein in ihrem episodenreichen Familienroman die ebenso verzweigten wie abenteuerlichen Lebensläufe einer Familie. Die Frau am Strand ist der Schlussstein eines großen erzählerischen Gebäudes, zu dem auch die Romane Der Blick durch den Spiegel (FVA 1998) und Vom Rand der Welt (FVA 2003) gehören.

 

 

Inhalt

1. Der Armreif

2. Sylt im Jahr 1888

3. New Sylt

4. Weltenwechsel

5. Die Maler

6. Zukunftspläne

7. Der Antrag

8. Aphrodite in Berlin

9. Abschied nehmen

10. Newa

11. Unter dem Affenfelsen

12. Interniert

13. Die Frau am Strand

14. Zurück in die Heimat

15. Ein ungleiches Paar

16. Im Strom der Zeit

17. Im Krieg

18. Eine neue Zeit

19. Die weiße Stadt

20. Vater und Tochter

21. Stimmen aus dem Jenseits

22. L’Angolino

 

Es ist wichtig, dass die Vergangenheit nicht nur halb tot ist.

Paul Valéry

 

1

Der Armreif

Eine Windböe ließ das Fenster neben ihrem Schreibtisch erzittern. Der Himmel war schwarz, wo zuvor ein durchsichtiger Mond zwischen den Rosa- und Blautönen des Abends geschwebt hatte. Es goss in Strömen, die Häuser gegenüber nur noch verwaschene Linien. Im grellen Licht eines Blitzes die Pappeln im Hinterhof, wild hin und her schwankend. Dann wie ein Kanonenschlag von den Mauern widerhallend der Donner. Sie stand auf. Unruhig, wie jetzt immer bei solchem Wetter. Im nächsten Moment prasselten Hagelkörner gegen die Scheiben, prallten zurück und hüpften in weißen Kugeln über ihren Balkon.

Ein wilder Tag genau wie der vor drei Jahren, als ihre Mutter ihr ein letztes Geschenk gemacht hatte: ein Armband aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sie hatte es von ihrer Mutter Lena bekommen, so wie diese Jahrzehnte davor von ihrer Mutter Sophie.

Damals war der alte Kirschbaum im Garten umgestürzt, und die Mutter, abergläubisch, wie sie war, hatte es als ein böses Omen gedeutet. Tatsächlich starb sie im darauffolgenden Sommer, wenige Jahre nach dem Vater.

Wie schwer es noch immer war, überhaupt nur an diese Zeit zu denken. So viele Fragen waren geblieben, die ihr keine Ruhe ließen. In mehr als einer Nacht raubten sie ihr den Schlaf. Aber es war niemand mehr da, der noch Antworten geben könnte. Nur die Dinge, die einst den Toten gehört hatten, existierten weiterhin. Zahllose Objekte, die sich bei ihr angesammelt hatten.

Wie das Armband, das jetzt in Lenas Vitrine lag. Oder Sophies Fotos aus dem russisch-japanischen Krieg. Oder Freds Indianerpfeilspitzen vom Wabash. Stumme Zeugen vergangener Leben.

Ein Sonnenstrahl huschte über die nassen Mauern, als sie die Balkontür öffnete. Gleich fegte ein Windstoß herein, wirbelte das Papier vom Schreibtisch auf; weiße Blätter segelten durchs Zimmer. Bei solchem Wetter blieben die Schiffe auf Reede liegen. Ferdinand aber, der Vater ihres Vaters, lief gerade dann aus. Einem Bergungskapitän ist ein Orkan immer willkommen. Für seine Frau Annie bedeutete das schlaflose Nächte.

Von dieser Großmutter Annie stammte auch die Strandszene am Mittelmeer, ein hundert Jahre altes Ölgemälde. Es hing im Flur, gegenüber dem venezianischen Spiegel von Annies Schwägerin Elin, einer schillernden Figur aus der Kunstszene von Helsingfors. Von einem Punkt aus sah man das Bild doppelt – wie Original und Kopie.

Der Spiegel war an vielen Stellen schon blind, aber es faszinierte sie, wie das wolkige Glas den Blick in geheimnisvolle Räume öffnete. Oft trat sie davor, um sich in dieser Unendlichkeit zu verlieren. Wie aus ferner Tiefe begegneten ihr die blauen Augen ihres Vaters, der möwenartig geschwungene Mund ihrer Mutter, das störrische Haar ihrer Urgroßmutter. Unbestreitbar lebten sie alle in ihr weiter, waren ein Teil von ihr. »Geister seid ihr!«, sagte sie laut gegen das Glas. »Meine Rolle als Tochter ist zu Ende gespielt! Ich bin nicht mehr eure Elisabeth. Der Name hat nie gepasst.« Längst nannte sie sich, wie man sie all die Jahre in Amerika gerufen hatte.

An diesem stürmischen Tag kam es Liz wieder so vor, als sei alles erst eben geschehen: Wie sie die Mutter morgens zum Arzt brachte und ein Hagelschauer niederging, wie es blitzte und donnerte. An diesem Morgen nach der Augenoperation wurde der Mutter nach vielen angstvollen Stunden der Verband vom Auge abgenommen und wie erlöst rief sie: »Oh! Ausgang!«

Alle im Raum Anwesenden brauchten eine Weile, um zu begreifen: Sie konnte wieder klar sehen und las das Schild an einer der Türen der Augenarztpraxis.

Als Dank für die töchterliche Fürsorge, wie sie sagte, vermutlich aber eher, weil der Kirschbaum umgestürzt war, zog sie an diesem Abend aus einem Geheimfach ihres Sekretärs eine kleine Schatulle hervor und sagte feierlich: »Meine liebe Elisabeth. Der Moment ist gekommen, dir etwas zu übergeben.« Damit öffnete sie ein uraltes, mit Chintz gefüttertes Lederkästchen und entnahm ihm ein Armband in Form einer sich windenden Schlange aus dünngewalztem Gelbgold. Drei Anhänger waren an ihr mit einem goldenen Seil befestigt – Herz, Kreuz und Anker.

»Glaubeliebehoffnung«, sagte die Mutter, als sei es ein einziges Wort. »Dieser Armreif ist mehr als zweihundert Jahre alt. Er wurde für eine unserer Vorfahrinnen angefertigt, eine junge Baronesse. Sie gab ihn ihrer ältesten Tochter, und seither ist er über Generationen hin immer an die Erstgeborene weitergegeben worden. Und die bist du, so wie ich vor dir.« Sie öffnete das Schloss dort, wo die Schlange sich in den Schwanz beißt. »Gib mir deine Hand.« Liz gehorchte zögernd. Mit einiger Mühe legte die Mutter ihr das Armband um und ließ das Kastenschloss zuschnappen, ein perfekter kleiner Laut. Zufrieden stellte sie fest: »Passt genau. Dein Handgelenk ist ebenso schmal wie meines und das deiner Vorfahrinnen. Ich hoffe, du hältst den Reif in Ehren. Er schützt seine Trägerin und bringt ihr Glück.«

Ingrid hatte den Schmuck als junges Mädchen bekommen. Warum gab sie ihn erst weiter, als sie schon über neunzig war? Aus Angst, den Schutz des Talismans zu verlieren? Aufgrund der Tatsache, dass ihre Tochter ihn niemandem vererben konnte? Liz hatte zehn Jahre in den USA gelebt, dort geheiratet und sich bald wieder scheiden lassen, als sie sich zur Rückkehr in ihre Heimat entschlossen hatte. Von kurzen Beziehungen abgesehen lebte sie seitdem wieder allein. Berufsbedingte Ortswechsel hatten keine Stetigkeit zugelassen, der Kontakt zu früheren Freunden und Patenkindern war abgerissen. Die Mutter, die als Kind unter der Scheidung ihrer Eltern gelitten hatte, hatte diesen Schritt ihrer Tochter nie wahrhaben wollen und korrespondierte weiter mit Liz’ Exmann, ohne ihr davon zu sagen, wie Liz später zufällig erfuhr.

Sie nahm das alte Lederkästchen aus der Vitrine. Der Reif fühlte sich ganz leicht an, obwohl er so schwer aussah. Sie legte ihn um ihr Handgelenk, ließ das Schloss zuschnappen. Wieder der perfekte kleine Laut.

Es klingelte. Ein Blick hinaus zeigte, es regnete wieder. Wer wollte etwas von ihr bei diesem Wetter? Sie entsperrte das Tor zur Straße, sah sich flüchtig in Elins Spiegel, während sie auf das zweite Klingeln von unten am Haus wartete und die Sprechanlage einschaltete. Als nichts geschah, öffnete sie. Dicht vor ihr stand eine hoch aufgeschossene Person in einem nassen Parka, eine fellbesetzte Kapuze über dem Kopf. Eine Fremde. Doch dann traf sie ein Blick aus einem Paar grüner Augen; als sie die dunklen Pünktchen um die Iris bemerkte, dämmerte es ihr.

»Inese?«

»Kann ich reinkommen, Liz?«

Da war sie also, ihre so lang verschollene Nichte. Seit Jahren gab es keine Nachricht von ihr. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter Jenna war sie einfach verschwunden.

»Was für eine Überraschung«, sagte Liz unbeholfen, trat zurück und stieß dabei gegen das Bild hinter sich an der Wand. Ganz selbstverständlich umarmte Inese sie, hängte ihren Parka an einen Garderobenhaken und streifte ihre Sandalen ab.

»Du musst ja ganz durchgefroren sein. Kann ich dir etwas anbieten? Etwas Heißes zu trinken vielleicht?«

»Gern. Tee wäre schön. Und zu essen auch. Ich habe ziemlichen Hunger.«

Liz stellte den Wasserkocher an und warf einen Blick in den Kühlschrank. »Ich kann dir Kürbissuppe aufwärmen oder Kartoffelgratin oder ein paar Eier machen und – Königinpastetchen?«

Als Kindern hatte sie Inese und ihrer Freundin manchmal Königinpasteten mit Worcestersauce serviert und tatsächlich huschte ein Lächeln über Ineses Gesicht.

»Königinpasteten, das Wort habe ich lang nicht mehr gehört.«

»Isst du die noch immer gern?«

»Daran hat sich sicher nichts geändert.«

»Aber sonst? Was hat sich geändert?«

»Alles. Absolut alles«, wiederholte Inese mit Nachdruck.

Das letzte Mal hatten sie sich bei der Beerdigung von Jenna gesehen. Ineses Mutter, Liz’ jüngere Schwester. Das war über drei Jahre her.

»Sag mal – kann ich, bevor wir reden, kurz unter die Dusche springen?«

»Sicher. Handtücher sind da.«

»Und hast du vielleicht auch ein paar frische Klamotten für mich?«

Liz brachte ihr Unterwäsche, eine Hose, Bluse, Wollpullover und Socken ins Bad. Inese stand bereits unter dem Wasserstrahl. Wie mager sie war! Ihre Muskeln zeichneten sich deutlich unter der Haut ab.

Damals war sie, frischgebackene Abiturientin, von einem Tag auf den anderen verschwunden. Niemand, auch nicht ihr Vater, der schon lange wieder in Lettland lebte, erfuhr etwas über ihren Verbleib.

Das Handtuch als Turban um den Kopf geschlungen kam sie in die Küche, setzte sich vor den Teller mit der dampfenden Suppe. »Das hat gutgetan. Die erste Dusche seit mehr als einem Monat.«

»Ein Monat? Das ist lang.«

Hastig löffelte sie die Suppe. Liz öffnete eine Dose Ragout fin, erhitzte den Inhalt, füllte die Blätterteigkörbchen und stellte Worcestersauce auf den Tisch. Dazu eine Tasse Tee für Inese und für sie selbst ein Glas Wein.

»Was trägst du da für ein Armband? Ich meine, ich habe es als Kind schon mal gesehen.«

»Das ist uralter Familienschmuck. Erste Besitzerin war eine Baronesse von Loudon. Er wurde immer an die älteste Tochter vererbt.«

»Ich wusste gar nicht, dass wir adlige Vorfahren haben.«

»Meine Mutter, deine Großmutter Ingrid, erzählte das selten, weil dein Großvater sich gern darüber lustig machte. Frau Baronin, nannte er seine Frau dann. Außerdem fand er das Armband kitschig.« Liz streckte ihren Arm aus, damit Inese es betrachten konnte. »Ein Kreuz aus schwarzem Obsidian, ein Herz aus Kupfer und ein goldener Anker: Glaube, Liebe, Hoffnung. Symbole aus der christlichen Seefahrt.«

Liz löste das Sicherheitskettchen und öffnete den Verschluss. »Ich finde, es vermittelt etwas vom Aberglauben der damaligen Menschen, für die diese Symbole mehr bedeuteten als für uns heute.« Sie gab Inese das Armband. Auch um ihr Handgelenk passte es wie angegossen und wieder schnappte das kleine Schloss mit diesem perfekten Laut zu. Inese hielt den Arm von sich, um es zu betrachten. Dabei wurde an der Innenseite ihres Handgelenks eine breite rosafarbene Narbe sichtbar.

»Mutter übergab mir den Reif als Dank für meine Fürsorge, wie sie sagte. Du musst wissen, sie ist im vorletzten Sommer gestorben. Drei Tage vor meinem Geburtstag. So wie ihre Mutter Lena, meine Großmutter. Die starb drei Tage vor meiner Geburt, ich kam während Lenas Beerdigung zur Welt.«

»Ich habe so etwas befürchtet. Ich habe mehrfach versucht, Großmutter zu erreichen. Ihre Nummer existierte plötzlich nicht mehr. Bis dahin hat sie mir immer etwas Geld zukommen lassen.«

»Sie wusste all diese Zeit von dir? Unglaublich! Was haben wir uns für Sorgen um dich gemacht. Dein Vater hat alles versucht, dich aufzuspüren. Ein befreundeter Bankdirektor ließ ihn heimlich einen Blick auf die Abrechnungen der Kreditkarte werfen. Es gab Abbuchungen aus Angkor Wat. Aus Auckland. Wir wussten daher, dass du am Leben warst. Aber dann ging das nicht mehr. Hast du inzwischen mit deinem Vater Kontakt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich befinde mich gerade in einer ziemlich schwierigen Lage. Ich bin nirgendwo gemeldet und habe die letzten Wochen fast nur in Parks oder leerstehenden Hütten im Wald verbracht. Ich habe das Gefühl, verfolgt zu werden. Es gibt Leute, die mich beschuldigen, einen tödlichen Unfall verursacht zu haben. Zu Unrecht. Ich habe ihn nicht verschuldet. Aber wenn sich jemand das in den Kopf gesetzt hat, kann ich wenig dagegen machen. Niemand hat mich angezeigt, aber es scheint etwas wie eine Verschwörung gegen mich zu geben. Das macht mir Angst. Kann ich nicht eine Weile bei dir bleiben? Du hattest doch ein Häuschen auf dem Land. Ich war als Kind mit dir dort.«

Ihr kleines Holzhaus in der Waldheide, fernab aller Straßen, an einem Moor, versteckt zwischen hundertjährigen Bäumen. Es gab dort weder einen Briefkasten noch eine offizielle Anschrift.

»Ja. Die Hütte gibt es nach wie vor. Sie ist mein Rückzugsort.«

»Könnten wir hinfahren? Am liebsten sofort!«

Liz sah aus dem Fenster. Es regnete noch immer. Und es wurde dunkel. Warum hatte Inese es so eilig? Die Situation war bizarr, Fremdheit und Vertrautheit so nah beieinander. »Du brauchst Vorräte«, sagte Liz und öffnete die Küchenschränke. Brot, Weißkohl, Honig, Tee, Kekse, Apfelsinen, Bohnen, Linsen, Reis, H-Milch und Tütensuppen waren schnell eingepackt. »Draußen gibt es auch noch Konserven. Das sollte einige Tage reichen. Du musst mir unterwegs unbedingt erzählen, was passiert ist.«

Inese lud sich die Einkaufstaschen auf, Liz ging voraus, um ihr die Tür zum Flur zu öffnen. Annies Gemälde, gegen das Liz gestoßen hatte, hing ganz schief, und sie rückte es wieder gerade. Inese schien es plötzlich nicht mehr so eilig zu haben. Sie setzte die Taschen ab und deutete auf das Bild.

»Das kenne ich auch noch«, sagte Inese, »hing es nicht früher im Damenzimmer der Uroma? Der aus Spanien?«

»Ganz genau! La Mujer en la playa heißt es. Die Frau am Strand. Annie bekam es vor hundert Jahren vom Maler persönlich geschenkt. Joaquín Sorolla.«

»Ist er berühmt?«

»In Spanien ja.«

»Dann ist es wohl einiges wert?«

Liz nickte halbherzig und bedeutete ihrer Nichte, sie solle vorgehen.

Der Sturm hatte die Mülltonnen unten im Hof umgeworfen, polternd rollten sie umher. Der Feierabendverkehr hatte bereits eingesetzt, die Wagen stauten sich an jeder Ampel, die roten Bremslichter zerflossen auf der Windschutzscheibe. Liz stellte die Heizung an. »Jetzt erzähl. Weshalb beschuldigt man dich, einen Unfall mit tödlichen Folgen verursacht zu haben?«

»Als ich damals abgehauen bin, wollte ich bloß weg von hier. Ich wusste selbst noch nicht wohin, Hauptsache raus aus allem. Ich hatte ja Geld durch Mutter geerbt. Ich bin über Bangkok nach Neuseeland geflogen. Aber ich blieb dort nicht lange. Zu viele deutsche Abiturienten, die sich in den Hostels auf den Sofas lümmelten, den ganzen Tag vor der Glotze, und darauf warteten, dass ihre Eltern ihnen neues Geld schickten.«

Liz warf Inese einen kurzen Blick von der Seite zu. Dicht unter Ineses Schläfe bemerkte sie eine weitere Narbe, wie von einer Schnittverletzung.

»Dann war ich in Papua-Neuguinea, mit einem Jungen, den ich in Auckland kennengelernt hatte. Er war Biologe und unterwegs, um Wasserproben für seine Doktorarbeit und eine Umweltorganisation zu nehmen. Ich half ihm, so gut ich konnte. Wir zählten Köcherfliegenlarven und andere Indikatoren für den Zustand der Gewässer. Es tat mir gut, zu etwas nütze zu sein. Du weißt, eigentlich hatte ich ja Schauspiel studieren wollen. Aber nach Mutters Tod war ich wie betäubt. Jetzt begann ich, mich besser zu fühlen. Durch meinen Freund lernte ich Leute mit Visionen kennen. Voller Einsatz für ein Projekt, waghalsige Aktionen, bei denen es manchmal um Leben und Tod ging. Mir gefiel, was sie machten. Ich blieb bei ihnen, als mein Freund wieder abfuhr. Ich landete in einem Trainingscamp für Umweltaktivisten in Indonesien. Wir verwendeten jeden Tag viele Stunden darauf, um unsere Körperbeherrschung zu verbessern, lernten Überlebenstechniken in Extrembedingungen. Ein Japaner trainierte uns, er beeindruckte mich sehr. Ich tat alles dafür, so zu werden wie er. Von ihm lernte ich fast alles über Verstecken und Tarnung und er brachte mir besondere Wurftechniken bei. Bei vielen Aktionen bewegst du dich außerhalb der Legalität. Anders erreichst du nichts. Ich wurde ein paarmal erwischt, wie die meisten, festgesetzt wegen unbefugten Betretens, Sachbeschädigung und solch kleinerer Sachen. Der asiatische Knast ist schlimm. Aber auch das ging vorbei. Doch bei dem Versuch, ein Staudammprojekt zu verhindern, kam es zu dem Unfall. Ein Junge, den ich sehr mochte, verletzte sich schwer. Er hieß Zoria, das bedeutet Stern. Er kam aus Jakutien. Das liegt ganz im Nordosten Sibiriens, wo viele noch der Ansicht sind, dass Land und Wasser allen gehören. Zorias Vater war Schamane. Er spielte die Schamanentrommel, die aus einem besonderen Holz gemacht ist. Inzwischen aber sind dort längst auch Leute, die die Wälder abholzen. Zoria hatte sich uns angeschlossen, um zu lernen und eine Gruppe bei sich zu Hause aufbauen zu können. Nach dem Grundtraining arbeitete er drei Monate mit mir. Dann ging ich mit ihm in seine Heimat, wo der Staudamm gebaut werden sollte. Wir waren insgesamt zehn Leute. Zorias Aufgabe war es, sich an einem Kran hinabzulassen, und ich sollte ihn sichern. Zigmal hatten wir das geprobt. Dann kam unser Einsatz. Ich musste sein Drahtseil mit dem Karabiner in die Sicherung einhaken, um ihn mit der Laufkatze über den Fluss zu ziehen. Doch der Haken klemmte plötzlich, obwohl ich ihn zuvor überprüft hatte. Zoria konnte das nicht sehen und stieß sich ab wie eingeübt. Ich versuchte, mit bloßer Körperkraft gegenzuhalten, doch das Seil glitt mir einfach durch die Hände, obwohl ich es nicht losließ. Er stürzte ab und starb.«

»Hast du daher deine Narben?«

Sie nickte, Tränen in den Augen.

»Glaubst du, jemand hat den Haken manipuliert?« Sie antwortete nicht. »Wenn er doch zuvor intakt war?« Schweigen als Antwort. Vielleicht war es zu schmerzhaft, dachte Liz. Vielleicht hatte sie diesen Zoria geliebt. Sie wollte jetzt nicht länger in sie dringen.

Der Regen hatte aufgehört, es war inzwischen stockdunkel. »Sieh mal nach, ob die Taschenlampe im Handschuhfach ist.«

»Nein. Nichts.«

Liz bog in einen Forstweg ein. Zwei gefällte Fichten versperrten den Weg. »Die Holzfäller wollen sie demnächst zersägen«, sagte sie und umfuhr das Hindernis vorsichtig.

»Holzfäller? Kommen noch andere Leute hierher?«

»Nein.«

Wie misstrauisch sie ist, dachte Liz. Wie viel Angst in ihr steckt!

»Ich habe Sturmstreichhölzer dabei, die gehören immer zu meiner Ausrüstung.« Inese kramte in ihrem Parka, ließ kurz ein Messer auf- und wieder zuschnappen.

»Im Haus ist Licht kein Problem. Ich habe letztes Mal die Petroleumlampen aufgefüllt. Anmachholz ist auch da. Du kannst es schnell warm bekommen.«

»Kälte schreckt mich nicht. Meistens ist mir sowieso zu warm.«

»Trägst du deshalb Sandalen bei diesem Wetter?«

»Ich ertrage normale Schuhe nicht mehr. Am liebsten laufe ich barfuß.«

Liz parkte den Wagen wie gewohnt am Waldrand. Auf einem Pfad quer durchs Unterholz ging es zur Hütte.

»Ich zeig dir jetzt alles, und dann muss ich zurück. Ich habe morgen früh einen wichtigen Termin.«

Liz nahm den Schlüssel vom Balken über der Tür und öffnete. Inese leuchtete mit ihrem Sturmstreichholz. Dann zündete Liz die Petroleumlampe neben der Tür an. In dem kleinen Ring aus Licht sah man den ganzen Raum: den Ofen in der Ecke, davor den Korb mit gespaltenem Fichtenholz. »Trockene Buchenscheite sind an der Ostseite, gegen die Hütte gestapelt – ansonsten kein Strom, keine Heizung, kein fließend Wasser. Das Toilettenhäuschen hinter der Hütte kennst du ja wahrscheinlich noch. In der Küche steht eine Gasflasche. Du kannst dir jederzeit etwas kochen. Wasser ist draußen in der Zisterne, ein Kasten mit Trinkwasser im Anbau. Da steht auch der Petroleumkanister.«

»Perfekt. Ach, was bin ich dir dankbar!« Inese umarmte sie. Liz konnte jeden einzelnen Wirbel ihres Rückens unter dem Pullover fühlen.

»Ich fahre jetzt wieder. Nächstes Mal bringe ich dir Obst und Gemüse, und du erzählst mir mehr.«

Auf der Fahrt zurück ging Liz vieles durch den Kopf. Das Verhalten ihrer Mutter, die gewusst hatte, wo Inese steckte, ohne ein Sterbenswörtchen davon zu sagen. Unfassbar! War das nicht Verrat? Und dann war da noch das letzte Bild von Inese, das ihr in Erinnerung war: Wie versteinert stand ihre Nichte am offenen Grab ihrer Mutter. Sie erschien nicht zum Abschiedskaffee in der Gaststätte. War plötzlich einfach verschwunden. Das war nicht das erste Mal. Schon als kleines Mädchen war sie unerreichbar für Liz geworden. Als Jenna einen neuen Freund hatte, der nicht wollte, dass sie den Kontakt hielt. Ihre Schwester hatte damals nichts dagegen unternommen und Liz’ Enttäuschung ignoriert.

Ihre Mutter war Jennas Begräbnis ferngeblieben. Die Trauergäste glaubten, aus Schmerz über den Verlust der Tochter. Doch alles, was Liz dazu von ihr zu hören bekam, war einer jener dunklen Sätze, die sie seit ihrer Kindheit kannte: »Ich habe meine Tochter vor ihrer Heirat gewarnt. Ich habe ihr gesagt, es würde kein gutes Ende nehmen. Es wäre nicht das erste Mal in der Familie.« Damit spielte sie auf ihre Schwester Jenny an, in deren Leben sie einst so schicksalhaft eingegriffen hatte. Jenny, die damals unsterblich in einen Mann verliebt war. »Aber er ist der Falsche für dich, Jenny«, hatte Ingrid gesagt, »er hat Tuberkulose. Er wird dich ins Unglück stürzen.« Tatsächlich brachte sie es fertig, die Beiden auseinanderzubringen. Als der ehemalige Verlobte Jahrzehnte später aus Südamerika zu Besuch kam, eine imposante Erscheinung, steinreich und achtzig Jahre alt, da war die strahlende Schönheit seiner einstigen Freundin schon lange dahin. Jenny hatte sich bald nach der Trennung in die Arme des Nächsten gestürzt. Es wurde kein glückliches Leben, das Kind aus dieser Ehe starb früh. »Manche Kinder wären besser nie geboren worden.« Liz hörte die Worte ihrer Mutter in diesem Moment wieder so deutlich, als stünde sie neben ihr.

Jetzt erst bemerkte sie, dass sie Inese den Schmuck gelassen hatte. Einen besseren Moment zur Weitergabe hätte es gar nicht geben können, dachte sie. Glaube Liebe Hoffnung. Wer könnte das jetzt besser gebrauchen als dieses Mädchen.

*

Als Liz das nächste Mal in der Hütte ankam, brannte ein kräftiges Feuer im Ofen, auf dem Tisch stand eine Vase mit frischen Zweigen. Von Inese keine Spur. Plötzlich aber stand sie mitten im Raum, lautlos wie eine Katze, komplett schwarz gekleidet, um den Kopf ein dunkles Tuch, das nur die Augen freiließ.

»Puh – du hast mir aber einen Schrecken eingejagt.«

Ihre Nichte nahm das Tuch ab. »Tut mir leid. Ich hab das Auto schon von weitem gehört, wusste nicht, ob du es bist.«

»Du siehst viel besser aus.«

»Ja. Ich kann hier endlich wieder richtig schlafen.«

»Da hast du mir etwas voraus.«

Inese ging zum Ofen und hob den Deckel von dem gusseisernen Topf. »Malaysischer Reiseintopf – du hattest fast alles dafür da.« Liz ließ sich vom Duft nach exotischen Gewürzen und Kokosmilch verführen.

Danach packte sie ihren Rucksack aus. Sie hatte eines von Sophies chinesischen Fotoalben dabei. »Das soll in die Truhe dahinten.«

»Solche Truhen habe ich in Russland gesehen.«

»Sie stammt auch von dort. Sie gehörte der Patin deiner Großmutter, die Jahre ihres Lebens in Wologda in der Verbannung verbrachte. Dort fing sie das Rauchen an, angeblich um die Mücken zu vertreiben, aber auch später, in der Stadt, wo es keine Mücken mehr gab, rauchte sie Kette. Sie war eine Schwester meiner Urgroßmutter Sophie – eine der Frauen, die auch einmal diesen Armreif getragen haben.«

»Erzählst du mir mehr davon?«

Liz trat ans Fenster. Die Sonne stand schon tief. »Ich würde gern noch einen Spaziergang machen, bevor es dunkel ist. Lass uns heute Abend zusammen am Feuer sitzen. Dann erzähle ich dir, was es mit dem Reif auf sich hat. Ich fahre erst morgen zurück, schließlich haben wir zwei Schlafkammern.«

Liz verließ die Hütte auf einem Pfad Richtung Moor. Es tat gut, nach den Tagen in der Stadt wieder in der Natur zu sein. Immer hatte sie das Gefühl, in dieser Luft durchatmen zu können. Sie war froh, dass Inese nicht mitwollte. Einen Augenblick allein sein. Die unerwartete Nähe ihrer Nichte wühlte so vieles auf. Vieles, das sie verdrängt hatte. Ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer jüngeren Schwester. Die Leere, die sie ihrer eigenen Mutter gegenüber empfunden hatte, obwohl sie sich so um sie bemüht hatte. Immer hatte Liz das Gefühl gehabt, zum falschen Zeitpunkt zur Welt gekommen zu sein. Auf die Stunde genau hatten sich ihre Geburt und die Beerdigung ihrer Großmutter Lena überschnitten. Zur gleichen Zeit glitten an jenem heißen Sommernachmittag Sonnenkringel über die silbern glänzenden Skalpelle im Kreißsaal und über die ausgehobene dunkle Erde unter den Friedhofsbirken. Bestimmt hundert Mal hatte Liz zu hören bekommen: »Du kamst zu früh, wegen all der Aufregung. Ich verlor das Bewusstsein. Als ich zu mir kam, sah ich dich mit einem weinenden und einem lachenden Auge an.«

Ihre eigene Mutter Lena war nur wenige Tage zuvor in dasselbe Krankenhaus eingeliefert worden, in abgezehrtem Zustand, sichtlich vernachlässigt. Die Ärzte und Schwestern, so erzählte sie nur ein einziges Mal, sollen Lenas Töchter vorwurfsvoll angeblickt haben. Sie hielten sich wohl mit Kritik nur zurück, weil Ingrid, die ältere, hochschwanger war.

Am Abend saßen sie mit einer Flasche Wein am Ofen. Inese blickte Liz erwartungsvoll an. Liz hatte geschwankt, wie sie die Geschichte am besten erzählen sollte: Im Imperfekt, als wahre Begebenheit, die in der Familie immer so weitergegeben worden war? Oder im Präsens, was die Deutung zuließ, alles habe sich genau so abgespielt, aber vielleicht auch ganz anders?

»Du musst dich im Geiste nach Frankreich begeben«, sagte sie zu Inese. »In das 18. Jahrhundert. Die Zeit, aus der dieser Schmuck stammt.« Inese schloss die Augen und überließ sich der Stimme von Liz.

Die Loudons waren Hugenotten aus der Region von La Rochelle. Schon seit gut zweihundert Jahren wurden die Angehörigen dieser Glaubensrichtung in blutigen Religionskriegen verfolgt, weil sie die Loslösung von der katholischen Kirche für sich forderten. Auch unsere Vorfahren flohen vor dem Krieg quer durch halb Europa. Sie fanden schließlich Zuflucht im Baltikum. Hier hatte der Baron von Loudon einen Großcousin, der als ein hoher Beamter in Sankt Petersburg arbeitete. Er lebte allein, nachdem seine geliebte Frau überraschend früh verstorben war. Von ihr hatte er ein Landgut geerbt, irgendwo zwischen Riga und Sankt Petersburg, auf dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Aus Liebe zur Verstorbenen will der Witwer den alten Besitz aber nicht veräußern, obwohl das für ihn eine ständige Belastung bedeutet. Als nun die Loudons erscheinen, ist er froh, jemanden seines Vertrauens mit der Verwaltung des Anwesens beauftragen zu können. Der Baronin und ihren beiden älteren Söhnen gefällt der Wechsel aus der Stadt am Atlantik aufs Land weniger, die jüngeren Kinder aber, allen voran die Zwillinge Marija und Pierre, lieben die Landschaft und das freie Leben auf dem Gutshof; Gänse, Hühner, Kühe, Schweine und Reitpferde bevölkern das Gut, es hat einen ausgedehnten Obstgarten, Äcker, Felder, einen Wald und einen schnell fließenden kleinen Fluss, in dem man Forellen fangen kann. Zu Weihnachten, zu Ostern und in jedem Sommer kommt nun der Großcousin, der sich seit dem Tod seiner Frau in der Stadt oft einsam gefühlt hat, zu ihnen heraus. Hier findet er die Fröhlichkeit und Wärme einer großen Familie, die ihm versagt geblieben ist. Es macht ihm Freude, mit den Zwillingen auszureiten, und alle bemerken, wie er mit jedem Jahr mehr ein Auge auf die erste Tochter der Familie, Marija, wirft – die junge Baronesse von Loudon, die noch ein echter Wildfang ist. Alle rechnen damit, dass es bald einen Antrag und eine Verlobung geben wird. Doch es kommt anders: An einem Herbsttag verunglückt der Gutsbesitzer auf einem morgendlichen Ausritt. Er stürzt so schwer, dass er stirbt. Da es keine anderen Erben gibt, fallen das Landgut, das Haus in St. Petersburg und ein nicht unbeträchtliches Vermögen an die Familie des Barons. Auf Wunsch der Hausherrin zieht man nun in die Stadt. Anatol, der Älteste, schlägt eine Laufbahn beim Militär ein, Thibault, der Zweitälteste, studiert Jurisprudenz. Nur der dritte Sohn Pierre, der Zwillingsbruder von Marija, bleibt, um das Gut zu übernehmen. Das würde auch seiner Schwester am besten gefallen, doch dagegen sperrt sich ihre Mutter. Es sei höchste Zeit für die junge Baronesse, Etikette zu lernen, wird sie doch im übernächsten Dezember ihren achtzehnten Geburtstag feiern, ein bedeutender Tag für die Familie, denn mit diesem Fest will man sie in die Petersburger Gesellschaft einführen. Dazu soll ein glanzvoller Ball im Hause stattfinden, für den die Vorbereitungen bereits im Frühjahr mit der Anzüchtung von Hyazinthen, Lilien und Orchideen im Gewächshaus beginnen. Zum Sommer zieht man wieder hinaus. Man erntet in diesem Jahr besonders gründlich die Himbeeren, Johannisbeeren und Blaubeeren, kocht sie ein, bis Reihen von Gläsern die Regale im Keller füllen. Im Dezember sollen mit diesen Früchten Eistorten und wunderbare Sorbets gezaubert werden, die eine Spezialität der Köchin sind. Ein paar Wochen später reifen die Pfirsiche und die großen gelben Birnen, und jede für sich wird in ein Seidenpapier gebettet, um sie nicht zu beschädigen. Als die Jagdzeit anbricht, wird erlegtes Wild jeder Art gesotten, geschmort und eingelegt. Die Baronin lässt rote Einladungskarten drucken, der Vater beauftragt einen russischen Goldschmied damit, einen Armreif für Marija mit den Symbolen Glaube, Liebe, Hoffnung zu fertigen. Es soll viel Gold verwendet werden, und der Reif soll unbedingt ein Sicherungskettchen bekommen, da der Baron seine Tochter und ihren Freiheitsdrang gut kennt. Dann ist es so weit. Seit Tagen laufen im Haus am Botanischen Garten die Vorbereitungen, Bedienstete rennen treppauf, treppab, um Lieferungen in Empfang zu nehmen: Körbe voll mit Hummern und Austern vom Atlantik, auf Eisblöcke gebettet; Artischocken, Granatäpfel, Melonen aus Astrachan, Schokoladen und Pralinen aus Belgien, Weine aus dem Bordelais, von der Loire und aus Georgien. Die silbernen Kerzenleuchter sind geputzt und mit frischen Kerzen bestückt, im Saal lässt man die glitzernden Kronleuchter herab, baut eine kleine Bühne auf für das Streichensemble. An ihrem Ehrentag steht Marija vor dem Spiegel. Ihr volles hellblondes Haar ist zu einem schönen Knoten geschlungen. Sie ist aufgeregt, ihre Wangen sind gerötet. Sie trägt ein Kleid aus hellblauer Seide mit silbernen Mondsicheln darauf, das sie selbst entworfen hat. Das jüngste der Hausmädchen hilft ihr, ein mit Perlen besetztes Krönchen aufzusetzen, dann zieht sie die langen, nachtblauen Abendhandschuhe aus schimmerndem Duchesse-Satin an, die ihre Mutter ihr geschenkt hat. Als Letztes legt sie über dem linken Handschuh den Armreif an. Glaube, Liebe, Hoffnung – kann es ein treffenderes Motto für das bevorstehende Ereignis geben? Es wird ein rauschendes Fest. Immer neue Kavaliere melden sich für einen Tanz mit ihr, führen sie hinaus auf das glänzende Parkett. Sie dreht sich, tanzt, lachend, erhitzt, glücklich. Sie trinkt Champagner und nimmt Komplimente entgegen. Als das Fest zu Ende ist und Marija erschöpft in ihrem Zimmer auf einen Sessel sinkt, kommt das Hausmädchen, um ihr beim Auskleiden behilflich zu sein. Die Schuhe werden ihr von den schmerzenden Füßen gestreift, das kleine Perlendiadem aus dem Haar genommen. Die nachtblauen Handschuhe ausgezogen.

Und, Mademoiselle – wo ist Ihr Schmuck? Der schöne Armreif?

Ihr Handgelenk ist nackt, der Schmuck fort. Beide beginnen zu suchen, im Zimmer, auf der Treppe, nichts. Auch im Saal suchen sie alles ab. Barfuß geht Marija hinaus auf die Terrasse. Auch hier nichts. Als sie die kühle Nachtluft spürt, der Mond seinen weißen Glanz verbreitet, denkt sie daran, mit wem sie hier zuletzt gestanden hat: mit einem jungen Mann, Student der Philosophie, der ihr ganz besonders gut gefallen hat. Er ist anders als ihre steifen älteren Brüder oder auch der Leutnant, der ihr seit einiger Zeit den Hof macht und den ihre Mutter so reizend findet. Eigentlich ist sie glücklich, doch der Verlust des Armreifs wirft einen großen Schatten über alles. Was wird morgen der Vater sagen? Zum Glück ist er am nächsten Tag fort. Doch auch die weitere Suche nach dem Reif bleibt erfolglos. Am folgenden Tag beim Frühstück ist es dann so weit. Nachdem ihr Vater sie gelobt hat, wie anmutig sie den Contredanse getanzt habe, wie freundlich sie zu ihren Kavalieren gewesen sei, ohne dabei die nötige Dezenz vermissen zu lassen, fällt sein Blick auf ihren Unterarm.

Warum trägst du den Armreif nicht? Gefällt er dir nicht mehr?

Doch, Vater. Er ist wunderschön. Aber … Hilfesuchend blickt sie zu ihrer jüngeren Schwester, was aber nur dazu führt, dass diese die Aufmerksamkeit noch vergrößert.

Hast du ihn etwa nicht mehr?

Marija bricht in Tränen aus. Der Vater versteht sofort.

Dabei hatte ich extra ein Sicherheitskettchen anfertigen lassen. Bist du etwa wieder auf Bäumen herumgeklettert?

Die Frau Baronin beschwichtigt: Es ist ja möglich, dass du den Schmuck verloren hast. Aber dann muss er irgendwo im Hause zu finden sein. Im Saal, im Garten, auf den Treppen. Hast du wirklich überall gesucht?

Hab ich. Er ist fort.

Dann hat ihn jemand gestohlen, ruft ihre kleine Schwester begeistert.

Du musst den Verlust doch bemerkt haben, das spürt man doch, wenn ein solcher Gegenstand nicht mehr an seinem Platz ist. Der Vater ist ungehalten.

Sie hat den Schmuck über dem Satinhandschuh getragen, wirft ihre Mutter ein. Es ist möglich, dass der Reif von dem glatten Stoff herabglitt, ohne dass sie es bemerken konnte.

Am nächsten Tag klingelt es. Das Mädchen meldet einen jungen Mann. Wenig später steht der Student der Philosophie, mit dem Marija auf der Terrasse gelacht hat, im Raum. Er küsst der Mutter die Hand, verbeugt sich höflich gegen den Vater und trägt vor:

Ich habe in der Nacht des Festes in Ihrem Garten einen Armreif gefunden. Aber ich konnte ihn nicht übergeben, alle Fenster im Haus waren bereits dunkel, ich wollte niemanden wecken. Am folgenden Tag musste ich auf eine Dienstreise. Ich hoffe, Sie werden diese Verzögerung entschuldigen, aber ich wollte ihn persönlich überbringen. Wenn mich nicht alles täuscht, gehört er dem Fräulein Baronesse.

Mit diesen Worten faltet er ein Seidentuch auf, darin die glitzernde Schlange mit dem Herz, dem Kreuz und dem Anker.

Liz verstummte und musterte Inese. Hörte sie überhaupt zu? Inese hielt immer noch die Augen geschlossen. »Es ist toll«, flüsterte sie. Ich sehe alles genau vor mir. Sag, was ist aus Marija geworden?«

»Sie war sehr verliebt in den jungen Studenten. Ein Freund ihres Bruders Thibault. Es stellte sich heraus, dass er beim Verschwinden des Armreifs nachgeholfen hatte, damit er einen Grund hatte, Marija wiederzusehen. Er gestand ihr später alles, und sie erzählte es dann den Eltern, geschmeichelt von der Hartnäckigkeit ihres Verehrers. Der Vater aber war entrüstet.«

»Und haben die beiden sich gekriegt?«

»Was meinst du?«

»Ich könnte es mir gut vorstellen. Ihr Vater hat ihr sicherlich verziehen.«

»Dann soll es so gewesen sein. Ich sagte dir schon, ich habe das alles von meiner Mutter gehört, die es wiederum von ihrer Großmutter wusste, einer Ururenkelin der Baronesse. Die Sache mit dem verlorengegangenen Armreif und den Satinhandschuhen stimmt. Doch die Details? Beim Weitererzählen schleichen sich leicht Legenden ein.«

»Aber Liz, Erinnerungen sind doch keine Erfindungen!«

Das hatte empört geklungen.

»Nein. Aber sie verhalten sich zur vergangenen Wirklichkeit eher wie eine Fälschung zum Original. Es gibt gute und schlechte Fälschungen. Eine gute kann der Vergangenheit sehr nahe kommen. Doch wenn die Zeugen der Vergangenheit Gegenstände sind, kann man ihnen Vertrauen schenken. Sie sind keine Fälschungen. Sie sind einfach, was sie sind.« Liz legte ein trockenes Buchenscheit nach, die Flammen loderten hell auf. Sie wandte den Kopf. Ineses Gesicht glich im Widerschein des Feuers einer roten Maske. »Mach die Augen noch einmal zu. Was siehst du?«

»Ich sehe die rotgelbe Flamme noch immer, wenn auch schwächer.«

»Das nennt man Nachleuchten. Auch die Vergangenheit kann nachleuchten. Es entstehen Bilder, wenn auch nicht mehr so hell und deutlich wie die einstige Wirklichkeit. Die Erinnerungen.«

Inese öffnete die Augen. »Jetzt ist alles verblasst, das Feuer aber scheint mir heller als vorher.«

»Ja. Die wirklich vorhandenen Dinge sind echt und leuchten aus sich. Wie der Armreif, der jetzt dir gehört.«

»Wirklich? Du hast ihn doch selbst grad erst bekommen.« Sie strich mit dem Zeigefinger darüber. »Er könnte mein Talisman sein.«

»Genau das ist ja seine Funktion: Kreuz, Herz und Anker. Für viele Seeleute noch heute ständige Begleiter – bis zur letzten Reise ohne Wiederkehr, wie man so sagt. Mein Großvater machte da keine Ausnahme. Der so tatkräftige Bergungskapitän trug an der Kette seiner Taschenuhr einen kleinen Glücksbringer mit diesen Symbolen.«

»Der Vater von meinem Großpapa?«

»Ja, dein Urgroßvater Ferdinand.«

»Weißt du«, sagte sie plötzlich lebhaft, »ich habe längere Zeit bei einer Volksgruppe im Hochland von Papua verbracht, die sich gegen die Zerstörung ihres Ahnenlandes zur Wehr setzte. Sie hatten viele Wörter für ihre Vorfahren. Es sei ihr Reichtum, sagten sie. Sie fragten mich nach meiner Familie, und ich konnte ihnen fast nichts von meinen Vorfahren erzählen. Und sie, die praktisch nichts besaßen als ihre Jurten, ihr Kochgeschirr und ihre Tiere, bedauerten mich, dass ich so arm war.«

»Das kenne ich. In den Jahren, die ich in den USA gelebt habe, hatte ich auch oft den Wunsch, mehr über meine Wurzeln zu erfahren.«

Beide hingen ihren Gedanken nach. In der Glut entstanden immer neue Welten, vergingen wieder. Funkelnde Städte in der Nacht, dachte Liz.

»Kannst du mir da nicht weiterhelfen, Liz? Ich weiß so gut wie nichts über unsere Familie, über meine Mutter und meine Großmutter. Und von dir und all den anderen.«

»Ja, das kann ich, auch wenn es mir wahrscheinlich nicht leichtfallen wird, die alten Zeiten zu beschwören. Ich habe sogar ein wenig Angst davor. «

Es war spät geworden. Inese warf ein in Zeitungspapier gewickeltes Scheit für die Nacht in den Ofen und begab sich zu Bett. Liz blieb noch eine Weile sitzen. Sie trank ein letztes Glas Wein und starrte in die verglühende Holzkohle. Was für ein seltsames Mädchen, dachte sie. Sie wirkt so selbstbewusst und zugleich so schutzbedürftig. Jedenfalls hatte sie bei ihr etwas ausgelöst. Sie verspürte eine innere Unruhe wie schon lange nicht mehr.

In der Woche darauf hatte Liz in der Stadt zu tun. Bei dem Versuch, ein Spinnennetz unter der Decke ihrer Wohnung zu entfernen, stieß sie eine Blechkassette vom Regal, so dass ihr Inhalt sich auf dem Boden verbreitete: Familiendokumente, wie die Taufurkunde ihrer Tante Carlotta, ausgestellt vom deutschen Bischof in Barcelona auf den Namen Charlotte, oder das erste Zeugnis ihres Großvaters Ferdinand als Matrose, in dem sich die lakonische Bemerkung fand: »er blieb nüchtern«; handgezeichnete kolorierte Karten der Insel Sylt, ein Stammbaum in krakeliger Handschrift, den sie noch nie bewusst angesehen hatte. Er begann noch vor den Eltern ihrer Großmutter Annie. Eine Verwandtschaftslinie dieser Generation reichte sogar zurück bis ins dänische Königshaus. Aus der Liaison mit einer Hofdame war ein unehelicher Sohn des Königs hervorgegangen. Bugislaus mit Namen.

Mütterlicherseits existierte nichts Schriftliches. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie hätte das ganze alte Zeug vernichtet. Bis auf ein einzelnes leeres Briefkuvert ihrer eigenen Mutter, das diese ihr Leben lang aufbewahrt hatte. Liz suchte danach. Tatsächlich gab es einen leeren Umschlag, adressiert an Lena Utzon in Riga, abgestempelt in Venedig im Jahr 1920. Eine ausladende, verschnörkelte Schrift in grüner Tinte, das Papier edel und weich. Absender ein gewisser Juri, ein Baron aus St. Petersburg. Damals war ihre Großmutter Lena siebzehn. Warum hatte sie den Inhalt des Briefes verschwinden lassen und nur das leere Kuvert aufbewahrt? Es wölbte sich noch heute, als habe es einmal viele Seiten enthalten. Liz legte alles in die Kassette zurück und stellte sie auf die Kommode im Flur, um sie mit in die Hütte zu nehmen.

Eine Woche später fuhr sie wieder hinaus, beladen mit einem Rucksack voller Vorräte. Sie parkte den Wagen wie gewohnt am Wegrand und lief die Strecke zur Lichtung durch den Wald. Alle Fenster waren beschlagen. Als sie eintrat, war klar weshalb: Frisch poliert stand der Samowar auf dem Tisch, die Holzkohle glühte, das Wasser kochte und dampfte wie in einer russischen Datscha. Inese hatte ihr schwarzes Tuch zu einem langen Rock gewickelt, um den Hals trug sie ein kleines mit grellgrünen und rosafarbenen Rosen.

»Das ist ein schönes kleines Tuch. Aus Russland?«

»Von Zoria.«

Liz hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Schnell sagte sie: »Das mit dem Samowar war ja wohl Gedankenübertragung. Ich habe nämlich einen echt russischen Karawanentee dafür mitgebracht.«

»Der seit jeher aus China kommt.« Inese lächelte, während sie die Blätter in das Sudkännchen schüttete. »Ein uraltes Modell. Aus der Familie?«

»Vom russischen Flohmarkt. Ich brauchte ein Gerät, das ohne Strom funktioniert.«

»Zoria hatte auch so einen. Er lief von morgens bis Mitternacht. Am Ende des Tages war der Tee bitter.«

»Mein Urgroßvater erzählte, dass die Soldaten auf der Krim immer einen Samowar dabeihatten und den ganzen Tag Tee tranken. Sie seien davon sehr reizbar geworden.«

»Auf der Krim? Ein Nachfahre der Loudons?«

»Nein, er war Däne. Er heiratete Sophie, eine Nachfahrin der Baronesse. Ihre Tochter Lena ist meine Großmutter aus Riga. Die, die in derselben Stunde beerdigt wurde, als ich auf die Welt kam.«

»Sind denn Großeltern, die man nie gesehen hat, überhaupt von Bedeutung?«

»Ich denke schon. Mich hat diese Unbekannte immerhin dazu gebracht, mich auf Spurensuche nach Riga zu begeben. Mit solch weitreichenden Folgen wie deiner Existenz.«

»Was meinst du damit?« Ineses Misstrauen war deutlich spürbar. Ihre Mutter hatte es ihr wohl nie erzählt.

»Jenna erfuhr erst durch meine Reise, dass wir Vorfahren aus Riga haben. Sie wollte die Stadt unbedingt sehen. Genau wie ich zuvor, fuhr sie die zwanzig Stunden mit dem Zug dorthin, lief durch die Jugendstilviertel, suchte das Konservatorium auf, in dem Lena sich auf ihre Pianistinnenlaufbahn vorbereitet hatte, und fuhr hinaus nach Jurmala, den Strand von Riga mit seinen Holzvillen, wo das Sommerhaus der Familie gestanden hatte. Und dort begegnete sie deinem Vater. Acht Monate nach ihrer Rückkehr bist du zur Welt gekommen.«

»Da hat Mutter mir aber etwas ganz anderes erzählt!« Inese trat ans Fenster und sah schweigend hinaus. Gedankenverloren spielte sie mit den Muscheln auf der Fensterbank. Muscheln von den Küsten des Pazifiks und Atlantiks, die Liz einst gesammelt hatte.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum dich diese Großmutter nach Riga gelockt hat.«

»Meine Mutter sagte mir immer, ich sei ihr sehr ähnlich. Ich wünschte mir oft, ich hätte sie kennengelernt. Ich begann damit, sie mir auszumalen. Ich führte Gespräche mit ihr wie mit einer Freundin, die mich verstand, ohne dass ich viel erklären musste. Nicht zufällig träumte ich jahrelang denselben Traum von unserer Begegnung.«

»Die Menschen in Papua haben ihre Träume sehr ernst genommen.«

»In jenem Traum befand ich mich unter Wasser, in einer trüben rötlichen Flüssigkeit, und eine Gestalt in einem weißen Kleid trieb auf mich zu; sie lächelte und winkte. Als sie neben mir war, glitt sie hinab in die Tiefe, während es um mich her unerträglich hell wurde.«

»Hast du etwa deine Geburt geträumt?«

»Gut möglich. Und zugleich den Tod meiner Großmutter. Eines weiß ich jedenfalls: Verwandtschaft ist wichtig, auch wenn man die Personen nicht kennt. Charaktereigenschaften, Talent, Wesensart, Temperament, das alles wird nicht nur erworben, es wird auch vererbt. Manche Parallelen zeigen sich erst im Laufe des Lebens.«

»Und wem ähnele ich?«

»Ich meine, als ich in deinem Alter war, war ich dir nicht unähnlich. Ich war ständig auf der Suche nach etwas, von dem ich keine rechte Vorstellung hatte. Rein äußerlich ähnelst du deiner Mutter. Aber wenn du wirklich eintauchen willst in unsere Familiengeschichte, findest du sicher noch andere Parallelen. Ich habe dir eine Kassette mit Familiendokumenten mitgebracht, du kannst gerne darin stöbern.«

»Hast du Hunger? Ich habe etwas zu essen vorbereitet.«

»Du kochst offenbar genauso gern wie deine Mutter. Vielleicht habt ihr beide das von Vaters Mutter Annie geerbt. Sie war ausgebildete Köchin, was wohl schuld daran war, dass mein Vater mich nach dem Abitur partout auf eine Haushaltsschule in die Schweiz schicken wollte. Mein späterer Mann wenigstens sollte einmal gut zu essen bekommen.«

»Haushaltsschule! Wie fossil ist das denn.«

»Zum Glück unterstützte meine Mutter meinen Protest. Sie war ja ihr Leben lang berufstätig und hatte wenig Interesse am Kochen. Ich aber kam nicht umhin, zwei Monate den elterlichen Haushalt zu führen und das Kochen zu übernehmen.«

Inese deckte den Tisch und servierte diesmal ein russisches Gericht mit Pilzen, Sauerkraut und Dosenfleisch.

*

Der Ton zwischen ihnen war deutlich lockerer geworden, und es stellte sich bald ein gewisser Rhythmus des Zusammenlebens ein. Inese übernahm weiterhin das Kochen und kümmerte sich um das Feuer, es gelang ihr mühelos, die Hütte ständig warm zu halten. Sie verbrachte fast alle Zeit im Freien, brachte abends oft essbare Kräuter, Pilze oder Flechten mit. Liz erledigte die anderen notwendigen Arbeiten wie Putzen und Abwaschen. Außerdem genoss sie es, lange Spaziergänge allein unternehmen zu können.

Abends, wenn die Dämmerung einsetzte, trug Inese einen letzten Korb mit Holzscheiten herein und nach dem Essen ließen sie sich vor dem Feuer nieder. Nach und nach erfuhr Liz mehr von ihr: die Zeit in Indonesien, Australien und Neuseeland. Nachdem sie sich entschieden hatte, mit den Umweltschützern zu arbeiten, hatte ihr Dasein offenbar eine Wendung genommen. Enorme Disziplin, Hingabe und Risikobereitschaft wurden erwartet. Liz hätte gern mehr über Zoria gehört, und wer es war, der sie des versuchten Mordes beschuldigte, und warum sie das Gefühl hatte, immer noch verfolgt zu werden. Doch ihre Nichte wich solchen Fragen beharrlich aus und stellte lieber selber welche. Zum Beispiel wie ihre Mutter als Kind gewesen war und als Schwester. Warum ihre Eltern sich getrennt hatten.

»Und von wem sind eigentlich die beiden Briefbündel aus der Kassette, die du mir mitgebracht hast?«

»Die mit dem roten und dem blauen Bändchen meinst du? Sie stammen aus der Familie meines Vaters. Ich habe sie nie gelesen. Von der anderen Familienseite gibt es leider nichts Schriftliches mehr.«

»Aber dafür habe ich dieses Foto gefunden. Der Name deiner Urgroßmutter ist darauf eingeprägt: Atelier Sophie Utzon. Hier, bitte.« Sie gab Liz die Aufnahme eines handkolorierten Kirchenfensters.

»Das hast du gefunden!«, rief Liz. »Ich habe so oft von diesem Bild erzählt bekommen, aber es hieß immer, es sei verschollen.«

»Es war in der Kassette in einer Hülle zwischen lauter Urkunden.«

»Dieses Fenster wird nur zu Johannis von außen in der Mauer einer Kirche sichtbar, für die kurze Zeit, in der die aufgehende Sonne durch ein Fenster gegenüber dieses hier zum Leuchten bringt.«

»Und Sophie hat genau den Moment erwischt? Toll.«

»Ja, besonders, wenn man bedenkt, dass sie mit einer alten Plattenkamera fotografiert hat. In Jurmala war das.«

»Hast du es auch gesehen, als du dort warst? In Jurmala?«

Liz schüttelte den Kopf. Hatte Inese eben gezögert, als sie »Jurmala« sagte? Liz hatte ihr eigentlich von der Legende erzählen wollen, die sich um das Fenster rankte. Die Braut im roten Kleid. Vielleicht besser ein andermal.

*

Ein paar Tage später stellte sie den Wagen wie üblich am Waldrand ab und schulterte den Rucksack. Als sie in die Hütte trat, stellte sie fest, dass der Ofen kalt war. Inese musste also schon länger fort sein. Sie räumte die Einkäufe in den Schrank, zündete ein Feuer an und brühte sich einen Tee.

Voller Unruhe ging sie später hinunter ans Moor. Die Regenlachen der letzten Tage hatten sich in kleine dünne Eisdecken verwandelt. Überall zwischen dem Sumpfgras dehnten sie sich aus, grau und brüchig. Es war kein schönes Wintereis, nur das Ergebnis der jetzt so schnell wechselnden Temperaturen.

Als sie zurück war, glimmte das Feuer im Ofen nur noch, sie brachte es wieder in Gang. Nach dem Abendbrot setzte sie sich und begann zu lesen. Plötzlich erschien ihr die Beleuchtung viel zu hell und sie löschte die Petroleumlampe. Von außen würde man sie jetzt nicht mehr sehen können. Seit Inese aufgetaucht war, achtete sie auf solche Dinge.

Der Himmel war schwarz und klar, die Sterne überdeutlich. Es würde eine sehr kalte Nacht werden. Dann und wann hörte sie ein Geräusch. Inese? Nein. Ihre Nichte beherrschte eine absolut lautlose Art der Fortbewegung. Vermutlich war es ein Vogel in den Zweigen oder das Knacken und Knarren der Holzwände, die sich in der zunehmenden Wärme dehnten. Liz versorgte den Ofen für die Nacht und begab sich in ihre Kammer. Das Bettzeug war eisig kalt. Sie behielt die Wollstrümpfe und ihren Pullover an und kroch zwischen die klammen Decken. Lange konnte sie nicht einschlafen.

Am nächsten Morgen ging sie erneut hinab zum Moor. Es hatte in der Nacht stark gefroren, überall Raureif und Eis, die Nadeln der Fichten wie aus Glas. Am Westhorizont zogen erste Wolken auf, nicht ausgeschlossen, dass es heute Schnee geben würde. Im Riedgras überraschte sie einen Fasan, der mit lautem Gekreisch aufflatterte und sie mindestens so sehr erschreckte wie sie ihn. Wo blieb Inese? Wieder zurück versuchte sie zu lesen, doch konnte sie ihre Unruhe nur schwer bezwingen. Sie legte den Roman fort und begann die Hütte zu putzen.

Mittags machte sie einen größeren Spaziergang, aß etwas. Dann nahm sie das Buch wieder zur Hand. Plötzlich glaubte sie etwas zu hören.

Zögernd trat sie ans Fenster. Die kleine Lichtung bis an den Waldrand war leer. Doch zwischen den Stämmen bewegte sich etwas. Zwei Wildschweine tauchten auf, gefolgt von Frischlingen mit ihren lustigen Streifen, es sah aus, als trabten kleine Vierecke durch den Wald. Dann entdeckte sie Inese. Sie trug ihre Tarnkleidung und schien förmlich mit einem Baumstamm zu verschmelzen. Jetzt löste sie sich, holte ein dünnes schwarzes Seil und einen kleinen Gegenstand aus der Hosentasche. Der Wurfanker. Sie ließ ihn um ihre rechte Hand kreisen. Einen Moment sah es so aus, als wollte sie ihn in eine Baumkrone schleudern. Dann steckte sie ihn wieder ein. Liz ging ihr entgegen.

»Gott sei Dank! Ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht.«

»Wieso das denn? Ich habe dir doch genügend Spuren hinterlassen, aus denen du schließen solltest, dass ich auf einer längeren Wanderung bin.«

»Spuren? Ich habe nur bemerkt, dass der Ofen aus war.«

»Dein Feuer schwächelt auch gerade etwas.« Inese warf ein Scheit hinein. Dann knotete sie ihr Tuch auf. »Ich habe eine Menge essbares Zeug mitgebracht.« Sie ließ Wurzeln, Beeren und Flechten auf den Tisch fallen. »Sogar zwei Trüffel sind dabei.«

*

Atemwölkchen entstanden, als Liz ihr Kinn am nächsten Morgen über die Bettdecke schob. Nur widerstrebend stand sie auf und sah aus dem Fenster. Es schneite in dichten Flocken, die Lichtung war eine unberührte weiße Fläche bis zum Waldrand. Die Stämme der Fichten dahinter bildeten ein schwarz-weißes Streifenmuster wie eine Tapete. Heftiger Wind wirbelte den Schnee auf. Sie dachte an ihr Auto – dass sie es besser an einen Platz fahren sollte, wo es vor Schneeverwehungen geschützt war.

Inese hatte die Hütte längst verlassen, ihre Spur war fast wieder unter Neuschnee verschwunden. Liz spülte das Geschirr vom Vorabend und setzte sich mit ihrem Buch neben den Ofen. Immer wieder blickte sie hinaus. Es wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu schneien. Der Wind hatte bereits eine meterhohe Schneewehe gegen die Hütte gefegt. Es war schon gegen zwei, als sie eine Kleinigkeit zu Mittag aß. Sie sollte nicht mehr allzu lange warten, es wurde schließlich früh dunkel. Wenn sie mit dem Wagen nicht im Schnee feststecken wollte, musste sie jetzt wohl oder übel los. Sie setzte sich Sophies russische Pelzmütze auf, hievte den schweren finnischen mit zwanzig Biberfellen gefütterten Mantel von Onkel Tischi vom Haken und zog ihre Schneestiefel aus den USA an. Als sie aus der Tür trat, fiel ihr eine Ladung Pulverschnee auf den Kopf. Kaum war sie aus dem Schutz der Hütte, schnitt ihr der eisige Wind ins Gesicht. Die wirbelnden Flocken stachen ihr in die Augen wie kleine Eisdolche und sie konnte nur noch blinzeln.

Zum Auto waren es kaum mehr als zwanzig Minuten. Die frische Luft belebte sie. Es kam ihr so vor, als würde der Schneefall nachlassen. Nach einer Weile blieb sie stehen. Eigentlich müsste das Auto jeden Augenblick in Sicht kommen. Sie schob den Ärmel zurück und sah auf die Uhr, sie war schon zwanzig Minuten unterwegs. Wo war der Weg, der zu dem Feld führte, an dem ihr Auto stand? Vor ihr dehnten sich unendliche Reihen schwarzer Fichtenstämme im Schnee. Rundum überall die gleiche Streifentapete. Sie dachte an ihren Kompass, den sie in der Hütte gelassen hatte. Aber dies war kein amerikanischer Wald, durch den man Tage ohne Weg und Pfad herumirren konnte. Irgendwann müsste sie, wenn sie ihre Richtung beibehielt, an den Waldrand kommen. Sie hatte darauf geachtet, an Hindernissen immer genau im Halbkreis vorbeizugehen und dann wieder auf die alte Richtung einzuschwenken. Sie blickte hinter sich. Sie hatte gedacht, notfalls in ihrer Spur zurücklaufen zu können. Aber die war bereits zugeweht.

Die Dämmerung setzte ein, als sie endlich eine breite Schneise vor sich sah. Sie führte zum Waldrand. Kaum trat sie ins Freie, blies ihr wieder der eisige Wind entgegen und dichte Schneeflockenwirbel machten sie blind. Es hatte nicht aufgehört zu schneien, nur im Wald war sie geschützt gewesen. Sie kam an eine Kreuzung. Stapel gefällter Bäume zu beiden Seiten waren mit einer hohen weißen Kappe versehen. Sie musste sich für eine Richtung entscheiden. Sie beschleunigte ihre Schritte. Bald geriet sie ins Schwitzen. Der Biberfellmantel war keine gute Idee gewesen. Selbst ihr Vater hatte ihn wegen seines enormen Gewichts nur selten getragen. Plötzlich war der Weg zu Ende. Ein paar Baumstämme lagen quer, dahinter dichtes Gestrüpp. Sie hatte keine Wahl. Sie musste umkehren. Wieder zur Kreuzung. Das wenige Licht war einem neblig trüben Grau gewichen. Der Weg in die andere Richtung schien breiter zu sein. Sie hastete weiter. Panik ergriff sie, es wurde sehr schnell dunkler. Sie erkannte fast nichts mehr, nur dass es bergauf ging. Völlig atemlos und erschöpft kam sie auf der Höhe an. Hier war es heller. Sie blickte sich um. Neben dem Weg verlief eine Art Wall. Sie kletterte hinüber und stand wieder zwischen Bäumen. Es war deutlich wärmer als auf der Schneise. Sie ging tiefer in den Wald hinein. Plötzlich sprang etwas vor ihr auf, ein dunkler Fleck. Sie fühlte ihr Herz rasen, es war ein Hase, den sie aufgestört hatte. Als sie sich von dem Schrecken erholt hatte, entdeckte sie direkt vor sich die Sasse, in der das Tier gelegen hatte. Der Boden war hier frei von Schnee, mit dichtem Moos bedeckt, direkt vor einer Fichte mit tief herabhängenden Zweigen. Überall lagen Äste auf dem Boden. Sie sammelte sie ein und stellte sie in einer Dreiecksform gegen den Fichtenstamm. Ein geschützter Platz. Dann zwängte sie sich in die kleine Höhle. Jetzt war sie heilfroh über den Mantel, es gab keinen besseren Schutz gegen die Kälte. Er war so groß, dass sie sich in ihn hineinkuscheln konnte wie in ein kleines Zelt. Die Dunkelheit kam. Sie kramte in den zahlreichen Taschen und fand Sturmstreichhölzer, ein Taschenmesser, eine Stange Süßholz und eine halbe Tafel Schokolade. Eine richtige kleine Rettungsausrüstung. Inese musste den Mantel getragen haben. Sie steckte ein Stück Schokolade in den Mund.

Im Grunde konnte ihr nicht allzu viel passieren. Sie würde nur hin und wieder aufstehen und herumlaufen müssen, einnicken wäre wahrscheinlich nicht ungefährlich. Sie kaute ein Stück von Ineses Süßholz. Der Nebel war undurchdringlich geworden. Immerhin besser als eine mondklare Nacht mit strengem Frost. Totenstille. Sie kroch tiefer in den Mantel. Ihre Uhr zeigte kurz nach neun. Noch so einige Stunden bis Tagesanbruch. Was, wenn sie einschlief? Konnte man bei diesen Temperaturen erfrieren?

Irgendwann war sie doch eingenickt. Ein Geräusch weckte sie. Sie horchte. Irgendwo knackte ein Zweig und Schneepulver rieselte herab. Da erst fiel ihr auf, dass es heller geworden war. Der Mond. Beinahe Vollmond. Der Himmel war jetzt klar, schnelle leichte Wolken zogen über ihn. Plötzlich ein langgezogener hoher Ton, ziemlich weit fort. Das war es, was sie geweckt hatte. Waren es Hunde? In Peru hatte sie erlebt, wie die Menschen ihre Hunde bei Vollmond schlugen, damit sie den Mond anheulten, der als Gottheit verehrt wurde. In Chicago nahe dem Einwandererviertel hatte sie auf dem nächtlichen Lake Shore Drive einmal zum Herbstvollmond einen kleinen schwarzen Hahn gefunden, dem man den Kopf abgetrennt hatte. Ein Opferritual, mit dem in den Anden dem Schnittermond gehuldigt wurde. Wieder dieses Heulen, das durch Mark und Bein ging. Sie zog den Mantel fester um sich. Denk an etwas anderes, sagte sie sich. Onkel Tischi war in den finnischen Wäldern sicher so manches Mal Bären und Wölfen begegnet. Aber dies war nicht Finnland. Inzwischen gab es allerdings auch hier Wölfe. Aber noch nie hatten sie einen Menschen angegriffen, hieß es immer.

Sie musste daran denken, was ihre Mutter ihr von ihrer Urgroßmutter erzählt hatte. Vor über hundert Jahren war Sophie im Winter ganz allein mit der Transsibirischen Bahn in die Mandschurei gereist; an der Grenze zwischen Europa und Asien, am Baikalsee, gab es noch keine Schienen. Alle Fahrgäste mussten den Zug verlassen und umsteigen in Troikas, kleine Schlitten, die mit drei Pferdchen bespannt waren. Sie sollten sie über den zugefrorenen See ans andere Ufer bringen. Es gab ein Gerücht: Die Karawane vor ihnen war überfallen und ausgeraubt worden. Niemand hatte überlebt. So begleitete die Angst vor Räubern sie in diesen Stunden, doch keine Reiter tauchten auf. Auf halber Strecke aber setzte sich ein Rudel Wölfe auf ihre Spur. Sophies Schlitten fuhr als letzter in der Karawane, und sie konnten sie sehen, wenn auch in einiger Entfernung. Der kleine Spitz, den einer ihrer Mitpassagiere im Schlitten unter seinem Mantel verbarg, heulte in Todesangst, als das Rudel langsam näher kam. Irgendwann konnten sie die stechenden gelben Augen, die geifernden Lefzen ausmachen, während der kleine Spitz nicht aufhörte zu heulen. Auf ihn hatten sie es offenbar abgesehen. Als die Wölfe nach dem Schlitten zu schnappen begannen, warf der Passagier seinen Spitz schließlich hinaus. Sofort ließen die Tiere ab und stürzten sich auf den wehrlosen Hund.

In diesem Augenblick zerriss ein Schuss die Stille. Gleich darauf ein zweiter. Aufgescheucht floh etwas durchs Unterholz. Liz, ganz steif geworden, kroch aus ihrem Unterschlupf, lief durch den Wald auf den Wall zu, sah in einiger Entfernung das Aufglühen einer Zigarette. Jemand in Jagdmontur, ein Gewehr in der Hand, stand dort. Liz rief der Person zu, winkte mit beiden Armen, lief, bis sie neben ihr stand.

»Na so was. Woher kommen Sie denn um diese Zeit?«

»Verlaufen«, sagte Liz außer Atem. »Ich weiß nicht mehr, wo ich bin.«

Jetzt wurde ihr klar, dass die Person eine weibliche Stimme hatte. Blonde Haare quollen unter der Kapuze ihres Fellparkas hervor.

Sie warf ihre Kippe fort, zog ein Smartphone aus der Tasche und aktivierte das Navigationssystem. Dann zeigte sie Liz das Display: »Genau hier sind wir.«

Liz erkannte die beiden Dörfer, das Feld, das an den Waldrand grenzte, wo ihr Auto stehen musste. Die Jägerin reichte ihr eine Thermoskanne. »Heißer Tee mit Rum. Sie müssen ganz schön durchgefroren sein. Wo haben Sie die Nacht verbracht?« Dankbar nahm Liz einen Schluck. »Im Wald. Unter meinem Mantel. Wie weit ist es zur Straße?«

»Ungefähr drei, vier Kilometer.«

»Da steht mein Auto.«

»Ich fahre Sie hin. Mein Wagen steht nicht weit von hier.«

Sie machten sich auf. Plötzlich wieder das Heulen. Liz blickte die Frau an.

»Das ist Flocke, meine Hündin. Sie mag es nicht, im Auto bleiben zu müssen. Ich habe ihr das Fenster einen Spalt aufgelassen.«

Liz’ Wagen war vom Schnee begraben. Die Jägerin holte einen Besen aus ihrem Kofferraum und half Liz, das Fahrzeug freizufegen. Liz versuchte die Fahrertür zu öffnen, aber das Schloss war eingefroren. Auch Frostentferner hatte die Frau dabei und schließlich ließ sich die Tür aufreißen. Liz setzte sich auf den eiskalten Sitz und versuchte, den Wagen anzulassen. Er sprang nicht an. Sie versuchte es erneut.

»Wenn Sie so weitermachen, ist die Batterie bald gänzlich leer.«

Sie hatte sich wieder eine Zigarette angezündet. »Ich heiße übrigens Alexandra. Besser Alex. Und Sie?«

»Liz. Und was machen wir jetzt?«

»Ich habe ein Starterkabel dabei. Können Sie bitte Ihre Motorhaube öffnen? Ich öffne meine.« Dann legte die Jägerin die Klemmen des Ladekabels an die Batterien. »Setzen Sie sich in Ihren Wagen, kuppeln Sie aus und geben Sie vorsichtig Gas.«

Nach mehreren Versuchen sprang der Motor an. »Danke. Wie soll ich das wiedergutmachen?«

»Indem Sie nach Hause fahren, ein heißes Bad nehmen und sich ins Bett legen. Sie sind trotz Ihres Mantels mit Sicherheit unterkühlt. Aber fahren Sie erst einmal ein Stück und passen Sie auf, dass der Wagen nicht wieder ausgeht.«

Liz fuhr auf die Landstraße, um die Batterie wieder aufzuladen. Im Rückspiegel sah sie, wie die Jägerin ihr Auto abschloss und dann mit dem Hund auf den Waldweg einbog, der näher an die Hütte führte.