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Jo, eine junge amerikanische Collegeprofessorin, muß bei ihrem Aufenthalt auf der Nordseeinsel Neuwerk feststellen, daß Tote im Watt keine Seltenheit sind. Aber nicht jede Leiche ist ein Opfer des Meeres ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 205
Christa Hein
Quicksand
Kriminalroman
FISCHER Digital
Alle im Buch erwähnten Personen sind frei erfunden. Eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig. Die Autorin ist im übrigen in verschiedenen Punkten anderer Meinung als Jo. So hat sie die Neuwerker als liebenswürdige Menschen kennengelernt. Aber jeder macht seine eigenen Erfahrungen …
Quicksand: Lockerer, nasser Sand, der jedem Druck leicht nachgibt und somit jedes schwere Objekt verschluckt, wie zum Beispiel einen Menschen, ein Schiff etc.
Figurative Bedeutung: Dinge (seltener: Personen) mit nachgiebigem trügerischem Charakter.
Definition nach dem Oxford English Dictionary
»Wir müssen noch etwa zwanzig Minuten in der Luft bleiben«, sagte die Stimme im Lautsprecher. Jo sah aus dem kleinen ovalen Fenster. Morgendunst lag milchig über der Küste, eine noch blasse Sonne schien von oben auf die Dunstschwaden.
Es mußte Ebbe sein. Weit zogen sich die hellen Wattflächen ins Meer hinaus. Darin sich verästelnde Wasseradern, die Priele; ähnlich den großen Flüssen in Amerika, über die sie noch vor Stunden geflogen war. Keine der Inseln, die sie besuchen wollte, war von hier aus zu sehen.
Sie nahm noch einmal ihre Notizen hervor. Die Karte von der Küste South Carolinas. Pawley’s Island. Hier war sie zum ersten Mal auf die Legende vom »Grey Man« gestoßen. Einer Gestalt, von der es hieß, sie tauche immer dann an den Stränden auf, wenn ein Hurrikan im Anzug war. Solche Stürme konnten ganze Häuser in die Luft heben. Wohnzimmer mit erleuchteten Kristalllüstern durch den Himmel wirbeln lassen. Wenn sie den Grauen Mann gesehen hatten, zogen die Küstenbewohner aus ihren Häusern ins Binnenland um, bis alles vorbei war.
Sie packte auch die Karte vom Wattengebiet an der Elbmündung aus, mit den Inseln Trischen, Scharhörn, Neuwerk. Auch hier sollte es eine solche Legende geben. The Grey Man und der Graue Mann. 6000 Meilen Atlantik dazwischen.
»Was haben Sie in Hamburg vor?« Ihr Nachbar war aufgewacht. Gleich nach dem Abflug in Chicago hatte er sich eine schwarze Schlafmaske aufs Gesicht gesetzt und war in Träume versunken. Jetzt schien er sehr munter.
»Vorbereitungen für mein Landeskundeseminar«, antwortete sie. »Ich unterrichte Deutsche Literatur und Landeskunde an einem College in Virginia.«
Ihr Deutsch war gut, aber ein wenig zu glatt. Auch das war einer der Gründe für ihre Reise.
»Sie sprechen erstaunlich gut, wirklich akzentfrei«, sagte der Mann neben ihr.
Genau das ist es, was mich ärgert, dachte Jo.
Sie hangelte nach ihren Schuhen und setzte sich aufrecht hin, um Reißverschluß und Knopf ihrer Jeans zuzumachen. Jeans waren für diese langen Reisen denkbar unbequem. Jedesmal nahm sie sich vor, auf dem nächsten Flug ein Kleid zu tragen.
Sie räumte ihre Sachen zusammen, ihre Brille, das in helle chinesische Seide gebundene Notizbuch, das sie extra für diese Reise gekauft hatte; die Bordzeitung mit der Adresse der Redaktion, der sie ihren Artikel über die Inseln auch schicken wollte, und das Buch mit Geschichten von der Nordseeküste. Eine Erzählung darin handelte von Neuwerk. Während der Kontinentalsperre war die Insel Zentrum ausgedehnten Schmuggels mit englischen Waren – Tee, Stoffen und Jamaika-Rum – gewesen; sie lag der damals noch britischen Insel Helgoland am nächsten. Wegen Schleichhandels und Spionage hatte ein französischer Offizier mit vierzig Dragonern die Insel besetzt und sie binnen vier Tagen von allen dreiunddreißig Bewohnern und ihrem Vieh räumen lassen.
Die Stewardeß kam ein letztes Mal vorbei. »Bitte stellen Sie Ihre Sitzlehnen aufrecht«, bat sie. Jo gab ihr die Plastiktasse zurück, die nach schlechtem Kaffee roch, und die zerknüllte Tüte »cholesterol-free peanuts«. Wenigstens hatte sie in Heathrow ein gutes Frühstück gehabt. Da ihre Vorbestellung für ein vegetarisches Gericht offenbar verlorengegangen war, bekam sie einen Scheck über fünf englische Pfund. Damit war sie zum Frühstücksbuffet gegangen. Vegetarierin war sie eigentlich nicht, aber das normale Essen im Flugzeug war furchtbar. Sie versuchte, weniger Fleisch zu essen, aber nicht unbedingt aus Prinzip. Ralph hatte ihr zum Abschied ein Steak gegrillt. Dazu hatte es die ersten frischen Maiskolben gegeben und kalifornischen Rotwein. »So was bekommst du doch nicht in Deutschland!« hatte er gesagt.
Der Abschied von Ralph war schwierig gewesen. Beide hatten in den vergangenen Monaten das Gefühl gehabt, daß sich zwischen ihnen etwas verändern müßte. Es war ihr Vorschlag gewesen, sich auf ein paar Monate zu trennen.
Die Maschine neigte sich jetzt, das Land draußen vor den Fenstern verrutschte. Schräge Felder auf einer Wolldecke. Sie hatten endlich Landeerlaubnis.
Es regnete erwartungsgemäß, als sie am Flughafen in den Bus einstieg. Genau, wie man es ihr prophezeit hatte. Du fährst also in das Land des ewigen November, hatte Ralph gemeint.
Sie sah aus dem Busfenster mit den schrägen Wasserstreifen. Menschen mit aufgespannten Schirmen hasteten vorbei. An den Mietshauswänden leckten schwarze Regenzungen herab. Noch war alles kahl. In Virginia hatten schon vor zwei Monaten die Bäume geblüht – Magnolien, Kamelien und Kirschen.
Sie stieg am Bahnhof aus und suchte die Treppen zur U-Bahn, die sie zum Hafen bringen sollte. Sie trat in Hundekot. »Damn«, fluchte sie leise vor sich hin. »This is disgusting.« In Amerika hieß es doch immer, Deutschland sei so sauber. Drüben beseitigten die Hundebesitzer die Häufchen wenigstens sofort.
»Hello, beautiful young lady«, sagte plötzlich jemand neben ihr mit einem starken Akzent. Sie drehte sich um und stand einem kleinen, gedrungenen Mann gegenüber. Er hatte einen Lodenmantel an, die Hände in den Taschen vergraben.
O nein, dachte Jo, das fehlt mir grad noch.
»Hau ab«, sagte sie in ihrem besten Umgangsdeutsch und ging fort. Er kam ihr nicht hinterher. Wieso hatte dieser Kerl ihre Nationalität erkannt?
Es hörte auf zu regnen, als sie am Hafen ankam. Ein starker Wind trieb die Wolken auseinander, Wellen blitzten in der Sonne auf.
Jo fragte eine junge Frau nach dem Schiff. Sie zeigte auf einen großen weißen Dampfer hinten an den Landungsbrücken.
»Hier, nehmen Sie dies zu lesen mit.« Die Frau hielt ihr ein orangefarbenes Flugblatt hin. »Es geht um den Ausbau des Hamburger Hafens.« Jo steckte es ein und lief los. Sie hatte gerade noch Zeit, ein Mineralwasser zu kaufen.
Die Beine auf die Reling gelegt, eine Wolldecke über den Knien, saß sie auf dem Oberdeck, als hätte sie eine Ozeanfahrt vor sich. Vor ihr der Hafen, die Docks, die Kräne. Schlepper kreuzten das Wasser, eine Barkasse legte ab zu einer Hafenrundfahrt.
Sie holte sich ihren Wollpullover von L.L. Bean aus dem Rucksack. Es war kalt hier oben. Aber unter Deck stank es ihr zu sehr nach Bier und Zigarettenrauch.
Die Schiffssirene dröhnte, dreimal laut und tief. Das Zeichen für Rückwärtsfahren galt offenbar auch hier. Auf dem Kai lösten Männer die Trossen von den Pollern. Der Spalt zwischen Kaimauer und Schiffswand begann sich zu vergrößern.
Eine ungeheure Vorfreude auf die nächsten Tage überkam sie plötzlich.
Sie fuhren die Elbe hinab, vorbei an den Hügeln von Blankenese mit den teuren Villen. Dort hatten die Großeltern gelebt, bevor sie Anfang der dreißiger Jahre in die USA auswanderten. Grandma Annchen als junges Mädchen im weißen Kleid, an der Promenade von Blankenese flanierend.
Das erste Mal war Jo als Kind in Deutschland gewesen. Eine ihrer wenigen Erinnerungen: die hohen dunklen Räume eines alten Hauses. Große Spiegel, geheimnisvolle Ecken. Der Raum, auf dessen Parkettfußboden sie mit ihren Lackschuhen ausrutschte. In einem Mahagonyschrank hatte sie ein violettes Samtkleid gefunden, mit Pailletten besetzt, einen schwarzen Hut mit Pfauenfedern, schwarze, elegante Handschuhe, die bis zum Ellbogen reichten. Sie hatte nicht widerstehen können und die Sachen übergezogen, die ihr natürlich viel zu groß waren. Als sie sich im Spiegel begegnete, hatte sie es mit der Angst bekommen: Eine Fremde starrte sie an. Gar nicht schnell genug konnte sie alles wieder abstreifen.
Sie war eingenickt und wachte auf, als jemand direkt neben ihr einen Liegestuhl aufstellte. Im ersten Moment wußte sie nicht, wo sie war. Aber jedenfalls nicht in den Staaten. Dort würde niemand auf die Idee kommen, ihr so nah auf die Pelle zu rücken.
Der Fluß hatte sich geweitet, am südlichen Ufer kamen silbrig glänzende Bauten von Industrieanlagen in Sicht. Ein Atommeiler, mehrere hohe Schlote. Sie angelte nach ihrem Rucksack mit dem Fernglas. Die kleinen schwarzen Plastikhüllen vor den Gläsern nahm sie vorsichtig ab und legte sie in den Kasten zurück. Das hatte sie noch nie getan. Ralph machte es immer so bei seinem Glas, sie hatte sich oft darüber mokiert. DOW Chemical, las sie, Alu Swiss, ICI.
»Entschuldigen Sie, haben Sie Feuer?« Die Frau im Liegestuhl nebenan hielt eine Zigarette zwischen ihren langen Fingern mit den rotlackierten Nägeln und lächelte sie über das Gestell ihrer Sonnenbrille hin an.
Impertinent, dachte Jo, jetzt wird sie mir im Abstand von einem Meter auch noch den Rauch ins Gesicht blasen.
»Sorry, ich bin Nichtraucherin.«
Die Dame seufzte gequält auf. Aus der Wolldecke sahen nur ihre nackten, braungebrannten Füße hervor, die sie auf die Reling gelegt hatte. Um die Fessel trug sie ein goldenes Kettchen mit einer Muschel aus Elfenbein daran.
Ein junger Mann kam vorbei. Die Dame schälte sich aus der Decke und streckte die Hand mit der Zigarette nach vorn.
Der Mann holte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Sie schnippte mit dem Daumen, eine unmißverständliche Geste, aber er gab ihr das Feuerzeug in die Hand. Sie schien enttäuscht. Dreimal ließ sie den Deckel aufspringen, ehe die Zigarette brannte.
Jo erhob sich und ging auf die andere Seite des Schiffes. Hier lag alles im Schatten, und der Wind war kalt. Hier würde niemand sie stören.
Im Fernglas tauchte eine Insel auf. Ein flacher, gewölbter Streifen. Sie sah auf ihre Karte.
»Das ist die Insel Krautsand.« Es war also doch jemand da. »Früher mal Bombenabwurfplatz für die Tommies, heute Vogelschutzgebiet.«
»Auf der Karte ist die Insel viel größer eingezeichnet«, sagte Jo.
»Sie wird von Jahr zu Jahr kleiner. Bei jedem Sturm reißt ein Stück ab. Es liegt daran, daß die Elbe immer wieder ausgebaggert wird.«
»Ausgebaggert.« Sie wiederholte das Wort, weil ihr der Klang gefiel. Ihr Nachbar schien es als Frage zu verstehen.
»Wegen des Hamburger Hafens. Die Schiffahrtsrinne versandet. Hamburg will einen Megaport, und auch die Supercontainer müssen die hundert Kilometer landeinwärts fahren können. Die Ausbaggerung verändert natürlich die Strömungsverhältnisse.«
»Wäre es nicht sinnvoller, einen Hafen direkt an der Mündung zu haben?«
Der Mann lachte kurz auf. »Logik, mein Fräulein, ist Luxus, wenn es um viel Geld geht. Der Hafen bringt der Stadt Milliarden.«
Er tippte wie zum Abschied an seine Sonnenbrille und ging. Es war Jo mehr als recht. Bei aller Vorfreude war sie hundemüde. Der Jet-lag würde ihr noch eine Weile zu schaffen machen.
Der Umriß eines riesigen Vogels stand vor der Glasscheibe des Fensters. Dunkelviolett. Ein Rabe, der zu unerhörtem Ausmaß angeschwollen war. ›Komm mit‹, krächzte er und pochte mit seinem harten Schnabel gegen das Glas. ›Hier wird sich niemand an dich erinnern. Komm mit!‹ Er stieß sich vom Fensterbrett ab, flog riesengroß wie ein Schatten gegen die Nacht davon. ›Erinnerung und Gedanke, Erinnerung und Gedanke‹, rief er. Dann war alles still.
Sie ging aus dem Raum mit dem großen Fenster in einen anderen, dessen Wände sich bei jedem ihrer Schritte von ihr fortbewegten. Die Konturen des leeren Zimmers lösten sich auf, verschwammen in undeutlichen Wellen und waren plötzlich verschwunden. Sie konnte nicht erkennen, ob sie stand oder flog. Sie fühlte sich wie in einer Wolke. Für einen kurzen Moment riß das neblige Licht auf, und sie sah den violetten Vogel weit unter sich fliegen. Im selben Moment begann sie zu fallen, tiefer und tiefer, in sausendem Tempo.
»Na, gut geschlafen?« Eine Frauenstimme kam vom anderen Ende des Zimmers. Jo hatte die Hände am Bettlaken festgekrallt und versuchte, dem Fallen des Bettes Einhalt zu gebieten. Eine dunkle Silhouette stand vor dem Fenster.
»Ich habe Sie geweckt, wie Sie es wünschten«, sagte die Zimmerwirtin und ließ die Jalousie am Fenster in die Höhe schnellen. Grelles Licht fiel in den Raum. »Wollen Sie eine Tasse Kaffee?«
»That would be great.« Jo betrachtete die lila Blümchen im Tapetenmuster. Sie bissen sich mit den orangefarbenen und giftgrünen Blümchen auf dem Frotteebettzeug. Über dem Bett hingen Fotografien von Pferden. Auf einer war ein Rappe zu sehen. Davor ein Mann und eine Frau. Es schien die Wirtin zu sein.
Erinnerung und Gedanke, dachte sie. Es waren die Eigenschaften der zwei Raben, die der nordische Gott Odin mit sich führte. Die Raben hießen Hugin und Munin. Odin, Gott der Winde, der seine Anhänger durch die Lüfte führte. Totengott und Schöpfer der Dichtkunst, der Menschenopfer verlangte.
Jo suchte in ihrem Rucksack nach ihrem Buch über nordische Mythen und Göttergestalten. Auf dem Einband ein alter Druck, wie Odin auf seinem schwarzen Roß durch die Lüfte reitet, die Raben auf seinen Schultern.
»Wovon haben Sie geträumt?« fragte die Wirtin, als könnte sie Gedanken lesen. Sie stellte eine Kaffeetasse auf das weiße Tischtuch, daneben einen Teller mit Schwarzbrot, Schinken, Marmelade und etwas Butter.
»Von Odin, dem Gott der Winde«, sagte sie, als die Frau schon im Gehen war. Sie drehte sich in der Tür noch einmal um.
»Den müssen Sie sich merken. Es ist nämlich von Bedeutung, was man die erste Nacht in einem fremden Land träumt. Bei uns auf der Insel glaubt man, daß solche Träume in Erfüllung gehen.«
»Kommen Sie denn von Neuwerk?«
»Ja sicher«, sagte sie, als müßte man ihr ihre Herkunft ansehen. »Ich habe aufs Festland geheiratet. Aber mein Mann ist früh gestorben.« Sie seufzte. »Beim Pferderennen tödlich verunglückt.«
Der Rappe oben im Foto, dachte Jo.
»Irgendwann werde ich wieder zurückgehen. Von einer Insel kommt man nicht los«, sagte die Wirtin. »Es scheint uns immer, daß wir auf dem Festland ertrinken müßten.«
In dem kleinen Korridor des Reihenhauses schlug eine Uhr. »Elf«, zählte Jo mit. Es wurde Zeit, daß sie mit ihren Vorbereitungen anfing. Morgen früh wollte sie mit dem Kutschwagen nach Neuwerk fahren.
In der Post kaufte sie Briefmarken und Postkarten. Dann betrat sie eine Telefonzelle. Noch einmal mit Ralph sprechen, seine Stimme hören. Auf einmal hatte sie Sehnsucht nach ihm. Sie hatte sich alles leichter vorgestellt.
Sie hielt den Hörer in der Hand und zögerte zu wählen. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Scheibe. Es kam ihr fremd vor mit den kurzen, blonden Haaren, dem Seitenscheitel. Sie hatte sich die langen Haare direkt vor ihrer Abreise abschneiden lassen. Es stand ihr, fand sie. Ralph war anderer Meinung gewesen.
Sie wählte die dreizehnstellige Nummer wie in Trance und las dabei die Schriftzeichen an den Gebäuden: Pressehaus, Buchhandlung, Karstadt. Lange Zeit kam nichts bis auf ein Rauschen in der Muschel. Das Rauschen des Atlantiks, dachte Jo. Sie konnte die Hunderte von Meilen Ozean wieder unter sich sehen; Stunden nichts als Wasser, ab und zu das spitzwinklige Dreieck der Bugwelle eines Schiffes.
Sie war fast überrascht, als das amerikanische Klingelzeichen ertönte, ein doppeltes Schrillen. Sechsmal, siebenmal – dann wurde der Hörer abgenommen. Seine Stimme klang verblüffend nah.
»Hello, Ralph. It’s good to hear your voice.« Sie konnte den Widerhall ihrer Worte hören.
»Hello«, rief sie in den Apparat. Es kam nur ein Echo zurück. »Kannst du mich verstehen?«
Dann seine Stimme, langsam und verschlafen. »Du bist also gelandet. Wie spät ist es denn jetzt bei dir?« Sie sah auf die Uhr. »Halb zwölf.«
»Hier ist es halb fünf Uhr morgens. Du hast Glück, daß ich das Telefon überhaupt gehört habe.«
Natürlich, die sieben Stunden Zeitunterschied hatte sie vergessen. »Ich wollte dich nicht wecken, entschuldige bitte.« Er reagierte mit einer Art Grunzen, das sie gut von ihm kannte.
»Du hast Post gekriegt. Hast du schon eine Adresse, wohin ich sie dir nachschicken soll?«
»Ich vermiss dich«, sagte sie in das Rauschen der Leitung.
»Ich tröste mich mit den Münzen, die du mir wieder einmal im Bett hinterlassen hast. Your famous pockets.«
Er hatte sich oft über ihre Hosentaschen lustig gemacht. Weil sie fast jeden Tag Kleingeld daraus verlor, nannte er sie Sterntaler.
»Vergiß nicht, nächste Woche bin ich auf der Konferenz in Tallahassee.«
»Was hast du an?« fragte sie.
»Nichts, deshalb ist mir ja …«
Das letzte Fünfmarkstück war durchgefallen, das Gespräch zu Ende.
Auf der Straße rasten die Autos vorbei, es stank und war quälend laut. Was wollte sie eigentlich hier? Ihr war auf einmal traurig zumute, und sie setzte sich auf eine Bank gegenüber im Park. Sofort kam eine Schar Enten angeschnattert, gewohnt, daß man sie fütterte.
»Immer hast du deinen Dickkopf durchsetzen müssen, Jo«, sagte sie halblaut zu sich selbst. »Nun mach auch was draus.«
Sie erhob sich und ging quer über den Platz zurück. In dem Buchgeschäft, das sie von der Zelle aus gesehen hatte, kaufte sie sich eine Karte von Neuwerk und zwei Krimis.
Sie war immer noch müde und betrat ein Café. In dem dunklen, holzgetäfelten Raum saßen nur wenige Leute. Zwei Frauen sahen zu ihr herüber, sie trugen die gleiche gedrehte, vielfach geschlungene Perlenkette. Sonst nur noch eine Familie: Vater, Mutter, Sohn. Der Junge war der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Keiner der drei sprach, die Frau rauchte, zündete sich sofort eine neue Zigarette an, wenn sie eine ausgedrückt hatte.
Jo holte sich eine der Zeitungen, die an den Garderobenständern hingen. ›Wie Hamburg mit Pfunden aus der Seeräuberzeit wuchert‹, lautete eine der Schlagzeilen.
Wieso immer noch Seeräuberzeit? dachte sie. Sie rührte den Kaffee um, bis er kalt war, und las mit wachsender Neugier.
Die Hanseaten erlauben den Ausbau des ihnen gehörenden Amerikahafens in Cuxhaven – im Gegenzug verzichtet Hannover auf seinen geplanten Containerterminal mit Überseediensten an der Elbmündung und überläßt Hamburg dies Geschäft.
Daß die Elbmetropole dabei überhaupt mitzureden hat, ist ein Relikt aus der Seeräuberzeit, als Piraten wie Klaus Störtebeker und seine Vitalienbrüder die Flußmündung kontrollierten und die Hanse-Koggen überfielen. Um ihnen Paroli bieten zu können, bauten die Hanseaten vor 700 Jahren den gewaltigen Leucht- und Wehrturm auf der Insel Neuwerk. Heute noch gehören der Amerikahafen und Neuwerk zu Hamburg.
Jo trank die Tasse mit kaltem Kaffee in einem Zug leer. Sie zahlte und ging zur Pension zurück. Es war plötzlich schönes Wetter, kühl und sonnig. Seeräuberzeit, dachte sie. Es klingt wie ein Versprechen.
Der Mann schwang die Peitsche und trieb die Pferde an wie im Wilden Westen. Die beiden schweren Ackergäule liefen los, den Strand hinab aufs Watt hinaus.
Es war ein ungemütlicher Tag für Mitte Mai. Dunkelgraue Wolken, niedriger Himmel. Die Luft diesig, die Insel noch überhaupt nicht zu sehen. Man konnte meinen, sie existiere nicht. Elf Kilometer betrug die Entfernung vom Festland aus, hatte sie gelesen. Hoffentlich fing es nicht wieder an zu regnen.
Ihr Gepäck – Rucksack, Zelt, Schlafsack und Kochgeschirr – lag im hintern Teil des Wagens neben der Inselpost. Sie saß, in eine dicke Wolldecke gehüllt, vorn auf dem Kutschbock neben diesem finsteren Mann, der sich mit »Möbius« vorgestellt hatte. Er trug eine schwere, dunkle Lederjacke und eine Wollmütze. Beim Einladen ihrer Sachen hatte er kein Wort gesagt.
»Wie kalt wird es hier nachts?« fragte sie, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
»Kann noch mal unter Null gehen.«
Gestern war das Thermometer auf zehn Grad gestiegen. Celsius natürlich. Das hieß in Fahrenheit, 10 mal 9 durch fünf, plus 32. Also etwa fünfzig Grad. Sie fror noch mehr.
Zu Hause ist jetzt schon Sommer, dachte sie. Schwer, sich Shorts und leichte Kleider vorzustellen. Ob es hier je richtig Sommer wird?
Ein schwarzer, wolliger Hund, der unter der Bank lag, wachte auf und gähnte. Er richtete seine blutunterlaufenen Augen auf Jo.
»Waren Sie schon in Amerika?« Möbius schüttelte den Kopf. Auch der Hund schüttelte seinen Kopf.
Sie waren bisher parallel zur Küste gefahren, bogen nun nach Nordwesten ab und folgten Markierungen im Watt. Wie Hexenbesen steckten Reisigbündel im Sand.
»Kommen viele Leute auf die Insel?«
»Wie man’s nimmt.«
Möbius spuckte aus und schob seine kalte Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen. »Wer daran verdient, dem kann’s nicht genug sein; wer seine Ruhe haben will, dem sind’s zuviel.« Es war wohl ein langer Satz für seine Verhältnisse.
Die diesige Luft vor ihnen gerann zu einem dunklen Fleck. Im nächsten Augenblick tauchten Reiter und Pferdewagen auf. Sie folgten den Kurven und Windungen des abgesteckten Pfades. Als sie näher kamen, unterschied Jo vier schwarz gekleidete Reiter und einen Vierspänner, auf dessen Ladefläche eine lange Kiste stand. Die Frau auf dem Bock war ebenfalls schwarz gekleidet. Dahinter folgten zwei Wattwagen, dicht besetzt mit Menschen in schwarzen Capes. Ihre Reglosigkeit stand in groteskem Kontrast zu den wirbelnden, sich im Wasser spiegelnden Pferdebeinen.
»Goodness gracious, what is this?«
Sie sah in Möbius verständnisloses Gesicht und merkte, daß sie englisch gesprochen hatte. Sie deutete auf die Kutschen.
»Leichenzug«, sagte er knapp.
Hinter sich hörte sie das Trappeln von Pferdehufen, das Klatschen, wenn sie durch Wasser liefen. Im selben Moment wurden sie von vier ebenfalls schwarz gekleideten Reitern überholt, die vor dem Leichenzug zum Stehen kamen.
Es fand eine Ablösung statt. Die von der Insel zum Geleit Vorangerittenen verabschiedeten sich mit einem Gruß von dem Toten im Sarg und wichen zur Seite. An ihre Stelle setzen sich die vier Reiter vom Festland und führten den Zug an, der Richtung Küste weiterzog.
Möbius wartete, daß sie den schmalen Weg freigaben. Als der letzte Wagen auf Höhe seines Gespanns war, beugte sich eine der Frauen heraus:
»Möbius, sei so gut und bring mir morgen mein Paket von der Post mit.« Sie wühlte in ihrem schwarzen Cape und zog einen rosafarbenen Zettel hervor. »Hier ist die Benachrichtigung. Die Vollmacht für dich hab’ ich unterschrieben.«
Kaum waren sie vorüber, schwoll eine Art heulender Gesang an, dann verstummte der Chor der Klageweiber, und wenige Minuten später war alles im Dunst verschwunden wie ein Spuk.
Sie wartete immer noch auf seine Erklärungen, aber er schwieg.
»Warum diese Übergabe mitten im Watt?« Möbius ließ sich Zeit mit der Antwort. Er stopfte sich umständlich die Pfeife, zündete sie an, sog daran.
»Alter Aberglaube. Die Toten müssen aufs Festland zurück. Auf der Insel finden die Seelen keine Ruhe. Deshalb gibt es da keine Kirche, keinen Friedhof. Nur einen Friedhof für die Namenlosen.«
»Es waren fast alles Frauen. Wissen Sie, wer gestorben ist?«
»Natürlich. Bruns Tochter. Keine sechzehn Jahre alt.«
»Wie ist das passiert?«
»Hat mit Touristen gefeiert; die haben sie besoffen gemacht, nachts sind sie alle raus ins Watt. Hat sich den Fuß verstaucht, keiner hat gemerkt, daß sie fehlte. Der blanke Hans hat sie dann geholt.«
»Der blanke Hans?«
Möbius sah sie mitleidig an.
Jo kramte ihr Notizbuch aus der Jackentasche.
»Werden alle Toten auf diese Weise bestattet?«
»Die meisten sterben im Krankenhaus.«
Sie hätte gern noch mehr gefragt, aber sein Schweigen schien jetzt so abweisend, daß sie es unterließ.
Die Insel tauchte auf. Ein großer Schatten zuerst. Dann erkannte sie Einzelheiten. Den massigen Turm. Auf dem Deich weideten Schafe. Ihre Silhouetten wirkten groß vor den Giebeln der wenigen Bauernhäuser dahinter.
Der Wagen kroch eine Rampe empor, ratterte dann über Kopfsteinpflaster in Richtung Turm. Jo bemerkte flüchtig ein Schild mit einem rot-weißen Stadtwappen. »Hamburger Staatsgebiet«. Dann hielten sie. Jo glitt vom Bock herab, holte ihren Rucksack und die Tasche von der Ladefläche. Der Hund sprang auf den leeren Sitz. Möbius fuhr davon, schwenkte einmal die Peitsche über sich wie zum Abschied.
Sie blickte sich um. Sie stand auf einem rechteckigen Platz. Seine hintere Schmalseite nahm der Turm ein. Aus der Nähe hatten seine verwitterten Backsteinmauern etwas Bedrückendes. »Turmschenke« stand auf dem Schild an der massiven Holztür. Darüber an der Mauer aus Eisen geschmiedete Ziffern: 1297, ein Datum, das einem in Amerika nie begegnete!
Die rechte Seite des Platzes wurde von einem langgestreckten Gasthofgebäude begrenzt, das gleichzeitig eine Art Kaufmannsladen zu sein schien, mit Underberg- und Eisreklameschildern an der Mauer. Auf der linken Seite ein kleines Fachwerkhaus mit tief heruntergezogenem Strohdach. »Umweltzentrum« stand über der Tür, Vogelplakate hingen in den Fenstern. Sie sah durch die Scheiben. Ausgestopfte Möwen, ein künstlicher Strand mit Plastiktüten, Bierdosen und Müll aller Art als Dekoration. Sie probierte die Tür aus. Sie war verschlossen.
Sie hatte sich vorgenommen zu zelten. Aus allen Geschichten über die Küste ging hervor, daß das Wetter eine Hauptrolle im Leben hier spielte. Stürme, Sturmfluten, Nebel – vom Wetter würde sie im Zelt mehr mitbekommen.
Der Campingplatz war eine kleine, feuchte Wiese – auf der einen Seite grenzte sie an den Deich, auf der anderen an einen Bauernhof – mit zwei unansehnlichen Wohnwagen darauf, die schon länger dort zu stehen schienen. Unter ein paar krüppeligen Bäumen auf einer Weide grasten Pferde. Sie stellte ihren Rucksack ab. Eine Rezeption gab es nicht. Wahrscheinlich mußte sie sich im Hof drüben melden.
Jo drückte auf die Klinke einer geriffelten Glastür und gelangte in einen dunklen, muffig riechenden Flur. Ein großes Holzregal stand an der Wand, voll mit Gummistiefeln, großen und kleinen Paaren.