Der Graf von Monte Christo - Alexandre Dumas - E-Book

Der Graf von Monte Christo E-Book

Dumas Alexandre

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Beschreibung

Diese Version mit 32 Graphiken ist eine überarbeite und mit Fußnoten versehene Fassung speziell für Elektronische Lesegeräte. Wegen einer Intrige 14 Jahre eingekerkert erhält Dantes von einem Mithäftling Kenntnis über einem verwaisten Schatz. Nach der Flucht nutzt er das Vermögen, um sich in der neuen Identität des geheimnisvollen Graf von Monte Christo an seinen Feinden zu rächen. Die Geschichte des jungen Edmond Dantes ist ein Klassiker der Weltliteratur und bietet mit seinem Sujet noch heute vielfach die Vorlage für Filme und Adaptionen. Zwischen 1844 und 1846 veröffentlichte Dumas den Graf von Monte Christo als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Le Journal des debats und erzielte damit ungeahnten Erfolg. Noch bevor der Roman fertiggestellt war, erschienen bereits die ersten Nachdrucke. Die Geschichte spielt in der Zeit nach der Französischen Revolution in den Jahren 1814 bis 1838. Napoleons Stern ist untergegangen, und die Restauration unter den Königen Ludwig XVIII. und Karl X. hat stattgefunden. Dann folgt die Julirevolution von 1830, in der der »Bürgerkönig« Louis-Philippe auf den Thron kommt. In den Wirren dieser Politik kann über Nacht aus dem Freund ein Feind werden, Vermögen vernichtet und ein Menschenleben plötzlich nur noch wenig Wert haben. Erleben Sie in geschliffene Dialoge den Vollzug einer perfiden Rache, die unter den Augen des Lesers langsam und unerbittlich ihr tödliches Netz über die Verräter auswirft. Werden Sie Zeuge, wie sich ein Mann in seinem Hass verliert. Der Graf von Monte Christo ist die zeitlose Geschichte von Verrat, Liebe und Rache. Null Papier Verlag

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Alexandre Dumas

Der Graf von Monte Christo

Illustrierte Fassung

Alexandre Dumas

Der Graf von Monte Christo

Illustrierte Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 3. Auflage, ISBN 978-3-954180-68-4

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Au­tor

1. Mar­seil­le -- Die An­kunft

2. Va­ter und Sohn

3. Die Ka­ta­la­nen

4. Kom­plott

5. Das Ver­lo­bungs­mahl

6. Der Sub­sti­tut des kö­nig­li­chen Pro­ku­ra­tors

7. Das Ver­hör

8. Vil­le­fort

9. Die hun­dert Tage

10. Num­mer 34 und Num­mer 27

11. Der Schatz

12. Der Got­tesa­cker von Schloß If

13. Die In­sel Ti­bou­len

14. Die Ent­de­ckung des Schat­zes

15. Der Un­be­kann­te

16. Die Er­zäh­lung

17. Die Ge­fäng­nis­lis­ten

18. Das Haus Mor­rel

19. Der fünf­te Sep­tem­ber

20. Ita­li­en -- Sind­bad der See­fah­rer

23. Rö­mi­sche Ban­di­ten

22. Rö­mi­scher Kar­ne­val

23. Die Ka­ta­kom­ben von San Se­bas­ti­an

24. Herr Ber­tuc­cio

25. Der un­be­schränk­te Kre­dit

26. Die jun­ge Grie­chin

27. Eine Lek­ti­on über Gif­te

28. Der Ma­jor Ca­val­can­ti

29. Herr Noir­tier von Vil­le­fort

30. Ge­s­pens­ter

31. Das Di­ner

32. Das Ka­bi­nett des Pro­ku­ra­tor

33. Frau von Saint-Méran

34. Ein dop­pel­tes Be­gäng­nis

35. Die Li­mo­na­de

36. Der Ein­bruch

37. Das Ur­teil

38. Die Her­aus­for­de­rung

39. Der Selbst­mord

40. Das Ge­ständ­nis

41. Va­len­ti­ne

42. Danglar­s’ Un­ter­schrift

43. Der Rich­ter

44. Die Spei­se­kar­te Lu­i­gi Vam­pas

45. Har­ren und Hof­fen

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Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Autor

ALEXANDRE DUMAS

We­gen ei­ner Int­ri­ge 14 Jah­re ein­ge­ker­kert er­hält Dan­tes von ei­nem Mithäft­ling Kennt­nis über ei­nem ver­wais­ten Schatz. Nach der Flucht nutzt er das Ver­mö­gen, um sich in der neu­en Iden­ti­tät des ge­heim­nis­vol­len Graf von Mon­te Chri­sto an sei­nen Fein­den zu rä­chen.

Die Ge­schich­te des jun­gen Ed­mond Dan­tes ist ein Klas­si­ker der Welt­li­te­ra­tur und bie­tet mit sei­nem Su­jet noch heu­te viel­fach die Vor­la­ge für Fil­me und Ad­ap­tio­nen.

Zwi­schen 1844 und 1846 ver­öf­fent­lich­te Du­mas den Graf von Mon­te Chri­sto als Fort­set­zungs­ro­man in der Zeit­schrift Le Jour­nal des de­bats und er­ziel­te da­mit un­ge­ahn­ten Er­folg. Noch be­vor der Ro­man fer­tig­ge­stellt war, er­schie­nen be­reits die ers­ten Nach­dru­cke.

Die Ge­schich­te spielt in der Zeit nach der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on in den Jah­ren 1814 bis 1838. Na­po­le­ons Stern ist un­ter­ge­gan­gen, und die Re­stau­ra­ti­on un­ter den Kö­ni­gen Lud­wig XVIII. und Karl X. hat statt­ge­fun­den. Dann folgt die Ju­li­re­vo­lu­ti­on von 1830, in der der »Bür­ger­kö­nig« Louis-Phil­ip­pe auf den Thron kommt. In den Wir­ren die­ser Po­li­tik kann über Nacht aus dem Freund ein Feind wer­den, Ver­mö­gen ver­nich­tet und ein Men­schen­le­ben plötz­lich nur noch we­nig Wert ha­ben.

Er­le­ben Sie in ge­schlif­fe­ne Dia­lo­ge den Voll­zug ei­ner per­fi­den Ra­che, die un­ter den Au­gen des Le­sers lang­sam und un­er­bitt­lich ihr töd­li­ches Netz über die Ver­rä­ter aus­wirft. Wer­den Sie Zeu­ge, wie sich ein Mann in sei­nem Hass ver­liert.

Der Graf von Mon­te Chri­sto ist die zeit­lo­se Ge­schich­te von Ver­rat, Lie­be und Ra­che.

Die­se Ver­si­on mit 32 Gra­phi­ken ist eine über­ar­bei­te und mit Fuß­no­ten ver­se­he­ne Fas­sung.

1. Marseille -- Die Ankunft

Am 28. Fe­bru­ar 1815 gab die Ha­fen­wa­che von Notre-Dame das Si­gnal vom Her­an­se­geln des Drei­mas­ters »Pha­raon«, der von Smyr­na, Triest und Nea­pel kam. Ein Küs­ten­pi­lot steu­er­te al­so­gleich aus dem Ha­fen und er­reich­te das Fahr­zeug zwi­schen dem Kap Mor­gi­on und der In­sel Rion. Auch hat­te sich, wie sonst im­mer, die Platt­form des Kas­tells Saint-Jean mit Neu­gie­ri­gen ge­füllt; denn in Mar­seil­le ist die Lan­dung ei­nes Schif­fes stets von großer Wich­tig­keit, zu­mal wenn es ei­nem Ree­der die­ser Stadt ge­hört. Schwer und lang­sam rück­te der Ko­loß nä­her und nä­her her­an, daß es die Zuschau­en­den wie mit un­heil­ver­kün­den­der Ah­nung pack­te.

Al­ler Auf­merk­sam­keit war ei­nem jun­gen Man­ne zu­ge­wandt, der, ne­ben dem Steu­er­mann ste­hend, jede Schwen­kung des Schiffs mit of­fen­ba­rer Sach­kennt­nis ver­folg­te. Er war groß und schlank und hat­te kohl­schwar­ze Haa­re und Au­gen. Sein gan­zes We­sen äu­ßer­te jene ru­hi­ge Si­cher­heit, wie sie Men­schen ei­gen ist, de­nen das Le­ben von Kind­heit an Kampf be­deu­te­te.

Ei­ner un­ter der har­ren­den Men­ge ver­moch­te sei­ne Un­ru­he nicht län­ger zu meis­tern. Er sprang in eine Bar­ke und ließ sich zum »Pha­raon« hin­ru­dern. Als der jun­ge See­fah­rer das Boot her­an­kom­men sah, lehn­te er sich grü­ßend über die Brüs­tung des Schif­fes, den Hut in der Hand.

»Ah, Sie sin­d’s, Dan­tes!« rief der Mann in der Bar­ke. »Was ist ge­sche­hen?«

»Ein großes Un­glück, Mr. Mor­rel«, ent­geg­ne­te der jun­ge Mann. »Wir ha­ben auf der höhe von Ci­vi­ta-Ve­chia den wa­cke­ren Ka­pi­tän Le­clerc ver­lo­ren.«

»Und die La­dung?« frag­te der Ree­der leb­haft.

»Sie kommt glück­lich in den Ha­fen, Mr. Mor­rel. Ich glau­be, Sie wer­den zu­frie­den sein. Aber der arme Ka­pi­tän Le­clerc...«

»Was ist ihm denn ge­sche­hen?« frag­te der Ree­der.

»Er starb an ei­ner Ge­hir­n­ent­zün­dung un­ter schreck­li­chen Lei­den.« Dann wand­te sich Dan­tes ge­gen sei­ne Leu­te und rief: »Hol­la he! Je­der gehe zum An­kern an sei­nen Pos­ten.« Die Schiffs­mann­schaft ge­horch­te.

»Das ist ja trau­rig«, ver­setz­te der Ree­der; »aber wir alle sind sterb­lich, und es ist nun mal so, daß die Al­ten den Jun­gen Platz ma­chen. In dem Au­gen­blick, wo Sie mir ver­si­chern, daß die Schiffs­la­dung...«

»Ist in gu­tem Zu­stand, Herr Mor­rel, da­für bür­ge ich. Wenn Sie jetzt hin­auf­stei­gen wol­len, Herr Mor­rel«, sag­te Dan­tes, der die Un­ru­he des Ree­ders be­merk­te, »da ist Ihr Rech­nungs­füh­rer, Herr Danglars, der wird Ih­nen Aus­kunft ge­ben; was mich be­trifft, so muß ich das An­kern über­wa­chen und das Schiff in Trau­er ver­set­zen.« Der Ree­der ließ es sich nicht zwei­mal sa­gen; er faß­te das Ka­bel­tau, das ihm Dan­tes zu­warf, und klet­ter­te mit ei­ner Ge­wandt­heit, die ei­nem See­man­ne Ehre ge­macht hät­te, an den Spros­sen em­por, die an die Schiffs­wand ge­na­gelt wa­ren.

Herr Danglars war ein Mann von fünf- bis sechs­und­zwan­zig Jah­ren, hat­te ein fins­te­res Aus­se­hen und war un­ter­wür­fig ge­gen sei­ne Vor­ge­setz­ten, aber un­wirsch wi­der sei­ne Un­ter­ge­be­nen, und au­ßer­dem, daß sein Ti­tel »Rech­nungs­füh­rer« an sich schon einen üb­len Klang für die Ma­tro­sen hat­te, be­trach­te­te ihn die Mann­schaft mit ei­nem eben­so bö­sen Auge, wie sie mit Lie­be auf Ed­mond Dan­tes blick­te.

»Ja, ja! Der arme Ler­lerc, er war ein bra­ver, eh­ren­haf­ter Mann und ein aus­ge­zeich­ne­ter See­mann, er­graut zwi­schen Him­mel und Was­ser, wie es sich für einen Mann schickt, dem die In­ter­es­sen ei­nes Hau­ses wie Mor­rel & Sohn an­ver­traut wer­den«, sag­te Danglars.

»Nun«, mein­te der Ree­der, »es ist doch nicht nö­tig, ein al­ter See­mann zu sein, um sein Ge­schäft zu ver­stehn. Se­hen Sie un­sern Freund Ed­mond, der be­sorgt sein Amt, wie mir scheint, als ein Mann, der nie­mand um Rat zu fra­gen braucht.«

»Ja«, ver­setz­te Danglars, einen schee­len Blick des Has­ses auf Dan­tes wer­fend, »ja, er ist jung und fürch­tet noch nichts. Kaum war der Ka­pi­tän tot, über­nahm er das Kom­man­do, ohne je­man­den zu kon­sul­tie­ren, und ließ uns einen und einen hal­b­en Tag auf der In­sel Elba ver­lie­ren, statt di­rekt nach Mar­seil­le zu­rück­zu­keh­ren.«

»Was die Über­nah­me des Schiffs­kom­man­dos be­trifft«, sag­te der Ree­der, »so war es als Vi­ze­ka­pi­tän sei­ne Pf­licht; was aber den Ver­lust von an­dert­halb Ta­gen auf der In­sel Elba an­be­langt, so tat er un­recht dar­an.«

»Kom­men Sie doch schnell mal her, Dan­tes!« rief der Ree­der.

»Was steht zu Diens­ten?« frag­te Dan­tes und trat rasch hin­zu.

»Ich woll­te Sie fra­gen, warum Sie bei der In­sel Elba an­ge­hal­ten ha­ben?«

»Es ge­sch­ah auf die letz­te Bit­te des Ka­pi­täns Le­clerc, der mir ster­bend ein Pa­ket für den Groß­mar­schall Ber­trand über­ge­ben hat.«

»Ha­ben Sie ihn ge­se­hen, Ed­mond?«

»Wen?«

»Den Groß­mar­schall.«

»Ja.«

Mor­rel blick­te um sich und zog Dan­tes bei­sei­te. »Und wie be­fin­det sich der Kai­ser?« frag­te er leb­haft.

»Gut, so­viel ich von fer­ne sei­nem Aus­se­hen nach schlie­ßen konn­te.«

»Sie ha­ben recht ge­han­delt, lie­ber Dan­tes, ob­gleich es Sie in Ge­fahr brin­gen kann.«

»Wie! Mich in Ge­fahr brin­gen? Ich weiß ja nicht ein­mal, was ich über­brach­te«, rief der jun­ge Mann. Da er aber die Zoll­be­hör­de an­kom­men sah, bat er, sich ent­fer­nen zu dür­fen.

So­gleich trat Danglars zu dem Schiffs­ree­der: »Nun, er hat wohl trif­ti­ge Grün­de für sein Ver­hal­ten ge­habt, wenn ich fra­gen darf?«

»Durchaus, mein lie­ber Danglars.«

»Und der Brief, den er mit dem Pa­ket emp­fan­gen...?«

»Was mei­nen Sie für ein Pa­ket, Danglars?«

»Das, was Dan­tes in Por­to-Fer­ra­jo ab­ge­ge­ben hat.«

»Wie wis­sen Sie, daß er in Por­to-Fer­ra­jo ein Pa­ket ab­ge­ge­ben hat?«

Danglars er­rö­te­te. »Ich ging an der halb of­fe­nen Tür des Ka­pi­täns vor­über und sah, wie er das Pa­ket und den Brief Dan­tes übergab.«

»Er hat mir nichts da­von ge­sagt«, ver­setz­te der Ree­der, »aber was den Brief be­trifft, so wird er ihn mir ge­wiß ein­hän­di­gen.«

Danglars dach­te einen Au­gen­blick nach: »Ich möch­te nichts ge­sagt ha­ben, Herr Mor­rel; ich kann mich ja auch ir­ren.«

In die­sem Au­gen­blick kehr­te der jun­ge Mann zu­rück; Danglars ent­fern­te sich.

»Sind Sie jetzt frei, lie­ber Dan­tes?« frag­te der Ree­der.

»Ja­wohl, Herr Mor­rel.«

»Da wäre es mir lieb, wenn Sie bei mir zu Mit­tag speis­ten.«

»Oh, ver­zei­hen Sie gü­tigst, Herr Mor­rel -- aber mein Va­ter...«

»Ja, rich­tig, Dan­tes! Ich weiß, Sie sind ein gu­ter Sohn.«

»Wis­sen Sie viel­leicht«, frag­te Dan­tes sto­ckend, »wie’s ihm er­ge­hen mag?«

»Ich glau­be, gut, lie­ber Ed­mond. Hab’ ihn nie zu Ge­sicht be­kom­men.«

»Hm, er hält sich in sei­nem klei­nen Zim­mer ver­schlos­sen.«

»Das be­weist we­nigs­tens, daß es ihm in Ih­rer Ab­we­sen­heit an nichts fehl­te.«

Dan­tes lä­chel­te. »Mein Va­ter ist stolz, mein Herr, und wenn es ihm auch an al­lem ge­fehlt hät­te, so zweifle ich, daß er ir­gend je­mand in der Welt, Gott aus­ge­nom­men, um et­was ge­be­ten hät­te.«

»Nun also: nach die­sem ers­ten Be­such dür­fen wir auf Sie zäh­len.«

Dan­tes wur­de rot. »Nach die­sem ers­ten Be­such liegt mir ein zwei­ter nicht we­ni­ger am Her­zen...«

»Ach, daß ich’s ver­ges­sen konn­te! Die schö­ne Mer­ce­des... Da will ich Sie nicht auf­hal­ten, mein lie­ber Ed­mond. Üb­ri­gens: brau­chen Sie Geld?«

»Bes­ten Dank, mein Herr! Ich habe noch mein gan­zes Rei­se­ge­halt, das heißt den Sold von bei­na­he drei Mo­na­ten.«

»Ed­mond, Sie sind ein tüch­ti­ger Kerl.«

»Be­den­ken Sie, Herr Mor­rel, daß ich einen ar­men Va­ter habe.«

»Ja, ja, ich weiß, daß Sie ein gu­ter Sohn sind. Ge­hen Sie also zu Ihrem Va­ter.«

»Sie er­lau­ben also?« sag­te der jun­ge Mann, in­dem er sich ver­neig­te.

»Ja, wenn Sie mir nichts wei­ter zu sa­gen ha­ben?«

»Nein.«

»Hat Ih­nen der Ka­pi­tän Le­clerc auf sei­nem Ster­be­la­ger nicht einen Brief an mich ge­ge­ben?«

»Es war ihm un­mög­lich, zu schrei­ben, mein Herr; doch dies er­in­nert mich, daß ich Sie um ei­ni­ge Tage Ur­laub bit­ten möch­te.«

»Um sich zu ver­hei­ra­ten?«

»Das fürs ers­te -- und dann, um nach Pa­ris zu rei­sen.«

»Gut, gut, Dan­tes! Neh­men Sie sich so viel Zeit, wie Sie wol­len. Wir brau­chen wohl sechs Wo­chen, um das Schiff aus­zu­la­den, und wer­den vor drei Mon­den nicht wie­der in See ge­hen. Sie müs­sen also in drei Mo­na­ten wie­der hier sein. Der ›Pha­raon‹«, fuhr der Ree­der fort und klopf­te auf die Schul­ter des jun­gen See­man­nes, »könn­te nicht ab­se­geln ohne sei­nen Ka­pi­tän.«

»Ohne sei­nen Ka­pi­tän?« wie­der­hol­te Dan­tes mit freu­de­fun­keln­den Au­gen. »O Herr! Ver­steh’ ich Sie recht?«

»Auf Wie­der­se­hen, lie­ber Dan­tes«, sag­te Herr Mor­rel, faß­te den jun­gen Mann bei den Schul­tern und dräng­te ihn zur Eile.

»Oh, Herr Mor­rel!« rief der jun­ge See­mann mit Trä­nen im Auge, die Hän­de des Ree­ders er­grei­fend. »Ich dan­ke Ih­nen in mei­nes Va­ters und in Mer­ce­des’ Na­men.«

2. Vater und Sohn

Die Nach­richt von der An­kunft des »Pha­raon« war noch nicht bis zum al­ten Dan­tes ge­drun­gen, der auf ei­nem Stuhl saß und eben be­schäf­tigt war, ei­ni­ge Ka­pu­zi­ner­blu­men und Win­den, die sich am Fens­ter­git­ter em­por­rank­ten, mit zit­tern­der Hand an Stä­ben zu be­fes­ti­gen. Auf ein­mal fühl­te er sich von ei­nem Arm um­schlun­gen und hör­te eine wohl­be­kann­te Stim­me: »Va­ter, mein gu­ter Va­ter!« Der Alte stieß einen Schrei aus und wand­te sich; als er dann sei­nen Sohn sah, sank er zit­ternd und bleich in des­sen Arme.

»Was ist dir denn, Va­ter?« rief der jun­ge Mann. »Du bist doch nicht krank?«

»Nein, nein, mein lie­ber Ed­mond, mein Sohn, mein Kind! Nein; aber ich habe dich nicht er­war­tet, die Freu­de, die Über­ra­schung, dich so un­ver­mu­tet zu se­hen! Ach Gott... ich glau­be zu ster­ben!« Dem Grei­se schwan­den die Kräf­te, und er sank zu­rück.

»Schnell ein Glas Wein, mein Va­ter, das wird dich er­fri­schen«, sag­te der Jüng­ling. Er öff­ne­te zwei oder drei Schrän­ke.

»Du suchst um­sonst, mein Sohn.«

»Wie? Kein Wein mehr da?« rief Dan­tes er­schreckt und blick­te bald auf die ein­ge­fal­le­nen Wan­gen des Grei­ses, bald auf die lee­ren Schrän­ke. »Hat es dir an Geld ge­man­gelt, Va­ter?«

»Es man­gelt mir an nichts, da du bei mir bist«, sag­te der Greis.

»Ja, ich bin hier«, sag­te der jun­ge Mann, »ich bin hier mit ei­ner gu­ten Aus­sicht und ein biß­chen Geld; da sieh, Va­ter! Nimm, und laß so­gleich et­was ho­len.« Er leer­te auf dem Tisch sei­ne Ta­schen aus, die ein Dut­zend Gold­stücke, fünf oder sechs Fünf­frank­stücke und et­was Klein­geld ent­hiel­ten. Das An­ge­sicht des Grei­ses er­hei­ter­te sich. »Wem ge­hört das?« sag­te er.

»Mir, dir, uns -- nimm, kauf’ ein; mor­gen gibt es mehr. Vor al­lem aber nimm eine Magd, Va­ter! Ich will nicht, daß du län­ger al­lein bleibst. Ich habe Kaf­fee und vor­treff­li­chen Ta­bak. Mor­gen sollst du al­les ha­ben. Doch still, es kommt je­mand.«

»Das ist Ca­de­rous­se, der dei­ne An­kunft er­fah­ren ha­ben wird, und der ge­wiß kommt, um dir zu dei­ner Heim­kehr Glück zu wün­schen.«

»Das sind aber­mals Lip­pen, die man­ches sa­gen, was das Herz nicht denkt«, mur­mel­te Ed­mond; »doch es ist ein Nach­bar, der uns einst Diens­te ge­leis­tet hat, dar­um sei er will­kom­men.«

Ca­de­rous­se trat ein. Er war ein Mann von fünf- bis sechs­und­zwan­zig Jah­ren. »Nun, wie­der zu­rück, Ed­mond?«

»Wie Sie se­hen, Nach­bar Ca­de­rous­se. Wo­mit kann ich Ih­nen die­nen?«

»Dan­ke bes­tens; ich habe nichts von­nö­ten.« Da­bei streif­ten sei­ne lüs­ter­nen Bli­cke das auf dem Tisch lie­gen­de Geld. Ed­mond mach­te eine un­ge­dul­di­ge Be­we­gung. »Va­ter, da ich dich nun ge­se­hen habe, er­laubst du mir wohl, den Ka­ta­la­nern einen Be­such zu ma­chen.«

»Geh, mein lie­ber Sohn. Gott seg­ne dich. Grüß’ mir dei­ne Mer­ce­des.«

Ed­mond um­arm­te sei­nen Va­ter, ver­ab­schie­de­te sich von Ca­de­rous­se mit ei­nem Kopf­ni­cken und ging fort. Ca­de­rous­se blieb noch ein Weil­chen, dann such­te er Danglars wie­der auf, der an der Stra­ßen­e­cke auf ihn war­te­te.

»Nun«, rief ihm Danglars zu, »hast du ihn ge­se­hen?«

»Ich kom­me so­eben von ihm«, ant­wor­te­te Ca­de­rous­se. »Der spielt jetzt den großen Herrn.«

»Und die Ka­ta­la­ne­rin?«

»Er ging so­eben zu ihr.« Ca­de­rous­se lach­te. »Hof­fent­lich er­lebt er kei­ne Ent­täu­schun­gen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe Mer­ce­des oft in Beglei­tung ei­nes großen, statt­li­chen, sehr tem­pe­ra­ment­vol­len Ka­ta­la­ners an­ge­trof­fen, den sie ›Vet­ter‹ zu nen­nen pflegt.«

»Hm... und Dan­tes ist jetzt zu Mer­ce­des ge­gan­gen...«

»Weißt du, wir set­zen uns bei­de zu Va­ter Pam­phi­le und trin­ken ein paar Glä­ser Wein. Du aber be­zahlst.«

»Frei­lich!« ant­wor­te­te Danglars. »Dan­tes muß an uns vor­bei; da kann man viel­leicht was er­le­ben.«

3. Die Katalanen

Hun­dert Schrit­te von den bei­den Kum­pa­nen ent­fernt, die da wein­trin­kend auf der Lau­er sa­ßen, er­hob sich auf nack­tem, sonn­ver­brann­tem Fel­sen das selt­sa­me und pit­to­res­ke Dorf der Ka­ta­la­ner. Ein jun­ges Mäd­chen von sel­te­ner Schön­heit, mit Au­gen und Haa­ren dun­kel wie Achat, steht ei­nem schlan­ken Mann ge­gen­über, der nicht in all­zu ro­si­ger Stim­mung zu sein scheint.

»Se­hen Sie, Mer­ce­des«, sagt er, »Os­tern kommt. Wär’s nicht die bes­te Ge­le­gen­heit, Hoch­zeit zu ma­chen?«

»Sie fra­gen mich im­mer wie­der das­sel­be, Fer­nand, trotz­dem ich...« sag­te das Mäd­chen.

»Ja­wohl, Sie ha­ben eine sehr schö­ne Of­fen­heit mir ge­gen­über an den Tag ge­legt, Gott sei’s ge­klagt.«

»Und ich sage Ih­nen nun zum letz­ten Male: Nie­mand an­ders als Ed­mond Dan­tes wird mein Gat­te«, rief das Mäd­chen hef­tig.

Der jun­ge Mann ball­te die Fäus­te. »Wenn er nun tot ist, Mer­ce­des?«

»Dann st­er­be ich auch.«

»Und wenn er Sie ver­gißt?«

»Mer­ce­des!« rief eine fro­he Stim­me au­ßer­halb der Hüt­te. »Mer­ce­des!«

»Ah!« rief das Mäd­chen, vor Freu­de er­glü­hend. »Er hat mich nicht ver­ges­sen; er ist da!«

Sie stürz­te zur Tür: »Ed­mond! Ed­mond! Hier bin ich!« Fer­nand wich erb­las­send zu­rück. Ed­mond und Mer­ce­des la­gen ein­an­der in den Ar­men. Die gan­ze Welt ver­sank für sie. Auf ein­mal ge­wahr­te Ed­mond die fins­te­re Ge­stalt Fer­n­ands, die bleich und be­droh­lich im Schat­ten stand. »Ah, Ver­ge­bung«, sag­te Dan­tes, die Stirn run­zelnd, »ich ahn­te nicht, daß wir zu drei­en sind.« Dann wand­te er sich zu Mer­ce­des und frag­te: »Wer ist die­ser Herr?«

»Die­ser Herr wird dein bes­ter Freund sein, Dan­tes, denn er ist mein Freund, mein Vet­ter, mein Bru­der Fer­nand, das heißt der Mann, den ich nach dir, Ed­mond, am meis­ten in der Welt lie­be.« Ed­mond reich­te mit Herz­lich­keit dem Ka­ta­la­ner die eine Hand, wäh­rend er mit der an­de­ren die Hand Mer­ce­des’ in der sei­ni­gen hielt. Aber weit ent­fernt, daß Fer­nand die­se freund­schaft­li­che Be­grü­ßung er­wi­der­te, ver­harr­te er stumm und un­be­weg­lich wie eine Sta­tue. So­dann ließ Ed­mond sei­nen for­schen­den Blick von Mer­ce­des auf Fer­nand fal­len. Die­ser ein­zi­ge Blick gab ihm Auf­schluß über al­les. Zorn mal­te sich auf sei­ner Stirn.

»Ich dach­te nicht, Mer­ce­des«, sag­te er, »daß ich einen Feind hier tref­fen wür­de.«

»Ei­nen Feind?« rief Mer­ce­des mit zorn­glü­hen­dem Blick auf ih­ren Vet­ter. »Ei­nen Feind bei mir, sagst du, Ed­mond? Wenn ich das wüß­te, so wür­de ich dich am Arm fas­sen und nach Mar­seil­le ge­hen, um die­ses Haus für im­mer zu ver­las­sen.« Fer­n­ands Auge schleu­der­te Blit­ze. »Und be­geg­ne­te dir ein Un­glück, mein Ed­mond«, fuhr sie mit un­ver­än­der­li­cher Ruhe fort, die Fer­nand be­wies, daß sie in der Tie­fe sei­ner fins­te­ren Ge­dan­ken ge­le­sen hat­te, »wenn dir ein Un­glück be­geg­ne­te, so stie­ge ich auf das Kap von Mor­gi­on und stürz­te mich kopf­über auf die Fel­sen nie­der.« Fer­nand wur­de blaß.

»Nein, du hast dich ge­irrt, Ed­mond«, fuhr sie fort, »du hast hier kei­nen Feind, hier ist nur Fer­nand, mein Bru­der, der dir die Hand rei­chen wird, wie ein er­klär­ter Freund.« Bei die­sen Wor­ten hef­te­te das jun­ge Mäd­chen ih­ren ge­bie­te­ri­schen Blick auf den Ka­ta­la­ner, der, als wäre er be­zau­bert, sich lang­sam nä­her­te und ihm die Hand ent­ge­gen­streck­te. Er hat­te aber kaum Ed­monds Hand be­rührt, so stürz­te er aus dem Hau­se.

»He, Ka­ta­la­ner! He, Fer­nand! Wo­hin läufst du?« rief eine Stim­me dem Da­vo­nei­len­den zu.

4. Komplott

Der jun­ge Mann blick­te um sich und sah Ca­de­rous­se, der mit Danglars in der Lau­be ei­nes Schank­wirts saß. Fer­nand blick­te mit blö­der Mie­ne auf die bei­den Män­ner und gab kei­ne Ant­wort. »He, Freund­chen! Pech ge­habt in der Lie­be?« lach­te Ca­de­rous­se. Fer­nand setz­te sich zu ih­nen und ließ stöh­nend den Kopf in die Hän­de sin­ken.

Die bei­den an­dern mach­ten ihre rück­sichts­lo­sen Scher­ze dazu.

»Wann wird’s denn Hoch­zeit ge­ben?« frag­te Danglars.

»So weit ist’s noch nicht«, mur­mel­te Fer­nand.

»Hol­la! Was ist denn da drü­ben für ein Pär­chen, das über die Ber­ge lust­wan­delt? Ihr habt bes­se­re Au­gen als ich. Haha! Es glaubt sich un­ge­se­hen und küßt sich alle zehn Schrit­te«, rief Ca­de­rous­se.

»Wahr­haf­tig, sie sin­d’s: der schö­ne Ed­mond und Mer­ce­des. Glück auf, mein Jung­chen!« Spöt­tisch schwenk­te Danglars sein Glas in der Rich­tung nach den Hü­geln zu.

Fer­nand ball­te die Faust. Danglars schau­te un­ent­wegt zu den bei­den Lie­ben­den hin­über.

»Der Mann glaubt sich so si­cher und ahnt gar nicht, auf welch wan­ken­dem Bo­den sein Glück steht.«

»Wes­halb? Wa­rum?« frag­ten die bei­den an­dern be­gie­rig.

»Hm... das ist so eine Sa­che...«

»Rede, Mensch!« stie­ßen die bei­den an­dern ihn an.

»Tja...«, mein­te Danglars, »es be­dürf­te nur ei­nes Bo­gens Pa­pier und Fe­der und Tin­te.«

»He! Wirt! Pa­pier her!«

Der Wirt brach­te all das Ge­wünsch­te. Danglars lä­chel­te ge­heim­nis­voll, nahm die Fe­der in die lin­ke Hand und schrieb mit völ­lig ver­än­der­ter Schrift:

Der kö­nig­li­che Pro­ku­ra­tor wird von ei­nem Freun­de des Thro­nes und der Re­li­gi­on in Kennt­nis ge­setzt, daß ein ge­wis­ser Ed­mond Dan­tes, Vi­ze­ka­pi­tän des Schif­fes ›Pha­raon‹, die­sen Mor­gen von Smyr­na an­kam, nach­dem er Nea­pel und Por­to-Fer­ra­jo be­rührt hat, von Mu­rat mit ei­nem Brie­fe für den Usur­pa­tor, und vom Usur­pa­tor mit ei­nem Brie­fe für das bo­na­par­tis­ti­sche Ko­mi­tee in Pa­ris be­auf­tragt wor­den ist. Den Be­weis sei­nes Ver­bre­chens er­langt man mit sei­ner Ver­haf­tung, denn man wird die­sen Brief ent­we­der bei ihm oder bei sei­nem Va­ter oder in sei­ner Ka­jü­te an Bord des ›Pha­raon‹ fin­den.

»Se­hen Sie!« flüs­ter­te Danglars mit ge­mei­nem Lä­cheln. »Da­mit wär’s um den Mann ge­sche­hen.«

Die bei­den an­dern sa­hen mit stie­ren Au­gen auf den ih­nen hin­über­ge­reich­ten Bo­gen. »Don­ner­wet­ter!« mur­mel­te Ca­de­rous­se, dem der Wein be­reits in den Kopf ge­stie­gen war. »Und wo­hin müß­te man solch ein Schrift­stück schi­cken?«

Danglars schrieb spie­lend die Adres­se.

»So so... so so...«, brumm­te Ca­de­rous­se halb wie im Schlaf; dann sprang er plötz­lich hoch. »Das ist eine Ge­mein­heit, Kin­der! Man treibt mit der­glei­chen Sa­chen kei­ne Nar­rens­pos­sen. Her mit dem Wisch!«

Er griff da­nach. Danglars fiel ihm ab­weh­rend in den Arm:

»Komm, komm, lie­ber Freund; es ist Zeit, nach Hau­se zu ge­hen.«

»Den Brief will ich ha­ben, den Brief! Ihr seid ge­mein ge­gen Dan­tes«, lall­te Ca­de­rous­se.

»Da liegt der Brief«, sag­te Danglars, ließ das Schrift­stück zur Erde fal­len und trat mit dem Fuß drauf. »Dei­nem gu­ten Dan­tes wird kei­ner ein Haar krüm­men. Komm, komm...« Er zog den Schwan­ken­den mit sich fort, da­bei be­ob­ach­te­te er heim­lich mit schar­fem Blick den Ka­ta­la­ner.

Fer­nand hat­te mit zu­sam­men­ge­preß­ten Lip­pen die gan­ze Zeit hin­durch da­ge­s­es­sen, ohne mit­zu­re­den. Kaum aber glaub­te er die bei­den an­dern au­ßer Seh­wei­te, so stürz­te er sich wie ein wil­des Tier auf den Brief, steck­te ihn in die Ta­sche und rann­te da­von.

5. Das Verlobungsmahl

We­ni­ge Tage dar­auf wur­de die Ver­lo­bung Dan­tes’ mit der schö­nen Mer­ce­des fei­er­lich be­gan­gen. Das Braut­paar, strah­lend in sei­nem Glück, saß in­mit­ten ei­ner Schar von gu­ten Freun­den, Be­kann­ten und Ver­wand­ten. Ca­de­rous­se, Danglars und Fer­nand hat­te man auch ge­la­den. Durch Herrn Mor­rels Er­schei­nen aber hat­te das jun­ge Paar sich ganz be­son­ders beehrt ge­fühlt.

Man aß und trank, schwatz­te und lach­te. Die all­ge­mei­ne Fröh­lich­keit hat­te ih­ren Hö­he­punkt er­reicht. Nur Fer­nand und Danglars ver­hiel­ten sich auf­fal­lend still, Ca­de­rous­se da­ge­gen freu­te sich mit den Glück­li­chen; er schi­en die Vor­gän­ge vom Tage vor­her voll­kom­men ver­ges­sen zu ha­ben.

Plötz­lich er­tön­ten drei lau­te Schlä­ge. Er­staunt blick­te al­les zur Tür.

»Im Na­men des Ge­set­zes!« schnarr­te eine Stim­me, der nie­mand ant­wor­te­te.

Die Tür ging auf, und ein Kom­missar, mit sei­ner Schär­pe um­gür­tet, trat in den Saal, ihm folg­ten vier be­waff­ne­te Sol­da­ten, von ei­nem Kor­po­ral ge­führt.

»Was gibt es?« frag­te der Ree­der, der den Kom­missar kann­te, »hier liegt doch si­cher ein Irr­tum vor.«

»Wenn da ein Irr­tum im Spie­le ist, Herr Mor­rel«, ent­geg­ne­te der Kom­missar, »so sei­en Sie über­zeugt, daß er so­gleich wie­der gut­ge­macht wird. In­des bin ich der Über­brin­ger ei­nes Haft­be­fehls, und ob­schon ich mei­nem Auf­tra­ge mit Be­dau­ern nach­kom­me, muß ich ihn doch pünkt­lich voll­zie­hen. Wer von Ih­nen, mei­ne Her­ren, ist Ed­mond Dan­tes?«

Die Bli­cke al­ler wand­ten sich dem jun­gen Mann zu, der, zwar hef­tig be­wegt, aber doch sei­ne Wür­de be­wah­rend, einen Schritt vor­trat und sag­te: »Ich bin es, mein Herr, was wün­schen Sie von mir?«

»Ed­mond Dan­tes!« er­wi­der­te der Kom­missar. »Ich ver­haf­te Sie im Na­men des Ge­set­zes.«

»Sie ver­haf­ten mich?« sag­te Ed­mond mit ei­nem leich­ten Er­b­las­sen. »Wa­rum ver­haf­ten Sie mich?«

»Ich weiß das nicht, mein Herr, aber in Ihrem ers­ten Ver­hör wird es Ih­nen kund­wer­den.«

Herr Mor­rel sah ein, daß sich im Au­gen­blick nichts tun ließ, der alte Dan­tes aber stürz­te dem Kom­missar ent­ge­gen, es gibt eben Din­ge, die das Herz ei­nes Va­ters oder ei­ner Mut­ter nie zu be­grei­fen ver­mag. Er bat und be­schwor den Be­am­ten, und sei­ne Verzweif­lung war so groß, daß sie den Kom­missar rühr­te.

»Mein Herr«, sag­te er, »be­ru­hi­gen Sie sich, viel­leicht hat Ihr Herr Sohn nur eine Sa­ni­täts­förm­lich­keit au­ßer acht ge­las­sen; hat man von ihm die Aus­kunft er­hal­ten, die man ver­langt, so wird er wie­der in Frei­heit ge­setzt.«

»Sei ru­hig, mei­ne Mer­ce­des, sei ru­hig, Va­ter! Es muß sich ja al­les auf­klä­ren«, sag­te Dan­tes, küß­te die Ge­lieb­te und drück­te den Sei­nen die Hand. Dann stieg er hin­ter dem Kom­missar, von Sol­da­ten um­ge­ben, die Trep­pe hin­ab. Ein Wa­gen mit ge­öff­ne­tem Schla­ge er­war­te­te ihn an der Tür, er stieg ein, und ihm folg­ten zwei Sol­da­ten mit dem Kom­missar. Der Schlag wur­de ge­schlos­sen, und der Wa­gen roll­te ge­gen Mar­seil­le hin.

»Ed­mond! Ed­mond!« rief Mer­ce­des und stürz­te nach der Ba­lus­tra­de.

Der Ge­fan­ge­ne ver­nahm noch die­sen letz­ten Schrei, der wie ein Schluch­zen aus zer­ris­se­nem Her­zen klang; er neig­te sei­nen Kopf über den Schlag hin­aus und rief: »Ver­traue mir, Mer­ce­des!« Dann ver­schwand er an ei­ner Ecke des Fort Saint-Ni­co­las.

Eine na­men­lo­se Be­stür­zung hat­te sich der gan­zen Ge­sell­schaft be­mäch­tigt.

»So geht es nicht«, sag­te Herr Mor­rel, »die Un­ge­wiß­heit fol­tert mich. Ich will den ers­ten bes­ten Wa­gen neh­men, um selbst nach Mar­seil­le zu fah­ren und zu se­hen, was vor­liegt.«

»Ach ja, tun Sie das, und kom­men Sie bald zu­rück«, schluchz­te Mer­ce­des.

Als auch Herr Mor­rel ge­gan­gen war, blie­ben der Va­ter Dan­tes’ und Mer­ce­des für sich al­lein. Die Gäs­te stan­den bei­ein­an­der und tu­schel­ten. Da be­geg­ne­ten sich die Bli­cke der bei­den Ver­las­se­nen. Sie fühl­ten ihre Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit in die­ser Stun­de der Verzweif­lung dop­pelt und san­ken sich laut wei­nend in die Arme.

End­lich kam Herr Mor­rel zu­rück. Mer­ce­des und der alte Va­ter lie­fen ihm ent­ge­gen.

»Mei­ne Lie­ben«, sag­te der Schiffs­herr be­drückt, »die Sa­che ist erns­ter, als man dach­te.«

»Ed­mond ist un­schul­dig, Herr Mor­rel! Er ist un­schul­dig!« schrie Mer­ce­des au­ßer sich.

»Da­von bin auch ich über­zeugt«, sag­te der gü­ti­ge Mann.

»Wes­sen be­schul­digt man ihn?« frag­te mit tro­ckener Keh­le der alte Dan­tes.

»Ein Agent der bo­na­par­tis­ti­schen Par­tei zu sein.«

Mer­ce­des schrie laut auf; der Greis aber brach zu­sam­men.

»Was hast du ge­tan, du Lump?« drang Ca­de­rous­se keu­chend auf Danglars ein. »So­fort geh’ ich und sage al­les.«

»Un­ter­steh dich!« fauch­te Danglars ihn an. »Wer sagt dir, daß Dan­tes nicht wirk­lich schul­dig sei? Das Schiff hat die In­sel Elba be­rührt, er ist dort aus­ge­stie­gen und einen Tag lang in Por­to-Fer­ra­jo ge­blie­ben. Fän­de man bei ihm einen Brief, der ihn bloß­stell­te, wür­den auch die­je­ni­gen für mit­schul­dig gel­ten, die ihn un­ter­stütz­ten.«

Ca­de­rous­se be­griff mit dem In­stinkt der Selbst­sucht die gan­ze Rich­tig­keit die­ses Schlus­ses. Er blick­te Danglars mit Au­gen voll Schmerz und Ver­ach­tung an, und für einen Schritt, den er vor­wärts ge­tan, wich er zwei Schrit­te zu­rück. »War­ten wir also«, mur­mel­te er.

»Ja, war­ten wir«, sag­te Danglars; »ist er un­schul­dig, so wird man ihn in Frei­heit set­zen, ist er aber schul­dig, so wäre es un­nütz, sich für einen Ver­schwo­re­nen bloß­zu­stel­len.«

6. Der Substitut1 des königlichen Prokurators2

Zur glei­chen Zeit, da sich die­se Tra­gö­die ab­spiel­te, wur­de in der Rue Grand Cours ein zwei­tes Ver­lo­bungs­fest ge­fei­ert. Hat­te es sich dort aber nur um Leu­te des bür­ger­li­chen Mit­tel­stan­des ge­han­delt, fand man hier einen er­le­se­nen Kreis der vor­nehms­ten Mar­seil­ler Ge­sell­schaft vor. Man saß bei Tisch, und die Un­ter­hal­tung wur­de le­ben­dig durch die Lei­den­schaf­ten je­ner Zeit. Lei­den­schaf­ten, die um so hef­ti­ger und zünd­ba­rer wa­ren, als seit fünf­hun­dert Jah­ren der re­li­gi­öse Haß dem po­li­ti­schen fort und fort neue Nah­rung gab.

Der Kai­ser -- da­mals Kö­nig auf der In­sel Elba -, der einen großen Teil der Welt be­herrscht hat­te und sich nun mit dem klei­nen Elba be­gnü­gen muß­te, schi­en die­ser Ge­sell­schaft ein to­ter Mann und für im­mer er­le­digt.

So er­hob denn der grei­se Mar­quis von Saint-Méran, der heu­te sei­ne Toch­ter Renée mit dem Sub­sti­tut des kö­nig­li­chen Pro­ku­ra­tors Herrn de Vil­le­fort ver­lobt hat­te, sein Glas, um ein Hoch auf das Wohl Lud­wigs XVIII. aus­zu­brin­gen. Das rief all­ge­mein eine stür­mi­sche Be­geis­te­rung her­vor. Man schwang die Glä­ser auf eng­li­sche Ma­nier, und die Da­men lös­ten ihre Blu­men­sträu­ße auf, um die Ta­fel mit Blü­ten zu be­streu­en. In die­sem Au­gen­blick trat ein Kam­mer­die­ner ein, nä­her­te sich dem Herrn de Vil­le­fort und flüs­ter­te ihm ei­ni­ge Wor­te ins Ohr. Vil­le­fort ent­schul­dig­te sich bei sei­ner Braut und ver­ließ eilends die Fest­ta­fel.

Vil­le­fort hat­te kaum den Spei­se­saal ver­las­sen, als er auch so­gleich eine ge­stren­ge Amts­mie­ne auf­zu­set­zen sich be­müh­te. Es ge­lang ihm dies heu­te nicht so leicht, da er sich froh und glück­lich fühl­te, wie es ein Mensch nur sein kann. Er hat­te auch al­len Grund dazu. So jung er noch war, be­klei­de­te er be­reits eine an­sehn­li­che Stel­lung, und durch sei­ne Ver­lo­bung mit der schö­nen Renée de Saint-Méran kam er in eine Fa­mi­lie, die bei Hofe zur­zeit das größ­te An­se­hen hat­te. Dazu war Renée das ein­zi­ge Kind ih­rer El­tern und brach­te ihm eine Mit­gift von fünf­zig­tau­send Fran­ken in die Ehe. Soll­te er da nicht gu­ter Din­ge sein?

Er traf vor der Tür den Po­li­zei­kom­missar, der auf ihn war­te­te. Er trat zu ihm her­an und sag­te: »Es ist gut, daß Sie den Mann ver­haf­te­ten. Wis­sen Sie be­reits Nä­he­res über die­ses Kom­plott?«

»Von ei­nem Kom­plott, mein Herr, weiß ich nichts. Alle Pa­pie­re, die man bei ihm fand, lie­gen ver­sie­gelt in Ihrem Bu­reau. Was den Ver­haf­te­ten be­trifft, so ist es ein ge­wis­ser Ed­mond Dan­tes, Ka­pi­tän des Han­dels­schif­fes von Mor­rel & Sohn in Mar­seil­le.«

Auf dem Wege zum Jus­tiz­pa­last wur­de Vil­le­fort von je­mand an­ge­spro­chen. Es war Herr Mor­rel.

»Ah, Herr von Vil­le­fort!« rief der red­li­che Mann, als er den Sub­sti­tu­ten er­blick­te. »Ich bin sehr er­freut, Ih­nen hier zu be­geg­nen. Man hat eben den selt­sams­ten und un­er­hör­tes­ten Miß­griff ge­tan und Ed­mond Dan­tes ver­haf­tet, den Ka­pi­tän mei­nes Schif­fes.«

»Ich weiß es, mein Herr!« ent­geg­ne­te Vil­le­fort. »Und ich gehe, um ihn zu ver­hö­ren.«

»Ach, mein Herr«, fuhr Mor­rel, vol­ler Angst und Sor­ge um sei­nen jun­gen Ka­pi­tän, drin­gend fort, »Sie ken­nen ihn nicht, den man be­schul­digt; aber ich ken­ne ihn. Den­ken Sie sich den fried­lichs­ten, recht­schaf­fens­ten Men­schen, ich möch­te fast sa­gen, den Mann, der bei der gan­zen Han­dels­ma­ri­ne sei­nen Platz am bes­ten aus­füllt. Oh, Herr von Vil­le­fort, ich emp­feh­le Ih­nen den Mann auf­rich­tig und von gan­zem Her­zen.«

Wie man weiß, ge­hör­te Vil­le­fort der Adel­s­par­tei der Stadt an und Mor­rel der bür­ger­li­chen; der ers­te war Ul­tra-Roya­list, der zwei­te des ge­hei­men Bo­na­par­tis­mus ver­däch­tig. Vil­le­fort blick­te mit Ge­ring­schät­zung auf Mor­rel und sprach zu ihm mit Käl­te:

»Sie wis­sen, mein Herr, man kann fried­lich sein im Pri­vat­le­ben, recht­schaf­fen im Han­dels­ver­kehr, ge­schickt in sei­nem Be­ru­fe und, po­li­tisch ge­spro­chen, den­noch ein großer Ver­bre­cher. Sie wis­sen das, Herr, nicht wahr? Im üb­ri­gen mö­gen Sie über­zeugt sein, daß man Ihrem Schütz­ling Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren las­sen wird.«

Da­mit grüß­te er fros­tig und ließ den gü­ti­gen Mann auf der Stra­ße ste­hen.

Der Vor­raum des Jus­tiz­pa­las­tes war voll von Gen­darmen und Po­li­zei­agen­ten. Mit­ten un­ter ih­nen stand re­gungs­los der Ge­fan­ge­ne.

Als Vil­le­fort ein­trat, warf er einen schee­len Blick auf Dan­tes. Dann nahm er das Bün­del Schrif­ten in Empfang und sag­te: »Man füh­re den Ge­fan­ge­nen vor!«

Als Dan­tes vor dem Rich­ter stand, grüß­te er höf­lich.

»Wer sind Sie? Wie ist Ihr Name?« frag­te Vil­le­fort.

»Ich nen­ne mich Ed­mond Dan­tes, mein Herr«, ant­wor­te­te der jun­ge Mann mit ei­ner ru­hi­gen, klang­vol­len Stim­me, »und bin Ka­pi­tän an Bord des Schif­fes ›Pha­raon‹ der Her­ren Mor­rel & Sohn.«

»Ihr Al­ter?« frag­te Vil­le­fort wei­ter.

»Neun­zehn Jah­re«, ent­geg­ne­te Dan­tes.

»Was ha­ben Sie in dem Au­gen­blick ge­tan, als Sie ver­haf­tet wur­den?«

»Ich hielt mein ei­ge­nes Ver­lo­bungs­mahl, mein Herr«, ver­setz­te Dan­tes mit be­weg­ter Stim­me.

»Sie wa­ren bei Ihrem Ver­lo­bungs­mahl?« frag­te der Sub­sti­tut, un­will­kür­lich zit­ternd.

»Ja, mein Herr, ich ste­he im Be­griff, ein Mäd­chen zu hei­ra­ten, das ich seit drei Jah­ren lie­be.«

Wie un­emp­find­lich auch Vil­le­fort ge­wöhn­lich war, so wur­de er doch durch die­ses Zu­sam­men­tref­fen der Um­stän­de er­schüt­tert. »Man be­schul­digt Sie stark über­trie­be­ner po­li­ti­scher Ge­sin­nun­gen«, fuhr er nun fort.

»Was mei­ne po­li­ti­schen Ge­sin­nun­gen be­trifft, mein Herr, so schä­me ich mich bei­na­he, es zu sa­gen; ich habe nie das ge­habt, was man solch eine Ge­sin­nung nennt. Ich zäh­le kaum neun­zehn Jah­re, weiß nichts und bin nicht dazu be­stimmt, ir­gend­ei­ne Rol­le zu spie­len; das we­ni­ge, was ich bin, habe ich Herrn Mor­rel zu ver­dan­ken. So­nach be­schrän­ken sich alle mei­ne Ge­sin­nun­gen ein­zig auf drei Emp­fin­dun­gen: ich lie­be mei­nen Va­ter, ich ach­te Herrn Mor­rel und bete mei­ne Mer­ce­des an. Das ist al­les, mein Herr, was ich dem Ge­richt sa­gen kann.«

Vil­le­fort grü­bel­te vor sich hin. »Ha­ben Sie Fein­de?« frag­te er dann.

»Ich bin noch zu we­nig, um Fein­de zu ha­ben«, äu­ßer­te Dan­tes be­schei­den.

»Nun -- oder Nei­der«, forsch­te Vil­le­fort. »Sie sind mit neun­zehn Jah­ren zum Ka­pi­tän er­nannt, ein schö­nes Mäd­chen hat Ih­nen sei­ne Nei­gung ge­schenkt, zwei Tat­sa­chen, um die Sie wohl be­nei­det wer­den könn­ten.«

»Bis­her habe ich nie an der­glei­chen ge­dacht; in­des­sen, Sie mö­gen recht ha­ben. Soll­te ich die Nei­der aber un­ter mei­nen Freun­den su­chen müs­sen, wünsch­te ich sie lie­ber nicht zu ken­nen, um nicht ge­nö­tigt zu sein, sie zu has­sen.«

»Das ist tö­richt, mein Lie­ber. Wohl dem, der klar sieht. Ih­nen wäre viel­leicht all dies er­spart ge­blie­ben, denn Sie schei­nen mir wirk­lich ein Op­fer von Neid und Miß­gunst zu sein. Ich will Ih­nen gern zur Auf­klä­rung Ih­rer Lage ver­hel­fen. Se­hen Sie ein­mal: ken­nen Sie die­se Hand­schrift?« Er reich­te ihm den an­ony­men An­kla­ge­brief hin­über.

Dan­tes las, und sei­ne Stirn um­düs­ter­te sich. »Nein, mein Herr, ich ken­ne die Hand­schrift nicht. Sie ist ver­stellt, trotz­dem sie Schwung hat.« Vil­le­fort ging ein paar­mal hin und her, dann wand­te er sich an Dan­tes und sag­te:

»Jetzt ant­wor­ten Sie mir mal ganz frei­mü­tig, nicht wie ein An­ge­klag­ter sei­nem Rich­ter, son­dern wie ein Mensch in ei­ner schie­fen Stel­lung ei­nem an­dern Men­schen ant­wor­tet, der ihm Teil­nah­me schenkt: Was ist Wah­res an die­ser an­ony­men Be­schul­di­gung?«

»Al­les und nichts, mein Herr! Das ist die rei­ne Wahr­heit, sie ist’s bei mei­ner See­mann­seh­re, bei mei­ner Lie­be zu Mer­ce­des, bei dem Le­ben mei­nes Va­ters!«

»Spre­chen Sie, Herr!« sag­te Vil­le­fort.

»Wohl­an! Als wir Nea­pel ver­lie­ßen, wur­de Ka­pi­tän Le­clerc von ei­ner Ge­hir­n­ent­zün­dung be­fal­len; als er den Tod her­an­na­hen fühl­te, be­schied er mich zu sich und sag­te: ›Mein lie­ber Dan­tes, schwö­ren Sie mir bei Ih­rer Ehre, das zu tun, was ich Ih­nen sa­gen wer­de, denn es ist von größ­ter Wich­tig­keit.‹ ›Ich schwö­re es Ih­nen, Ka­pi­tän!‹ war mei­ne Ant­wort. ›Nun gut; da Ih­nen als Vi­ze­ka­pi­tän nach mei­nem Tode das Schiffs­kom­man­do ge­bührt, so über­neh­men Sie das­sel­be; Sie se­geln nach der In­sel Elba, lan­den in Por­to-Fer­ra­jo, fra­gen nach dem Groß­mar­schall und über­rei­chen ihm die­sen Brief; viel­leicht über­gibt man Ih­nen einen an­dern Brief und er­teilt Ih­nen ir­gend­ei­nen Auf­trag. Die­se Sen­dung, Dan­tes, die mir zu­ge­dacht war, sol­len Sie nun statt mei­ner über­neh­men, und es wird Ih­nen so­dann alle Ehre zu­teil wer­den.‹ ›Ich will es tun, Ka­pi­tän. Aber viel­leicht kann man nicht so leicht, wie Sie glau­ben, zum Groß­mar­schall ge­lan­gen.‹ ›Hier ist ein Ring, den Sie ihm zu­kom­men las­sen‹, sag­te der Ka­pi­tän, ›die­ser wird alle Schwie­rig­kei­ten be­sei­ti­gen.‹ Mit die­sen Wor­ten übergab er mir einen Ring; es war hohe Zeit, zwei Stun­den dar­auf lag er im De­li­ri­um, am fol­gen­den Tage war er tot.«

»Und was ha­ben Sie ge­tan?«

»Was ich tun muß­te, mein Herr, und was an mei­ner Stel­le je­der and­re ge­tan hät­te. Die Bit­ten ei­nes Ster­ben­den sind hei­lig; aber bei den See­leu­ten sind die Bit­ten ei­nes Vor­ge­setz­ten Be­feh­le, die man er­fül­len muß. Ich se­gel­te also nach der In­sel Elba, wo ich am fol­gen­den Tage an­lang­te; ich gab der gan­zen Mann­schaft Be­fehl, auf dem Schif­fe zu blei­ben, und stieg al­lein ans Land. Wie ich es vor­aus­sah, mach­te man mir Schwie­rig­kei­ten, mich beim Groß­mar­schall ein­zu­füh­ren; als ich ihm aber den Ring zu­schick­te, wur­den mir alle Tü­ren ge­öff­net. Er emp­fing mich, be­frag­te mich um die letz­ten Le­ben­sum­stän­de des un­glück­li­chen Ka­pi­täns Le­clerc und übergab mir einen Brief mit dem Auf­tra­ge, ihn per­sön­lich nach Pa­ris zu brin­gen. Ich ver­sprach es ihm, denn dies hieß den letz­ten Wil­len mei­nes Ka­pi­täns voll­zie­hen. Ich kehr­te an Bord zu­rück, steu­er­te nach Mar­seil­le, wo ich ges­tern lan­de­te, und nach­dem ich rasch alle Schiffsan­ge­le­gen­hei­ten in Ord­nung ge­bracht hat­te, eil­te ich zu mei­ner Braut. Mor­gen hat­te ich die Ab­sicht, nach Pa­ris zu fah­ren.«

»Ja, ja«, mur­mel­te Vil­le­fort, »das al­les dünkt mich Wahr­heit, und wenn Sie schul­dig sind, so sind Sie es aus Unklug­heit; fer­ner ward die­se Unklug­heit ge­setz­lich durch die Be­feh­le Ihres Ka­pi­täns. Über­ge­ben Sie uns je­nen Brief, den man Ih­nen auf der In­sel Elba ein­ge­hän­digt hat. Ver­bür­gen Sie mir Ihr Ehren­wort, sich bei der ers­ten Vor­la­dung zu stel­len, und keh­ren Sie jetzt zu Ihren Freun­den zu­rück.«

»Ich bin also frei, mein Herr?« rief Dan­tes voll Ent­zücken.

»Ja, nur ge­ben Sie mir je­nen Brief.«

»Er muß vor Ih­nen lie­gen, mein Herr, denn man hat ihn mir mit mei­nen an­dern Pa­pie­ren weg­ge­nom­men, und ich er­ken­ne ei­ni­ge da­von in die­sem Bün­del.«

»War­ten Sie«, sag­te der Sub­sti­tut zu Dan­tes, der schon sei­ne Hand­schu­he und sei­nen Hut ge­nom­men hat­te, »war­ten Sie, an wen war er adres­siert?«

»An Herrn Noir­tier, Rue Coq-Héron in Pa­ris«, ant­wor­te­te Dan­tes.

Als hät­te ihn ein Blitz ge­trof­fen, sank Vil­le­fort auf sei­nen Stuhl zu­rück. Dann griff er mit zit­tern­der Hand nach dem Brief.

»Mr. Noir­tier, Rue Coq-Héron, Num­mer 13?«

Stöh­nend barg der Mann einen Au­gen­blick sein Haupt in den Hän­den. Dann frag­te er mit rau­her Stim­me:

»Weiß noch je­mand um den Brief?«

»Nein, Herr«, sag­te Dan­tes ver­wun­dert.

»Und war dies der ein­zi­ge Brief?«

»Ja. Herr.«

»Kön­nen Sie bei­des be­schwö­ren?«

»Ich be­schwö­re es.«

»Gut«, sag­te der Rich­ter mit An­stren­gung. »Der Brief könn­te für Sie sehr ver­häng­nis­voll wer­den. Ich habe In­ter­es­se für Sie und möch­te Ih­nen hel­fen. Se­hen Sie: ich ver­nich­te den Brief, daß kei­ne Spur von ihm bleibt.« Er war zum Ka­min ge­gan­gen und warf das Schrift­stück in die lo­dern­den Flam­men. Dann sah er Dan­tes mit er­lo­sche­nen Au­gen an.

»Da­für er­war­te ich von Ih­nen eine Art Ge­gen­leis­tung... zwar kann ich Sie im Au­gen­blick doch noch nicht ge­hen las­sen... ein an­de­rer Be­am­ter wird Sie noch ein­mal ver­hö­ren. Sa­gen Sie al­les, was Sie mir ge­sagt ha­ben, aber kein Wort von dem Brief.«

»Ich ver­spre­che es Ih­nen.«

»Das ist recht so. Und nun noch ein we­nig Ge­duld und den Kopf hoch.«

»Ich dan­ke Ih­nen, mein Herr!«

Vil­le­fort griff nach der Klin­gel­schnur; der Kom­missar trat ein. Der Rich­ter flüs­ter­te ihm ei­ni­ge Wor­te ins Ohr. Der Be­am­te nick­te, dann wand­te er sich an Dan­tes:

»Fol­gen Sie mir!«

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Pro­ku­ra­tor; hier: Staats­an­walt  <<<

7. Das Verhör

Man hat­te Dan­tes in ein ziem­lich rein­li­ches Zim­mer ge­führt, al­ler­dings mit Git­tern und Rie­geln ver­se­hen. Er such­te krampf­haft je­des Ge­fühl von Be­sorg­nis zu un­ter­drücken und ver­ge­gen­wär­tig­te sich im­mer aufs neue das wohl­wol­len­de Ver­hal­ten des Sub­sti­tu­ten, um dar­aus Mut und Hoff­nung zu schöp­fen. Die Ta­ges­hel­le schwand, und Dan­tes be­fand sich im Dun­keln. Es ver­ging Stun­de um Stun­de in Han­gen und Ban­gen.

End­lich hör­te er Schrit­te. Die Tür wur­de ge­öff­net, und der Schein zwei­er Fa­ckeln fiel ins Zim­mer. Dan­tes sah vier Gen­darmen mit Sä­beln und Mus­ke­ten.

»Kommt ihr, um mich zu ho­len?« frag­te er.

»Ja«, er­wi­der­te ei­ner von den Leu­ten.

»Auf Be­fehl des Herrn Sub­sti­tu­ten des kö­nig­li­chen Pro­ku­ra­tors?«

»Es wird wohl so sein.«

»Gut«, sag­te Dan­tes, »ich bin be­reit, euch zu fol­gen.« Der Glau­be, daß man ihn auf Be­fehl des Herrn von Vil­le­fort hole, be­nahm dem un­glück­li­chen Jüng­ling alle Furcht. Er schritt also vor­wärts, ru­hig im Geis­te, frei im Gan­ge, und stell­te sich selbst mit­ten un­ter sei­ne Beglei­tung. Ein Wa­gen hielt am Stra­ßen­tor, der Kut­scher saß auf dem Bock und ne­ben ihm ein Ge­frei­ter.

»Ist die­ser Wa­gen für mich be­stimmt?« frag­te Dan­tes.

»Für Sie«, ent­geg­ne­te ei­ner der Gen­darmen, »stei­gen Sie ein.«

Dan­tes woll­te ei­ni­ge Be­mer­kun­gen ma­chen, al­lein der Kut­schen­schlag ging auf, und er emp­fand, daß man ihn hin­ein­schob.

Die Fens­ter des Fuhr­werks wa­ren ver­git­tert, doch Dan­tes ver­moch­te zu er­ken­nen, daß die Fahrt nach dem Kai ging. Der Wa­gen hielt. Ein Dut­zend Sol­da­ten eil­ten her­bei und stell­ten sich auf.

»Wie, mei­net­we­gen solch ein mi­li­tä­ri­sches Auf­ge­bot?« frag­te Dan­tes vol­ler Stau­nen.

Der Ge­frei­te öff­ne­te den Wa­gen­schlag und wies Dan­tes stumm den Weg zwi­schen zwei Rei­hen Be­wa­chung, der zum Ha­fen führ­te. Ehe er sich’s ver­sah, saß er, von den Gen­darmen um­ringt, in ei­nem Boot und wur­de in die Nacht hin­aus­ge­ru­dert. Trotz sei­ner Ab­nei­gung, mit den Wäch­tern zu re­den, konn­te er nun doch nicht den Aus­ruf un­ter­drücken:

»Mein Gott, wo­hin führt man mich denn?«

»Wenn Ihr nicht blind seid, schaut Euch doch um«, gab wi­der­wil­lig ei­ner von den Gen­darmen zur Ant­wort.

Dan­tes such­te die Dun­kel­heit zu durch­drin­gen, da sah er in ei­ni­ger Ent­fer­nung aus stei­len, schwar­zen Fel­sen das schau­er­li­che Schloß If auf­ra­gen. Der An­blick die­ses un­heim­li­chen Ge­bäu­des wirk­te auf Dan­tes so furcht­bar, wie auf einen zum Tode Ver­ur­teil­ten der An­blick des Scha­fotts.

»Um des Him­mels wil­len, was sol­len wir da?« schrie er auf.

Der Gen­darm lä­chel­te.

Bei Dan­tes über­stürz­ten sich Ge­dan­ken und Ver­mu­tun­gen.

»Führt man mich etwa da­hin, um mich ein­zu­sper­ren? Das ist doch ein Staats­ge­fäng­nis für große po­li­ti­sche Ver­bre­cher. Ich habe kein Ver­bre­chen be­gan­gen. Gibt es Un­ter­su­chungs­rich­ter, Be­am­te im Schlos­se If?«

»Wie ich ver­mu­te«, sag­te der Gen­darm, »gibt es dort einen Gou­ver­neur, einen Ker­ker­meis­ter, eine Gar­ni­son und gute Mau­ern. He, Freund!«

Die Gen­darmen wa­ren auf­ge­sprun­gen und hiel­ten Dan­tes ge­packt, der sich in der Auf­wal­lung gren­zen­lo­ser Verzweif­lung hat­te ins Meer stür­zen wol­len. Jetzt lag er auf dem Bo­den des Boo­tes, und ein Gen­darm hat­te ihm das Knie auf die Brust ge­setzt:

»Noch eine Be­we­gung, und ich jage Euch eine Ku­gel durch den Kopf.«

Er rich­te­te wirk­lich sei­nen Ka­ra­bi­ner ge­gen Dan­tes, der die Mün­dung des Roh­res wie einen ei­si­gen Ring an der Schlä­fe ver­spür­te. Dan­tes hat­te einen Au­gen­blick lang wirk­lich den Ge­dan­ken, die­se ver­pön­te Be­we­gung zu ma­chen und auf sol­che Art dem un­er­war­te­ten Un­glück ein Ende zu be­rei­ten; al­lein ge­ra­de weil die­ses Un­glück so un­er­war­tet kam, mein­te er, es sei nicht von Dau­er. Jetzt wur­de die Bar­ke von ei­nem hef­ti­gen Sto­ße er­schüt­tert. Ei­ner der Ru­der­knech­te sprang auf den Fel­sen, ein Tau knarr­te im Abrol­len von ei­ner Win­de, und Dan­tes er­kann­te, daß man ge­lan­det sei. Man pack­te ihn zu­gleich am Arme und Kra­gen, nö­tig­te ihn, auf­zu­ste­hen und vor­wärts zu ge­hen.

Dan­tes leis­te­te wei­ter kei­nen un­nüt­zen Wi­der­stand, die Lang­sam­keit sei­nes Gan­ges war viel mehr Er­schlaf­fung als Wi­der­setz­lich­keit. Er war be­täubt und wank­te wie ein Be­trun­ke­ner. Er sah aufs neue Sol­da­ten kom­men, die sich an der stei­len Bö­schung auf­stell­ten, er merk­te Stu­fen, die ihn zwan­gen, sei­ne Füße zu he­ben, und ge­wahr­te, daß er un­ter ein Tor kam, das sich hin­ter ihm schloß -- aber al­les ma­schi­nen­mä­ßig, wie im Ne­bel.

Ei­nen Au­gen­blick wur­de in ei­nem dunklen Hofe halt­ge­macht. »Wo ist der Ge­fan­ge­ne?« frag­te eine Stim­me. »Hier«, ant­wor­te­ten die Gen­darmen. »Er fol­ge mir; ich wer­de ihn in sei­ne Zel­le füh­ren.«

»Vor­wärts!« rie­fen die Gen­darmen und ga­ben Dan­tes einen Stoß. Der Ge­fan­ge­ne folg­te sei­nem Füh­rer, der ihn in ein un­ter­ir­di­sches Ge­mach ge­lei­te­te, des­sen nack­te und feuch­te Mau­ern von Trä­nen­dunst ge­schwän­gert zu sein schie­nen. Eine Art Lam­pe, die auf ei­nem Sche­mel stand und de­ren Docht in ei­nem stin­ken­den Fett schwamm, er­leuch­te­te die Wän­de die­ses schau­er­li­chen Auf­ent­hal­tes und zeig­te Dan­tes sei­nen Füh­rer, der, schlecht ge­klei­det, ge­mein aus­sah und ein un­ter­ge­ord­ne­ter Ge­fäng­nis­wär­ter zu sein schi­en.

»Sie blei­ben hier für die­se Nacht«, sag­te er. »Es ist schon spät und der Herr Gou­ver­neur be­reits zu Bett. Wenn er mor­gen Ihre Pa­pie­re durch­ge­se­hen hat, wird er viel­leicht Ihre Woh­nung än­dern. Hier ist Brot und Was­ser und dort im Win­kel Stroh. Gute Nacht!«.

Ehe Dan­tes noch den Mund auf­tun konn­te, hat­te der Wäch­ter die Lam­pe ge­nom­men und die Tür von au­ßen ver­rie­gelt. So stand der Un­glück­li­che al­lein in der Fins­ter­nis und in ei­ner Stil­le, die so stumm und schau­er­lich war wie die­se Ge­wöl­be, die eine ei­si­ge Käl­te auf sei­ne glü­hen­de Stirn her­ab­weh­ten.

Als die ers­ten Strah­len des Ta­ges die­se Höh­le ein we­nig er­hellt hat­ten, kehr­te der Ge­fan­ge­nen­wär­ter mit dem Be­fehl zu­rück, daß der Ein­ge­ker­ker­te da zu ver­blei­ben habe, wo er eben war. Dan­tes war gar nicht von sei­nem Platz ge­wi­chen, eine ei­ser­ne Hand schi­en ihn an eben die­se Stel­le ge­hef­tet zu ha­ben, wo er tags zu­vor ge­stan­den hat­te. So hat­te er die gan­ze Nacht ste­hend zu­ge­bracht, ohne einen Au­gen­blick zu schla­fen.

Der Ge­fäng­nis­wäch­ter nä­her­te sich und ging um ihn her­um; aber Dan­tes schi­en ihn nicht zu se­hen. Er klopf­te ihm auf die Schul­ter, Dan­tes er­beb­te und schüt­tel­te den Kopf. »Ha­ben Sie denn nicht ge­schla­fen?« frag­te der Ge­fäng­nis­wäch­ter. »Ich weiß nicht«, er­wi­der­te Dan­tes. Der Wäch­ter blick­te ihn mit Ver­wun­de­rung an. »Ha­ben Sie kei­nen Hun­ger?« fuhr er fort. »Ich weiß nicht«, ent­geg­ne­te Dan­tes wie­der. »Wün­schen Sie et­was?«

»Ich wün­sche den Gou­ver­neur zu se­hen.« Der Ge­fäng­nis­wäch­ter zuck­te die Ach­seln und ging fort; Dan­tes folg­te ihm mit den Au­gen und streck­te sei­ne Hän­de ge­gen die halb ge­öff­ne­te Tür aus; aber die Tür schloß sich. Dann schi­en sei­ne Brust ein Schluch­zen zu zer­rei­ßen. Die Trä­nen, die sei­ne Au­gen­li­der auf­schwell­ten, rie­sel­ten wie Bä­che; er schlug mit der Stirn ge­gen die Erde, be­te­te lan­ge Zeit, durch­ging in sei­nem Geis­te sein gan­zes ver­flos­se­nes Le­ben und be­frag­te sich, was er, noch so jung, für ein Ver­bre­chen be­gan­gen habe, das eine so grau­sa­me Stra­fe ver­dien­te? So ver­lief der Tag; er aß kaum ei­ni­ge Bis­sen Brot, trank kaum ei­ni­ge Trop­fen Was­ser. Bald saß er in Ge­dan­ken ver­lo­ren, bald kreis­te er wie ein wil­des Tier in sei­nem Kä­fig.

Am nächs­ten Mor­gen trat der Ker­ker­meis­ter zur sel­ben Stun­de wie­der ein.

»He«, sag­te er, »sind Sie heu­te ver­nünf­ti­ger als ges­tern?«

Dan­tes ant­wor­te­te nicht.

»Wenn Sie ir­gend­ei­nen Wunsch ha­ben, sa­gen Sie es doch.«

»Ich wün­sche mit dem Gou­ver­neur zu spre­chen.«

»Ich sag­te Ih­nen schon ges­tern, daß das un­mög­lich ist.«

»Wa­rum ist es un­mög­lich?«

»Weil es nach den Vor­schrif­ten ei­nem Ge­fan­ge­nen nicht er­laubt ist, dar­um zu bit­ten.«

»Was ist denn hier er­laubt?« frag­te Dan­tes.

»Eine bes­se­re Kost, wenn man be­zahlt, ein Spa­zier­gang und zu­wei­len Bü­cher.«

»Ich brau­che kei­ne Bü­cher, habe nicht Lust, spa­zie­ren zu ge­hen, und fin­de mei­ne Kost gut; ich will nur eins: den Gou­ver­neur se­hen.«

»Wenn Sie mich mit Ihrem Ei­gen­sinn quä­len«, sag­te der Ge­fäng­nis­wäch­ter, »wer­de ich Ih­nen nichts mehr zu es­sen brin­gen.«

»Auch gut«, ver­setz­te Dan­tes, »wenn du mir nichts mehr zu es­sen bringst, wer­de ich ver­hun­gern.«

Der Ton, mit dem Dan­tes die­se Wor­te aus­sprach, be­wies dem Ge­fäng­nis­wäch­ter, daß sein Ge­fan­ge­ner glück­lich wäre, wenn er ster­ben könn­te. Da je­der Ge­fan­ge­ne sei­nem Wär­ter täg­lich un­ge­fähr zehn Sous ein­trägt, so be­rech­ne­te er den Ver­lust, der ihm aus Dan­tes Tod er­wüch­se, und fuhr des­halb mit sanf­te­rer Stim­me fort:

»Was Sie ver­lan­gen, ist ganz un­mög­lich; der Gou­ver­neur be­gibt sich nie­mals zu den Ge­fan­ge­nen. Sei­en Sie also ver­nünf­tig. Man wird Ih­nen den Spa­zier­gang ge­stat­ten, und so kann es ei­nes Ta­ges ge­sche­hen, daß der Gou­ver­neur vor­über­kommt. Dann mö­gen Sie ihn fra­gen. Ob er Ih­nen ant­wor­ten will, hängt von ihm ab.«

»Wie lan­ge aber kann ich war­ten«, frag­te Dan­tes, »bis sich die­ser Zu­fall fügt?«

»Mein Gott«, ent­geg­ne­te der Schlie­ßer, »einen Mo­nat, drei Mo­na­te, sechs Mo­na­te, viel­leicht ein Jahr.«

»Das ist zu lan­ge«, sag­te Dan­tes, »ich muß ihn so­fort se­hen.«

»Ach«, sprach der Ge­fan­ge­nen­wär­ter, »ver­ren­nen Sie sich nicht in die­sen un­mög­li­chen Wunsch, sonst sind Sie vor vier­zehn Ta­gen noch ein Narr.«

»He, du glaubst das?« rief Dan­tes.

»Ja, auf sol­che Wei­se fängt die Narr­heit im­mer an. Wir ha­ben hier ein Bei­spiel: ein Abbé, der dem Gou­ver­neur ohne Un­ter­laß eine Mil­li­on an­bot, wenn man ihn in Frei­heit setz­te.«

»Seit wann hat er die­ses Zim­mer ver­las­sen?«

»Vor zwei Jah­ren.«

»Hat man ihn in Frei­heit ge­setzt?«

»Nein, man brach­te ihn in einen Ker­ker.«

»Höre«, sprach Dan­tes, »ich bin kein Abbé, ich bin kein Narr, viel­leicht wer­de ich’s, aber un­glück­li­cher­wei­se bin ich noch bei Sin­nen; ich ma­che dir einen an­dern Vor­schlag.«

»Wel­chen?«

»Ich bie­te dir kei­ne Mil­li­on, denn ich könn­te sie dir nicht ge­ben, aber ich bie­te dir hun­dert Ta­ler, wenn du zu den Ka­ta­la­nern gehst und ei­nem jun­gen Mäd­chen na­mens Mer­ce­des nicht etwa einen Brief, son­dern nur zwei Zei­len ein­hän­di­gen willst.«

»Wenn ich die­se zwei Zei­len über­bräch­te und wür­de ent­deckt, so ver­lö­re ich mei­nen Platz, der jähr­lich tau­send Li­vres ein­trägt, ohne die Ne­ben­vor­tei­le und die Kost zu rech­nen. Sie se­hen also, daß ich ein großer Tor wäre, wenn ich es täte.«

»Wohl­an«, ver­setz­te Dan­tes, »höre und mer­ke es gut: Wenn du dich wei­gerst, den Gou­ver­neur zu be­nach­rich­ti­gen, daß ich ihn zu spre­chen wün­sche, wenn du dich wei­gerst, zwei Zei­len zu Mer­ce­des zu tra­gen oder ihr min­des­tens zu mel­den, daß ich hier bin, so er­war­te ich dich ei­nes Ta­ges hin­ter mei­ner Tür und will dir in dem Au­gen­blick, wo du ein­trittst, mit die­sem Sche­mel den Kopf zer­schmet­tern.«

»Das sind Dro­hun­gen!« rief der Schlie­ßer, in­dem er einen Schritt zu­rück­wich. »Es wir­belt of­fen­bar schon in Ihrem Kop­fe; der Abbé hat eben­so an­ge­fan­gen wie Sie. Glück­li­cher­wei­se gibt es in If noch Ker­ker.«

Dan­tes nahm den Sche­mel und schwenk­te ihn wild.

»Gut, gut«, sprach der Ge­fan­ge­nen­wär­ter, »ich wer­de es dem Gou­ver­neur mel­den.« Er ging fort und kehr­te ein Weil­chen dar­auf mit vier Sol­da­ten und ei­nem Kor­po­ral zu­rück.

»Auf Be­fehl des Gou­ver­neurs«, sprach er, »führt den Ge­fan­ge­nen um ein Stock­wert tiefer hin­ab.«

»Also in den Ker­ker?« frag­te der Kor­po­ral.

»Ja, in den Ker­ker, man muß die Nar­ren zu den Nar­ren sper­ren.«

Die vier Sol­da­ten er­grif­fen Dan­tes, der in eine Art Stumpf­sinn ver­fiel und ih­nen ohne Wi­der­stand folg­te. Man ließ ihn fünf­zehn Stu­fen hin­ab­stei­gen und öff­ne­te die Tür ei­nes Ker­kers, wo er ein­trat und die Wor­te mur­mel­te: »Er hat recht, man muß die Nar­ren zu den Nar­ren sper­ren!«

8. Villefort

Als Vil­le­fort wie­der zu sei­nen Schwie­ger­el­tern zu­rück­kehr­te, fand er die Gäs­te, die er bei Tisch ver­las­sen hat­te, im Sa­lon, den Kaf­fee neh­mend. Renée er­war­te­te ihn mit ei­ner Un­ge­duld, die sich der gan­zen Ge­sell­schaft mit­teil­te. Man emp­fing ihn nun mit ei­nem Ju­bel­ruf.

»Gnä­digs­te Mar­qui­se«, sprach Vil­le­fort, sich sei­ner künf­ti­gen Schwie­ger­mut­ter nä­hernd, »ich bit­te um Ent­schul­di­gung, wenn ich ge­nö­tigt bin, Sie zu ver­las­sen. -- Herr Mar­quis, könn­te ich die Ehre ha­ben, mit Ih­nen ein paar Wor­te al­lein zu spre­chen?«

»Hm, die Sa­che ist also wirk­lich von Be­deu­tung?« frag­te die Mar­qui­se, in­dem sie die Wol­ke wahr­nahm, die Vil­le­forts Stirn ver­dun­kel­te.

»Ja, so be­deut­sam, daß ich mich auf ei­ni­ge Tage von Ih­nen be­ur­lau­ben muß.«

»Sie er­such­ten mich auf einen Au­gen­blick um eine Un­ter­re­dung?« frag­te der Mar­quis.

»Ja, ge­hen wir in Ihr Ka­bi­nett, wenn es Ih­nen ge­fäl­lig ist.« Der Mar­quis faß­te Vil­le­fort am Arm und ging mit ihm fort.

Als sie al­lein wa­ren, bat Vil­le­fort sei­nen Schwie­ger­va­ter, ihm ein Schrei­ben mit auf den Weg zu ge­ben, das ihm bei Hofe Tür und Tor öff­ne; er habe Sr. Ma­je­stät eine äu­ßerst wich­ti­ge Mit­tei­lung zu über­brin­gen. Der grei­se Mar­quis er­füll­te sei­nen Wunsch und übergab ihm bald einen Brief von Herrn de Sal­vieur an den Gra­fen von Bla­cas.

Vil­le­fort nahm dar­auf Ab­schied von sei­ner rei­zen­den Braut und fuhr mit der Post auf der Stra­ße von Aix da­von.

We­ni­ge Tage spä­ter hat­te er -- durch Ver­mitt­lung des Gra­fen Bla­cas -- die Ehre, Lud­wig XVIII. ge­gen­über­zu­ste­hen und sei­nen Be­richt zu er­stat­ten.

Er stieß zu­nächst nur ei­ni­ge Wor­te her­vor: »Sire, der Usur­pa­tor Bo­na­par­te hat drei Schif­fe aus­ge­rüs­tet und sinnt auf neue Schre­cken, die den Thron Ew. Ma­je­stät be­dro­hen!«

Der Kö­nig be­wahr­te sei­ne Fas­sung, doch die Mi­nis­ter erblaß­ten, und das Ge­sicht des Po­li­zei­mi­nis­ters zeig­te die höchs­te Be­stür­zung. »Das kann nur ein Irr­tum sein«, mein­te er. Doch Vil­le­fort be­wies durch das, was er wuß­te, wie ernst die Sa­che sei. Na­po­le­on habe be­reits Elba ver­las­sen und wer­de dem­nächst in Nea­pel, an den Küs­ten To­s­ka­nas oder in Frank­reich selbst zu lan­den ver­su­chen.

Kaum hat­te er das ge­sagt, als ein Son­der­be­richt an den Kriegs­mi­nis­ter ein­traf: Bo­na­par­te sei am 1. März be­reits in Frank­reich ge­lan­det.

Un­heim­li­ches Schwei­gen herrsch­te im Raum, dann er­hob der Kö­nig sei­ne Stim­me:

»Wohl­an! So heißt’s mit dem Kriegs­mi­nis­ter ver­han­deln.« Doch als die an­de­ren Mi­nis­ter sich zu­rück­zie­hen woll­ten, rief er ih­nen zu: »Halt, mei­ne Her­ren? Was ha­ben Sie Neu­es über die Af­fä­re in der Rue St. Jaques er­fah­ren? Es be­steht kein Zwei­fel, daß der Tod des Ge­ne­rals Epi­nan mit dem großen Kom­plott zu­sam­men­hängt.«

»Sire«, be­gann der Po­li­zei­mi­nis­ter, »Ew. Ma­je­stät durch­schau­en die Sa­che voll­kom­men; al­les weist dar­auf hin, daß es sich nicht um einen Selbst­mord han­delt, son­dern daß der Ge­ne­ral er­mor­det wur­de. Ein un­be­kann­ter Mann hat ihn früh­mor­gens auf­ge­sucht und ihn zu ei­ner Be­spre­chung in der Rue St. Jaques ge­la­den.«

Vil­le­fort wur­de bei die­sen Wor­ten bald blaß, bald rot.

»Was war das für ein Mann?« frag­te der Kö­nig wei­ter.

»Ein dun­kel­haa­ri­ger Fünf­zi­ger mit auf­fal­lend star­ken Brau­en und Bart. Er trug einen blau­en, zu­ge­knöpf­ten Über­rock und im Knopf­loch die Ro­set­te ei­nes Of­fi­ziers der Ehren­le­gi­on.«

»Schafft mir die­sen Mann, die­sen Meu­chel­mör­der, der uns im Au­gen­blick des bes­ten Ge­ne­rals be­raubt hat. Ob er Bo­na­par­tist ist oder nicht, ich will, daß er mit al­ler Stren­ge be­straft wird«, rief der Kö­nig vol­ler Zorn.

Vil­le­fort stütz­te sich auf einen Stuhl, denn er fühl­te den Bo­den un­ter den Fü­ßen wan­ken.

»Sie füh­len sich von der Rei­se an­ge­grif­fen, lie­ber Baron«, wand­te sich der Kö­nig an Vil­le­fort. »Ei­len Sie, zu Ihrem Va­ter zu kom­men.«