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Auf dem Schlossgut Willerstein wird ein mit Rubinen besetzter goldener Becher aufbewahrt, und die jeweiligen Brautpaare des alten Fürstengeschlechts haben sich anlässlich ihrer Verlobung und Hochzeit immer damit zugetrunken. Doch an dem Tag, da Ilse von Willerstein Verlobung feiert, ist der Becher plötzlich spurlos verschwunden. Seltsamerweise hat ihre Schwester Anne wenige Tage zuvor einen ganz ähnlichen Becher in einem Frankfurter Antiquitätengeschäft entdeckt ... Die schöne rotblonde Anne ist an diesem Tag durch die Stadt am Main gebummelt und gerade vor besagtem Geschäft hat sie einen gutaussehenden Mann kennengelernt: Lorenz Hammerschlag, der ihr die Sehenswürdigkeiten der Mainmetropole zeigen wollte. Komtesse Anne ist zwar ein natürliches und lebenslustiges Mädchen, dennoch aber erscheint ihr diese Zufallsbekanntschaft ein wenig merkwürdig und unpassend – wenn auch ihr Herz ganz anders spricht ... Schloss Willerstein und die bezaubernde Komtesse Anne bilden den Mittelpunkt eines packenden und sehr unterhaltsamen Liebesromans, der durch die Jagd nach dem verschwundenen Becher zusätzliche Spannung erhält. Und da bleibt natürlich auch die alles entscheidende Frage: Werden Komtesse Anne und ihre Schwester Ilse am Ende doch noch jeweils den Mann ihres Herzens finden?-
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Seitenzahl: 284
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Roman
Anny von Panhuys
Der Glücksbecher von Willerstein
©1953 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: ©2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711570203
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Lorenz Hammerschlag ging langsamen Schrittes durch die schmalen Gassen des alten Frankfurt.
Ein kleines, diesem festgeprägten Männergesicht ungewohntes weiches Lächeln hatte sich um seine Lippen eingenistet, und wie ein Abglanz stiller, versonnener Herzensträumerei leuchtete es aus den grauen Augen, die für gewöhnlich sehr kühl zu blicken pflegten.. Augen, die sich geübt hatten, den Dingen auf den Grund zu sehen.
Wie gut es die Frühlingssonne schon meinte, sommerliche Wärme verschwendete sie und spann alle die uralten Häuschen in den engen Gassen in einen lichten goldenen Zauber ein.
Still war es hier um diese späte Nachmittagsstunde, nur ein paar Buben, denen die ersten Hosen einen drolligwichtigen Anstrich gaben, starrten den hochgewachsenen Mann verwundert an, der jetzt vor dem Hause „Zum goldenen Lämmchen“ stehenblieb und fortwährend nach dem Hause „Zum alten Uhu“ hinüberschaute.
Was es da nur zu betrachten gab?
Lorenz Hammerschlag bemerkte die verwunderten Knirpse und nickte ihnen zu. Dachte bei sich: War auch einmal einer wie ihr, und hätte damals nimmermehr begriffen, was es an so einem alten Häuschen zu sehen gibt, hätte damals nimmermehr geglaubt, daß man Wunder daran entdecken kann. Seine arme Kindheit hatte ja einstens in dem alten düsteren Kasten gewohnt — aber auch seine Knabenjahre. — Die heiße Sehnsucht seiner Knabenjahre lag da drüben in dem alten Steinkasten einmal eingekerkert, die Sehnsucht, die ins Weite fliegen wollte und nie müde ward, immer neue, immer lockendere Ziele zu suchen. Knabensehnsucht wurde zu Lebenswünschen, die sich dem Manne erfüllten, wenn auch um vieles anders, als sie dereinst die pochende junge Brust durchzitterten.
Lorenz Hammerschlag lächelte stärker.
Allzu junge Sehnsüchte laufen Irrlichtern nach, — es war wohl gut, daß manches sich so völlig anders gestaltet hatte, als er es sich ausspintisiert in jenen fernen Tagen, da er noch unter dem Dache des Hauses „Zum alten Uhu“ schlief. Mit achtunddreißig Jahren denkt man nicht mehr wie einer von vierzehn.
Er nahm den leichten Panama vom Kopfe und ließ die Sonne über seinen Scheitel spielen. Es tat ihm gut. Er sah zwei Paar neugieriger Kinderaugen noch immer beobachtend an sich hängen. Er griff in die Tasche, gab den beiden Hosenmätzen je ein Zehnpfennigstück: „Kauft euch Guts dafür, Kluntscher oder Kuchengebrocksel!“
Sie vergaßen vor jäher Glückseligkeit den staunend geöffneten Mund zu schließen, indes er weiterging und gleich darauf hinaustrat auf den „Hühnermarkt“, wo Frankfurter Bürgerdankbarkeit dem Violksdichter Friedrich Stolze ein Denkmal gesetzt. — Der rechte Platz für den Altfrankfurter Poeten.
Lorenz Hammerschlag sah die „Lange Schirn“ wieder, die in diese enge Gasse eingebauten Bäcker- und Metzgerverkaufsstände, und er meinte seine blasse Mutter da drüben an einem der Stände zu erblicken, wie sie um ein billiges Stück Fleisch feilschte.
Gewaltsam schüttelte er die Erinnerung ab, die gar so lebendig hier auf ihn eindrang. Er schritt zum Stolze-Denkmal zurück. Ein Kräuterladen befand sich in dem kleinen Haus zur Seite, der starke Kräutergeruch trieb die Erinnerung aber nur immer lebhafter hoch, denn täglich, da er dereinst zur Schule gegangen, hatte ihn der Weg an diesem Kräuterladen vorbeigeführt.
In der Gegend gab es überhaupt viele Geschäfte, die sich gar nicht verändert hatten. Man hätte zuweilen meinen können, hier in den engen Gassen wäre die Zeit gar nicht weitergewandert.
Lorenz Hammerschlag trat einen Schritt zurück, zwei Damen, eine ältere und eine jüngere, stellten sich vor dem Denkmal auf und betrachteten es eingehend. Nach einem Weilchen meinte die Jüngere:
„Es gibt da ein sehr hübsches, launiges Gedicht, in dem dieser Dichter seine Vaterstadt verherrlicht, doch fällt es mir leider nicht ein.“
Lorenz Hammerschlag verneigte sich leicht: „Es kommt wohl nur auf den Anfang des Gedichtes an, und da kann ich als Frankfurter vielleicht aushelfen.“
Und ohne zu zögern begann er:
„Es is kä Stadt uff der weite Welt,
Die merr wie mei Frankfort gefällt,
Un es will merr net in mei Kopp enei:
Wie kann nor e Mensch net von Frankfurt sei!
Un wär’sch e Engel un Sonnekalb,
Er Fremder is immer von außerhalb!
Der beste Mensch is e Ärjernis,
Wann err net aach von Frankfort is.“
Die Ältere nickte etwas steif und gemessen, während die Jüngere vergnügt lächelte:
„Die Verse sind reizend und der ganze Lokalstolz des Dichters auf sein Frankfurt darin wunderbar zum Ausdruck gebracht. Alle echten Frankfurter müssen ihm dafür dankbar sein.“
Zwei samtene braune Mädchenaugen blickten den Mann wie prüfend an.
„Da Sie auch Frankfurter sind, müssen auch Sie dem toten Dichter dankbar sein, denn auch für Ihr Empfinden fand er wohl die rechten Worte?“
Es klang wie eine halbe Frage.
Das strenggeschnittene Männergesicht überrann ein flüchtiger Schatten, der jedoch so rasch wieder verschwand, wie er gekommen.
„Ich bin schon zu lange von Frankfurt fern, um eigentlich noch richtig dazuzugehören.“ — Seine Stimme änderte sich, warf die Gleichgültigkeit ab. „Bin nach langen Jahren einmal heimgekehrt, und nun ich die alten Gassen wiedersehe, in deren einer“, seine Hand wies um die Ecke, „ich geboren bin, da wächst es aus dem Boden und greift wie mit Armen nach mir, da strecken sich aus jedem der alten Häuser Fühlfäden, die tastend auf mich zuschweben, da erwachen tausend Stimmen in mir, von denen ich in langen Jahren nicht eine einzige hörte — und wirklich“, — er machte eine kleine Pause, „ich empfinde es hier auch wieder voll und lebendig wahr: Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei.“
Die ältere Dame stand da, als wäre sie aus Holz.
„Sehr interessant, Ihre Ausführungen, mein Herr, wirklich sehr interessant, leider gestattet uns die Zeit nicht mehr, länger zuzuhören.“
Sie nickte pagodenhaft, und die etwas tief gescheitelten grauen Haare nickten leicht im Takte mit.
Die junge Dame klopfte mit der Spitze ihres dunkelblauen Sonnenschirms mehrmals wie in leichtem Ärger auf das unregelmäßige Pflaster.
„Aber, liebste Tante Brinken, Sie geben sich mal wieder irgendeiner Täuschung hin, wir haben ja mächtig viel Zeit, und wenn es dem Herrn recht wäre, so möchte ich ihn herzlich bitten, uns doch ein bißchen durch das Gäßchengewirr als Führer zu dienen.“
Sie sah ihn mit den braunen Augen warm an.
„Sie verbrachten Ihre Kindheit hier, es mutet wie ein Märchen an, in solchen Gassen geboren zu sein.“
Er zuckte die Achseln.
„Es wohnt meist Armut in den niedrigen Stuben.“
„Verzeihen Sie“, sagte sie weich, und über das schmale zarte Gesichtchen huschte eine Blutwelle.
Er mußte lächeln. Er freute sich ihres raschen Begreifens.
„Ich will Sie gern ein Stück Weges begleiten“, sprach er und achtete kaum darauf, daß die ältere Dame immer versteinerter dareinblickte.
Das junge Mädchen mit den kupferfarbenen dicken Zöpfen und den samtenen braunen Augen ging gleich einem holden Wunder neben ihm her, und ihm fiel es in diesem Augenblicke zum erstenmal ein, wie wenig er sich bisher doch Zeit und Gelegenheit genommen, sich um Frauen zu kümmern. Arbeit! war sein Feldgeschrei gewesen, und nicht rechts noch links hatte er geblickt bisher, weil er die Augen immer geradeaus auf die Arbeit gerichtet hatte.
Arbeit, Arbeit war das starke Seil gewesen, an dem er hinaufgeklettert aus der Enge des Frankfurter Gäßchens. Arbeit, viel Arbeit. Aber Freude hatte sie ihm gegeben, die Arbeit, nie hatte er ihre Last gespürt, nie war sie ihm Feindin, immer nur Freundin gewesen.
Die junge Dame, die ihm zur Seite schritt, deutete wohl sein etwas langes Schweigen falsch.
„Verzeihen Sie, es war vielleicht unbescheiden, Sie so schlankweg als Fremdenführer in Anspruch zu nehmen, möglicherweise haben Sie Wichtigeres vor.“
Er widersprach lebhaft.
„Aber ich bitte Sie, mein Fräulein, dann hätte ich das unbedingt gesagt, nein, ich habe wirklich genügend Zeit, um Sie sogar kreuz und quer durch Frankfurt zu führen. — Doch dürfte Ihnen mein Wissen nur hier in dem alten Stadtteil von Nutzen sein, hier hat sich nicht allzuviel geändert, — aber sonst — —. Du lieber Himmel, wie hat sich die Mainstadt herausgemacht, seit ich sie vor zwanzig Jahren verließ.“
„Zwanzig Jahre“, wiederholte die junge Dame und zog die schmalen dunklen Augenbrauen hoch, so alt bin ich gerade vor einigen Wochen geworden.“
„Anne“, mahnte die Ältere.
„Ach, lassen Sie uns doch plaudern, Tante Brinken, komme sonst wenig genug dazu“, lachte der Jungmädchenmund.
Lorenz Hammerschlag freute sich des frischen Wesens der jungen, einfach aber vornehm gekleideten Fremden und unwillkürlich ging er auf den Ton ein.
„Vor vier Wochen jährte es sich zum zwanzigsten Male, seit ich, als armer Glücksritter aus Frankfurt auszog.“
„Vor vier Wochen jährte es sich zum zwanzigsten Male, seit ich, jedenfalls mit einem äußerst angenehmen Freudengeschrei, das Licht der Welt begrüßte.“
Sie lächelten sich beide, über die Entdeckung, die sie eben gemacht, an.
Die ältere Dame zog die Schultern wie fröstelnd zusammen. Was fiel nur der Anne ein, sich so zwanglos mit diesem Manne zu unterhalten, von dem man so gar nichts wußte, als daß er in einer engen Gasse Altfrankfurts geboren ward und vor langen Jahren seine Vaterstadt als „armer Glücksritter“ verließ. Er sielbst hatte sich dieses Ausdruckes bedient.
Graf Ferdinand Zettingen-Willerstein liebte dergleichen Bekanntschaften nicht, und wenn er davon erführe, würde es eine schöne Strafpredigt setzen.. Selbstverständlich trüge sie, Malvine von Brinken, die Schuld, daß so etwas überhaupt vorkam. Sie hörte bereits im Geiste die überlaute Stimme des Grafen, wie er sie abkanzelte: Meine liebste Brinken, Sie werden alt, man kann sich nicht auf Sie verlassen. Eine Komtesse Zettingen-Willerstein macht eben keine Straßenbekanntschaft, selbst wenn sie inkognito reist. Um solche Ausfälle Annes zu verhindern, sind Sie da, meine liebe Brinken, und ich bitte Sie, davon Notiz zu nehmen!
Malvine von Brinken schauerte bei der Ausmalung des Schrecknisses nochmals zusammen, und dann sagte sie, so fest es ihr der Jüngeren gegenüber möglich war:
„Anne, wir wollen uns eilen, weil wir uns noch umkleiden müssen, denn wir haben doch Plätze für die Oper genommen.“
„Aber Tante Brinken, eins nach dem anderen, jetzt muß erst Altfrankfurt erledigt werden“, lächelte die junge Dame, und ein kleiner spitzbübischer Blick suchte den Blick des Mannes. Ein Blick, der zu sagen schien: Ich habe gar keine Eile, erkläre und zeige mir nur in aller Ruhe, was es hier zu erklären und zu zeigen gibt.
Aber zugleich fühlte Lorenz Hammerschlag einen strengen Blick der alten Dame auf sich ruhen.
Ich habe mich noch nicht vorgestellt, zuckte es ihm durch den Kopf, vielleicht störte diese kleine Vergeßlichkeit die alte Dame. Nun, das konnte er nachholen. Er zog den Hut und nannte seinen Namen.
Name ist Schall und Rauch, dachte Malvine von Brinken ärgerlich. „Lorenz Hammerschlag“, das verriet gar nichts. Der Träger des Namens konnte ebensogut ein Hochstapler sein, wie der Inhaber eines Ladens oder ein Fabrikbesitzer. Und ihr war es, als habe sie den Namen schon öfters gehört — aber sie wußte ihn nirgends unterzubringen.
Sie zog ein sauersüßes Gesicht. Immerhin blieb es ihr nicht erspart, die Höflichkeit zu erwidern.
„Ich heiße Malvine Brinken, und dies ist meine Pflegetochter Anne Zettingen.“
„Frau oder Fräulen Brinken?“ fragte er höflich.
Die graugekleidete Dame zuckte zusammen, als wäre ihr ein körperlicher Schmerz zugefügt worden. Ein empörter Blick irrte wie anklagend zur blauen Himmelsdecke empor, aber die Lippen blieben fest geschlossen.
„Frau, bitte, Frau Brinken“, übernahm Anne statt ihrer Erwiderung, und es war dem Manne, als liefe ein bißchen Spott neben der Antwort her.
Aber schon in nächster Minute fand Lorenz Hammerschlag, daß er sich das wohl nur eingebildet habe, denn die junge Dame war mit vollster Aufmerksamkeit bei dem, was sie sah. Er kam gar nicht dazu, viel zu erklären, sie plauderte, was hier und dort in den alten Häuschen mit den vorstehenden oberen Stockwerken wohl alles geschehen sein könne. Sie las die Inschriften über den Haustüren und lächelte. Da war links der prächtige Bau „Zur goldenen Waage“, weit hielt ein Arm eine goldene Waage hinaus. Nicht weit davon die Häuschen „Zum kleinen Vogelsang“ und „Zum Weißfisch.“
Anne sprach die Hausnamen förmlich andächtig aus.
Sie gingen wieder bis zum Hühnermarkt zurück, und Anne bog in die Gasse „Hinter dem Lämmchen“ ein.
„Darin bin ich geboren“, Lorenz Hammerschlag zeigte auf das Haus „Zum alten Uhu“. Er sagte es ruhig und selbstverständlich.
„Ohhh —!“
Nur diesen langgezogenen Laut brachte die alte Dame hervor, aber er ersetzte ganze Bände.
„Das Haus sieht müde aus, — die anderen ringsum haben frohere Farben“, meinte Anne.
„Es ist in den letzten Jahren hier viel erneuert und ausgebessert worden, wie ich hörte“, gab er zurück und öffnete den breiten Torgang des Hauses gegenüber dem „Alten Uhu“.
Man trat ein.
„Wie wunderhübsch“, begeisterte sich Anne und stand mit einem leichten Staunen in den braunen Augen und ließ die Blicke umhergleiten.
„Ein wirkliches Stückchen Mittelalter.“
„Das ist der Hof zum ‚Lämmchen‘“, erklärte Lorenz Hammerschlag, „und wir haben ähnliche, aber für meinen Geschmack nicht ganz so schöne Bilder am Domplatz im ‚Hainer Hof‘ und ‚Köppler Höfchen‘.“
Er erzählte ein paar halb sagenhafte Geschichten, die sich hier zugetragen haben sollten, und freute sich der reizenden Zuhörerin, deren Züge einen verträumten Ausdruck trugen.
„Anne, wir dürfen nicht mehr länger säumen“, mahnte die alte Dame und schreckte die beiden auf, die sich ganz in die alten Zeiten versenkt hatten, die alte Zeit, deren Odem man hier noch so lebendig spürte, hier in dem Hof, um dessen kleine Häuser geschnitzte Holzgalerien führten.
„Verzeihung, Frau Brinken, ich verlor mich in Weitläufigeiten!“
Lorenz Hammerschlag trat beiseie, um die Damen durch den Torweg voranzulassen.
Malvine Brinken krauste die Stirn und ging neben den beiden her, als sei sie stumm.
Lorenz Hammerschlag machte noch auf das „Steinerne Haus“ aufmerksam, auf das Haus „Zu den drei Römern“ und „Zu den zwölf Himmelszeichen.“
Das Schaufenster eines Antiquars zog Annes Aufmerksamkeit auf sich. Darin stand auf den Saumfalten eines niederhängenden, nach unten weit ausgebreiteten, seidenbrüchigen Meßgewandes, ein Kelch aus dunklem Golde mit kunstvoll getriebenen Engelsköpfen, düsterrote Steine schmückten den Rand und saßen da in ihrem tiefen Rot wie erstarrte Blutstropfen.
„So einen Becher haben wir daheim“, sagte Anne und zeigte auf das goldene, stark gedunkelte Gefäß. Und wie zu sich selbst, setzte sie hinzu: „Daß es noch ein zweites derartiges Stück gibt — — —“
Aber vielleicht waren sich bei genauem Betrachten die Becher doch nicht völlig gleich. Sie neigte sich ein wenig, um genauer zu sehen. Möglich, daß es doch einen Unterschied gab zwischen diesem Becher, der hier im Schaufenster des Antiquars stand, und dem Becher, den man daheim sorgfältig in einem Schränkchen aufbewahrte und der nur herausgeholt wurde, wenn sich ein Mitglied der Familie verlobte oder Hochzeit hielt. Das Brautpaar mußte daraus trinken, das bedeutete eine glückliche, gute Ehe.
Schon ein paar hundert Jahre sollten es die Zettingens so gehalten haben, und die Ehen sollten auch alle glücklich gewesen sein.
Lorenz Hammerschlag betrachtete den Becher.
„Ein reizvolles, eigenartiges Stück, ich habe auch eine große Vorliebe für dergleichen.“
Annes Blick hing sehnsüchtig an dem goldenen Becher, und für einen Menschenkenner stand deutlich auf der reinen klaren Mädchenstirn geschrieben: Wie gerne kaufte ich den Becher!
Und das las Lorenz Hammerschlag und zugleich, daß wohl die Geldbörse solche Ankäufe verbot.
Schade, daß er es nicht wagen durfte, dem hübschen Geschöpf ein Geschenk zu machen.
Und Anne dachte wirklich, wie bedauerlich es doch sei, den Becher nicht erstehen zu können, der ein Zwillingsbruder des Bechers daheim zu sein schien. Ein und dieselbe Meisterhand mußte beide gefertigt haben. Von dem Becher daheim hieß es, ein berühmter Goldschmied, der zu Nürnberg ausgangs des sechzehnten Jahrhunderts gelebt, sei der Schöpfer. — Ach ja, nett wäre es, immer so viel Geld in der Tasche zu haben, um ohne Skrupel in einem Laden fragen zu können, was das kostete, wonach man Begehr trug, und es kaufen zu können.
Sie wandte sich fast ungestüm ab und streifte dabei ihre hinter ihr stehende Begleiterin.
„Verzeihung“, bat Anne.
Die Ältere sagte ein rasches „Bitte“, schaute auch flüchtig das Schaufenster an, doch da ihr nichts darin besonderer Aufmerksamkeit wert schien, irrten ihre Augen wieder ab.
„Anne, wir müssen uns vor der Oper noch umkleiden, auch den Tee im Hotel nehmen.“
Leichte Ungeduld gab den Worten etwas Drängendes, Hastiges.
„Auf einige Minuten kann es doch nicht ankommen.“
Anne ging ein paar Schritte neben Lorenz Hammerschlag her. Dann blieben beide wie von einem Gedanken bewegt stehen. Sie befanden sich auf dem Römerberg.
„Wenn hier gerade niemand vorübergeht, der durch die jetzige Kleidung die Illusion zerstört, so könnte man sich um einige Jahrhunderte zurückversetzt fühlen“, meinte Anne, und sie las von einem der Giebel die Jahreszahl 1562 ab. In dem vollen Sonnenglanze, der über allem wie eine weitmaschiggewobene Golddecke lag, traten die Häuser, die ringsum den Platz säumten, lebendiger hervor.
„Stolze Patrizier haben einstens neben dem Römer gewohnt“, sagte Lorenz Hammerschlag, „und man meint fast, die Fenster müßten sich öffnen und ein schönes Fräulein in Miederkleid und gebundenen Puffenärmeln herausschauen. Man meint fast, vom Wasser her, vom Main drunten müßte ein Troß reisiger Knechte den Römerberg herauflärmen, oder Kaufleute, die zur Messe heranzogen, müßten ihre Waren hier aufbauen.“
Tiefes Glockenklingen kam plötzlich über die Häuser her. Schwer und gewaltig.
„Die Domglocken“, sagte Lorenz Hammerschlag, und er sprach davon, daß er sich als Junge beim Klange der Domglocken immer ausgemalt habe, nun würde ein deutscher Kaiser gekrönt, und unter der feierlichen, melodischen Begleitung der Glocken gehe er in Purpurmantel und juwelenbesetzter Krone mit seinem Gefolge vom Dom zum Römer und alles Volk am Wege jubele laut.
Anne sah den Mann mit verstehenden Augen an.
„Unser Heim, in dem wir wohnen, hat auch schon Jahrhunderte überdauert, und die zwei Freundinnen Geschichte und Sage hocken darin auf allen Gängen.“
Er wollte fragen: Wo leben Sie? Aber er tat es doch nicht, vielleicht weil die ältere Dame gerade in diesem Augenblick ihre Stummheit aufgab.
„Anne, dort kommt ein Wagen, wir müssen ihn nehmen, wenn wir nicht auf die Oper verzichten wollen.“
Anne reichte dem Manne die schmale, in einem hellen Handschuh steckende Rechte.
„Leben Sie wohl und vielen Dank.“
„Wofür?“ wollte er fragen und kam doch nicht dazu, denn schon fuhr der Wagen, den die alte Dame herangewinkt, vor.
„Leben Sie wohl“, er drückte die kleine Hand und einem raschen Gefühle nachgebend, fügte er leise hinzu: „Auf Wiedersehen!“
Sie schüttelte leicht den feinen Kopf, und in den braunen Augen lag es wie Bedauern, aber sie sprach kein Wort, neigte nur noch einmal das Haupt wie zum Gruße, während ihre Begleiterin steif nickte.
„Ich habe die Ehre, Frau Brinken!“
Der Wagen rollte davon. Und mitten auf dem Römerberg stand Lorenz Hammerschlag und lächelte einem wunderhübschen kleinen Erlebnis nach.
Habe nie Zeit gehabt, mich bisher um Frauen zu kümmern, sann er, aber so lieb und fein war auch noch keine von denen, die ich im Leben traf, sonst wäre sie mir aufgefallen. Und dann dachte er: Zwanzig Jahre ist sie, zwanzig Jahre. Was gingen seine achtunddreißig Jahre die knospenzarten zwanzig dieses Mädchens an.
Ein leichter Jagdwagen harrte an der Station. Der Kutscher stand daneben, und die blanken Knöpfe mit der neunzackigen Krone machten vergessen, daß der dunkelblaue Rock schimmerte, als habe man ihm schon zu viel Behandlung mit Wasser und Bürste angedeihen lassen. Der Zug von Frankfurt fuhr eben ein.
Mit angezogenem Hut öffnete ein Diener ein Abteil erster Klasse und nahm aus den Händen der Frau von Brinken den Gepäckschein entgegen.
Anne stand mit zwei raschen Schritten auf dem Bahnsteig. Eine kleine Mißmutsfalte saß zwischen ihren Augenbrauen.
„Ach, Frau von Brinken, nun kehren wir wieder ins Exil zurück.“
Sie seufzte ganz laut auf.
Der Bahnvorsteher, der achtungsvoll in einiger Entfernung stand und dem Zugführer eben das Zeichen zum Weiterfahren gab, riß vor Schreck die Augen weit auf. Eine leibhaftige Komtesse seufzte so laut! Da mußte doch ein großer Kummer dahintersitzen.
Er grüßte ehrerbietig und strahlte, da ihm Anne lächelnd zunickte. Seine Haltung straffte sich, und er dachte: Gott sei Dank, sie scheint wieder vergnügt. Er schwärmte für die junge Komtesse, wie alle, die sie kannten, und keiner begriff recht, warum diese liebliche Mädchenblume nicht längst von irgendeinem vornehmen Herrn geholt worden war. War doch gewiß eines der schönsten Komteßchen, die es im deutschen Lande gab — nur arm war Komteß Anne. Doch das mochte wohl auch ihr einziger Fehler sein.
Frau von Brinken sagte halblaut:
„Sie dürfen sich nicht so gehen lassen, Komtesse, man seufzt doch nicht derartig, noch dazu, wenn jemand in der Nähe ist.“
Anne lachte.
„Aber Frau von Brinken, wenn mir so trostlos zumute ist wie eben, dann kann ich doch nicht damit warten, bis ich allein bin.“
Die Damen schritten nebeneinander dem Jagdwagen zu. „Komtesse Ilse befolgte alle meine Hinweise, und jedermann behauptet von ihr, daß sie das Muster einer vornehmen Frau werden wird“, sagte Malvine von Brinken.
„Meine Schwester Ilse ist zuweilen unausstehlich langweilig, ihre Seele läuft dann wie in einem mit Stahlstangen gepanzerten Leibchen umher.“
Frau von Brinken konnte eine leichte Gebärde des Mißmuts nicht unterdrücken. Wie sonderbar sich die Komtesse zuweilen ausdrückte. Ganz anders war sie als die ältere Schwester Ilse, die zukünftige Burggräfin von Weststetten, so gar nicht von der Auszeichnung ihrer hohen Geburt durchdrungen. — Wie sie zum Beispiel jetzt wieder in den Wagen sprang! Keine Würde, keine Würde.
Frau von Brinken folgte ergebungsvoll.
Die Damen wechselten nur ab und zu ein Wort, und in flottem Trabe ging es die breite Landstraße entlang. Rechts und links zeigte Buchenwald sein erstes sattes Grün, und die Bergkette, die sich fern am Horizont hinzog, war wie in bläulichen Nebel gehüllt. Mauern tauchten auf, und bald fuhr der Wagen durch das weit offenstehende schmiedeeiserne Gittertor ein.
Zu beiden Seiten, auf den breiten Sandsteinsäulen, saßen mächtige Löwen als Schildträger, in den erhobenen grimmen Tatzen das Wappen der Zettingen-Willerstein tragend. Im Felde zwei Lilien und einen Dolch. Darunter auf einer breiten Fläche der Wappenspruch: Fortem fortuna adjuvat. (Dem Mutigen hilft das Glück.)
„Wie dicht die Blätter der Kastanien in den paar Tagen geworden sind, seit wir abreisten“, sagte Anne, da der Wagen die Kastanienallee hinunterfuhr, die gerade auf Schloß Willerstein zuführte.
Frau von Brinken nickte.
„Wenn die Kastanien blühen, dann feiert Ilse schon Hochzeit.“
Anne wandte ungeduldig den Kopf.
„Nun, zunächst ist ja erst die Verlobung“, sagte sie kurz.
Ilse, immer wieder Ilse!
Schließlich war eben jeder, wie ihn der liebe Himmelsvater geschaffen. Ilse war das Muster einer echten Komtesse, wie sie dem Geschmack der Frau von Brinken entsprach, sie selbst aber das Gegenteil davon. Das war nun einmal so und ließ sich nicht ändern.
Ein trotziger Zug hing um den Mädchenmund, und die braunen Augensterne leuchteten tiefdunkel.
Der Wagen hielt vor der Brücke, die hinüberführte über den breiten Wassergraben, der das Schloß umgab. Weiß und hoch und schlicht war das Schloß, nur zwei kleine Türme und das massige Wappen über dem Eingang gaben ihm eine gewisse Feierlichkeit.
Anne sprang aus dem Wagen und eilte auf den breitschultrigen Herrn in einfacher Jagdjoppe zu, der eben vor dem Hause erschien.
„Grüß Gott, Papa, da sind wir wieder.“
Sie lachte den Vater an und drückte ihm kräftig die Hand. „Wir haben alle Besorgungen in Frankfurt gut erledigt und uns auch noch ein bissel vergnügt.“
Frau von Brinken war inzwischen herangekommen. Sie grüßte. „Guten Tag, Erlaucht.“
„Tag, Frau von Brinken, na, ist alles gut gegangen?“
„Gewiß, Erlaucht, gewiß, unsere Reise war sehr hübsch und angenehm.“
„Freut mich“, nickte er, und Frau von Brinken kannte den Tonfall des Grafen zu genau, um nicht zu wissen, wenn er so sprach, hieß das, sie konnte nun gehen.
Sie war froh darüber, denn sie fühlte das Bedürfnis, sich den Reisestaub abzuwaschen und ein anderes Kleid anzuziehen. Das tat sie denn auch schleunigst, um sich dann, da ein dreimaliger Gongton auflärmte, in den Speisesaal zu begeben. Man saß, wenn kein Gast zugegen war, immer zu vier Personen bei Tisch, aber obgleich es mittags, abgesehen von Feiertagen, außer Suppe nur einen Gang und nicht einmal immer Nachtisch gab, so mußten doch zwei Diener die Speisen reichen. Erlaucht wünschte das so.
„Mir schmeckt es sonst nicht“, äußerte er sich zu Anne, die gelegentlich eine Bemerkung darüber hinwarf. Ilse war wie der Vater. Großzügig mußte alles sein, in einen prächtigen Rahmen eingespannt. Wie sehr man auch dafür zur Einschränkung gezwungen war. Aber darum hatte sich niemand zu kümmern. Und dabei wußten doch die meisten, die Seine Erlaucht Ferdinand Willerstein kannten, daß er schon seit Jahren ein Stück des prächtigen Waldbestandes nach dem anderen verkaufte, weil er Geld brauchte und nicht deshalb, weil ihm die Verwaltung, wie er behauptete, zu zeitraubend und umständlich war.
Bei Tisch drehte sich die Unterhaltung um die Reise, die Anne in Begleitung von Frau von Brinken gemacht, die seit zwei Jahren als Gesellschafterin der beiden mutterlosen Komtessen im Schlosse weilte.
Man hatte Besorgungen für Ilses Verlobung erledigt, bei denen Ilses Gegenwart nicht nötig war.
„Wunderhübsch hat es mir diesmal in Frankfurt gefallen“, sagte Anne und nahm wie zur Bekräftigung ihrer Worte einen ordentlichen Schluck des leichten Tischweines. Ilse, deren Gesicht immer wie von Spott überhaucht war, fragte in ihrer langsamen Art:
„Und weshalb gerade diesmal?“
Anne wiegte den Kopf ein paarmal hin und her.
„Tja“, das kam zögernd heraus, als wollte sie ausdrücken: du verstehst mich ja doch nicht! Aber dann fuhr sie rasch fort: „Die Gassen in Altfrankfurt haben mir so prachtvoll gefallen, und der Römerberg mit all den altehrwürdigen Giebelhäusern. — Die paarmal, die ich vordem in Frankfurt war, bin ich niemals dort in die Gegend gekommen.“
Sie brach ab und dachte an einen hochgewachsenen Mann mit ernstem, stolzem Gesicht, der neben ihr hergegangen durch die alten Gassen, und in dessen Nähe ihr so eigen gewesen, als ob sie ihn schon lange, lange kenne. Und war ihm doch niemals vordem im Leben begegnet — und würde ihn, aller Voraussicht nach, auch wohl niemals wiedertreffen.
Frau von Brinken saß wie auf glühenden Kohlen, hoffentlich fing Anne nicht von dem Menschen an zu erzählen, der gar keinen Hehl daraus gemacht hatte, woher er stammte, trotzdem das doch gar nicht nötig gewesen wäre, denn angesehen hätte man es ihm wirklich nicht, so vornehm war er gekleidet.
Nein, gottlob, Anne unterschlug die Bekanntschaft, sie wußte ja schließlich auch, wie peinlich Erlaucht in solchen Dingen war.
Die Zettingen-Willersteins waren früher reichsunmittelbar gewesen und gehörten jetzt zu den mediatisierten Geschlechtern. Da galt es tausend Rücksichten zu nehmen, man durfte nicht tun, was Hinz und Kunz tun durften. Malvine von Brinken war so stolz auf die gräfliche Familie, als gehöre sie durch Bande des Blutes dazu.
„Wird Frau Rank mein Kleid rechtzeitig zur Verlobung senden?“ fragte Ilse.
„Ja“, antwortete Anne, „und auch alle die anderen Dinge werden pünktlich eintreffen, es ist alles in bester Ordnung, doch werde ich dir nach Tisch ausführlichen Bericht erstattten, jetzt möchte ich Papa nicht damit langweilen.“
„Bist sehr vernünftig, Mädelchen“, lachte der Graf, „hab‘ sowieso schon zu oft von Ilse hören müssen, wie geschmackvoll das Muster des Kleides sei, und daß die Rank in Frankfurt, als sie das letztemal zum Anpassen dort war, gesagt habe, nur Damen mit so schimmerndem kupferfarbenem Haar dürften mattes Grün tragen.“
Sein Lachen hatte etwas Dröhnendes, Urwüchsiges, und derb wie sein lautes Sprechen und Lachen wirkte auch das Äußere des Grafen. Sein Gesicht von gutem Schnitt war stark gerötet vom vielen Aufenthalt in frischer Luft. Fast ständig befand sich der Graf unterwegs, gleichviel ob zu Fuß oder zu Pferde. Im Aussehen stellte er so recht den Typus eines vornehmen Landjunkers dar und kümmerte sich doch dabei schon seit Jahren nicht mehr um den Gutshof, den er verpachtet hatte.
Er war niemals damit zurechtgekommen. Die rassigen Hände von Großvater und Vater hatten niemals das Geheimnis des Geldfesthaltens ergründet, und er quälte sich deshalb erst gar nicht damit ab, es zu lösen, denn was den Vätern nicht gelang, würde auch ihm nicht gelingen.
„Ich habe die Bestellungen für die Wirtschaft bei Peschler und Hermann in Frankfurt aufgegeben, Erlaucht“, begann Frau von Brinken, doch eine ungeduldige Geste des Grafen wehrte ihr, weiterzusprechen.
„Erzählen Sie das der Wirtschafterin, liebste Brinken. Daß ich den Kaviar und alle die anderen Delikatessen, die bei Ilses Verlobung gegessen werden, bezahlen muß, genügt mir vorläufig zum Glück!“
Malvine Brinken sagte mit dem liebenswürdigsten Lächeln, dessen sie fähig war:
„Wie Erlaucht wünschen.“
Bei sich aber dachte sie: Wenn Seine Erlaucht nur nicht diesen auf die Nerven fallenden lauten Ton hätte, das konnte einem zuweilen die sonst so angenehme Stellung vergällen, ebenso wie Annes Wesen.
Am Nachmittag hockte Anne in einem Kahn und ruderte sich auf dem alten breiten Graben herum, der das Schloß wie ein kleiner See umgab.
Frau von Brinken stand, von einem Gang durch den Park zurückkehrend, droben auf der Brücke und rief.
Anne hatte sich in ihre Gedanken eingesponnen wie eine Spinne in ihrem eigenen Gewebe, sie hörte nicht.
Die Dame rief lauter.
Rief zweimal, dreimal, da schaute das Mädchen endlich auf.
„Komtesse, ich möchte gern etwas mit Ihnen wegen der Tischordnung bei der Verlobung besprechen, mit Komtesse Ilse ist nicht viel anzufangen.“
Anne nickte eifrig.
„Glaube ich gern, Frau von Brinken.“ Sie steuerte den Kahn ans Ufer und hüpfte mit einem Vorwärtsschnellen des geschmeidigen Körpers ans Land, um gleich darauf neben der Gesellschaftsdame zu stehen.
„Ich bin überzeugt, Frau von Brinken, die Zeit vor Verlobung und Hochzeit ist wie eine Krankheit. Ilse hat entschieden den Brautrappel, denn für andere Menschen, als den Christian Weststetten, den sie sich erkoren, ist sie ungenießbar wie saurer Schlagrahm!“
Frau von Brinken zuckte zusammen. Schrecklich, wie Anne sich ausdrückte — sie konnte es einfach nicht lassen.
„Jede glückliche Frau ist ein wenig verträumt“, entgegnete sie, um weiteren drastischen Vergleichen vorzubeugen, „und andere, die nicht Braut sind, träumen ja auch“, redete sie in leichtem Plauderton weiter, „denn ich kenne ein Komteßchen, das mußte ich vorhin erst wieder und wieder rufen, um es aus dem Phantasieland zur Wirklichkeit zurückzuführen.“
„Stimmt, Tante Brinken, stimmt, und nun raten Sie mal, wo ich mit meinen Gedanken herumgestrolcht bin?“
‚Tante Brinken‘ pflegte Anne ihre Gesellschafterin nur in sehr guter Laune zu nennen, aber die Dame hörte es gern, wenn das Töchterchen der Erlaucht es tat. „Oh, von was träumen junge Mädchen, schwer zu erraten ist das wohl nicht? Vom Zukünftigen natürlich, wie er aussieht und ähnliches.“
Wie eine Flamme lohte es über das feine Gesichtchen der Komtesse, und die Antwort klang gequält.
„Falsch geraten, ganz falsch. Ich dachte an Frankfurt und an den Herrn, der uns ein kurzes Wegstück durch die alten Gassen begleitete, ich sann darüber nach, was er wohl sein mag.“
Malvine von Brinken riß die Augen auf. Hatte Anne den unangenehmen Menschen noch nicht vergessen, der sie kurzweg ‚Frau Brinken‘ genannt und getan hatte, als gäbe es den Titel ‚Gnädige Frau‘ überhaupt nicht? Gut, daß man so gar nichts von ihm wußte, daß er wieder so untergetaucht, wie er plötzlich erschienen war, denn Annes Aufmerksamkeit für den Menschen war ihr sofort unangenehm aufgefallen. Die Welt war riesengroß, und der Weg der Komtesse und dieses Fremden kreuzte sich sicher nicht mehr. Aber sie ärgerte sich über Anne, und sie konnte sich die heimtückische Freude, eine kleine Bosheit auszuspielen, nicht versagen.
„Vielleicht ist der Herr Schneidermeister, denn er war wirklich tadellos gekleidet“, sagte sie leichthin.
In Annes Augen blitzte hellste Empörung.
„Nun, Frau von Brinken, ich achte und ehre jeden Menschen, der auf anständige Weise seinen Lebensunterhalt verdient, aber daß Lorenz Hammerschlag etwas anderes ist, als Sie eben meinten, das steht fest.“
Ihre kleinen Hände bewegten sich heftig hin und her.
„Er ist etwas Besonderes, ist ein Herr über viele.“ Ihre Stimme ward warm. „Ein Baumeister könnte er wohl sein oder ein mächtiger Fabrikherr — oder ein Grubenbesitzer.“
Sie lachte kurz auf.
„Aber schließlich ist es doch gleich, was er ist, ich sehe ihn ja doch nicht wieder.“
Weshalb zitterte die junge Stimme nur plötzlich, weshalb legte es sich wie ein feuchter Schleier über die braunen Mädchenaugen?
Malvine von Brinken erschrak. Herrgott, stand es so? Aber wie konnte denn das nur so rasch geschehen?
Armes Ding, dachte sie mitleidig, und ein warmes Wort wollte ihr über die Lippen springen, doch ehe sie noch eine Unüberlegtheit zu beklagen hatte, lachte Anne abermals und sagte im oberflächlichsten Tonfall:
„Wenn ich mich mal verliebte, tue ich es nicht unter einem Manne, der mir eine geschlossene Krone bringt.“
„Das sind gesunde Ansichten, Komtesse“, lobte Frau von Brinken, und dann gingen sie ins Haus und besprachen die Tischordnung für das Verlobungsmahl der Komtesse Ilse.
*
Ilses Verlobungstag war herangekommen. Vom frühen Morgen an herrschte reges Leben auf Schloß Willerstein. Es waren viele Einladungen ergangen, und die Pferde vom Lindenwirt und vom Kreuzbauern aus dem nahen Dorfe waren eingespannt worden, um die verschiedenen Herrschaften von der Bahn abzuholen.
Die Söhne der Pferdebesitzer saßen in stocksteifer Haltung auf dem Bock, sie fühlten sich zwar sehr würdig in den blauen Röcken mit der neunzackigen Krone auf den Knöpfen, aber auch etwas unbehaglich. Der Kreuzbauern-Schorsch erklärte einem ihn bewundernden Dorffreund im Vertrauen: Mistfahren sei viel gemütlicher.
Auch zur Bedienung im Schlosse waren ein paar junge Leute aus dem Dorfe geborgt, und Frau von Brinken hatte es übernommen, sie ‚auszubilden‘. Leicht war das nicht gewesen, und ob der Erfolg die Mühe aufwog, schien ihr äußerst zweifelhaft, aber Erlaucht hatte es gewünscht.
Die Gäste fuhren an. Als erster, Burggraf Christian von Weststetten, der Bräutigam. Er bewirtschaftete das große Rittergut Guldenhof, eine Bahnstunde von hier entfernt. Er kam mit den Eltern, die sich seit Jahresfrist gar nicht mehr um das Gut kümmerten und es vollständig dem Sohn übergeben hatten. Sie sahen sehr vornehm aus, ebenso die Tochter, die in einer entfernten kleinen Residenz Hofdame und Vertraute der jungen Fürstin war.
Christian von Weststetten trug ein Monokel, sein Gesicht war schmal und klug, die hochgesattelte große Nase verschönte es nicht gerade, gab ihm eher das Gepräge einer interessanten Häßlichkeit. Rassig und gepflegt und vornehm von dem schnurgeraden braunen Scheitel bis zu den tadellosen Stiefeln sah er aus. Er paßte in seinem ganzen Wesen ausgezeichnet zu Ilse.
Bei der Begrüßung rief Anne dem Brautpaare zu:
„Nun gebt euch aber an solch hohem Tage einen ordentlichen, schallenden Kuß, sowas macht gleich Stimmung!“
Ilse warf ihr einen empörten Blick zu, und Frau von Brinken seufzte. Wann würde Anne es lernen, ihre spontanen Gedanken für sich zu behalten?