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Auf dem altenglischen Schloss Garre Castle, gelegen in einem ländlichen Winkel der Grafschaft Berkshire, spukt es: Ganz in Grün gewandet schleicht des Nachts ein geheimnisvoller Bogenschütze durch die lichten Hallen. Ist es wirklich der Geist des Wilderers, der hier im Mittelalter auf Geheiß des Burgherrn grausam hingerichtet wurde? Über diesen Spuk kann der neue Besitzer des Schlosses, Abel Bellamy – ein amerikanischer Geschäftsmann, der mit allen Wassern gewaschen ist - nur lachen, denn dieser glaubt nicht an Gespenster, aber an den Einfallsreichtum seiner rachsüchtigen Mitmenschen... Der grüne Bogenschütze, entstanden im Jahre 1923, ist einer der bekanntesten Kriminalromane von Edgar Wallace – und schon ab der ersten Seite gelingt es dem Meister der britischen Kriminal-Literatur, den Leser in ein zeitlos konstruiertes Labyrinth aus Rätseln, Verbrechen und Geheimnissen hineinzuziehen.
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Seitenzahl: 616
DER GRÜNE BOGENSCHÜTZE
Edgar Wallace-Werkausgabe, Band 6
Kriminal-Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Die Gert-Fröbe-Show – Ein Vorwort von Christian Dörge
DER GRÜNE BOGENSCHÜTZE
Auf dem altenglischen Schloss Garre Castle, gelegen in einem ländlichen Winkel der Grafschaft Berkshire, spukt es: Ganz in Grün gewandet schleicht des Nachts ein geheimnisvoller Bogenschütze durch die lichten Hallen. Ist es wirklich der Geist des Wilderers, der hier im Mittelalter auf Geheiß des Burgherrn grausam hingerichtet wurde? Über diesen Spuk kann der neue Besitzer des Schlosses, Abel Bellamy – ein amerikanischer Geschäftsmann, der mit allen Wassern gewaschen ist - nur lachen, denn dieser glaubt nicht an Gespenster, aber an den Einfallsreichtum seiner rachsüchtigen Mitmenschen...
Der grüne Bogenschütze, entstanden im Jahre 1923, ist einer der bekanntesten Kriminalromane von Edgar Wallace – und schon ab der ersten Seite gelingt es dem Meister der britischen Kriminal-Literatur, den Leser in ein zeitlos konstruiertes Labyrinth aus Rätseln, Verbrechen und Geheimnissen hineinzuziehen.
Edgar Wallace.
(* 1. April 1875, † 10. Februar 1932).
Richard Horatio Edgar Wallace war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Er gehört zu den erfolgreichsten und populärsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.
Wallace wurde in Greenwich bei London als unehelicher Sohn des Schauspielerpaares Mary Jane „Polly“ Richards und Richard Horatio Edgar geboren und unmittelbar nach seiner Geburt von dem Londoner Fischhändler-Ehepaar Freeman adoptiert. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und brach im Alter von 12 Jahren die Schule ab. Nach diversen Jobs ging er als 18-Jähriger zur Armee und arbeitete sich im Zweiten Burenkrieg in Südafrika bis zum Kriegsberichterstatter hoch.
Nach seiner Rückkehr nach London arbeitete er als Journalist und Sonderberichterstatter. 1901, noch in Südafrika, heiratete er Ivy Maude Caldecott (1880?–1926), Tochter eines Missionars. Mit ihr hatte er vier Kinder. 1918 wurde die Ehe geschieden. 1921 heiratete er seine Sekretärin Ethel Violet King (1896–1933), Tochter des Bankiers Friedrich König, mit der er eine Tochter hatte.
1905 erschien im Eigenverlag sein erster Kriminalroman Die vier Gerechten (The Four Just Men), der zwar ein Publikumserfolg war, aber für Wallace ein finanzielles Desaster bedeutete. Er hatte jedem, der die Lösung des Buches erraten würde, einen Preis in Höhe von 500 Pfund versprochen, für damalige Zeiten eine ungeheure Summe: Zu viele Menschen errieten das Ende des Romans, und er war damit finanziell am Ende. Nur dem Eingreifen von Lord Harmworth von der Daily Mail war es zu verdanken, dass Wallace diese Pleite überstand. Bekannt wurde er vor allem durch seine journalistische Arbeit und seine Afrikaromane, deren erster 1911 unter dem Titel Sanders vom Strom (Sanders Of The River) erschien.
Wallaces berühmtester Krimi war Der Hexer (The Ringer), der als Theaterstück am 1. Mai 1926 uraufgeführt wurde und ein riesiger Erfolg war. In Deutschland fand die Erstaufführung 1927 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt statt. Für die erste Verfilmung seines Romans The Squeaker (dt. Der Zinker, 1930) schrieb er nicht nur das Drehbuch, sondern führte auch selbst Regie.
Darüber hinaus verfasste er zahlreiche Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Theaterstücke. Ebenfalls begann er noch mit der Abfassung des Drehbuches für den später mit Fay Wray in der weiblichen Hauptrolle gedrehten Filmklassiker King Kong und die weiße Frau (King Kong, 1932), doch er verstarb in Beverly Hills, Hollywood/Kalifornien an den Folgen einer Lungenentzündung vor dessen Vollendung. Seine Frau Violet überlebte ihren Mann um nur 14 Monate, sie starb im Alter von 37 Jahren im April 1933.
In der Nähe der Fleet Street erinnert am „Ludgate Circus“ eine Gedenktafel an Edgar Wallace mit dem Text: Er lernte Reichtum und Armut kennen – er verkehrte mit Königen und doch blieb er sich selbst treu. Seine Talente widmete er der Literatur, doch sein Herz gehörte der Fleet Street.
Sein Sohn Bryan Edgar Wallace (Death Packs At Suitcase, 1961, dt. Der Tod packt seinen Koffer) und seine Tochter Penelope Wallace (Kensington Gore, 1985, dt. Eine feine Adresse, 1987) waren ebenfalls Kriminalschriftsteller.
Die Romane von Edgar Wallace wurden in vierundvierzig Sprachen übersetzt. Auch gab es nach dem 1959 gedrehten deutschen Spielfilm Der Frosch mit der Maske in den 1960er- und 1970er-Jahren einen regelrechten Edgar-Wallace-Boom in Deutschland mit 38 Wallace-Verfilmungen. Viele dieser Filme wurden mit dem Spruch „Hallo, hier spricht Edgar Wallace!“ eingeleitet. In den Filmen stellte Klaus Kinski oft den Verbrecher oder einen Verdächtigen dar. Zu weiteren Stammschauspielern der deutschen Serie gehörten auch Karin Dor, Eddi Arent, Joachim Fuchsberger, Siegfried Schürenberg und Heinz Drache. Auch in Großbritannien entstanden in dieser Zeit viele Romanverfilmungen, die jedoch in Deutschland kaum bekannt sind.
Der Apex-Verlag widmet Edgar Wallace eine umfangreiche Werk-Ausgabe.
Der grüne Bogenschütze im Apex-Verlag
Ein Vorwort von Christian Dörge
»Daraus kann man doch keinen Film machen. Unmöglich!
Ein Mörder mit 'nem Flitzebogen? Das glaubt kein Mensch. Hah!
Der grüne Bogenschütze. Absurder Gedanke!«
- Eddi Arendt als Spike Holland
in Der grüne Bogenschütze (Rialto-Film, 1961)
Als mir Gert Fröbe erstmals begegnete, geschah dies auf der damals – es wird um das Jahr 1980 herum gewesen sein – sogenannten Mattscheibe, im Fernsehen, im – ja, Pantoffelkino. Und Gert Fröbe jagte mir sogleich eine Heidenangst ein, fand besagte Begegnung doch beim Anschauen des nachhaltig eindrucksvollen Films Es geschah am hellichten Tag statt, in welchem er – Gert Fröbe – in der Rolle des Geschäftsmannes Schrott glänzte. Dieser Herr Schrott nun fuhr in einer schwarzen Limousine (für Auto-Freunde: ein Buick Special, Serie 40) über Land und ermordete kleine Mädchen unter Zuhilfenahme eines Rasiermessers, und die Darstellung Fröbes glich eine Parforceritt in die tiefsten Abgründe des Irrsinns und der menschlichen Zerrissenheit, die verstehen lässt, warum Anthony Perkins' Interpretation des Norman Bates vergleichsweise sympathisch erscheinen mag. Herr Schrott indes verkörpert das ultimativ Böse und die unentrinnbarste Form physischer Gewalt schlechthin: ein niemals schlafender böser Geist, der – einmal entfesselt – eine zerstörerische, rücksichtslose (und meist unaufhaltsame) Mordlust von erschütternder Grausamkeit entfesselt. Zwar begeht der Film den Kardinals-Fehler schlechthin, indem er die Erklärung für die Schlechtigkeit des Herrn Schrott gleich mitliefert (die zänkisch-herrschsüchtige Ehefrau ist schuld...), aber erstens sind derlei Erklärbär-Tendenzen im Film nichts wirklich Neues und zweitens schmälert dies nicht die darstellerische Kraft von Gert Fröbe, dem es sogar gelingt, der Figur des Herrn Schrott allerlei irreführende Zwischentöne zu entlocken. Seine Co-Stars – das waren u.a. Heinz Rühmann (als Dr. Hans Matthäi) und Siegfried Lowitz als Leutnant Henzi – konnten, obgleich nicht minder großartig, im Vergleich nur verlieren.
Nicht anders sollte es Klausjürgen Wussow, Karin Dor, Eddi Arent, Harry Wüstenhagen und Helga Feddersen ergehen, die sich 1961 (also gut drei Jahre nach Es geschah am hellichten Tag) mit Gert Fröbe in der Edgar-Wallace-Adaption Der grüne Bogenschütze tummelten – gegen die Präsenz eines Abel Bellamy (Fröbe) war kein Kraut gewachsen; eine Lehre, die auch an 00-Martini-Schlürfer James Bond nicht spurlos vorbeigehen sollte (file under Goldfinger, 1964). Wie chancenlos mochte da erst ein in grünen Satin gewandeter Bogenschütze sein, der durch die Heide schleicht und seine Opfer mittels grünlackierter Pfeile vom Leben zum Tode befördert? Es gilt als unausgesprochene Tatsache: Ein treffenderer Titel für Der grüne Bogenschütze – gemeint ist hier freilich der Film, nicht die literarische Vorlage – wäre vermutlich Die Gert-Fröbe-Show gewesen, denn mal ehrlich: Für den Kerl in Strumpfhosen interessiert sich im Grunde niemand, jeder wartet eigentlich auf die nächste Bosheit, die Abel Bellamy ausheckt – oder darauf, dass er vernehmlich »Savini!!!« durch die Beschaulichkeit von Garre Castle brüllt.
Nach Es geschah am hellichten Tag, Der grüne Bogenschütze und seinem Auftritt im dritten Bond-Abenteuer – in letzterem sorgte Fröbe mit leichter Hand und sozusagen im Plauderton dafür, dass sich Bond-Bösewichte bis in alle Ewigkeit an seiner Darstellung des Auric Goldfinger werden messen lassen müssen – war Gert Fröbe bei mir auf die Rolle des Bösewichts 'abonniert', wie es so schön heißt. Was ihm freilich nicht gerecht wird. Allein: Damals, das waren die 1980er, die filmische Sozialisierung ging eher gemütlich des Weges, was der Überschaubarkeit des Fernseh-, Video- und Kino-Angebots geschuldet ist. Folglich dauerte es ein kleines Weilchen, bis ich auch den guten Kerl und den humorigen Kerl in Gert Fröbe entdecken durfte – in Filmen wie Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (1960), Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten (Those Magnificent Men In Their Flying Machines, 1965) sowie in Und ewig singen die Wälder (1959), wo er beides sein durfte: grantiger, gewalttätiger Widerling und geläuterter, herzensguter Vater resp. Großvater.
Und wann immer mir Gerd Fröbe – filmisch – begegnet, irgendwie erwarte ich stets, dass er mit Vehemenz nach Julius Savini verlangt.
Für Freunde der Fußnote noch dies: Wussow und Fröbe sollten sich später – viel später, im Jahr 1989 – erneut begegnen, in der 70. Folge der Schwarzwaldklinik, und selbst hier, in seiner letzten Rolle, überragte Gert Fröbe jedermann – und die einzigen, die hier gewagtes Grün trugen, waren die Ärzte im OP. Aber das ist vermutlich eine andere Geschichte.
Christian Dörge,
München, im April 2017
1
Spike Holland schrieb das letzte Wort seines Artikels und zog zwei dicke Linien quer über die Seite, um damit den Schluß des Aufsatzes anzudeuten. Dann warf er seine Feder wütend fort. Der Halter blieb zitternd im Fensterrahmen stecken.
»Keine unwürdige Hand soll jemals wieder dies Schreibinstrument berühren, das meine phantasievollen Gedanken zu Papier brachte,« sagte er zornig.
Der andere Reporter schaute auf. Sie waren beide allein in dem Raum.
»Was haben Sie denn für einen schönen Artikel geschrieben, Spike?«
»Einen Bericht über die gestrige Hundeschau,« erwiderte Spike eisig. »Ich verstehe von Hunden nur so viel, dass das eine Ende bellt und das andere wedelt. Aber der verfluchte Syme hat mich auf die Geschichte gehetzt. Obendrein hat er mir noch gesagt, dass sich ein Kriminalist mit Bluthunden anfreunden müsse! Der Mann ist nicht ganz richtig im Kopf. Er sieht nichts so, wie es wirklich ist, er lebt in einer Welt von Vorstellungen, die er sich selbst zurechtgelegt hat. Kommt man ihm mit der funkelnagelneuen Geschichte eines großartigen Bankraubes, dann springt er einem mit der Zumutung ins Gesicht, man solle einen Artikel darüber schreiben, was Bankdirektoren gern zu Mittag essen!«
Der andere schob seinen Stuhl zurück.
»Hierzulande finden Sie fast nur solche Einstellung. Ich möchte beinahe sagen, dass unsere Landsleute im Vergleich zu den Amerikanern verrückte Dickschädel sind.«
»Sie können jede Wette darauf eingehen, dass das nicht stimmt,« unterbrach ihn Spike schnell. »Die Leute am grünen Redaktionstisch sind eine Rasse für sich, sie sind von Natur aus vollständig unfähig, das Leben vom Standpunkt eines Berichterstatters zu sehen. Das heißt, sie haben irgendwie ein minderwertiges Gehirn. Jawohl, mein Herr, das ist ganz gleich, ob sie in den Vereinigten Staaten oder in England leben, das macht gar keinen Unterschied – sie haben alle einen Klaps!«
Er seufzte tief, lehnte sich in den Stuhl zurück und legte seine Füße auf den Tisch. Spike war noch jung. Sein sommersprossiges Gesicht zeigte gesunde Farbe und seine rötlichen Haare hingen etwas wirr durcheinander.
»Hunde-Ausstellungen sind sicher sehr interessant –« begann er gerade wieder, als plötzlich die Tür heftig aufgerissen wurde und ein Mann hereinschaute. Er war in Hemdärmeln und trug eine außergewöhnlich große Hornbrille.
»Spike... brauche Sie. Haben Sie was zu tun?«
»Ich bin gerade im Begriff, Wood aufzusuchen, den Mann mit den Kinderhäusern – ich habe eine Verabredung zum Essen mit ihm.«
»Der kann warten.«
Er winkte und Spike folgte ihm in sein kleines Bureau.
»Kennen Sie Abel Bellamy aus Chicago... den Millionär?«
»Abel? Ja... ist er tot?« fragte Spike hoffnungsfroh. »Aus dem Kerl kann man nur eine gute Geschichte drehen, wenn er das Zeitliche gesegnet hat.«
»Kennen Sie ihn gut?« fragte der Redakteur.
»Ich weiß, dass er aus Chicago stammt, Millionen beim Bauen verdient hat und ein furchtbar grober Kerl ist. Er lebt schon seit acht oder neun Jahren in England, glaube ich... er bewohnt eine richtige Burg... und hat einen tauben Chinesen als Chauffeur –«
»Das Zeug weiß ich auch schon. Was ich wissen will, ist nur: Gehört Bellamy zu der Sorte Menschen, die gern von sich reden machen?... Mit anderen Worten: Ist der Grüne Bogenschütze wirklich ein Gespenst oder eine Erfindung?«
»Ein Gespenst?«
Syme nahm einen Briefbogen und reichte ihn dem erstaunten Amerikaner über den Tisch. Die Mitteilung war augenscheinlich von jemand geschrieben, dem die Regeln der englischen Sprache tief verborgene Mysterien waren.
»Liberr Herr,
Der grüne Bogenschütze is wider da in Schlos Garre. Mr. Wilks, der Hausmeister hat ihm geseen. Liber Herr der grüne Bohgenschitze is in Mr. Bellamys Zimmer gekommen und hat die Türe offen gelassen. Alle Dinstleute gehn wech. Mr. Bellamy sacht er schmeist alle raus die davon sprechen aber sie geen alle wech.«
»Und wer zum Donnerwetter ist denn der Grüne Bogenschütze?« fragte Spike erstaunt.
Mr. Syme rückte seine Brille zurecht und lächelte. Spike war ganz verdutzt, dass er etwas so Menschliches tun konnte.
»Der Grüne Bogenschütze von Garre Castle war früher einmal die berühmteste Geistererscheinung Englands. Lachen Sie nicht, Spike, es ist kein Märchen. Der wirkliche grüne Bogenschütze wurde von einem de Curcy – dieser Familie gehörte früher Garre Castle – im Jahre 1487 gehängt.«
»Sehen Sie mal an! Dass Sie sich darauf noch besinnen können!« sagte Spike voll Hochachtung.
»Ziehen Sie die Sache nicht ins Lächerliche! Er wurde gehängt, weil er gewildert hatte. Heute noch können Sie den Eichenbalken sehen, an dem er hing. Seit Jahrhunderten ist er in Garre umgegangen, das letzte Mal wurde er 1799 gesehen. In Berkshire kennt jedes Kind die Geschichte. Diesen Brief hat offenbar ein Dienstmädchen geschrieben, das hinausgeworfen wurde oder aus Furcht freiwillig den Dienst verließ. Jedenfalls geht daraus hervor, dass unser grüner Freund irgendwie wieder auf der Bildfläche erschienen ist.«
Spike zog die Stirne kraus und schob die Unterlippe vor.
»Jedes Gespenst, das Abel Bellamy zum Besten hat, soll sich nur vor ihm in Acht nehmen. Ich vermute aber, dass die ganze Sache halb Märchen und halb hysterische Einbildung ist. Soll ich wirklich zu Abel hingehen?«
»Gehen Sie zu ihm und überreden Sie ihn, dass er Sie eine Woche lang in seiner Burg wohnen lässt.«
Spike schüttelte energisch den Kopf.
»Da kennen Sie ihn schlecht. Wenn ich ihm mit einer solchen Zumutung komme, wirft er mich sofort hinaus. Aber ich werde zu seinem Sekretär, dem Savini, gehen. Der ist ein Mischblut oder so etwas Ähnliches – möglich, dass der mir helfen kann. Aber bisher scheint der Grüne Bogenschütze doch nicht mehr angestellt zu haben, als dass er die Tür in Abels Zimmer offenstehen ließ?«
»Also sehen Sie zu, was Sie bei Bellamy erreichen können – erfinden Sie irgendetwas, um in sein Schloss hineinzukommen. Nebenbei bemerkt hat er eine Unsumme dafür gezahlt. Und dann suchen Sie so unter der Hand die ganze Geschichte herauszubringen. Eine gute sensationelle Geistergeschichte haben wir schon seit Jahren nicht mehr drucken können. Außerdem hindert Sie ja gar nichts daran, mit Wood zu speisen, denn die Geschichte über den brauche ich auch. Wo werden Sie denn zu Mittag essen?«
»Im Carlton. Wood ist nur ein paar Tage in London und fährt heute Abend nach Belgien zurück.«
Der Redakteur nickte.
»Das paßt ja gut. Bellamy wohnt auch im Carlton-Hotel. Da können Sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«
Spike trollte sich zur Tür.
»Gespenstergeschichten und Kleinkinderbewahranstalten!« rief er vorwurfsvoll und bitter. »Und ich bin doch schon so lange scharf auf eine ordentliche Mordgeschichte mit allen Schikanen! Aber ich weiß schon, diese Zeitung braucht keinen Kriminalisten, die braucht nur einen Märchenerzähler.«
»Da sind Sie ja gerade der richtige Mann!« sagte Syme und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
2
Der Klang von Stahl gegen Stahl, das Staccato-Trommelfeuer elektrischer Nietmaschinen und Bohrer, der Höllenlärm von Hämmern und Meißeln waren eine liebliche Musik für Abel Bellamys Ohren.
Er stand am Fenster seines Wohnzimmers, die Hände auf dem Rücken. Unverwandt schaute er auf die andere Seite der Straße, wo sich dem Hotel gegenüber ein ungeheuer großes Gebäude im Bau befand. Das Stahlgerippe erhob sich türmhoch über die kleinen, niedrigen Häuser der Nachbarschaft zu beiden Seiten.
In den Straßen hatte sich eine kleine, neugierige Menschenmenge angesammelt. Ein schwerer, eiserner Träger wurde durch einen Flaschenzug an einem Drahtseil aufgewunden. Höher und höher hob der große Kran die schwere Last, die majestätisch und langsam hin- und herpendelte. Abel Bellamy brummte. Er war nicht zufrieden damit. Er wusste genau auf den Bruchteil eines Zolls, wo der richtige Aufhängungspunkt lag, und der Träger war schlecht ausbalanciert.
Wenn die bösen Werke der Menschen in blutiger Schrift an den Tatorten aufgezeichnet wären, wie die Alten glaubten, so würde der Name Abel Bellamys an vielen Stellen in brennendem Rot erscheinen: Auf einer kleinen Farm in Montgomery County in Pennsylvania und in einer grauen Halle im Pentonville-Gefängnis, um nur diese beiden Orte zu nennen.
Aber Abel Bellamy hatte keine schlaflosen Nächte wegen seiner Vergangenheit. Reue und Furcht kannte er nicht. Er hatte viel Böses getan und war damit sehr zufrieden. Die Erinnerung an das Entsetzen der Menschen, deren Leben er rücksichtslos zerbrochen hatte, an die Qualen, die er ihnen mit Vorbedacht zugefügt hatte, konnte ihm nichts anhaben. Das Bewusstsein, unschuldige Kinder in Not und Elend gestoßen und eine Frau durch seinen Hass zu Tode gehetzt zu haben, nur um dem Moloch seiner Selbstsucht ein Opfer zu bringen, verursachte ihm nicht eine Sekunde lang Gewissensbisse.
Wenn er sich überhaupt jemals an diese Dinge erinnerte, dachte er nur mit Befriedigung daran. Es erschien ihm vollständig richtig, dass alle niedergetreten wurden, die sich ihm in den Weg stellten. Das Glück hatte ihn stets begünstigt. Mit zwanzig Jahren war er noch ein einfacher Arbeiter gewesen, mit fünfunddreißig hatte er schon eine Million Dollars zusammengebracht und mit fünfundfünfzig war dieses Vermögen verzehnfacht. Er verließ die Stadt, in der er sich heraufgearbeitet hatte, siedelte sich auf einem Adelssitz in England an und wurde der Herr einer Besitzung, die die Blüte der englischen Ritterschaft durch das Schwert erobert und mit dem Schweiß und der Furcht der Unterdrückten erbaut hatte.
Seit dreißig Jahren war er mächtig genug, andere zu verfolgen, und warum sollte er sich auch selbst verleugnen? Er bereute nichts und handelte ganz nach seinen Wünschen. Er war von ungewöhnlicher Körpergröße, maß über sechs Fuß und hatte noch im Alter von sechzig Jahren die Kraft eines jungen Stieres. Auf der Straße sahen sich alle Leute nach ihm um, aber nicht wegen seiner außerordentlichen Größe, sondern wegen seiner ins Auge springenden Hässlichkeit. Sein rotes Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen, seine Nase war groß und knollenartig. Dicke Lippen umrahmten den großen Mund, dessen eine Seite etwas in die Höhe gezogen war, so dass er ständig höhnisch zu grinsen schien.
Er kümmerte sich nicht im mindesten um sein Aussehen und nahm es als eine Tatsache hin, wie ihm auch seine Leidenschaften etwas Selbstverständliches waren.
Das war Abel Bellamy aus Chicago, der jetzt in Garre Castle in Berkshire wohnte. Ein Mann, der weder Liebe noch Mitleid kannte.
Noch immer stand er an dem großen Fenster seines Hotels und beobachtete die Bauarbeiten. Wer der Erbauer oder was das für ein Bauwerk war, wusste er nicht und kümmerte sich auch nicht darum. Aber einen Augenblick schien es ihm, als ob die Männer, die sich drüben auf schmalen, gefährlichen Stegen bewegten, seine eigenen Arbeitsleute seien. Er stieß einen halbunterdrückten Fluch aus, als sein wachsames Auge eine Gruppe von drei Schmieden entdeckte, die von dem Polier nicht gesehen werden konnten und müssig umherstanden.
Plötzlich schaute er wieder auf den großen hängenden Träger und witterte sofort die Gefahr. Er hatte den Unfall, der sich jetzt ereignete, vorausgesehen. Das freie Ende des Doppel-T-Trägers schwang nach innen und schlug gegen ein Gerüst, auf dem zwei Leute arbeiteten. Er konnte das Krachen trotz des lärmenden Straßenverkehrs deutlich hören, er sah einen Augenblick einen Mann, der sich verzweifelt am Gerüst festhielt, dann in die Tiefe stürzte und in dem großen Wirrwarr von Ziegelhaufen und Mörtelmaschinen hinter dem großen hohen Arbeitszaun verschwand.
»Hm!« sagte Abel Bellamy.
Er war gespannt, was der Bauunternehmer wohl jetzt tun würde. Wie mochten die Gesetze dieses Landes sein, in dem er sich seit sieben Jahren niedergelassen hatte? Wenn es sein Bau gewesen wäre, würde er seinen Rechtsanwalt losgeschickt haben, um die Witwe aufzusuchen, bevor sie die Nachricht erreichen konnte, und sie zu veranlassen, alle ihre Anforderungen aufzugeben, ehe sie den Betrug wirklich gemerkt hätte. Aber diese Engländer waren dazu viel zu langsam.
Die Tür des Wohnzimmers öffnete sich, und er wandte sich um. Julius Savini war schon daran gewöhnt, nur durch ein Brummen gegrüßt zu werden, aber er merkte, dass er heute etwas mehr abbekommen würde als den gewöhnlichen Rüffel, der sein regelmäßiger Morgengruß war.
»Savini, ich habe seit sieben Uhr auf Sie gewartet. Wenn Sie Ihre Stellung behalten wollen, will ich Sie wenigstens vor Mittag sehen. Haben Sie mich verstanden?«
»Es tut mir sehr leid, Mr. Bellamy, aber ich sagte Ihnen bereits gestern abend, dass ich heute später kommen würde. Ich bin erst vor ein paar Minuten von außerhalb zurück.«
Die Haltung und die Stimme Savinis waren sehr unterwürfig. Er war schon ein ganzes Jahr Bellamys Privatsekretär und hatte gelernt, dass es zwecklos war, seinem Herrn zu widersprechen.
»Würden Sie einen Vertreter vom ›Globe‹ empfangen?« fragte er.
»Einen Zeitungsmenschen?« sagte Abel Bellamy verächtlich. »Sie wissen doch, dass ich niemals solche Leute empfange. Was will er? Wie heißt er denn?«
»Es ist Spike Holland, ein Amerikaner,« antwortete Julius, als ob er um Entschuldigung bitten wollte.
»Deswegen ist er mir nicht angenehmer,« brummte Bellamy. »Sagen Sie ihm, dass ich ihn nicht empfangen kann. Ich kümmere mich überhaupt nicht darum, was in den Zeitungen steht. Weshalb kommt er denn? Sie sind doch mein Sekretär!«
Julius machte eine Verlegenheitspause, bevor er antwortete.
»Er kommt wegen des Grünen Bogenschützen.«
Abel Bellamy fuhr wild herum.
»Wer hat denn etwas über den Grünen Bogenschützen ausgeplaudert? Das können doch nur Sie Esel gewesen sein!«
»Ich habe mit keinem Zeitungsmann gesprochen,« sagte Julius mürrisch. »Was soll ich ihm denn sagen?«
»Sagen Sie ihm, er soll sich zum – na, lassen Sie ihn meinetwegen heraufkommen.«
Bellamy hatte sich schnell überlegt, dass der Journalist wahrscheinlich irgendeine Geschichte erfinden würde, wenn er ihn nicht empfing, und er hatte gerade genug von den Zeitungen. Hatte nicht neulich solch ein Blatt den ganzen Lärm in Falmouth inszeniert?
In diesem Augenblick führte Julius den Besucher herein.
»Ihre Anwesenheit ist nicht notwendig,« fuhr Bellamy seinen Sekretär an. Als Savini gegangen war, brummte er: »Nehmen Sie sich eine Zigarre.«
Er stieß die Zigarrenkiste mit einem heftigen Ruck über den Tisch, wie wenn er einem Hund einen Knochen hinwürfe.
»Danke,« sagte Mr. Spike Holland, »ich rauche niemals Millionärzigarren. Ich bin nachher nur mit meinen unzufrieden.«
»Nun, was wollen Sie?« fragte Bellamy rauh und betrachtete Spike mit zusammengekniffenen Augen.
»Man erzählt sich da eine Geschichte, dass ein Geist in Garre Castle umgeht – ein Grüner Bogenschütze –«
»Das ist eine gemeine Lüge!« erwiderte Bellamy viel zu schnell und viel zu prompt. Hätte er sich dieser Äußerung gegenüber gleichgültig gezeigt, so hätte er Spike wahrscheinlich täuschen können. Aber die Schnelligkeit, mit der er alles ableugnete, machte dem Zeitungsmann die Geschichte sofort interessant.
»Wer hat Ihnen denn das erzählt?« fragte Bellamy.
»Wir haben es aus einer ganz sicheren Quelle.« Spike war vorsichtig. »Man hat uns mitgeteilt, dass der Grüne Bogenschütze von Garre in dem Schloss gesehen wurde und offensichtlich in Ihrem Zimmer aus- und eingegangen ist.«
»Ich sagte Ihnen doch, dass das gelogen ist!« Abel Bellamys Stimme hatte einen verletzenden und beleidigenden Ton. »Diese verrückten englischen Dienstboten haben nichts anderes zu tun, als sich nach Geistern umzusehen! Es stimmt, dass ich die Tür meines Schlafzimmers eines Nachts offen fand, aber ich habe vermutlich vergessen, sie zu schließen. Wer hat Ihnen denn diese Auskunft gegeben?«
»Wir haben die Nachricht von drei verschiedenen Seiten,« log Spike frech darauf los. »Und alle drei Berichte ergänzen sich, Mr. Bellamy,« meinte er lächelnd, »es wird schon was daran sein. Außerdem erhöht doch so eine Geistererscheinung den Wert einer Burg oder eines Schlosses!«
»Da sind Sie aber sehr im Irrtum,« erwiderte Abel Bellamy, der die günstige Gelegenheit wahrnahm, das Thema zu ändern. »Es bringt eine solche Besitzung nur in schlechtes Gerede. Wenn Sie auch nur eine Zeile von Geistern und Gespenstern in Ihre Zeitung setzen, dann werde ich gerichtlich gegen Sie vorgehen – denken Sie daran, junger Mann!«
»Es ist möglich, dass auch der Geist noch irgendetwas unternimmt,« sagte Spike äußerst liebenswürdig.
Er ging die Treppe hinunter und war sich noch nicht klar, was er tun sollte.
Abel Bellamy war nicht der gewöhnliche Millionär, der sich in England ansiedelt und dann von selbst in der englischen Gesellschaft Zutritt findet. Er war von niederer Herkunft, nur halb gebildet und ohne irgendwelchen gesellschaftlichen Ehrgeiz.
Als Spike in die Hotelhalle eintrat, fand er Julius, der mit einem großen Herrn mit grauem Bart sprach, der dem besseren Handwerkerstand anzugehören schien. Julius gab Holland ein Zeichen, zu warten.
»Sie wissen, in welchem Zimmer er ist, Mr. Creager? Mr. Bellamy erwartet Sie.«
Als der Mann gegangen war, wandte sich Julius an den Reporter.
»Nun, was hat er gesagt, Holland?«
»Er hat die ganze Geschichte abgestritten. Aber in allem Ernst, Savini, ist etwas daran?«
Julius zuckte die schmalen Schultern.
»Ich weiß nicht, woher Sie die ganze Geschichte haben und Sie können sich darauf verlassen, dass ich Ihnen unter keinen Umstanden etwas erzähle. Der Alte hat mir sowieso die Hölle heiß gemacht, weil er dachte, ich hätte Ihnen den Tip gegeben!«
»Dann stimmt die Geschichte also. Irgendein grauenerregendes Gespenst hat in Ihren Mauern herumgespukt. Hat es auch irgendwie mit Ketten gerasselt?«
Julius schüttelte den Kopf.
»Von mir werden Sie nichts herausbekommen, Holland. Ich kann höchstens meine Stellung dadurch verlieren.«
»Wer war denn der Mensch, den Sie eben hinaufgeschickt haben? Er sah aus wie ein Polizist.«
Julius grinste.
»Er hat genau dieselbe Frage über Sie an mich gestellt, als Sie herunterkamen. Er heißt Creager und ist ein –« Er zögerte. »Nun ja, ich will nicht gerade sagen, Freund, er ist so eine Bekanntschaft von dem Alten. Wahrscheinlich bezieht er eine Art Pension von ihm. Er kommt in regelmäßigen Zwischenräumen, und ich bilde mir ein, dass er nicht umsonst erscheint. Bis der andere herunterkommt, ruft mich Bellamy sicher nicht. Kommen Sie und trinken Sie einen Cocktail mit mir.«
Spike schüttelte den Kopf.
Während sie noch sprachen, kam Creager zur sichtlichen Überraschung von Julius die Treppe wieder herunter. Er sah böse und verbissen aus.
»Er will mich nicht vor zwei Uhr sehen,« sagte er mit unterdrückter Wut. »Glaubt er denn, dass ich auf ihn warte? Wenn er sich das einbildet, irrt er sich gewaltig! Sagen Sie ihm das nur, Mr. Savini.«
»Was ist denn los?« fragte Julius.
»Er sagte zwei Uhr. Gebe ich zu. Aber ich bin doch nun in die Stadt gekommen, – warum sollte ich denn bis zum Nachmittag warten? Warum kann er mich nicht vormittags empfangen?« fragte Creager wütend. »Er behandelt mich wie einen Hund, er glaubt, er hat mich so –« Er machte eine bezeichnende Geste mit dem abwärts gerichteten Daumen. »Außerdem tobt er über einen Zeitungsreporter – das sind Sie wohl, wenn ich nicht irre.«
»Das stimmt genau,« entgegnete Spike.
»Also Sie können ihm sagen,« wandte sich Creager wieder am Julius und tippte dem jungen Mann mit dem Finger auf die Brust, um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, »dass ich um zwei Uhr komme. Und ich werde eine lange Unterredung mit ihm haben oder ich werde mich selbst mit einem Zeitungsreporter ein wenig unterhalten.«
Mit dieser Drohung ging er fort.
»Savini,« sagte Spike sanft, »ich wittere eine gute Geschichte!«
Aber Savini sprang die Treppe hinauf und nahm immer zwei Stufen zu gleicher Zeit, um schnell zu seinem aufgebrachten Herrn zu kommen.
3
Spike sah auf die Uhr – es war fünf Minuten vor eins. Aber kaum hatte er sich in einem bequemen Sessel in der Eingangshalle niedergelassen, um auf John Wood zu warten, als dessen schlanke Gestalt sich schon im Hoteleingang zeigte. Die Erscheinung dieses hochgewachsenen Mannes fiel allgemein auf. Er war vor der Zeit ergraut, aber sein Gesicht war von einer eigenartigen Schönheit, die sich besonders in den lebhaften Augen konzentrierte. Sein ausdrucksvoller Mund schien zu sprechen, auch wenn er schwieg.
Er reichte Spike die Hand und drückte sie freundlich.
»Ich komme doch nicht etwa zu spät? Ich war den ganzen Vormittag sehr beschäftigt, und ich möchte den Zug um halb drei nach dem Kontinent nehmen. Deshalb bin ich so eilig.«
Sie gingen zusammen in den großen Speisesaal, und der Oberkellner führte sie zu einem reservierten Tisch in einer Ecke. Spike war durch das interessante Gesicht des anderen gefesselt und stellte unwillkürlich Vergleiche mit der abstoßenden Hässlichkeit des Mannes an, den er soeben verlassen hatte. Wood war aber auch das gerade Gegenteil von Abel Bellamy. Sein gütiger Charakter spiegelte sich in seinem seelenvollen Blick wider, und ein freundliches Lächeln lag ständig in seinen Augen. Alle seine Bewegungen waren gewandt und lebhaft, und seine langen, weißen, zarten Hände schienen niemals zu ruhen.
»Nun, was wollen Sie von mir erfahren? Vielleicht kann ich Ihnen alles erzählen, bevor die Suppe serviert wird: Ich bin Amerikaner –«
»Das hätte ich nicht vermutet.«
John Wood nickte.
»Ich habe lange Zeit in England gelebt, ich bin –« er machte eine Pause – »lange Jahre nicht daheim gewesen. Ich möchte nicht viel von mir selbst erzählen und meine bescheidenen Verdienste mit möglichst wenig Worten abtun. Ich lebe jetzt in Wenduyne in Belgien und leite dort ein Heim für schwindsüchtige Kinder. Ich will die Anstalt aber noch dieses Jahr nach der Schweiz verlegen. Die Woodsche Lungenheilmethode stammt von mir – nebenbei bin ich Junggeselle – aber das ist alles, was von mir zu berichten ist.«
»Ich möchte gerne wegen der Kinderheime mit Ihnen sprechen. Wir haben einen längeren Artikel darüber in einer belgischen Zeitung gefunden. Dort stand auch, dass Sie die Absicht haben, große Summen zusammenzubringen, um in jedem Lande Europas ein Mutterhaus zu errichten. Was verstehen Sie darunter?«
Mr. Wood lehnte sich in seinen Stuhl zurück und dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete.
»In allen Ländern Europas, besonders in England, wird eine Frage immer brennender – ich möchte sie das Problem der ungewünschten Kinder nennen. Vielleicht ist ungewünscht nicht das richtige Wort. Nehmen wir einmal an, eine Witwe bleibt nach dem Tod ihres Mannes ohne Mittel zurück und muss ein oder zwei Kinder ernähren. Sie kann unmöglich einem Beruf oder einer Beschäftigung nachgehen, es sei denn, dass sich jemand um ihre Kinder kümmert, und das kostet wieder Geld. Dann gibt es andere Kinder, deren Geburt man fürchtet, deren Existenz Schande und Verlegenheit bringt, die versteckt werden müssen und dann in solche verrufenen Kinderheime kommen, deren Inhaberinnen es für ein paar Dollars die Woche übernehmen, nach ihnen zu sehen und sie großzuziehen. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht in dem einen oder anderen Lande die Leiterinnen solcher Heime unter schwerer Anklage vor Gericht gestellt werden, sei es, dass sie die Erziehung dieser Kinder vernachlässigt oder dass sie direkt beschuldigt werden, sie beiseite gebracht zu haben.«
Dann begann er in großen Zügen seinen Plan über die Errichtung von Mutterhäusern zu entwerfen, in denen solche unerwünschten Kinder Aufnahme finden könnten und sorgfältig von besonders zu diesem Beruf vorgebildeten Pflegerinnen betreut werden sollten.
»Allmählich könnte man dann Schülerinnen annehmen, die für ihre Ausbildung in der Kinderpflege ein Lehrgeld zahlen. Meiner Meinung nach könnte man im Lauf der Zeit diese Anstalten so organisieren, dass sie sich selbst unterhalten. Dann würde man der Welt gesunde Knaben und Mädchen schenken, die fähig wären, den Kampf ums Dasein erfolgreich zu bestehen.«
Während des Essens sprach er nur über kleine Kinder. Ihre Pflege war sein Lebensinhalt. Er erzählte des Langen und Breiten von einem kleinen deutschen Waisenkind, das er in seinem Heim besonders hegte und schilderte es so lebhaft, dass die Gäste an den anderen Tischen sich nach ihm umwandten.
»Seien Sie nicht böse, dass ich Ihnen das sage, Mr. Wood, aber Sie haben doch eine sonderbare Liebhaberei.«
Der andere lachte.
»Das ist schon möglich,« meinte er. »Wer sind diese Leute?« fragte er dann plötzlich.
Zwei Herren und eine junge Dame hatten den Speisesaal betreten. Der erste war hochgewachsen, schlank und hatte weiße Haare. Über seine Gesichtszüge breitete sich eine stille Melancholie. Sein Begleiter war ein elegant gekleideter junger Mann, dessen Alter zwischen neunzehn und dreißig liegen konnte. Er schien von der tadellosen Frisur bis zu den Lackschuhen eine lebende Reklame für seinen Schneider zu sein. Aber am meisten fesselte die Erscheinung der jungen Dame.
»Sie ist von unwirklicher Schönheit, als ob sie aus einem Gemälde gestiegen sei,« sagte Spike.
»Wer ist sie denn?«
»Miss Howett – Valerie Howett. Der ältere Herr ist Mr. Walter Howett, ein Engländer, der viele Jahre in den Vereinigten Staaten in dürftigen Verhältnissen lebte, bis Petroleum auf seiner Farm gefunden wurde. Auch dieser elegante junge Mann ist Engländer – Featherstone. Er treibt sich überall herum – ich habe ihn schon in fast allen Nachtklubs von London getroffen.«
Die kleine Gesellschaft nahm an einem Tisch in ihrer Nähe Platz, und Wood konnte von da aus die junge Dame genauer betrachten.
»Sie ist in der Tat außerordentlich schön,« sagte er mit leiser Stimme. Aber Spike war vom Tisch aufgestanden, zu den anderen hinübergegangen und begrüßte den älteren Herrn mit einem Händedruck.
Nach kurzer Zeit kam er zurück.
»Mr. Howett hat mich eben gebeten, nach Tisch auf sein Zimmer zu kommen. Dürfte ich Sie vielleicht bitten, mich nachher einen Augenblick zu entschuldigen?«
»Natürlich.«
Die junge Dame vom Nebentisch schaute während des Essens zweimal mit fragenden, ungewissen Blicken zu ihnen herüber, als ob sie John Wood schon früher gesehen hätte und sich nun überlegte, wo und unter welchen Umständen.
Spike hatte die Unterhaltung auf ein Thema gebracht, das ihn im Augenblick viel mehr interessierte als kleine Kinder.
»Mr. Wood, ich vermute, dass Sie auf Ihren vielen Reisen noch niemals einem wirklichen Geist begegnet sind?«
»Nein,« erwiderte der andere mit einem ruhigen Lächeln. »Ich glaube wirklich nicht.«
»Kennen Sie Bellamy?«
»Abel Bellamy – ja, ich habe von ihm gehört. Er ist doch der Mann aus Chicago, der Garre Castle kaufte?«
Spike nickte.
»Und in Garre Castle treibt der Grüne Bogenschütze sein Wesen. Der alte Bellamy freut sich gerade nicht so sehr über den Spuk, obwohl viele andere recht stolz sein würden über einen solchen Schlossgeist. Er hat versucht, mich vollständig auszuschalten und mir diese schöne Geschichte vorzuenthalten.«
Er erzählte alles, was er von dem Grünen Bogenschützen von Garre wusste, und Mr. Wood hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen.
»Es ist merkwürdig. Ich kenne die Legende von Garre Castle auch und habe auch von Mr. Bellamy gehört.«
»Kennen Sie ihn genauer?« fragte Spike schnell. Aber der andere schüttelte den Kopf.
Gleich darauf brach Mr. Howetts Gesellschaft auf. Mr. Wood winkte dem Kellner und zahlte. Dann erhoben sie sich.
»Ich muss einen Brief schreiben,« sagte Wood. »Haben Sie lange mit Mr. Howett zu tun?«
»In fünf Minuten bin ich wieder hier. Ich weiß nicht, was er von mir will, aber ich glaube nicht, dass es länger dauern wird.«
Howetts Zimmer waren auf demselben Flur wie die Bellamys. Als Spike hinaufkam, wurde er schon von Mr. Howett erwartet. Mr. Featherstone hatte sich scheinbar schon vorher verabschiedet. Nur der Millionär und seine Tochter waren in dem Zimmer.
»Treten Sie bitte näher, Holland.« Howett sprach mit einer müden Stimme und sah niedergedrückt aus. »Valerie, dies ist Mr. Holland, er ist ein Journalist und kann dir vielleicht helfen.«
Die junge Dame nickte ihm freundlich zu.
»In Wirklichkeit möchte nämlich meine Tochter Sie sehen, Holland,« sagte Howett zu Spikes Genugtuung.
»Es handelt sich um folgendes, Mr. Holland,« begann sie. »Ich möchte eine Dame ausfindig machen, die vor zwölf Jahren in London lebte.« Sie zögerte. »Es ist eine Mrs. Held, die in der Little Bethel Street, Camden Town, wohnte. Ich habe bereits Nachforschungen in der Straße selbst gemacht, es ist eine schrecklich armselige Gegend, und niemand kann sich dort an sie erinnern. Ich wüsste überhaupt nicht, dass sie sich jemals dort aufgehalten hat, wenn ich es nicht durch einen Brief erfahren hatte, der in meinen Besitz kam.« Wieder machte sie eine Pause. »Dass der Brief in meinem Besitz ist, ist dem Adressaten unbekannt. Er hat auch allen Grund, alle Nebenumstände möglichst geheimzuhalten. Einige Wochen, nachdem der Brief geschrieben wurde, verschwand Mrs. Held.«
»Haben Sie öffentliche Nachfragen in die Zeitungen eingesetzt?«
»Ja, ich habe alles getan, was nur irgend möglich war. Auch die Polizei unterstützt mich schon seit Jahren.«
Spike schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen dabei nicht viel helfen.«
»Das dachte ich auch,« sagte Mr. Howett. »Aber meine Tochter glaubte, dass Zeitungsleute viel mehr hören als die Polizei –«
Plötzlich wurde sie durch Lärm auf dem Flur unterbrochen. Man hörte eine rauhe, erregte Stimme, dann einen Fall. Spike schaute auf und eilte sofort in den Korridor hinaus.
Dort bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Der Mann mit dem grauen Bart, den der Sekretär Creager nannte, erhob sich langsam vom Boden. Auf der anderen Seite sah Spike die große, unförmige Gestalt Bellamys im Rahmen seiner Zimmertür stehen.
»Das wird Ihnen noch leid tun,« rief Creager erregt.
»Scheren Sie sich zum Teufel,« brüllte Bellamy. »Wenn Sie noch einmal hierherkommen, werfe ich Sie zum Fenster hinaus.«
»Das wird Ihnen teuer zu stehen kommen!«
Creager schluchzte beinah vor Wut.
»Aber nicht in Dollars und Cents,« fuhr der Alte böse auf. »Und hören Sie, Creager, Sie beziehen eine Pension von der Regierung – nehmen Sie sich in Acht, dass Sie die nicht verlieren!« Mit diesen Worten drehte er sich um und warf die Tür heftig ins Schloss.
Spike wandte sich an den Mann, der den Gang entlanghinkte.
»Was ist denn los?«
Creager stand einen Augenblick still und rieb seine Knie.
»Sie sollen alles erfahren! Sie sind doch ein Reporter? Ich habe eine gute Sache für Sie.«
Spike war ein Zeitungsmann mit Leib und Seele, und irgendeine Geschichte, über die man einen guten Artikel schreiben konnte, war für ihn das halbe Leben und bedeutete Erfüllung seiner ehrgeizigen Wünsche. Er ging schnell zu Howett zurück.
»Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen? Ich muss diesen Mann sprechen.«
»Wer hat ihn so zu Boden geworfen – Bellamy?«
Valerie fragte ihn. Eine gewisse Erregung klang in ihrer Stimme, so dass Spike erstaunt aufschaute.
»Jawohl, Miss Howett – kennen Sie ihn?«
»Ich habe manches über ihn gehört,« sagte sie langsam.
Spike begleitete den wütenden Craeger in die Hotelhalle. Er war bleich und zitterte, und es dauerte einige Zeit, bevor er seine Stimme wieder beherrschte.
»Es stimmt, was er sagte. Es ist möglich, dass ich meine Pension verliere, aber das will ich auf mich nehmen. Sehen Sie, Mr. –«
»Holland ist mein Name.«
»Hier kann ich Ihnen nicht alles erzählen, aber wenn Sie in mein Haus kommen wollen – Rose Cottage, Field Road, New Barnet –«
Spike notierte sich die Adresse.
»Ich habe Ihnen etwas zu erzählen, was eine große Sensation hervorrufen wird. Bestimmt!« sagte er mit Befriedigung.
»Das ist fein!« rief Spike. »Wann kann ich Sie sprechen?«
»Kommen Sie in ein paar Stunden.« Mit einem kurzen Gruße entfernte sich Craeger.
Wood, der interessiert zugeschaut hatte, trat auf Spike zu.
»Der Mann sah ziemlich mitgenommen aus.«
»Ja, man hat ihm böse mitgespielt – aber er hat eine Geschichte zu erzählen, die ich brennend gern schreiben möchte.«
»Ich habe gehört, was er Ihnen mitteilte,« sagte Wood lächelnd. »Aber nun muss ich mich verabschieden. Besuchen Sie mich doch einmal in Belgien.« Als er Spike die Hand schüttelte, sagte er noch: »Vielleicht kann ich Ihnen eines Tages eine Geschichte über Abel Bellamy erzählen, die beste, die Sie jemals gehört haben. Wenn Sie noch genauere Nachrichten über die Kinderheime haben wollen, wenden Sie sich nur ruhig an mich.«
Als Wood gegangen war, kehrte Spike zu Howett zurück, aber dort erfuhr er nur, dass sich Miss Howett mit bösen Kopfschmerzen zurückgezogen hatte, und dass die Besprechung, wie er ihr bei ihren Nachforschungen vielleicht helfen könnte, auf unbestimmte Zeit verschoben war.
4
Als Spike sich am Nachmittag ins Bureau begab, schrieb er einen langen und glänzenden Artikel über die großartigen Kinderheime, die John Wood ins Leben rufen wollte. Dann nahm er ein Mietauto und fuhr nach New Barnet. Als er an Fleet Street vorbeikam, sah er ein Zeitungsplakat mit großen Buchstaben. Er klopfte dem Chauffeur und ließ den Wagen halten. Dann fluchte er leise Vor sich hin, denn dort stand zu lesen:
Der geheimnisvolle Spuk in Garre Castle.
Er kaufte das Blatt. Die Unterlagen für den Artikel stammten wahrscheinlich von derselben Persönlichkeit, die auch das Schreiben an den »Globe« geschickt hatte. Die eigentliche Neuigkeit war in fünf Zeilen abgemacht, aber darunter stand ein langer Artikel, der die ganze Geschichte von Garre Castle und alle die früheren Fälle, in denen man den Grünen Bogenschützen dort gesehen hatte, berichtete.
»Es gibt eine Überlieferung im Lande, dass der geheimnisvolle Geist von Kopf bis zu Fuß grün gekleidet ist. Auch sein Bogen und seine Pfeile sollen von derselben grünen Farbe sein!«
Die Fahrt nach New Barnet dauerte sehr lange und führte durch offene Felder. Rose Cottage lag von der Straße abseits hinter großen beschnittenen Hecken. Das ganze Gebäude war von Schlinggewächsen umzogen. Ein kleiner Garten lag davor und ein größerer, der zu einer kleinen Pflanzung führte, musste offenbar auf der Rückseite liegen. Spike beobachtete dies alles vom Wagen aus. Er öffnete die kleine Gartentür, ging den gepflasterten Weg zum Hause entlang und klopfte an die Tür. Niemand antwortete ihm, obwohl sie unverschlossen und nur angelehnt war. Wieder klopfte er, aber niemand meldete sich.
Schließlich stieß er die Tür auf und rief Craegers Namen. Als er auch damit keinen Erfolg hatte, ging er zur Straße zurück, um sich umzusehen, ob er nicht irgendjemand fände. Endlich sah er auch eine Frau, die wohl aus einem der kleinen Häuser am Ende der Straße gekommen war.
»Mr. Creager? Ja, mein Herr, der wohnt hier, er ist um diese Tageszeit gewöhnlich zu Hause.«
»Aber er scheint jetzt nicht da zu sein. Wohnt sonst noch jemand bei ihm?«
»Nein, nur meine Schwester kommt morgens zu ihm und reinigt das Haus. Aber gehen Sie doch hinein und warten Sie auf ihn!«
Der Vorschlag erschien Spike gut, besonders da es zu regnen begann. Er ging in das Haus, den Gang entlang und kam zu einem Raum, der offenbar als Wohnzimmer diente. Als er sich umschaute, bemerkte er, dass es sehr gut eingerichtet war. Über dem Kamin hing ein Porträt Craegers. Er trug eine Art Uniform, die Spike aber nicht kannte.
Er setzte sich, nahm die Zeitung aus seiner Tasche und las noch einmal genau die Geschichte des Grünen Bogenschützen durch. Es war doch eigentlich unglaublich, dass derartige Überlieferungen sich noch im 20. Jahrhundert halten konnten und dass es Leute gab, die an solches Zeug glaubten.
Dann legte er die Zeitung hin und schaute lässig durchs Fenster, von dem aus man den Garten übersehen konnte. Plötzlich sprang er auf. Hinter einem Busch auf der anderen Seite des niedrigen Rasens sah er einen Fuß steif ausgestreckt.
Spike eilte aus dem Zimmer quer über den freien Platz und blieb starr vor Schrecken stehen.
Creager lag dort auf dem Rücken, mit halbgeschlossenen Augen, die Hände auf der Brust im Todeskampf zusammengekrallt. Dicht an den Händen ragte der lange grüne Schaft eines Pfeils aus seiner Brust.
Spike kniete nieder und untersuchte, ob noch Leben in Creager wäre, aber es war umsonst. Dann durchforschte er schnell die nächste, unmittelbare Nachbarschaft. Der Garten war von den Feldern, zwischen denen er lag, durch einen niedrigen, hölzernen Zaun abgetrennt, über den ein gewandter Mann leicht springen konnte. Spike vermutete, dass Creager durch den Schuss sofort getötet worden war.
Er sprang über die Hecke und setzte seine Ermittelungen weiter fort. Zehn Schritte von dem Zaun entfernt stand ein großer Eichbaum, der genau in der Schusslinie des Pfeiles lag.
Er ging um den Baum herum und prüfte den Boden eingehend, aber er entdeckte keinerlei Fußspuren. Den Baum selbst konnte man von der Straße aus genau sehen. Er schaute an dem Stamm empor, ergriff einen der niederen Äste und schwang sich hinauf. Er kletterte höher und kam schließlich zu einer Stelle, von wo aus er den Toten sehen konnte. Instinktiv wusste er, dass der tödliche Pfeil von dieser Stelle aus abgeschossen worden war. Der Baum war dicht belaubt und bot genügend Schutz, und sicher war der Mörder nicht sichtbar, als der Tote das Gesicht gerade dem Baume zugewandt haben musste.
Nachdem er den Pfeil abgeschossen hatte, musste der Schütze von hier hinuntergesprungen sein. Dieser Gedanke kam Spike plötzlich, und er kletterte wieder hinab. Unten fand er zwei deutliche Fußabdrücke, die der Mörder zurückgelassen hatte, als er auf den Boden sprang. Er hatte sogar etwas noch viel Wichtigeres zurückgelassen, aber Spike sah es nicht sogleich, erst später fand er es zufällig. Es war ein Pfeil, der genau dem in Creagers Brust glich. Der Schaft war glatt poliert und mit grüner Emaillefarbe gestrichen, die Federn waren neu, giftig grün und sehr gut befestigt. Der Pfeil sah eigentlich zu dekorativ aus, als dass man hätte annehmen können, er sei zu praktischem Gebrauch bestimmt, aber die Spitze war nadelscharf.
Spike ging zum Hause zurück und schickte den Chauffeur, um die Polizei zu holen. Kurze Zeit später kam dann auch ein Schutzmann und ein Polizeisergeant. Bald darauf erschien auch ein Beamter von Scotland Yard, der sofort die Überwachung des Hauses übernahm und den Abtransport des Toten anordnete.
Längst bevor die Polizei ankam, hatte Spike eine genaue Durchsuchung des Hauses vorgenommen. Vor allen Dingen durchsuchte er alle Papiere, die er irgendwie finden konnte. Er erkannte bald die Bedeutung der Uniform, die der Mann auf dem Bilde trug. Craeger war früher ein Gefangenenwärter gewesen, hatte einundzwanzig Jahre gedient und dann seinen ehrenvollen Abschied genommen. Ein Zeugnis hierüber war eins der ersten Papiere, die Spike in die Hand fielen, als er den Schreibtisch durchsuchte. Aber besonders war er darauf aus, Papiere zu finden, die das Verhältnis Creagers zu Abel Bellamy aufklären sollten. Eine Schublade des altertümlichen Schreibtisches konnte er nicht öffnen, und Gewalt wollte er nicht anwenden.
Er fand das Bankbuch und sah zu seinem Erstaunen, dass Creager verhältnismäßig wohlhabend war – er hatte ein Bankdepot von über zweitausend Pfund. Eine schnelle Durchsicht der einzelnen Seiten zeigte, dass Creager am ersten jeden Monats vierzig Pfund erhielt, die in bar eingezahlt wurden, wie aus den Eintragungen zu ersehen war. Die Höhe der Pension konnte Spike leicht feststellen, da sie alle Vierteljahre gezahlt wurde. Außer der Pension und den monatlichen vierzig Pfund waren nur noch die Zinsen der Papiere auf der Kreditseite eingetragen, die in seinem Besitz waren.
Er war gerade damit fertig geworden, die nötigen Personalnachrichten aus dem Paß zu notieren, als auch die Beamten schon kamen. Gleich darauf kam der Polizeiarzt und untersuchte die Leiche.
»Er ist schon über eine Stunde tot,« sagte er. »Der Pfeil hat ihn vollständig durchbohrt, er muss furchtbar scharf sein.«
Spike gab dem Beamten von Scotland Yard den zweiten Pfeil und führte ihn auch zu der Stelle, wo er ihn gefunden hatte.
»Der Mann, der dieses Verbrechen ausgeführt hat,« sagte der Detektiv, »muss ein außerordentlich geschickter Mann in diesen Dingen sein. Er hatte die Absicht, zu töten, und war seiner Sache ganz gewiss. Das ist der erste Mord durch einen Bogenschuß, den ich persönlich erlebt habe. Es wäre ganz gut, wenn Sie stets mit uns in Verbindung blieben, Holland. Ich vermute, dass Sie jetzt in Ihr Bureau gehen und Ihre große Neuigkeit in die Zeitung setzen wollen. Aber vielleicht sagen Sie mir, wie Sie überhaupt hierhergekommen sind?«
Spike erzählte genau, was sich im Carlton-Hotel abgespielt hatte und fügte noch eine weitere Information hinzu, die den Detektiv in größtes Erstaunen fetzte.
»Der Grüne Bogenschütze! Sie wollen doch damit nicht sagen, dass diese Tat von einem Geist oder einem Gespenst ausgeführt wurde? Ich kann Ihnen nur sagen, dass dieser Geist sehr real und wirklich war, denn es bedurfte eines Armes von gewaltiger Kraft und eines stahlharten Bogens, um Creager von einer solchen Entfernung aus zu erschießen. Wir wollen jetzt zu Bellamy gehen.«
Mr. Abel Bellamy war eben im Begriff, nach Berkshire aufzubrechen, als die Polizeibeamten ankamen, und er zeigte weder Erstaunen noch Erschrecken, als er die Neuigkeit erfuhr.
»Ja, das stimmt, ich habe ihn hinausgeworfen. Creager war mir vor Jahren sehr nützlich, und ich gab ihm eine recht ansehnliche Unterstützung für die Dienste, die er mir erwies. Er rettete mein Leben – sprang ins Wasser für mich, als mein Boot auf dem Strom umschlug.«
Das ist eine infame Lüge, dachte Spike, der den Alten genau beobachtete.
»Weshalb haben Sie sich heute morgen gezankt, Mr. Bellamy?«
»Wir haben uns nicht gerade gezankt, aber er drängte mich, ihm Geld zu leihen. Er wollte nämlich ein Stück Land zu seinem Grundstück dazukaufen, auf dem sein Haus steht, und ich – lehnte es strikt ab. Heute wurde er direkt frech und drohte mir – nun ja, er hat mir nicht gerade gedroht,« verbesserte sich Bellamy mit einem rauhen Lachen – »aber immerhin, er wurde herausfordernd, griff mich an und ich warf ihn hinaus.«
»Wo hat er Ihnen denn das Leben gerettet, Mr. Bellamy?« fragte der Beamte.
»In Henley – letzten Sommer wurden es sieben Jahre,« antwortete Bellamy prompt.
»Das Datum haben Sie sich für immer eingeprägt und das ist auch die Erklärung, warum Sie diesen Mann dauernd unterstützt haben,« dachte Spike für sich.
»Zu jener Zeit war er noch im Gefängnisdienst,« sagte der Beamte.
»Vermutlich war es so,« entgegnete Bellamy etwas ungeduldig. »Aber als sich der Vorfall ereignete, hatte er gerade Ferien. Alles, was ich Ihnen erzähle, können Sie aus seinen Personalakten feststellen.«
Spike war auch vollständig davon überzeugt, dass man die Bestätigung finden würde, wenn die Papiere nachgesehen würden.
»Das ist wohl alles, was ich Ihnen mitteilen kann,« sagte Bellamy. »Sie erzählten eben, dass Creager erschossen wurde?«
»Er wurde durch einen Pfeil getötet,« antwortete der Beamte. »Es war ein grüner Pfeil.«
Nur einen Augenblick verlor Bellamy die Kontrolle über sein Mienenspiel.
»Ein grüner Pfeil?« wiederholte er ungläubig. »Ein Pfeil – ein grüner Pfeil? Was zum Teufel –« Er nahm sich plötzlich zusammen und langsam ging ein Lächeln über seine Gesichtszüge, das ihn noch abstoßender machte. »Also ein Opfer Ihrer Geistergeschichte, Holland,« brummte er. »Grüner Pfeil und grüner Bogenschütze, wie? Haben Sie eigentlich die Geschichte in die Zeitung gebracht?«
»Reporter bringen selten Geschichten in andere Zeitungen als ihre eigenen, aber Sie können wetten, Mr. Bellamy, wir werden morgen eine lange Geschichte in unserem Blatt bringen, und Ihr Bogenschütze wird eine besondere Spalte für sich haben.«
5
»Ist der Grüne Bogenschütze der Mörder Creagers?«
»Geheimnisvoller Mord folgt einem Streit mit dem Besitzer des Geisterschlosses.«
»Wer ist der Grüne Bogenschütze von Garre Castle? In welcher Beziehung steht er zu der Ermordung Charles Creagers, des früheren Gefängniswärters von Pentonville? Das sind die Fragen, die Scotland Yard zu beantworten versucht. Creager wurde gestern in seinem Garten von einem Berichterstatter des »Globe« aufgefunden, nachdem er eine heftige Auseinandersetzung mit Abel Bellamy hatte, dem Chicagoer Millionär, in dessen Schloss der Grüne Bogenschütze umgeht. Creager wurde von einem grünen Pfeil getötet, wie sie vor sechshundert Jahren in Gebrauch waren...«
Abel Bellamy legte die Zeitung nieder und schaute über den Tisch zu seinem Sekretär.
»Wieviel von all diesen Nachrichten auf Ihr Konto kommen, weiß ich nicht,« brummte er. »Irgend jemand muss den Zeitungsberichterstattern von diesem verrückten Geist erzählt haben. Nun hören Sie einmal zu, Savini. All dieses verfluchte Geschwätz von Gespenstern macht mir gar nichts aus, haben Sie mich verstanden? Aber wenn dieses verrückte Affentheater mich nervös machen sollte und wenn Sie denken, dass Sie sich dadurch in Garre unentbehrlich machen, so will ich Ihnen etwas anderes sagen. Ich werde den Schwindel einfach zerschmettern, ohne im mindesten Scotland Yard zu fragen, glauben Sie mir!«
Er ging zum Fenster und starrte wütend auf die Straße. Dann drehte er sich plötzlich um.
»Savini, ich will Ihnen etwas sagen. Sie haben eine gute Stellung – sehen Sie zu, dass Sie sie nicht verlieren. Sie sind der einzige Sekretär, den ich jemals angestellt habe. Sie sind aalglatt und verstehen zu lügen, aber Sie passen mir gerade. Ich habe Sie aus dem Rinnstein aufgelesen – vergessen Sie das nicht! Ich weiß, dass Sie ein Schuft sind, Sie sind nie etwas anderes als ein Verbrecher gewesen – aber ich habe Sie angestellt, weil Sie ein Kerl sind, den ich gebrauchen kann. Ich habe Sie ganz und gar durchschaut, haben Sie das gehört? Sie waren damals mit einer Bande von Falschspielern zusammen, als ich Sie auflas. Die Polizei wartete nur auf eine Gelegenheit, Sie ins Gefängnis zu stecken. So habe ich alles über Sie erfahren. Als der Detektiv gestern abend kam, um mich über Creager auszufragen, war eine seiner ersten Fragen an mich, ob ich wüsste, was für eine Art von Sekretär ich mir da angeschafft hätte. Wußten Sie das?«
Auf Savinis Gesicht konnte man die Antwort deutlich lesen. Die mattgelbe Farbe war einer aschgrauen Blässe gewichen.
»Ich hörte nicht zum erstenmal von Ihnen,« fuhr der Alte erbarmungslos fort, »es ist schon länger als ein Jahr her, als der Polizeichef oder Polizeiinspektor oder wie man immer solche Menschen nennt, mich wegen einer Kravattennadel aufsuchte, die ein Hotelangestellter gestohlen hatte. Ich lud ihn zum Essen ein, mit der Polizei habe ich mich immer gut vertragen, das lohnt sich. Und während wir speisten, hat er mir alles von Ihnen erzählt, so dass ich Ihre Vergangenheit genau kenne. Vermutlich glaubten Sie, dass Sie Ihre Sucht, leicht Geld zu verdienen, befriedigen könnten, als ich Sie anstellte? Aber darin hatten Sie sich geirrt. Mir gegenüber sind Sie immer ehrlich gewesen, und das hatte auch seinen guten Grund. Ich hatte Sie kaum eine Woche engagiert, als die Falschspielerbande, der Sie angehörten, aufgegriffen wurde, und Sie waren zufrieden, dass Sie nun eine Zuflucht bei mir gefunden hatten.«
Er ging langsam auf seinen Sekretär zu und hakte seinen dicken Finger in den Westenausschnitt Savinis ein.
»Das Geschwätz von dem Grünen Bogenschützen wird sehr bald sein Ende finden,« sagte er bedeutungsvoll. »Und das wäre auch besser. Ich schieße rücksichtslos auf alles Grüne, und ich brauche dem Leichenbeschauer nicht zu erklären, wie sich der Unglücksfall zutrug. In den Zeitungen konnten Sie lesen, dass schon einmal ein Grüner Bogenschütze eines schnellen Todes starb – es ist leicht möglich, dass sich das wiederholt!«
Bellamy packte seinen Sekretär fester und ohne sichtliche Anstrengung schüttelte er den hilflosen jungen Menschen hin und her.
»Sie wissen, dass ich ein Raufbold bin, aber Sie denken, ich bin leicht zu durchschauen – Sie irren sich! Aber alle Ihre Schliche durchschaue ich und bin Ihnen über!«
Plötzlich streckte er seinen Arm aus und Savini taumelte rückwärts.
»Den Wagen um fünf Uhr!« Mit einer Seitwärtsbewegung des Kopfes entließ Bellamy seinen Sekretär für den Tag.
Savini ging auf sein Zimmer und kam geistig und körperlich allmählich wieder zu sich. Er war verstört und erholte sich nur allmählich von seiner Furcht. Er stützte die Arme auf den Schreibtisch und schaute nachdenklich auf sein braunes Gesicht im Spiegel.
Er hatte nur die Wahrheit gesprochen, als er die ganze Verantwortung für die Geschichte des Grünen Bogenschützen den Zeitungen zuschob. Er hatte viel gute Gründe, um das Neuauftauchen dieser sonderbaren Erscheinung nicht in die Öffentlichkeit kommen zu lassen. Der alte Bellamy wusste also alles! Diese Entdeckung erschreckte ihn zuerst, aber nun war sie ein Trost für ihn. Er hatte schon in Schrecken und Sorge gelebt, dass eines guten Tages sein Vorleben entdeckt werden könnte, aber warum er das fürchtete, ahnte selbst Abel Bellamy nicht. Die sanften, braunen Augen, die ihm aus dem Spiegel entgegenschauten, lächelten. Abel Bellamy vermutete es nicht! Er schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach neun, und der ganze Tag bis fünf gehörte ihm. Alle die Entschuldigungen, die er sich zurechtgelegt hatte, um auszugehen, brauchte er nun nicht. Wenn man Bellamy dienen wollte, musste man ihn absolut allein lassen, wenn er keine Gesellschaft wünschte. Und es gab Tage, an denen er den Alten von morgens bis abends nicht sah, an anderen Tagen wieder waren alle Stunden ausgefüllt mit Korrespondenz, denn Bellamy ließ die Beantwortung von Briefen zusammenkommen.
Ein Mietauto brachte ihn vor das Portal eines großen Häuserblocks in Maida Vale. Er ließ sich auch nicht von dem Liftboy hinauffahren, sondern ging zu Fuß die Treppe in die Höhe, zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete Tür Nr. 12.
Bei dem Geräusch des Aufschließens trat eine Frau mit einer Zigarette im Mund in den Gang hinaus, um sich nach dem Besucher umzusehen.
»O, du bist es!« sagte sie gleichgültig, als er die Tür hinter sich schloß und seinen Hut an den Garderobenständer hing.
»Wer sollte denn sonst kommen?« fragte er.
»Ich habe das Mädchen ausgeschickt, um Eier zu holen,« antwortete sie, als er ihr in das kleine, gutmöblierte Wohnzimmer folgte. »Wo warst du gestern? Ich dachte, du würdest zum Abendbrot kommen.«
Sie hatte sich auf die Ecke des Tisches gesetzt und wippte mit den Füßen. Sie war von hübscher Gestalt, aber etwas unordentlich in ihrer Kleidung. Dichte blonde Haare umrahmten ihr Gesicht mit den schönen dunklen Augen. Die Puderschicht schien ein wenig unnötig, aber sie gab ihm die Erklärung.
»Sieh mich nicht an,« sagte sie, als er sie neugierig und eingehend betrachtete. »Ich war zum Tanzen aus bis drei Uhr, und ich habe noch nicht gebadet. Heute morgen bekam ich einen Brief von Jerry,« fügte sie plötzlich hinzu und lachte über das erstaunte Gesicht, das er machte.
Sie sprang vom Tisch und holte einen blauen Briefumschlag vom Kamin.
»Ich will es gar nicht sehen, ich hasse die Berührung von Dingen, die aus dem Gefängnis kommen.«
»Du kannst von Glück sagen, dass du selbst nicht dort bist, mein Junge,« sagte sie und steckte sich eine frische Zigarette mit dem Stummel an, den sie eben zu Ende geraucht hatte. »Jerry wird in sechs Monaten aus dem Gefängnis kommen. Er möchte gerne wissen, was du für ihn tun wirst. Du bist ja jetzt ein Millionär, Julius.«
»Sei doch nicht verrückt,« sagte er rauh.
»Bellamy ist es wenigstens, und da kannst du doch verschiedenes erben.«
»Sicher gibt es dort viel zu erben.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen, schlenderte zum Fenster und stellte sich so, dass sein Gesicht im Schatten war.
»Eine halbe Million gibt es für uns in Garre.«
»Meinst du Dollars oder Pfund?« fragte sie ohne große Begeisterung.
»Pfunde.«
Sie lachte leise.
»Der alte Bellamy würde sehr besorgt sein, wenn er wüsste –«
»Er weiß. Er ist von allem unterrichtet.«
Sie schaute ihn erstaunt an.
»Dass du – ?«
Er nickte.
»Dass ich viel auf dem Kerbholz habe –. Er sagte mir heute morgen, dass ich ein Verbrecher wäre.«
»Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit dem Grünen Bogenschützen?« fragte sie und erhob sich, um die Tür zu schließen, als sie hörte, dass das Mädchen zurückkam. »Ich habe heute morgen die Sache in der Zeitung gelesen.«
Er antwortete nicht gleich.
»Ich habe nichts bemerkt,« sagte er dann. »Einer von den Dienstboten glaubt ihn gesehen zu haben, und der Alte hat mir gesagt, dass jemand seine Tür während der Nacht geöffnet hätte.«
»Das warst du natürlich!« Aber zu ihrem größten Erstaunen schüttelte er den Kopf.
»Es liegt doch gar kein Grund vor für solche nächtliche, Streifzüge. Ich kenne jeden Teil des Schlosses genau und der Geldschrank ist ein Ding, das ich nicht allein übernehmen kann. Dazu gehört ein Sachverständiger.« Er legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »Ich möchte dir sagen, was ich darüber denke. Unsere alte Gesellschaft löst sich auf. Jerry ist im Gefängnis, ebenso Ben; Walters ist nach dem Festland hinüber. Nur du und ich sind übriggeblieben. Die Sache ist erledigt, und wir wollen sie auch erledigt sein lassen. Was haben wir beide denn auch schon groß daran verdient? Ein paar Pfund die Woche mit harter Arbeit, davon kann man nichts zurücklegen, wenn wir alle die Unkosten abziehen. Die Sache war zu klein angelegt. Und dumme Leute, die man neppen kann, werden selten. Aber hier können wir eine halbe Million bekommen, wenn wir uns dranhalten. Ich kann dir nur versichern, ich bin schon halb entschlossen, selbst einen Mord zu riskieren, um das Geld zu bekommen!«
Er legte den Arm um sie und küsste sie, aber ihr Argwohn war schnell erwacht.
»Worin besteht denn dein großer Plan? Ich traue dir nicht, Julius, wenn du zärtlich wirst. Soll ich etwa hingehen und den Geldschrank aufbrechen oder so etwas Ähnliches?«
Er sah ihr gerade in die Augen.