Der grüne Bogenschütze - Edgar Wallace - E-Book

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Edgar Wallace

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Beschreibung

Ungekürzte und komplett korrigierte Übersetzung von 1928 mit Aufsatz zu Leben und Werk des Autors Der zwielichtige amerikanische Industrielle Abel Bellamy erwirbt ein altes englisches Schloss, in dem der grüne Bogenschütze umgeht, eine Spukgestalt aus dem 15. Jahrhundert. Natürlich glaubt Bellamy nicht an Gespenster, bis eines Tages sein Freund von einem grünen Pfeil getötet wird. Holt Bellamy seine eigene Vergangenheit ein? Spannend, in der Tradition alter, britischer »Whodunit«-Krimis. Schon legendär ist der deutsche Nachkriegsfilm mit dem grandiosen Gert Fröbe in der Hauptrolle. Null Papier Verlag

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Edgar Wallace

Der grüne Bogenschütze

Kriminalroman

Edgar Wallace

Der grüne Bogenschütze

Kriminalroman

(The Green Archer)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Ravi Ravendro 4. Auflage, ISBN 978-3-954181-65-0

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Inhaltsverzeichnis

Die Ed­gar Wal­lace-Samm­lung

Le­ben und Werk

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Der grü­ne Bo­gen­schüt­ze

Der Zin­ker

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Der un­heim­li­che Mönch

Die selt­sa­me Grä­fin

Das in­di­sche Tuch

Das Ge­setz der Vier

und wei­te­re …

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Die Edgar Wallace-Sammlung

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Leben und Werk

Wer im Lon­don des Jah­res 1886 die Fleet Street auf­sucht, wird den klei­nen Bur­schen viel­leicht gar nicht be­mer­ken. Und warum soll­te man ihm auch Be­ach­tung schen­ken? Er ist nur ei­ner von vie­len Jun­gen, die dort – lauthals die ak­tu­el­le Schlag­zei­le ru­fend – Zei­tun­gen feil­bie­ten. Das wird sich al­ler­dings än­dern. Der jun­ge Dick Free­man hat ei­ni­ges vor mit sei­nem Le­ben.

Eine Mar­ke er­schafft sich selbst

Am 1. April 1875 wird Richard Hora­tio Ed­gar Wal­lace in Lon­don ge­bo­ren. Sei­ne leib­li­chen El­tern, ein un­ver­hei­ra­te­tes Schau­spie­ler­paar, ge­ben das Kind zur Ad­op­ti­on frei. Wes­halb sich aus­ge­rech­net der Fisch­händ­ler Ge­or­ge Free­man ent­schließt, den Säug­ling als Sohn auf­zu­neh­men? Wer weiß… All­zu wohl­ha­bend ist er je­den­falls nicht. Der klei­ne Dick Free­man nimmt schon im Al­ter von elf Jah­ren Ge­le­gen­heits­ar­bei­ten an und wird sich wäh­rend der ers­ten Jah­re sei­nes Er­werbs­le­bens mehr schlecht als recht durch­schla­gen. Es dau­ert noch et­was, bis der Schulab­bre­cher zu je­nem Mann wird, den das Pub­li­kum als Er­folgs­au­tor kennt, wohl­ge­nährt und mit ei­ner Vor­lie­be für lan­ge Zi­ga­ret­ten­spit­zen.

Edgar Wallace 1928

Von 1889 bis 1900 ver­öf­fent­licht der Au­tor 62 Ge­dich­te, be­vor er sich 1901 ers­te jour­na­lis­ti­sche Spo­ren als Son­der­kor­re­spon­dent im Bu­ren­krieg ver­dient. Dort ge­won­ne­ne Ein­drücke wird er in sei­ne zwölf Afri­ka-Ro­ma­ne ein­ar­bei­ten, die in den Jah­ren 1911 bis 1928 er­schei­nen. Zu­nächst je­doch, aus Süd­afri­ka zu­rück­ge­kehrt, ar­bei­tet er jour­na­lis­tisch und gibt mi­li­tär-sa­ti­ri­sche Kurz­ge­schich­ten her­aus.

Mit »Die vier Ge­rech­ten« (»The four Just Men«, 1905) er­fin­det sich der Jour­na­list neu – als Kri­mi­nal­au­tor Ed­gar Wal­lace. Um den Ver­kauf des Bu­ches an­zu­kur­beln, schließt er eine Wet­te mit der Le­ser­schaft. Die Idee funk­tio­niert, das Buch wird zum Pub­li­kums­er­folg. Al­ler­dings er­kauft Wal­lace sei­ne Be­kannt­heit teu­er. Wür­de nicht der Dai­ly Mail-Grün­der Lord Harm­worth ein­grei­fen, wäre der Au­tor rui­niert: Vie­le Le­ser er­ra­ten die Lö­sung des be­schrie­be­nen Kri­mi­nal­falls und ver­lan­gen ihre 500 Pfund Wett­prä­mie.

Von 1908 an er­schei­nen zahl­rei­che Kri­mi­nal­ro­ma­ne. Wal­lace füllt in un­glaub­li­cher Ge­schwin­dig­keit rie­si­ge Pa­pier­men­gen. Meis­tens ar­bei­tet er par­al­lel an meh­re­ren Bü­chern. In der Re­gel be­en­det er min­des­tens zwei Kri­mis pro Jahr – 1919 sind es drei, 1922 und 1923 vier, 1924 gan­ze sechs Exem­pla­re. Dass die­ses Pen­sum stei­ge­rungs­fä­hig ist, be­weist er 1929: In­ner­halb des einen Jah­res schreibt Ed­gar Wal­lace 22 Bü­cher.

Mög­lich ist das nur, weil er nach Sche­ma F vor­geht. Da so­gar die­se selbst­au­fer­leg­te Re­duk­ti­on des Er­zäh­lens nicht pro­duk­tiv ge­nug ist, um ihm den ge­wünsch­ten Le­bens­stan­dard zu ge­währ­leis­ten, be­nutzt er einen Vor­läu­fer des Dik­tier­ge­rä­tes. So ent­steht in 200 Sei­ten ge­hef­te­te Mas­sen­wa­re, die sich größ­ter Be­liebt­heit er­freut.

Der Au­tor ent­wirft durch­schau­ba­re Hand­lun­gen, die er mit ein­di­men­sio­nal cha­rak­te­ri­sier­ten Pro­tago­nis­ten aus­stat­tet. Ty­pi­sche Fi­gu­ren sind das lie­be Mäd­chen, der ex­zen­tri­sche Ad­li­ge, der raf­fi­niert-fre­che De­tek­tiv, der smar­te Gi­go­lo-Schur­ke und der gänz­lich un­mo­ra­li­sche Kri­mi­nel­le. Die Frau­en ha­ben treu und naiv zu sein, die Gu­ten hoch­her­zig, die Bö­sen ver­kom­men, wenn auch mo­disch ge­klei­det. Die Welt des Ed­gar Wal­lace ist in Ord­nung und leicht ver­ständ­lich – das Gute wird sie­gen. Dass sich die Kri­mis den­noch un­ter­halt­sam le­sen, liegt am er­zäh­le­ri­schen Ge­schick des Au­tors, der mit au­ßer­or­dent­li­cher Ra­sanz Span­nung auf­baut, um am Ende al­les in ro­man­ti­schem Wohl­ge­fal­len auf­zu­lö­sen.

Zeit sei­nes Le­bens will es Wal­lace nicht ge­lin­gen, mit sei­nem Ein­kom­men haus­zu­hal­ten. Der stän­dig ver­schul­de­te Spie­ler ver­trös­tet sei­ne Gläu­bi­ger auf noch zu er­wirt­schaf­ten­de Ho­no­ra­re. Trotz sei­nes Flei­ßes und des enor­men Er­folgs, ver­zeich­net er fi­nan­zi­ell nie­mals eine po­si­ti­ve Bilanz.

Als er am 10. Fe­bru­ar 1932 in Hol­ly­wood stirbt, hin­ter­lässt er tief­trau­ri­ge Fans und eine hoch­ver­schul­de­te Fa­mi­lie. Nach­dem der Au­tor, man­gels Ge­le­gen­heit, kein Geld mehr aus­gibt, rei­chen den Hin­ter­blie­be­nen die Tan­tie­men aus, um sämt­li­che Schul­den des Ver­stor­be­nen bin­nen ei­nes Jah­res zu til­gen.

Wel­che Be­deu­tung dem Kri­mi­nal­schrift­stel­ler bei­ge­mes­sen wird, ver­deut­li­chen die Trau­er­be­kun­dun­gen der Bri­ten: Im Ha­fen von Southamp­ton wird Halb­mast ge­flaggt, als das Schiff mit Wal­la­ces Sarg dort ein­trifft, und in der Fleet Street er­tö­nen die Glo­cken. Nahe der da­ma­li­gen Pres­se­mei­le, am Lud­ga­te Cir­cus, be­fin­det sich heu­te eine Ge­denk­ta­fel für Ed­gar Wal­lace.

Vor al­lem: Viel

Ins­ge­samt ver­fasst Wal­lace 124 Kri­mi­nal­ro­ma­ne, 12 wei­te­re Ro­ma­ne, zehn Sach­bü­cher, un­zäh­li­ge Essays, Er­zäh­lun­gen und Kurz­ge­schich­ten so­wie ei­ni­ge Thea­ter­stücke und Dreh­bü­cher. Sechs wei­te­re Kri­mis er­schei­nen post­hum. Dar­über hin­aus wer­den 1935 vier, vom Pri­vat­se­kre­tär des Au­tors um­ge­ar­bei­te­te, Büh­nen­fas­sun­gen ver­öf­fent­licht.

Ab­ge­se­hen da­von, dass Ed­gar Wal­lace ex­trem pro­duk­tiv ist, greift er Ide­en be­reits pu­bli­zier­ter Bü­cher er­neut auf. Die­se ef­fi­zi­en­te Metho­de wen­det er bei­spiels­wei­se 1921 beim Ro­man »The Law of the Four Just Men« an, worin er sich auf sei­nen Erst­ling be­zieht.

Der in Deutsch­land ver­mut­lich be­kann­tes­te die­ser Ti­tel ist »Neu­es vom Hexer«. Des­sen the­ma­ti­scher Vor­gän­ger ver­hilft dem Au­tor 1927 qua­si über Nacht zum Durch­bruch auf dem hie­si­gen Markt, als »Der Hexer«, un­ter der Re­gie von Max Rein­hardt, im Ber­li­ner Deut­schen Thea­ter zu se­hen ist. Noch im sel­ben Jahr er­schei­nen im Gold­mann Ver­lag vier Kri­mi­nal­ro­ma­ne von Wal­lace. Zu­vor war, als ers­te deut­sche Über­set­zung, le­dig­lich »Der Frosch mit der Mas­ke« ver­öf­fent­licht wor­den. Da­nach ver­legt Gold­mann jähr­lich min­des­tens zwei Wal­lace-Kri­mis, und die deut­sche Le­ser­schaft ist be­geis­tert.

Dass Ed­gar Wal­lace auch an­de­re Li­te­ra­tur­gat­tun­gen be­dient, wird hier­zu­lan­de weit­ge­hend igno­riert.

Ge­le­gent­li­che Schau­er

Ab 1925 schreibt Wal­lace Büh­nen­stücke. Für das ers­te die­ser Wer­ke ar­bei­tet er sei­nen Kri­mi­nal­ro­man »The Gaunt Stran­ger« um, das un­ter dem Ti­tel »The Rin­ger« im Thea­ter zu se­hen ist. Büh­nen­fas­sung und Ro­man lö­sen, un­ter dem Ti­tel »Der Hexer«, in Deutsch­land fre­ne­ti­schen Ju­bel aus. Über­setzt wird al­ler­dings nicht das Ori­gi­nal, son­dern die be­ar­bei­te­te Fas­sung.

1930 kommt »The Ca­len­dar« auf die Büh­ne, das in Deutsch­land 1932 als »Platz und Sieg« ver­öf­fent­licht wird.

1929 über­nimmt Wal­lace die Re­gie der Ver­fil­mung von »Red Aces« (»Mr. Ree­der weiß Be­scheid«, 1962). Für die Ver­fil­mung von »The Squea­ker« schreibt er das Dreh­buch und führt 1930 Re­gie. Das deut­sche Pub­li­kum kennt den Film un­ter dem Ti­tel »Der Zin­ker«.

Schließ­lich ar­bei­tet der Au­tor, 1932 in Hol­ly­wood, an der ers­ten Fas­sung des Dreh­buchs für »King Kong und die wei­ße Frau« mit.

Da die Ro­man­vor­la­gen sich gut ver­fil­men las­sen, wer­den Wal­la­ces Kri­mis be­reits wäh­rend der Stumm­film-Ära ad­ap­tiert. Der ers­te deut­sche Ti­tel ist »Der große Un­be­kann­te«, ein 1927 ge­dreh­ter Stumm­film. Nach dem zwei­ten Stumm­film »Der rote Kreis« (1929), zei­gen deut­sche Ki­nos in den 1930er Jah­ren drei Ton­fil­me: »Der Zin­ker« (1931), »Der Hexer« (1932) und »Der Dop­pel­gän­ger« (1934).

»Der Frosch mit der Mas­ke« löst 1959 eine Flut deutsch­spra­chi­ger Wal­lace-Ver­fil­mun­gen aus. Ri­al­to Film pro­du­ziert in­ner­halb von 13 Jah­ren 38 Ad­ap­tio­nen. Zu­min­dest an­fangs hält man sich recht ge­nau an die Kri­mi­nal­ro­ma­ne und dreht harm­lo­se, span­nen­de Un­ter­hal­tung, ab­ge­run­det durch woh­li­ge Gru­sel­schau­er so­wie ein ob­li­ga­to­ri­sches Hap­py End.

Der hohe Wie­de­rer­ken­nungs­wert der Se­rie re­sul­tiert dar­aus, dass häu­fig die­sel­ben Schau­spie­ler ähn­li­che Rol­len be­set­zen und der Vor­spann mit dem be­rühmt ge­wor­de­nen »Hier spricht Ed­gar Wal­lace!« be­ginnt. Von der Film­kri­tik wer­den die­se Wer­ke ein­hel­lig ver­ris­sen – die Zuschau­er aber lie­ben sie. Der Di­cke mit der Zi­ga­ret­ten­spit­ze hät­te sie wohl eben­falls zu schät­zen ge­wusst.

Gedenktafel in der Fleet Street

1

Spi­ke Hol­land schrieb das letz­te Wort sei­nes Ar­ti­kels und zog zwei di­cke Li­ni­en quer über die Sei­te, um da­mit den Schluß des Auf­sat­zes an­zu­deu­ten. Dann warf er sei­ne Fe­der wü­tend fort. Der Hal­ter blieb zit­ternd im Fens­ter­rah­men ste­cken.

»Kei­ne un­wür­di­ge Hand soll je­mals wie­der dies Schrei­b­in­stru­ment be­rüh­ren, das mei­ne phan­ta­sie­vol­len Ge­dan­ken zu Pa­pier brach­te«, sag­te er zor­nig.

Der an­de­re Re­por­ter schau­te auf. Bei­de wa­ren sie al­lein in dem Raum.

»Was ha­ben Sie denn für einen schö­nen Ar­ti­kel ge­schrie­ben, Spi­ke?«

»Ei­nen Be­richt über die gest­ri­ge Hun­de­schau«, er­wi­der­te Spi­ke ei­sig. »Ich ver­ste­he von Hun­den nur so viel, daß das eine Ende bellt und das an­de­re we­delt. Aber die­ser ver­fluch­te Syme hat mich auf die Ge­schich­te ge­hetzt. Oben­drein hat er mir auch noch ge­sagt, daß sich ein Kri­mi­na­list mit Blut­hun­den an­freun­den müs­se! Der Mann ist nicht ganz rich­tig im Kopf. Er sieht nichts so, wie es wirk­lich ist, er lebt in ei­ner Welt von Vor­stel­lun­gen, die er sich selbst zu­recht­ge­legt hat. Kommt man ihm mit der fun­kel­na­gel­neu­en Ge­schich­te ei­nes groß­ar­ti­gen Ban­krau­bes, dann springt er ei­nem mit der Zu­mu­tung ins Ge­sicht, man sol­le einen Ar­ti­kel dar­über schrei­ben, was Bank­di­rek­to­ren gern zu Mit­tag es­sen!«

Der an­de­re schob sei­nen Stuhl zu­rück.

»Hier­zu­lan­de fin­den Sie fast nur sol­che Ein­stel­lung. Ich möch­te bei­na­he sa­gen, daß un­se­re Lands­leu­te im Ver­gleich zu den Ame­ri­ka­nern ver­rück­te Dick­schä­del sind.«

»Sie kön­nen jede Wet­te dar­auf ein­ge­hen, daß das nicht stimmt«, un­ter­brach ihn Spi­ke schnell. »Die Leu­te am grü­nen Re­dak­ti­ons­tisch sind eine Ras­se für sich, sie sind von Na­tur aus voll­stän­dig un­fä­hig, das Le­ben vom Stand­punkt ei­nes Be­richt­er­stat­ters zu se­hen. Das heißt, sie ha­ben ir­gend­wie ein min­der­wer­ti­ges Ge­hirn. Ja­wohl, mein Herr, das ist ganz gleich, ob sie in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten oder in Eng­land le­ben, das macht gar kei­nen Un­ter­schied – sie ha­ben alle einen Klaps!«

Er seufz­te tief, lehn­te sich in den Stuhl zu­rück und leg­te sei­ne Füße auf den Tisch. Spi­ke war noch jung. Sein som­mer­spros­si­ges Ge­sicht zeig­te ge­sun­de Far­be und sei­ne röt­li­chen Haa­re hin­gen et­was wirr durch­ein­an­der.

»Hun­de-Aus­s­tel­lun­gen sind si­cher sehr in­ter­essant –«, be­gann er ge­ra­de wie­der, als plötz­lich die Tür hef­tig auf­ge­ris­sen wur­de und ein Mann her­ein­schau­te. Er war in Hem­d­är­meln und trug eine au­ßer­ge­wöhn­lich große Horn­bril­le.

»Spi­ke … brau­che Sie. Ha­ben Sie was zu tun?«

»Ich bin ge­ra­de im Be­griff, Wood auf­zu­su­chen, den Mann mit den Kin­der­häu­sern – ich habe eine Verab­re­dung zum Es­sen mit ihm.«

»Der kann war­ten.«

Er wink­te und Spi­ke folg­te ihm in sein klei­nes Büro.

»Ken­nen Sie Abel Bel­la­my aus Chi­ca­go … den Mil­lio­när?«

»Abel? Ja … ist er tot?«, frag­te Spi­ke hoff­nungs­froh. »Aus dem Kerl kann man nur eine gute Ge­schich­te dre­hen, wenn er das Zeit­li­che ge­seg­net hat.«

»Ken­nen Sie ihn gut?«, frag­te der Re­dak­teur.

»Ich weiß, daß er aus Chi­ca­go stammt, Mil­lio­nen beim Bau­en ver­dient hat und ein furcht­bar gro­ber Kerl ist. Er lebt schon seit acht oder neun Jah­ren in Eng­land, glau­be ich … er be­wohnt eine rich­ti­ge Burg … und hat einen tau­ben Chi­ne­sen als Chauf­feur –«

»Das Zeug weiß ich auch schon. Was ich wis­sen will, ist nur: Ge­hört Bel­la­my zu der Sor­te Men­schen, die gern von sich re­den ma­chen? … Mit an­de­ren Wor­ten: Ist der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze wirk­lich ein Ge­s­penst oder eine Er­fin­dung?«

»Ein Ge­s­penst?«

Syme nahm einen Brief­bo­gen und reich­te ihn dem er­staun­ten Ame­ri­ka­ner über den Tisch. Die Mit­tei­lung war au­gen­schein­lich von je­mand ge­schrie­ben, dem die Re­geln der eng­li­schen Spra­che tief ver­bor­ge­ne Mys­te­ri­en wa­ren.

»Li­berr Herr,

Der grü­ne Bo­gen­schüt­ze is wi­der da in Sch­los Gar­re. Mr. Wilks, der Haus­meis­ter hat ihm ge­seen. Li­ber Herr der grü­ne Boh­gen­schit­ze is in Mr. Bel­la­mys Zim­mer ge­kom­men und hat die Türe of­fen ge­las­sen. Alle Dinst­leu­te gehn wech. Mr. Bel­la­my sacht er schmeist alle raus die da­von spre­chen aber sie geen alle wech.«

»Und wer zum Don­ner­wet­ter ist denn der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze?«, frag­te Spi­ke er­staunt.

Mr. Syme rück­te sei­ne Bril­le zu­recht und lä­chel­te. Spi­ke war ganz ver­dutzt, daß er et­was so Men­sch­li­ches tun konn­te.

»Der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze von Gar­re Cast­le war frü­her ein­mal die be­rühm­tes­te Geis­terer­schei­nung Eng­lands. La­chen Sie nicht, Spi­ke, es ist kein Mär­chen. Der wirk­li­che grü­ne Bo­gen­schüt­ze wur­de von ei­nem de Cur­cy – die­ser Fa­mi­lie ge­hör­te frü­her Gar­re Cast­le – im Jah­re 1487 ge­hängt.«

»Se­hen Sie mal an! Daß Sie sich dar­auf noch be­sin­nen kön­nen!«, sag­te Spi­ke voll Hochach­tung.

»Zie­hen Sie die Sa­che nicht ins Lä­cher­li­che! Er wur­de ge­hängt, weil er ge­wil­dert hat­te. Heu­te noch kön­nen Sie den Ei­chen­bal­ken se­hen, an dem er hing. Seit Jahr­hun­der­ten ist er in Gar­re um­ge­gan­gen, das letz­te­mal wur­de er 1799 ge­se­hen. In Berks­hi­re kennt je­des Kind die Ge­schich­te. Die­sen Brief hat of­fen­bar ein Dienst­mäd­chen ge­schrie­ben, das hin­aus­ge­wor­fen wur­de oder aus Furcht frei­wil­lig den Dienst ver­ließ. Je­den­falls geht dar­aus her­vor, daß un­ser grü­ner Freund ir­gend­wie wie­der auf der Bild­flä­che er­schie­nen ist.«

Spi­ke zog die Stir­ne kraus und schob die Un­ter­lip­pe vor.

»Je­des Ge­s­penst, das Abel Bel­la­my zum Bes­ten hat, soll sich nur vor ihm in acht neh­men. Ich ver­mu­te aber, daß die gan­ze Sa­che halb Mär­chen und halb hys­te­ri­sche Ein­bil­dung ist. Soll ich wirk­lich zu Abel hin­ge­hen?«

»Ge­hen Sie zu ihm und über­re­den Sie ihn, daß er Sie eine Wo­che lang in sei­ner Burg woh­nen läßt.«

Spi­ke schüt­tel­te ener­gisch den Kopf.

»Da ken­nen Sie ihn schlecht. Wenn ich ihm mit ei­ner sol­chen Zu­mu­tung kom­me, wirft er mich so­fort hin­aus. Aber ich wer­de zu sei­nem Se­kre­tär, dem Sa­vi­ni, ge­hen. Der ist ein Misch­blut oder so et­was Ähn­li­ches – mög­lich, daß der mir hel­fen kann. Aber bis­her scheint der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze doch nicht mehr an­ge­stellt zu ha­ben, als daß er die Tür in Abels Zim­mer of­fen­ste­hen ließ?«

»Also se­hen Sie zu, was Sie bei Bel­la­my er­rei­chen kön­nen – er­fin­den Sie ir­gend et­was, um in sein Schloß hin­ein­zu­kom­men. Ne­ben­bei be­merkt hat er eine Un­sum­me da­für ge­zahlt. Und dann su­chen Sie so un­ter der Hand die gan­ze Ge­schich­te her­aus­zu­brin­gen. Eine gute sen­sa­tio­nel­le Geis­ter­ge­schich­te ha­ben wir schon seit Jah­ren nicht mehr dru­cken kön­nen. Au­ßer­dem hin­dert Sie ja gar nichts dar­an, mit Wood zu spei­sen, denn die Ge­schich­te über den brau­che ich auch. Wo wer­den Sie denn zu Mit­tag es­sen?«

»Im Carl­ton. Wood ist nur ein paar Tage in Lon­don und fährt heu­te abend nach Bel­gi­en zu­rück.«

Der Re­dak­teur nick­te.

»Das paßt ja gut. Bel­la­my wohnt auch im Carl­ton-Ho­tel. Da kön­nen Sie zwei Flie­gen mit ei­ner Klap­pe schla­gen.«

Spi­ke troll­te sich zur Tür.

»Ge­s­pens­ter­ge­schich­ten und Klein­kin­der­be­wahr­an­stal­ten!«, rief er vor­wurfs­voll und bit­ter. »Und ich bin doch schon so lan­ge scharf auf eine or­dent­li­che Mord­ge­schich­te mit al­len Schi­ka­nen! Aber ich weiß schon, die­se Zei­tung braucht kei­nen Kri­mi­na­lis­ten, die braucht nur einen Mär­chen­er­zäh­ler.«

»Da sind Sie ja ge­ra­de der rich­ti­ge Mann!«, sag­te Syme und wand­te sich wie­der sei­ner Ar­beit zu.

2

Der Klang von Stahl ge­gen Stahl, das Stac­ca­to-Trom­mel­feu­er elek­tri­scher Niet­ma­schi­nen und Boh­rer, der Höl­len­lärm von Häm­mern und Mei­ßeln wa­ren eine lieb­li­che Mu­sik für Abel Bel­la­mys Ohren.

Er stand am Fens­ter sei­nes Wohn­zim­mers, die Hän­de auf dem Rücken. Un­ver­wandt schau­te er auf die an­de­re Sei­te der Stra­ße, wo sich dem Ho­tel ge­gen­über ein un­ge­heu­er großes Ge­bäu­de im Bau be­fand. Das Stahl­ge­rip­pe er­hob sich turm­hoch über die klei­nen, nied­ri­gen Häu­ser der Nach­bar­schaft zu bei­den Sei­ten.

In den Stra­ßen hat­te sich eine klei­ne, neu­gie­ri­ge Men­schen­men­ge an­ge­sam­melt. Ein schwe­rer, ei­ser­ner Trä­ger wur­de durch einen Fla­schen­zug an ei­nem Draht­seil auf­ge­wun­den. Hö­her und hö­her hob der große Kran die schwe­re Last, die ma­je­stä­tisch und lang­sam hin- und her­pen­del­te. Abel Bel­la­my brumm­te. Er war nicht zu­frie­den da­mit. Er wuß­te ge­nau auf den Bruch­teil ei­nes Zolls, wo der rich­ti­ge Auf­hän­gungs­punkt lag, und der Trä­ger war schlecht aus­ba­lan­ciert.

Wenn die bö­sen Wer­ke der Men­schen in blu­ti­ger Schrift an den Ta­tor­ten auf­ge­zeich­net wä­ren, wie die Al­ten glaub­ten, so wür­de der Name Abel Bel­la­mys an vie­len Stel­len in bren­nen­dem Rot er­schei­nen: Auf ei­ner klei­nen Farm in Mont­go­me­ry Coun­ty in Penn­syl­va­nia und in ei­ner grau­en Hal­le im Pen­ton­ville-Ge­fäng­nis, um nur die­se bei­den Orte zu nen­nen.

Aber Abel Bel­la­my hat­te kei­ne schlaflo­sen Näch­te we­gen sei­ner Ver­gan­gen­heit. Reue und Furcht kann­te er nicht. Er hat­te viel Bö­ses ge­tan und war da­mit sehr zu­frie­den. Die Erin­ne­rung an das Ent­set­zen der Men­schen, de­ren Le­ben er rück­sichts­los zer­bro­chen hat­te, an die Qua­len, die er ih­nen mit Vor­be­dacht zu­ge­fügt hat­te, konn­te ihm nichts an­ha­ben. Das Be­wußt­sein, un­schul­di­ge Kin­der in Not und Elend ge­sto­ßen und eine Frau durch sei­nen Haß zu Tode ge­hetzt zu ha­ben, nur um dem Mo­loch sei­ner Selbst­sucht ein Op­fer zu brin­gen, ver­ur­sach­te ihm nicht eine Se­kun­de lang Ge­wis­sens­bis­se.

Wenn er sich über­haupt je­mals an die­se Din­ge er­in­ner­te, dach­te er nur mit Be­frie­di­gung dar­an. Es er­schi­en ihm voll­stän­dig rich­tig, daß alle nie­der­ge­tre­ten wur­den, die sich ihm in den Weg stell­ten. Das Glück hat­te ihn stets be­güns­tigt. Mit zwan­zig Jah­ren war er noch ein ein­fa­cher Ar­bei­ter ge­we­sen, mit fünf­und­drei­ßig hat­te er schon eine Mil­li­on Dol­lars zu­sam­men­ge­bracht und mit fünf­und­fünf­zig war die­ses Ver­mö­gen ver­zehn­facht. Er ver­ließ die Stadt, in der er sich her­auf­ge­ar­bei­tet hat­te, sie­del­te sich auf ei­nem Adels­sitz in Eng­land an und wur­de der Herr ei­ner Be­sit­zung, die die Blü­te der eng­li­schen Rit­ter­schaft durch das Schwert er­obert und mit dem Schweiß und der Furcht der Un­ter­drück­ten er­baut hat­te.

Seit drei­ßig Jah­ren war er mäch­tig ge­nug, an­de­re zu ver­fol­gen, und warum soll­te er sich auch selbst ver­leug­nen? Er be­reu­te nichts und han­del­te ganz nach sei­nen Wün­schen. Er war von un­ge­wöhn­li­cher Kör­per­grö­ße, maß über sechs Fuß und hat­te noch im Al­ter von sech­zig Jah­ren die Kraft ei­nes jun­gen Stie­res. Auf der Stra­ße sa­hen sich alle Leu­te nach ihm um, aber nicht we­gen sei­ner au­ßer­or­dent­li­chen Grö­ße, son­dern we­gen sei­ner ins Auge sprin­gen­den Häß­lich­keit. Sein ro­tes Ge­sicht war von un­zäh­li­gen Fal­ten durch­zo­gen, sei­ne Nase war groß und knol­len­ar­tig. Di­cke Lip­pen um­rahm­ten den großen Mund, des­sen eine Sei­te et­was in die Höhe ge­zo­gen war, so daß er stän­dig höh­nisch zu grin­sen schi­en.

Er küm­mer­te sich nicht im min­des­ten um sein Aus­se­hen und nahm es als eine Tat­sa­che hin, wie ihm auch sei­ne Lei­den­schaf­ten et­was Selbst­ver­ständ­li­ches wa­ren.

Das war Abel Bel­la­my aus Chi­ca­go, der jetzt in Gar­re Cast­le in Berks­hi­re wohn­te. Ein Mann, der we­der Lie­be noch Mit­leid kann­te.

Noch im­mer stand er an dem großen Fens­ter sei­nes Ho­tels und be­ob­ach­te­te die Bau­ar­bei­ten. Wer der Er­bau­er oder was das für ein Bau­werk war, wuß­te er nicht und küm­mer­te sich auch nicht dar­um. Aber einen Au­gen­blick schi­en es ihm, als ob die Män­ner, die sich drü­ben auf schma­len, ge­fähr­li­chen Ste­gen be­weg­ten, sei­ne ei­ge­nen Ar­beits­leu­te sei­en. Er stieß einen hal­b­un­ter­drück­ten Fluch aus, als sein wach­sa­mes Auge eine Grup­pe von drei Schmie­den ent­deck­te, die von dem Po­lier nicht ge­se­hen wer­den konn­ten und mü­ßig um­her­stan­den.

Plötz­lich schau­te er wie­der auf den großen hän­gen­den Trä­ger und wit­ter­te so­fort die Ge­fahr. Er hat­te den Un­fall, der sich jetzt er­eig­ne­te, vor­aus­ge­se­hen. Das freie Ende des Dop­pel-T-Trä­gers schwang nach in­nen und schlug ge­gen ein Gerüst, auf dem zwei Leu­te ar­bei­te­ten. Er konn­te das Kra­chen trotz des lär­men­den Stra­ßen­ver­kehrs deut­lich hö­ren, er sah einen Au­gen­blick einen Mann, der sich ver­zwei­felt am Gerüst fest­hielt, dann in die Tie­fe stürz­te und in dem großen Wirr­warr von Zie­gel­hau­fen und Mör­tel­ma­schi­nen hin­ter dem großen ho­hen Ar­beits­zaun ver­schwand.

»Hm!«, sag­te Abel Bel­la­my.

Er war ge­spannt, was der Bau­un­ter­neh­mer wohl jetzt tun wür­de. Wie moch­ten die Ge­set­ze die­ses Lan­des sein, in dem er sich seit sie­ben Jah­ren nie­der­ge­las­sen hat­te? Wenn es sein Bau ge­we­sen wäre, wür­de er sei­nen Rechts­an­walt los­ge­schickt ha­ben, um die Wit­we auf­zu­su­chen, be­vor sie die Nach­richt er­rei­chen konn­te, und sie zu ver­an­las­sen, alle ihre An­for­de­run­gen auf­zu­ge­ben, ehe sie den Be­trug wirk­lich ge­merkt hät­te. Aber die­se Eng­län­der wa­ren dazu viel zu lang­sam.

Die Tür des Wohn­zim­mers öff­ne­te sich, und er wand­te sich um. Ju­li­us Sa­vi­ni war schon dar­an ge­wöhnt, nur durch ein Brum­men ge­grüßt zu wer­den, aber er merk­te, daß er heu­te et­was mehr ab­be­kom­men wür­de als den ge­wöhn­li­chen Rüf­fel, der sein re­gel­mä­ßi­ger Mor­gen­gruß war.

»Sa­vi­ni, ich habe seit sie­ben Uhr auf Sie ge­war­tet. Wenn Sie Ihre Stel­lung be­hal­ten wol­len, will ich Sie we­nigs­tens vor Mit­tag se­hen. Ha­ben Sie mich ver­stan­den?«

»Es tut mir sehr leid, Mr. Bel­la­my, aber ich sag­te Ih­nen be­reits ges­tern abend, daß ich heu­te spä­ter kom­men wür­de. Ich bin erst vor ein paar Mi­nu­ten von au­ßer­halb zu­rück.«

Die Hal­tung und die Stim­me Sa­vi­nis wa­ren sehr un­ter­wür­fig. Er war schon ein gan­zes Jahr Bel­la­mys Pri­vat­se­kre­tär und hat­te ge­lernt, daß es zweck­los war, sei­nem Herrn zu wi­der­spre­chen.

»Wür­den Sie einen Ver­tre­ter vom ›Glo­be‹ emp­fan­gen?«, frag­te er.

»Ei­nen Zei­tungs­men­schen?«, sag­te Abel Bel­la­my ver­ächt­lich. »Sie wis­sen doch, daß ich nie­mals sol­che Leu­te emp­fan­ge. Was will er? Wie heißt er denn?«

»Es ist Spi­ke Hol­land, ein Ame­ri­ka­ner«, ant­wor­te­te Ju­li­us, als ob er um Ent­schul­di­gung bit­ten woll­te.

»Des­we­gen ist er mir nicht an­ge­neh­mer«, brumm­te Bel­la­my. »Sa­gen Sie ihm, daß ich ihn nicht emp­fan­gen kann. Ich küm­me­re mich über­haupt nicht dar­um, was in den Zei­tun­gen steht. Wes­halb kommt er denn? Sie sind doch mein Se­kre­tär!«

Ju­li­us mach­te eine Ver­le­gen­heits­pau­se, be­vor er ant­wor­te­te.

»Er kommt we­gen des Grü­nen Bo­gen­schüt­zen.«

Abel Bel­la­my fuhr wild her­um.

»Wer hat denn et­was über den Grü­nen Bo­gen­schüt­zen aus­ge­plau­dert? Das kön­nen doch nur Sie Esel ge­we­sen sein!«

»Ich habe mit kei­nem Zei­tungs­mann ge­spro­chen«, sag­te Ju­li­us mür­risch. »Was soll ich ihm denn sa­gen?«

»Sa­gen Sie ihm, er soll sich zum – na, las­sen Sie ihn mei­net­we­gen her­auf­kom­men.«

Bel­la­my hat­te sich schnell über­legt, daß der Jour­na­list wahr­schein­lich ir­gend­ei­ne Ge­schich­te er­fin­den wür­de, wenn er ihn nicht emp­fing, und er hat­te ge­ra­de ge­nug von den Zei­tun­gen. Hat­te nicht neu­lich solch ein Blatt den gan­zen Lärm in Fal­mouth in­sze­niert?

In die­sem Au­gen­blick führ­te Ju­li­us den Be­su­cher her­ein.

»Ihre An­we­sen­heit ist nicht not­wen­dig«, fuhr Bel­la­my sei­nen Se­kre­tär an. Als Sa­vi­ni ge­gan­gen war, brumm­te er: »Neh­men Sie sich eine Zi­gar­re.«

Er stieß die Zi­gar­ren­kis­te mit ei­nem hef­ti­gen Ruck über den Tisch, wie wenn er ei­nem Hund einen Kno­chen hin­wür­fe.

»Dan­ke«, sag­te Mr. Spi­ke Hol­land, »ich rau­che nie­mals Mil­lio­n­är­zi­gar­ren. Ich bin nach­her nur mit mei­nen un­zu­frie­den.«

»Nun, was wol­len Sie?«, frag­te Bel­la­my rauh und be­trach­te­te Spi­ke mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Au­gen.

»Man er­zählt sich da eine Ge­schich­te, daß ein Geist in Gar­re Cast­le um­geht – ein Grü­ner Bo­gen­schüt­ze –«

»Das ist eine ge­mei­ne Lüge!«, er­wi­der­te Bel­la­my viel zu schnell und viel zu prompt. Hät­te er sich die­ser Äu­ße­rung ge­gen­über gleich­gül­tig ge­zeigt, so hät­te er Spi­ke wahr­schein­lich täu­schen kön­nen. Aber die Schnel­lig­keit, mit der er al­les ab­leug­ne­te, mach­te dem Zei­tungs­mann die Ge­schich­te so­fort in­ter­essant.

»Wer hat Ih­nen denn das er­zählt?«, frag­te Bel­la­my.

»Wir ha­ben es aus ei­ner ganz si­che­ren Quel­le.«, Spi­ke war vor­sich­tig. »Man hat uns mit­ge­teilt, daß der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze von Gar­re in dem Schloß ge­se­hen wur­de und of­fen­sicht­lich in Ihrem Zim­mer aus- und ein­ge­gan­gen ist.«

»Ich sag­te Ih­nen doch, daß das ge­lo­gen ist!«, Abel Bel­la­mys Stim­me hat­te einen ver­let­zen­den und be­lei­di­gen­den Ton. »Die­se ver­rück­ten eng­li­schen Dienst­bo­ten ha­ben nichts an­de­res zu tun, als sich nach Geis­tern um­zu­se­hen! Es stimmt, daß ich die Tür mei­nes Schlaf­zim­mers ei­nes Nachts of­fen fand, aber ich habe ver­mut­lich ver­ges­sen, sie zu schlie­ßen. Wer hat Ih­nen denn die­se Aus­kunft ge­ge­ben?«

»Wir ha­ben die Nach­richt von drei ver­schie­de­nen Sei­ten«, log Spi­ke frech dar­auf los. »Und alle drei Be­rich­te er­gän­zen sich, Mr. Bel­la­my«, mein­te er lä­chelnd, »es wird schon was dar­an sein. Au­ßer­dem er­höht doch so eine Geis­terer­schei­nung den Wert ei­ner Burg oder ei­nes Schlos­ses!«

»Da sind Sie aber sehr im Irr­tum«, er­wi­der­te Abel Bel­la­my, der die güns­ti­ge Ge­le­gen­heit wahr­nahm, das The­ma zu än­dern. »Es bringt eine sol­che Be­sit­zung nur in schlech­tes Ge­re­de. Wenn Sie auch nur eine Zei­le von Geis­tern und Ge­s­pens­tern in Ihre Zei­tung set­zen, dann wer­de ich ge­richt­lich ge­gen Sie vor­ge­hen – den­ken Sie dar­an, jun­ger Mann!«

»Es ist mög­lich, daß auch der Geist noch ir­gend et­was un­ter­nimmt«, sag­te Spi­ke äu­ßerst lie­bens­wür­dig.

Er ging die Trep­pe hin­un­ter und war sich noch nicht klar, was er tun soll­te.

Abel Bel­la­my war nicht der ge­wöhn­li­che Mil­lio­när, der sich in Eng­land an­sie­delt und dann von selbst in der eng­li­schen Ge­sell­schaft Zu­tritt fin­det. Er war von nie­de­rer Her­kunft, nur halb ge­bil­det und ohne ir­gend­wel­chen ge­sell­schaft­li­chen Ehr­geiz.

Als Spi­ke in die Ho­tel­hal­le ein­trat, fand er Ju­li­us, der mit ei­nem großen Herrn mit grau­em Bart sprach, der dem bes­se­ren Hand­wer­ker­stand an­zu­ge­hö­ren schi­en. Ju­li­us gab Hol­land ein Zei­chen, zu war­ten.

»Sie wis­sen, in wel­chem Zim­mer er ist, Mr. Crea­ger? Mr. Bel­la­my er­war­tet Sie.«

Als der Mann ge­gan­gen war, wand­te sich Ju­li­us an den Re­por­ter.

»Nun, was hat er ge­sagt, Hol­land?«

»Er hat die gan­ze Ge­schich­te ab­ge­strit­ten. Aber in al­lem Ernst, Sa­vi­ni, ist et­was dar­an?«

Ju­li­us zuck­te die schma­len Schul­tern.

»Ich weiß nicht, wo­her Sie die gan­ze Ge­schich­te ha­ben und Sie kön­nen sich dar­auf ver­las­sen, daß ich Ih­nen un­ter kei­nen Um­stan­den et­was er­zäh­le. Der Alte hat mir so­wie­so die Höl­le heiß ge­macht, weil er dach­te, ich hät­te Ih­nen den Tip ge­ge­ben!«

»Dann stimmt die Ge­schich­te also. Ir­gend­ein grau­en­er­re­gen­des Ge­s­penst hat in Ihren Mau­ern her­um­ge­spukt. Hat es auch ir­gend­wie mit Ket­ten ge­ras­selt?«

Ju­li­us schüt­tel­te den Kopf.

»Von mir wer­den Sie nichts her­aus­be­kom­men, Hol­land. Ich kann höchs­tens mei­ne Stel­lung da­durch ver­lie­ren.«

»Wer war denn der Mensch, den Sie eben hin­auf­ge­schickt ha­ben? Er sah aus wie ein Po­li­zist.«

Ju­li­us grins­te.

»Er hat ge­nau die­sel­be Fra­ge über Sie an mich ge­stellt, als Sie her­un­ter­ka­men. Er heißt Crea­ger und ist ein –«, Er zö­ger­te. »Nun ja, ich will nicht ge­ra­de sa­gen, Freund, er ist so eine Be­kannt­schaft von dem Al­ten. Wahr­schein­lich be­zieht er eine Art Pen­si­on von ihm. Er kommt in re­gel­mä­ßi­gen Zwi­schen­räu­men, und ich bil­de mir ein, daß er nicht um­sonst er­scheint. Bis der an­de­re her­un­ter­kommt, ruft mich Bel­la­my si­cher nicht. Kom­men Sie und trin­ken Sie einen Cock­tail mit mir.«

Spi­ke schüt­tel­te den Kopf.

Wäh­rend sie noch spra­chen, kam Crea­ger zur sicht­li­chen Über­ra­schung von Ju­li­us die Trep­pe wie­der her­un­ter. Er sah böse und ver­bis­sen aus.

»Er will mich nicht vor zwei Uhr se­hen«, sag­te er mit un­ter­drück­ter Wut. »Glaubt er denn, daß ich auf ihn war­te? Wenn er sich das ein­bil­det, irrt er sich ge­wal­tig! Sa­gen Sie ihm das nur, Mr. Sa­vi­ni.«

»Was ist denn los?«, frag­te Ju­li­us.

»Er sag­te zwei Uhr. Gebe ich zu. Aber ich bin doch nun in die Stadt ge­kom­men, – warum soll­te ich denn bis zum Nach­mit­tag war­ten? Wa­rum kann er mich nicht vor­mit­tags emp­fan­gen?«, frag­te Crea­ger wü­tend. »Er be­han­delt mich wie einen Hund, er glaubt, er hat mich so –«, Er mach­te eine be­zeich­nen­de Ges­te mit dem ab­wärts ge­rich­te­ten Dau­men. »Au­ßer­dem tobt er über einen Zei­tungs­re­por­ter – das sind Sie wohl, wenn ich nicht irre.«

»Das stimmt ge­nau«, ent­geg­ne­te Spi­ke.

»Also Sie kön­nen ihm sa­gen«, wand­te sich Crea­ger wie­der an Ju­li­us und tipp­te dem jun­gen Mann mit dem Fin­ger auf die Brust, um sei­nen Wor­ten mehr Nach­druck zu ge­ben, »daß ich um zwei Uhr kom­me. Und ich wer­de eine lan­ge Un­ter­re­dung mit ihm ha­ben oder ich wer­de mich selbst mit ei­nem Zei­tungs­re­por­ter ein we­nig un­ter­hal­ten.«

Mit die­ser Dro­hung ging er fort.

»Sa­vi­ni«, sag­te Spi­ke sanft, »ich wit­te­re eine gute Ge­schich­te!«

Aber Sa­vi­ni sprang die Trep­pe hin­auf und nahm im­mer zwei Stu­fen zu glei­cher Zeit, um schnell zu sei­nem auf­ge­brach­ten Herrn zu kom­men.

3

Spi­ke sah auf die Uhr – es war fünf Mi­nu­ten vor eins. Aber kaum hat­te er sich in ei­nem be­que­men Ses­sel in der Ein­gangs­hal­le nie­der­ge­las­sen, um auf John Wood zu war­ten, als des­sen schlan­ke Ge­stalt sich schon im Ho­te­lein­gang zeig­te. Die Er­schei­nung die­ses hoch­ge­wach­se­nen Man­nes fiel all­ge­mein auf. Er war vor der Zeit er­graut, aber sein Ge­sicht war von ei­ner ei­gen­ar­ti­gen Schön­heit, die sich be­son­ders in den leb­haf­ten Au­gen kon­zen­trier­te. Sein aus­drucks­vol­ler Mund schi­en zu spre­chen, auch wenn er schwieg.

Er reich­te Spi­ke die Hand und drück­te sie freund­lich.

»Ich kom­me doch nicht etwa zu spät? Ich war den gan­zen Vor­mit­tag sehr be­schäf­tigt, und ich möch­te den Zug um halb drei nach dem Kon­ti­nent neh­men. Des­halb bin ich so ei­lig.«

Sie gin­gen zu­sam­men in den großen Spei­se­saal, und der Ober­kell­ner führ­te sie zu ei­nem re­ser­vier­ten Tisch in ei­ner Ecke. Spi­ke war durch das in­ter­essan­te Ge­sicht des an­de­ren ge­fes­selt und stell­te un­will­kür­lich Ver­glei­che mit der ab­sto­ßen­den Häß­lich­keit des Man­nes an, den er so­eben ver­las­sen hat­te. Wood war aber auch das ge­ra­de Ge­gen­teil von Abel Bel­la­my. Sein gü­ti­ger Cha­rak­ter spie­gel­te sich in sei­nem see­len­vol­len Blick wi­der, und ein freund­li­ches Lä­cheln lag stän­dig in sei­nen Au­gen. Alle sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren ge­wandt und leb­haft, und sei­ne lan­gen, wei­ßen, zar­ten Hän­de schie­nen nie­mals zu ru­hen.

»Nun, was wol­len Sie von mir er­fah­ren? Vi­el­leicht kann ich Ih­nen al­les er­zäh­len, be­vor die Sup­pe ser­viert wird: Ich bin Ame­ri­ka­ner –«

»Das hät­te ich nicht ver­mu­tet.«

John Wood nick­te.

»Ich habe lan­ge Zeit in Eng­land ge­lebt, ich bin –«, er mach­te eine Pau­se – »lan­ge Jah­re nicht da­heim ge­we­sen. Ich möch­te nicht viel von mir selbst er­zäh­len und mei­ne be­schei­de­nen Ver­diens­te mit mög­lichst we­nig Wor­ten ab­tun. Ich lebe jetzt in Wen­duy­ne in Bel­gi­en und lei­te dort ein Heim für schwind­süch­ti­ge Kin­der. Ich will die An­stalt aber noch die­ses Jahr nach der Schweiz ver­le­gen. Die Wood­sche Lun­gen­heil­me­tho­de stammt von mir – ne­ben­bei bin ich Jung­ge­sel­le – aber das ist al­les, was von mir zu be­rich­ten ist.«

»Ich möch­te ger­ne we­gen der Kin­der­hei­me mit Ih­nen spre­chen. Wir ha­ben einen län­ge­ren Ar­ti­kel dar­über in ei­ner bel­gi­schen Zei­tung ge­fun­den. Dort stand auch, daß Sie die Ab­sicht ha­ben, große Sum­men zu­sam­men­zu­brin­gen, um in je­dem Lan­de Eu­ro­pas ein Mut­ter­haus zu er­rich­ten. Was ver­ste­hen Sie dar­un­ter?«

Mr. Wood lehn­te sich in sei­nen Stuhl zu­rück und dach­te einen Au­gen­blick nach, be­vor er ant­wor­te­te.

»In al­len Län­dern Eu­ro­pas, be­son­ders in Eng­land, wird eine Fra­ge im­mer bren­nen­der – ich möch­te sie das Pro­blem der un­ge­wünsch­ten Kin­der nen­nen. Vi­el­leicht ist un­ge­wünscht nicht das rich­ti­ge Wort. Neh­men wir ein­mal an, eine Wit­we bleibt nach dem Tod ih­res Man­nes ohne Mit­tel zu­rück und muß ein oder zwei Kin­der er­näh­ren. Sie kann un­mög­lich ei­nem Be­ruf oder ei­ner Be­schäf­ti­gung nach­ge­hen, es sei denn, daß sich je­mand um ihre Kin­der küm­mert, und das kos­tet wie­der Geld. Dann gibt es an­de­re Kin­der, de­ren Ge­burt man fürch­tet, de­ren Exis­tenz Schan­de und Ver­le­gen­heit bringt, die ver­steckt wer­den müs­sen und dann in sol­che ver­ru­fe­nen Kin­der­hei­me kom­men, de­ren In­ha­be­rin­nen es für ein paar Dol­lars die Wo­che über­neh­men, nach ih­nen zu se­hen und sie groß­zu­zie­hen. Es ver­geht kein Jahr, in dem nicht in dem einen oder an­de­ren Lan­de die Lei­te­rin­nen sol­cher Hei­me un­ter schwe­rer An­kla­ge vor Ge­richt ge­stellt wer­den, sei es, daß sie die Er­zie­hung die­ser Kin­der ver­nach­läs­sigt oder daß sie di­rekt be­schul­digt wer­den, sie bei­sei­te ge­bracht zu ha­ben.«

Dann be­gann er in großen Zü­gen sei­nen Plan über die Er­rich­tung von Mut­ter­häu­sern zu ent­wer­fen, in de­nen sol­che un­er­wünsch­ten Kin­der Auf­nah­me fin­den könn­ten und sorg­fäl­tig von be­son­ders zu die­sem Be­ruf vor­ge­bil­de­ten Pfle­ge­rin­nen be­treut wer­den soll­ten.

»All­mäh­lich könn­te man dann Schü­le­rin­nen an­neh­men, die für ihre Aus­bil­dung in der Kin­der­pfle­ge ein Lehr­geld zah­len. Mei­ner Mei­nung nach könn­te man im Lauf der Zeit die­se An­stal­ten so or­ga­ni­sie­ren, daß sie sich selbst un­ter­hal­ten. Dann wür­de man der Welt ge­sun­de Kna­ben und Mäd­chen schen­ken, die fä­hig wä­ren, den Kampf ums Da­sein er­folg­reich zu be­ste­hen.«

Wäh­rend des Es­sens sprach er nur über klei­ne Kin­der. Ihre Pfle­ge war sein Le­bens­in­halt. Er er­zähl­te des lan­gen und brei­ten von ei­nem klei­nen deut­schen Wai­sen­kind, das er in sei­nem Heim be­son­ders heg­te und schil­der­te es so leb­haft, daß die Gäs­te an den an­de­ren Ti­schen sich nach ihm um­wand­ten.

»Sei­en Sie nicht böse, daß ich Ih­nen das sage, Mr. Wood, aber Sie ha­ben doch eine son­der­ba­re Lieb­ha­be­rei.«

Der an­de­re lach­te.

»Das ist schon mög­lich«, mein­te er. »Wer sind die­se Leu­te?«, frag­te er dann plötz­lich.

Zwei Her­ren und eine jun­ge Dame hat­ten den Spei­se­saal be­tre­ten. Der ers­te war hoch­ge­wach­sen, schlank und hat­te wei­ße Haa­re. Über sei­ne Ge­sichts­zü­ge brei­te­te sich eine stil­le Me­lan­cho­lie. Sein Beglei­ter war ein ele­gant ge­klei­de­ter jun­ger Mann, des­sen Al­ter zwi­schen neun­zehn und drei­ßig lie­gen konn­te. Er schi­en von der ta­del­lo­sen Fri­sur bis zu den Lack­schu­hen eine le­ben­de Re­kla­me für sei­nen Schnei­der zu sein. Aber am meis­ten fes­sel­te die Er­schei­nung der jun­gen Dame.

»Sie ist von un­wirk­li­cher Schön­heit, als ob sie aus ei­nem Ge­mäl­de ge­stie­gen sei«, sag­te Spi­ke.

»Wer ist sie denn?«

»Miss Ho­wett – Va­le­rie Ho­wett. Der äl­te­re Herr ist Mr. Wal­ter Ho­wett, ein Eng­län­der, der vie­le Jah­re in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten in dürf­ti­gen Ver­hält­nis­sen leb­te, bis Pe­tro­le­um auf sei­ner Farm ge­fun­den wur­de. Auch die­ser ele­gan­te jun­ge Mann ist Eng­län­der – Fea­ther­sto­ne. Er treibt sich über­all her­um – ich habe ihn schon in fast al­len Nacht­klubs von Lon­don ge­trof­fen.«

Die klei­ne Ge­sell­schaft nahm an ei­nem Tisch in ih­rer Nähe Platz, und Wood konn­te von da aus die jun­ge Dame ge­nau­er be­trach­ten.

»Sie ist in der Tat au­ßer­or­dent­lich schön«, sag­te er mit lei­ser Stim­me. Aber Spi­ke war vom Tisch auf­ge­stan­den, zu den an­de­ren hin­über­ge­gan­gen und be­grüß­te den äl­te­ren Herrn mit ei­nem Hän­de­druck.

Nach kur­z­er Zeit kam er zu­rück.

»Mr. Ho­wett hat mich eben ge­be­ten, nach Tisch auf sein Zim­mer zu kom­men. Dürf­te ich Sie viel­leicht bit­ten, mich nach­her einen Au­gen­blick zu ent­schul­di­gen?«

»Na­tür­lich.«

Die jun­ge Dame vom Ne­ben­tisch schau­te wäh­rend des Es­sens zwei­mal mit fra­gen­den, un­ge­wis­sen Bli­cken zu ih­nen her­über, als ob sie John Wood schon frü­her ge­se­hen hät­te und sich nun über­leg­te, wo und un­ter wel­chen Um­stän­den.

Spi­ke hat­te die Un­ter­hal­tung auf ein The­ma ge­bracht, das ihn im Au­gen­blick viel mehr in­ter­es­sier­te als klei­ne Kin­der.

»Mr. Wood, ich ver­mu­te, daß Sie auf Ihren vie­len Rei­sen noch nie­mals ei­nem wirk­li­chen Geist be­geg­net sind?«

»Nein«, er­wi­der­te der an­de­re mit ei­nem ru­hi­gen Lä­cheln. »Ich glau­be wirk­lich nicht.«

»Ken­nen Sie Bel­la­my?«

»Abel Bel­la­my – ja, ich habe von ihm ge­hört. Er ist doch der Mann aus Chi­ca­go, der Gar­re Cast­le kauf­te?«

Spi­ke nick­te.

»Und in Gar­re Cast­le treibt der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze sein We­sen. Der alte Bel­la­my freut sich ge­ra­de nicht so sehr über den Spuk, ob­wohl vie­le an­de­re recht stolz sein wür­den über einen sol­chen Schloß­geist. Er hat ver­sucht, mich voll­stän­dig aus­zu­schal­ten und mir die­se schö­ne Ge­schich­te vor­zuent­hal­ten.«

Er er­zähl­te al­les, was er von dem Grü­nen Bo­gen­schüt­zen von Gar­re wuß­te, und Mr. Wood hör­te ihm zu, ohne ihn zu un­ter­bre­chen.

»Es ist merk­wür­dig. Ich ken­ne die Le­gen­de von Gar­re Cast­le auch und habe auch von Mr. Bel­la­my ge­hört.«

»Ken­nen Sie ihn ge­nau­er?«, frag­te Spi­ke schnell. Aber der an­de­re schüt­tel­te den Kopf.

Gleich dar­auf brach Mr. Ho­wetts Ge­sell­schaft auf. Mr. Wood wink­te dem Kell­ner und zahl­te. Dann er­ho­ben sie sich.

»Ich muß einen Brief schrei­ben«, sag­te Wood. »Ha­ben Sie lan­ge mit Mr. Ho­wett zu tun?«

»In fünf Mi­nu­ten bin ich wie­der hier. Ich weiß nicht, was er von mir will, aber ich glau­be nicht, daß es län­ger dau­ern wird.«

Ho­wetts Zim­mer wa­ren auf dem­sel­ben Flur wie die Bel­la­mys. Als Spi­ke hin­auf­kam, wur­de er schon von Mr. Ho­wett er­war­tet. Mr. Fea­ther­sto­ne hat­te sich schein­bar schon vor­her ver­ab­schie­det. Nur der Mil­lio­när und sei­ne Toch­ter wa­ren in dem Zim­mer.

»Tre­ten Sie bit­te nä­her, Hol­land.«, Ho­wett sprach mit ei­ner mü­den Stim­me und sah nie­der­ge­drückt aus. »Va­le­rie, dies ist Mr. Hol­land, er ist ein Jour­na­list und kann dir viel­leicht hel­fen.«

Die jun­ge Dame nick­te ihm freund­lich zu.

»In Wirk­lich­keit möch­te näm­lich mei­ne Toch­ter Sie se­hen, Hol­land«, sag­te Ho­wett zu Spikes Ge­nug­tu­ung.

»Es han­delt sich um fol­gen­des, Mr. Hol­land«, be­gann sie. »Ich möch­te eine Dame aus­fin­dig ma­chen, die vor zwölf Jah­ren in Lon­don leb­te.«, Sie zö­ger­te. »Es ist eine Mrs. Held, die in der Litt­le Be­thel Street, Cam­den Town, wohn­te. Ich habe be­reits Nach­for­schun­gen in der Stra­ße selbst ge­macht, es ist eine schreck­lich arm­se­li­ge Ge­gend, und nie­mand kann sich dort an sie er­in­nern. Ich wüß­te über­haupt nicht, daß sie sich je­mals dort auf­ge­hal­ten hat, wenn ich es nicht durch einen Brief er­fah­ren hät­te, der in mei­nen Be­sitz kam.«, Wie­der mach­te sie eine Pau­se. »Daß der Brief in mei­nem Be­sitz ist, ist dem Adres­sa­ten un­be­kannt. Er hat auch al­len Grund, alle Ne­ben­um­stän­de mög­lichst ge­heim­zu­hal­ten. Ei­ni­ge Wo­chen, nach­dem der Brief ge­schrie­ben wur­de, ver­schwand Mrs. Held.«

»Ha­ben Sie öf­fent­li­che Nach­fra­gen in die Zei­tun­gen ein­ge­setzt?«

»Ja, ich habe al­les ge­tan, was nur ir­gend mög­lich war. Auch die Po­li­zei un­ter­stützt mich schon seit Jah­ren.«

Spi­ke schüt­tel­te den Kopf.

»Ich fürch­te, ich kann Ih­nen da­bei nicht viel hel­fen.«

»Das dach­te ich auch«, sag­te Mr. Ho­wett. »Aber mei­ne Toch­ter glaub­te, daß Zei­tungs­leu­te viel mehr hö­ren als die Po­li­zei –«

Plötz­lich wur­de sie durch Lärm auf dem Flur un­ter­bro­chen. Man hör­te eine rau­he, er­reg­te Stim­me, dann einen Fall. Spi­ke schau­te auf und eil­te so­fort in den Kor­ri­dor hin­aus.

Dort bot sich ihm ein un­ge­wöhn­li­cher An­blick. Der Mann mit dem grau­en Bart, den der Se­kre­tär Crea­ger nann­te, er­hob sich lang­sam vom Bo­den. Auf der an­de­ren Sei­te sah Spi­ke die große, un­för­mi­ge Ge­stalt Bel­la­mys im Rah­men sei­ner Zim­mer­tür ste­hen.

»Das wird Ih­nen noch leid tun«, rief Crea­ger er­regt.

»Sche­ren Sie sich zum Teu­fel«, brüll­te Bel­la­my. »Wenn Sie noch ein­mal hier­her­kom­men, wer­fe ich Sie zum Fens­ter hin­aus.«

»Das wird Ih­nen teu­er zu ste­hen kom­men!«

Crea­ger schluchz­te bei­nah vor Wut.

»Aber nicht in Dol­lars und Cents«, fuhr der Alte böse auf. »Und hö­ren Sie, Crea­ger, Sie be­zie­hen eine Pen­si­on von der Re­gie­rung – neh­men Sie sich in acht, daß Sie die nicht ver­lie­ren!«, Mit die­sen Wor­ten dreh­te er sich um und warf die Tür hef­tig ins Schloß.

Spi­ke wand­te sich an den Mann, der den Gang ent­lang­hink­te.

»Was ist denn los?«

Crea­ger stand einen Au­gen­blick still und rieb sei­ne Knie.

»Sie sol­len al­les er­fah­ren! Sie sind doch ein Re­por­ter? Ich habe eine gute Sa­che für Sie.«

Spi­ke war ein Zei­tungs­mann mit Leib und See­le, und ir­gend­ei­ne Ge­schich­te, über die man einen gu­ten Ar­ti­kel schrei­ben konn­te, war für ihn das hal­be Le­ben und be­deu­te­te Er­fül­lung sei­ner ehr­gei­zi­gen Wün­sche. Er ging schnell zu Ho­wett zu­rück.

»Wür­den Sie mich einen Au­gen­blick ent­schul­di­gen? Ich muß die­sen Mann spre­chen.«

»Wer hat ihn so zu Bo­den ge­wor­fen – Bel­la­my?«

Va­le­rie frag­te ihn. Eine ge­wis­se Er­re­gung klang in ih­rer Stim­me, so daß Spi­ke er­staunt auf­schau­te.

»Ja­wohl, Miss Ho­wett – ken­nen Sie ihn?«

»Ich habe man­ches über ihn ge­hört«, sag­te sie lang­sam.

Spi­ke be­glei­te­te den wü­ten­den Crea­ger in die Ho­tel­hal­le. Er war bleich und zit­ter­te, und es dau­er­te ei­ni­ge Zeit, be­vor er sei­ne Stim­me wie­der be­herrsch­te.

»Es stimmt, was er sag­te. Es ist mög­lich, daß ich mei­ne Pen­si­on ver­lie­re, aber das will ich auf mich neh­men. Se­hen Sie, Mr. –«

»Hol­land ist mein Name.«

»Hier kann ich Ih­nen nicht al­les er­zäh­len, aber wenn Sie in mein Haus kom­men wol­len – Rose Cot­ta­ge, Field Road, New Bar­net –«

Spi­ke no­tier­te sich die Adres­se.

»Ich habe Ih­nen et­was zu er­zäh­len, was eine große Sen­sa­ti­on her­vor­ru­fen wird. Be­stimmt!«, sag­te er mit Be­frie­di­gung.

»Das ist fein!«, rief Spi­ke. »Wann kann ich Sie spre­chen?«

»Kom­men Sie in ein paar Stun­den.«, Mit ei­nem kur­z­en Gru­ße ent­fern­te sich Crea­ger.

Wood, der in­ter­es­siert zu­ge­schaut hat­te, trat auf Spi­ke zu.

»Der Mann sah ziem­lich mit­ge­nom­men aus.«

»Ja, man hat ihm böse mit­ge­spielt – aber er hat eine Ge­schich­te zu er­zäh­len, die ich bren­nend gern schrei­ben möch­te.«

»Ich habe ge­hört, was er Ih­nen mit­teil­te«, sag­te Wood lä­chelnd. »Aber nun muß ich mich ver­ab­schie­den. Be­su­chen Sie mich doch ein­mal in Bel­gi­en.«, Als er Spi­ke die Hand schüt­tel­te, sag­te er noch: »Vi­el­leicht kann ich Ih­nen ei­nes Ta­ges eine Ge­schich­te über Abel Bel­la­my er­zäh­len, die bes­te, die Sie je­mals ge­hört ha­ben. Wenn Sie noch ge­naue­re Nach­rich­ten über die Kin­der­hei­me ha­ben wol­len, wen­den Sie sich nur ru­hig an mich.«

Als Wood ge­gan­gen war, kehr­te Spi­ke zu Ho­wett zu­rück, aber dort er­fuhr er nur, daß sich Miss Ho­wett mit bö­sen Kopf­schmer­zen zu­rück­ge­zo­gen hat­te, und daß die Be­spre­chung, wie er ihr bei ih­ren Nach­for­schun­gen viel­leicht hel­fen könn­te, auf un­be­stimm­te Zeit ver­scho­ben war.

4

Als Spi­ke sich am Nach­mit­tag ins Büro be­gab, schrieb er einen lan­gen und glän­zen­den Ar­ti­kel über die groß­ar­ti­gen Kin­der­hei­me, die John Wood ins Le­ben ru­fen woll­te. Dann nahm er ein Miet­au­to und fuhr nach New Bar­net. Als er an Fleet Street vor­bei­kam, sah er ein Zei­tungs­pla­kat mit großen Buch­sta­ben. Er klopf­te dem Chauf­feur und ließ den Wa­gen hal­ten. Dann fluch­te er lei­se vor sich hin, denn dort stand zu le­sen:

Der ge­heim­nis­vol­le Spuk in Gar­re Cast­le.

Er kauf­te das Blatt. Die Un­ter­la­gen für den Ar­ti­kel stamm­ten wahr­schein­lich von der­sel­ben Per­sön­lich­keit, die auch das Schrei­ben an den »Glo­be«, ge­schickt hat­te. Die ei­gent­li­che Neu­ig­keit war in fünf Zei­len ab­ge­macht, aber dar­un­ter stand ein lan­ger Ar­ti­kel, der die gan­ze Ge­schich­te von Gar­re Cast­le und alle die frü­he­ren Fäl­le, in de­nen man den Grü­nen Bo­gen­schüt­zen dort ge­se­hen hat­te, be­rich­te­te.

»Es gibt eine Über­lie­fe­rung im Lan­de, daß der ge­heim­nis­vol­le Geist von Kopf bis Fuß grün ge­klei­det ist. Auch sein Bo­gen und sei­ne Pfei­le sol­len von der­sel­ben grü­nen Far­be sein!«

Die Fahrt nach New Bar­net dau­er­te sehr lan­ge und führ­te durch of­fe­ne Fel­der. Rose Cot­ta­ge lag von der Stra­ße ab­seits hin­ter großen be­schnit­te­nen He­cken. Das gan­ze Ge­bäu­de war von Sch­ling­ge­wäch­sen um­zo­gen. Ein klei­ner Gar­ten lag da­vor und ein grö­ße­rer, der zu ei­ner klei­nen Pflan­zung führ­te, muß­te of­fen­bar auf der Rück­sei­te lie­gen. Spi­ke be­ob­ach­te­te dies al­les vom Wa­gen aus. Er öff­ne­te die klei­ne Gar­ten­tür, ging den ge­pflas­ter­ten Weg zum Hau­se ent­lang und klopf­te an die Tür. Nie­mand ant­wor­te­te ihm, ob­wohl sie un­ver­schlos­sen und nur an­ge­lehnt war. Wie­der klopf­te er, aber nie­mand mel­de­te sich.

Schließ­lich stieß er die Tür auf und rief Crea­gers Na­men. Als er auch da­mit kei­nen Er­folg hat­te, ging er zur Stra­ße zu­rück, um sich um­zu­se­hen, ob er nicht ir­gend je­mand fän­de. End­lich sah er auch eine Frau, die wohl aus ei­nem der klei­nen Häu­ser am Ende der Stra­ße ge­kom­men war.

»Mr. Crea­ger? Ja, mein Herr, der wohnt hier, er ist um die­se Ta­ges­zeit ge­wöhn­lich zu Hau­se.«

»Aber er scheint jetzt nicht da zu sein. Wohnt sonst noch je­mand bei ihm?«

»Nein, nur mei­ne Schwes­ter kommt mor­gens zu ihm und rei­nigt das Haus. Aber ge­hen Sie doch hin­ein und war­ten Sie auf ihn!«

Der Vor­schlag er­schi­en Spi­ke gut, be­son­ders da es zu reg­nen be­gann. Er ging in das Haus, den Gang ent­lang und kam zu ei­nem Raum, der of­fen­bar als Wohn­zim­mer diente. Als er sich um­schau­te, be­merk­te er, daß es sehr gut ein­ge­rich­tet war. Über dem Ka­min hing ein Por­trät Crea­gers. Er trug eine Art Uni­form, die Spi­ke aber nicht kann­te.

Er setz­te sich, nahm die Zei­tung aus sei­ner Ta­sche und las noch ein­mal ge­nau die Ge­schich­te des Grü­nen Bo­gen­schüt­zen durch. Es war doch ei­gent­lich un­glaub­lich, daß der­ar­ti­ge Über­lie­fe­run­gen sich noch im 20. Jahr­hun­dert hal­ten konn­ten und daß es Leu­te gab, die an sol­ches Zeug glaub­ten.

Dann leg­te er die Zei­tung hin und schau­te läs­sig durchs Fens­ter, von dem aus man den Gar­ten über­se­hen konn­te. Plötz­lich sprang er auf. Hin­ter ei­nem Busch auf der an­de­ren Sei­te des nied­ri­gen Ra­sens sah er einen Fuß steif aus­ge­streckt.

Spi­ke eil­te aus dem Zim­mer quer über den frei­en Platz und blieb starr vor Schre­cken ste­hen.

Crea­ger lag dort auf dem Rücken, mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen, die Hän­de auf der Brust im To­des­kampf zu­sam­men­ge­krallt. Dicht an den Hän­den rag­te der lan­ge grü­ne Schaft ei­nes Pfeils aus sei­ner Brust.

Spi­ke knie­te nie­der und un­ter­such­te, ob noch Le­ben in Crea­ger wäre, aber es war um­sonst. Dann durch­forsch­te er schnell die nächs­te, un­mit­tel­ba­re Nach­bar­schaft. Der Gar­ten war von den Fel­dern, zwi­schen de­nen er lag, durch einen nied­ri­gen, höl­zer­nen Zaun ab­ge­trennt, über den ein ge­wand­ter Mann leicht sprin­gen konn­te. Spi­ke ver­mu­te­te, daß Crea­ger durch den Schuß so­fort ge­tö­tet wor­den war.

Er sprang über die He­cke und setz­te sei­ne Er­mit­te­lun­gen wei­ter fort. Zehn Schrit­te von dem Zaun ent­fernt stand ein großer Eich­baum, der ge­nau in der Schuß­li­nie des Pfei­les lag.

Er ging um den Baum her­um und prüf­te den Bo­den ein­ge­hend, aber er ent­deck­te kei­ner­lei Fuß­spu­ren. Den Baum selbst konn­te man von der Stra­ße aus ge­nau se­hen. Er schau­te an dem Stamm em­por, er­griff einen der nie­de­ren Äste und schwang sich hin­auf. Er klet­ter­te hö­her und kam schließ­lich zu ei­ner Stel­le, von wo aus er den To­ten se­hen konn­te. In­stink­tiv wuß­te er, daß der töd­li­che Pfeil von die­ser Stel­le aus ab­ge­schos­sen wor­den war. Der Baum war dicht be­laubt und bot ge­nü­gend Schutz, und si­cher war der Mör­der nicht sicht­bar, als der Tote das Ge­sicht ge­ra­de dem Bau­me zu­ge­wandt ha­ben muß­te.

Nach­dem er den Pfeil ab­ge­schos­sen hat­te, muß­te der Schüt­ze von hier hin­un­ter­ge­sprun­gen sein. Die­ser Ge­dan­ke kam Spi­ke plötz­lich, und er klet­ter­te wie­der hin­ab. Un­ten fand er zwei deut­li­che Fuß­ab­drücke, die der Mör­der zu­rück­ge­las­sen hat­te, als er auf den Bo­den sprang. Er hat­te so­gar et­was noch viel Wich­ti­ge­res zu­rück­ge­las­sen, aber Spi­ke sah es nicht so­gleich, erst spä­ter fand er es zu­fäl­lig. Es war ein Pfeil, der ge­nau dem in Crea­gers Brust glich. Der Schaft war glatt po­liert und mit grü­ner Email­le­far­be ge­stri­chen, die Fe­dern wa­ren neu, gif­tig grün und sehr gut be­fes­tigt. Der Pfeil sah ei­gent­lich zu de­ko­ra­tiv aus, als daß man hät­te an­neh­men kön­nen, er sei zu prak­ti­schem Ge­brauch be­stimmt, aber die Spit­ze war na­del­scharf.

Spi­ke ging zum Hau­se zu­rück und schick­te den Chauf­feur, um die Po­li­zei zu ho­len. Kur­ze Zeit spä­ter kam dann auch ein Schutz­mann und ein Po­li­zei­ser­geant. Bald dar­auf er­schi­en auch ein Be­am­ter von Scot­land Yard, der so­fort die Über­wa­chung des Hau­ses über­nahm und den Ab­trans­port des To­ten an­ord­ne­te.

Längst be­vor die Po­li­zei an­kam, hat­te Spi­ke eine ge­naue Durch­su­chung des Hau­ses vor­ge­nom­men. Vor al­len Din­gen durch­such­te er alle Pa­pie­re, die er ir­gend­wie fin­den konn­te. Er er­kann­te bald die Be­deu­tung der Uni­form, die der Mann auf dem Bil­de trug. Crea­ger war frü­her ein Ge­fan­ge­nen­wär­ter ge­we­sen, hat­te ein­und­zwan­zig Jah­re ge­dient und dann sei­nen eh­ren­vol­len Ab­schied ge­nom­men. Ein Zeug­nis hier­über war eins der ers­ten Pa­pie­re, die Spi­ke in die Hand fie­len, als er den Schreib­tisch durch­such­te. Aber be­son­ders war er dar­auf aus, Pa­pie­re zu fin­den, die das Ver­hält­nis Crea­gers zu Abel Bel­la­my auf­klä­ren soll­ten. Eine Schub­la­de des al­ter­tüm­li­chen Schreib­ti­sches konn­te er nicht öff­nen, und Ge­walt woll­te er nicht an­wen­den.

Er fand das Bank­buch und sah zu sei­nem Er­stau­nen, daß Crea­ger ver­hält­nis­mä­ßig wohl­ha­bend war – er hat­te ein Bank­de­pot von über zwei­tau­send Pfund. Eine schnel­le Durch­sicht der ein­zel­nen Sei­ten zeig­te, daß Crea­ger am ers­ten je­den Mo­nats vier­zig Pfund er­hielt, die in bar ein­ge­zahlt wur­den, wie aus den Ein­tra­gun­gen zu er­se­hen war. Die Höhe der Pen­si­on konn­te Spi­ke leicht fest­stel­len, da sie alle Vier­tel­jah­re ge­zahlt wur­de. Au­ßer der Pen­si­on und den mo­nat­li­chen vier­zig Pfund wa­ren nur noch die Zin­sen der Pa­pie­re auf der Kre­dit­sei­te ein­ge­tra­gen, die in sei­nem Be­sitz wa­ren.

Er war ge­ra­de da­mit fer­tig ge­wor­den, die nö­ti­gen Per­so­nal­nach­rich­ten aus dem Paß zu no­tie­ren, als auch die Be­am­ten schon ka­men. Gleich dar­auf kam der Po­li­zei­arzt und un­ter­such­te die Lei­che.

»Er ist schon über eine Stun­de tot«, sag­te er. »Der Pfeil hat ihn voll­stän­dig durch­bohrt, er muß furcht­bar scharf sein.«

Spi­ke gab dem Be­am­ten von Scot­land Yard den zwei­ten Pfeil und führ­te ihn auch zu der Stel­le, wo er ihn ge­fun­den hat­te.

»Der Mann, der die­ses Ver­bre­chen aus­ge­führt hat«, sag­te der De­tek­tiv, »muß ein au­ßer­or­dent­lich ge­schick­ter Mann in die­sen Din­gen sein. Er hat­te die Ab­sicht, zu tö­ten, und war sei­ner Sa­che ganz ge­wiß. Das ist der ers­te Mord durch einen Bo­gen­schuß, den ich per­sön­lich er­lebt habe. Es wäre ganz gut, wenn Sie stets mit uns in Ver­bin­dung blie­ben, Hol­land. Ich ver­mu­te, daß Sie jetzt in Ihr Büro ge­hen und Ihre große Neu­ig­keit in die Zei­tung set­zen wol­len. Aber viel­leicht sa­gen Sie mir, wie Sie über­haupt hier­her­ge­kom­men sind?«

Spi­ke er­zähl­te ge­nau, was sich im Carl­ton-Ho­tel ab­ge­spielt hat­te und füg­te noch eine wei­te­re In­for­ma­ti­on hin­zu, die den De­tek­tiv in größ­tes Er­stau­nen setz­te.

»Der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze! Sie wol­len doch da­mit nicht sa­gen, daß die­se Tat von ei­nem Geist oder ei­nem Ge­s­penst aus­ge­führt wur­de? Ich kann Ih­nen nur sa­gen, daß die­ser Geist sehr real und wirk­lich war, denn es be­durf­te ei­nes Ar­mes von ge­wal­ti­ger Kraft und ei­nes stahl­har­ten Bo­gens, um Crea­ger von ei­ner sol­chen Ent­fer­nung aus zu er­schie­ßen. Wir wol­len jetzt zu Bel­la­my ge­hen.«

Mr. Abel Bel­la­my war eben im Be­griff, nach Berks­hi­re auf­zu­bre­chen, als die Po­li­zei­be­am­ten an­ka­men, und er zeig­te we­der Er­stau­nen noch Er­schre­cken, als er die Neu­ig­keit er­fuhr.

»Ja, das stimmt, ich habe ihn hin­aus­ge­wor­fen. Crea­ger war mir vor Jah­ren sehr nütz­lich, und ich gab ihm eine recht an­sehn­li­che Un­ter­stüt­zung für die Diens­te, die er mir er­wies. Er ret­te­te mein Le­ben – sprang ins Was­ser für mich, als mein Boot auf dem Strom um­schlug.«

Das ist eine in­fa­me Lüge, dach­te Spi­ke, der den Al­ten ge­nau be­ob­ach­te­te.

»Wes­halb ha­ben Sie sich heu­te mor­gen ge­zankt, Mr. Bel­la­my?«

»Wir ha­ben uns nicht ge­ra­de ge­zankt, aber er dräng­te mich, ihm Geld zu lei­hen. Er woll­te näm­lich ein Stück Land zu sei­nem Grund­stück da­zu­kau­fen, auf dem sein Haus steht, und ich – lehn­te es strikt ab. Heu­te wur­de er di­rekt frech und droh­te mir – nun ja, er hat mir nicht ge­ra­de ge­droht«, ver­bes­ser­te sich Bel­la­my mit ei­nem rau­hen La­chen – »aber im­mer­hin, er wur­de her­aus­for­dernd, griff mich an und ich warf ihn hin­aus.«

»Wo hat er Ih­nen denn das Le­ben ge­ret­tet, Mr. Bel­la­my?«, frag­te der Be­am­te.

»In Hen­ley – letz­ten Som­mer wur­den es sie­ben Jah­re«, ant­wor­te­te Bel­la­my prompt.

»Das Da­tum ha­ben Sie sich für im­mer ein­ge­prägt und das ist auch die Er­klä­rung, warum Sie die­sen Mann dau­ernd un­ter­stützt ha­ben«, dach­te Spi­ke für sich.

»Zu je­ner Zeit war er noch im Ge­fäng­nis­dienst«, sag­te der Be­am­te.

»Ver­mut­lich war es so«, ent­geg­ne­te Bel­la­my et­was un­ge­dul­dig. »Aber als sich der Vor­fall er­eig­ne­te, hat­te er ge­ra­de Fe­ri­en. Al­les, was ich Ih­nen er­zäh­le, kön­nen Sie aus sei­nen Per­so­nal­ak­ten fest­stel­len.«

Spi­ke war auch voll­stän­dig da­von über­zeugt, daß man die Be­stä­ti­gung fin­den wür­de, wenn die Pa­pie­re nach­ge­se­hen wür­den.

»Das ist wohl al­les, was ich Ih­nen mit­tei­len kann«, sag­te Bel­la­my. »Sie er­zähl­ten eben, daß Crea­ger er­schos­sen wur­de?«

»Er wur­de durch einen Pfeil ge­tö­tet«, ant­wor­te­te der Be­am­te. »Es war ein grü­ner Pfeil.«

Nur einen Au­gen­blick ver­lor Bel­la­my die Kon­trol­le über sein Mie­nen­spiel.

»Ein grü­ner Pfeil?«, wie­der­hol­te er un­gläu­big. »Ein Pfeil – ein grü­ner Pfeil? Was zum Teu­fel –«, Er nahm sich plötz­lich zu­sam­men und lang­sam ging ein Lä­cheln über sei­ne Ge­sichts­zü­ge, das ihn noch ab­sto­ßen­der mach­te. »Also ein Op­fer Ih­rer Geis­ter­ge­schich­te, Hol­land«, brumm­te er. »Grü­ner Pfeil und grü­ner Bo­gen­schüt­ze, wie? Ha­ben Sie ei­gent­lich die Ge­schich­te in die Zei­tung ge­bracht?«

»Re­por­ter brin­gen sel­ten Ge­schich­ten in an­de­re Zei­tun­gen als ihre ei­ge­nen, aber Sie kön­nen wet­ten, Mr. Bel­la­my, wir wer­den mor­gen eine lan­ge Ge­schich­te in un­se­rem Blatt brin­gen, und Ihr Bo­gen­schüt­ze wird eine be­son­de­re Spal­te für sich ha­ben.«

5

Ist der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze der Mör­der Crea­gers?«

»Ge­heim­nis­vol­ler Mord folgt ei­nem Streit mit dem Be­sit­zer des Geis­ter­schlos­ses.«

»Wer ist der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze von Gar­re Cast­le? In wel­cher Be­zie­hung steht er zu der Er­mor­dung Charles Crea­gers, des frü­he­ren Ge­fäng­nis­wär­ters von Pen­ton­ville? Das sind die Fra­gen, die Scot­land Yard zu be­ant­wor­ten ver­sucht. Crea­ger wur­de ges­tern in sei­nem Gar­ten von ei­nem Be­richt­er­stat­ter des ›Glo­be‹ auf­ge­fun­den, nach­dem er eine hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit Abel Bel­la­my hat­te, dem Chi­ca­go­er Mil­lio­när, in des­sen Schloß der Grü­ne Bo­gen­schüt­ze um­geht. Crea­ger wur­de von ei­nem grü­nen Pfeil ge­tö­tet, wie sie vor sechs­hun­dert Jah­ren in Ge­brauch wa­ren …«

Abel Bel­la­my leg­te die Zei­tung nie­der und schau­te über den Tisch zu sei­nem Se­kre­tär.

»Wie­viel von all die­sen Nach­rich­ten auf Ihr Kon­to kom­men, weiß ich nicht«, brumm­te er. »Ir­gend je­mand muß den Zei­tungs­be­richt­er­stat­tern von die­sem ver­rück­ten Geist er­zählt ha­ben. Nun hö­ren Sie ein­mal zu, Sa­vi­ni. All die­ses ver­fluch­te Ge­schwätz von Ge­s­pens­tern macht mir gar nichts aus, ha­ben Sie mich ver­stan­den? Aber wenn die­ses ver­rück­te Af­fen­thea­ter mich ner­vös ma­chen soll­te und wenn Sie den­ken, daß Sie sich da­durch in Gar­re un­ent­behr­lich ma­chen, so will ich Ih­nen et­was an­de­res sa­gen. Ich wer­de den Schwin­del ein­fach zer­schmet­tern, ohne im min­des­ten Scot­land Yard zu fra­gen, glau­ben Sie mir!«

Er ging zum Fens­ter und starr­te wü­tend auf die Stra­ße. Dann dreh­te er sich plötz­lich um.

»Sa­vi­ni, ich will Ih­nen et­was sa­gen. Sie ha­ben eine gute Stel­lung – se­hen Sie zu, daß Sie sie nicht ver­lie­ren. Sie sind der ein­zi­ge Se­kre­tär, den ich je­mals an­ge­stellt habe. Sie sind aal­glatt und ver­ste­hen zu lü­gen, aber Sie pas­sen mir ge­ra­de. Ich habe Sie aus dem Rinn­stein auf­ge­le­sen – ver­ges­sen Sie das nicht! Ich weiß, daß Sie ein Schuft sind, Sie sind nie et­was an­de­res als ein Ver­bre­cher ge­we­sen – aber ich habe Sie an­ge­stellt, weil Sie ein Kerl sind, den ich ge­brau­chen kann. Ich habe Sie ganz und gar durch­schaut, ha­ben Sie das ge­hört? Sie wa­ren da­mals mit ei­ner Ban­de von Falsch­spie­lern zu­sam­men, als ich Sie auf­las. Die Po­li­zei war­te­te nur auf eine Ge­le­gen­heit, Sie ins Ge­fäng­nis zu ste­cken. So habe ich al­les über Sie er­fah­ren. Als der De­tek­tiv ges­tern abend kam, um mich über Crea­ger aus­zu­fra­gen, war eine sei­ner ers­ten Fra­gen an mich, ob ich wüß­te, was für eine Art von Se­kre­tär ich mir da an­ge­schafft hät­te. Wuß­ten Sie das?«

Auf Sa­vi­nis Ge­sicht konn­te man die Ant­wort deut­lich le­sen. Die matt­gel­be Far­be war ei­ner asch­grau­en Bläs­se ge­wi­chen.

»Ich hör­te nicht zum ers­ten­mal von Ih­nen«, fuhr der Alte er­bar­mungs­los fort, »es ist schon län­ger als ein Jahr her, als der Po­li­zei­chef oder Po­li­zei­in­spek­tor oder wie man im­mer sol­che Men­schen nennt, mich we­gen ei­ner Kra­wat­ten­na­del auf­such­te, die ein Ho­te­lan­ge­stell­ter ge­stoh­len hat­te. Ich lud ihn zum Es­sen ein, mit der Po­li­zei habe ich mich im­mer gut ver­tra­gen, das lohnt sich. Und wäh­rend wir speis­ten, hat er mir al­les von Ih­nen er­zählt, so daß ich Ihre Ver­gan­gen­heit ge­nau ken­ne. Ver­mut­lich glaub­ten Sie, daß Sie Ihre Sucht, leicht Geld zu ver­die­nen, be­frie­di­gen könn­ten, als ich Sie an­stell­te? Aber dar­in hat­ten Sie sich ge­irrt. Mir ge­gen­über sind Sie im­mer ehr­lich ge­we­sen, und das hat­te auch sei­nen gu­ten Grund. Ich hat­te Sie kaum eine Wo­che en­ga­giert, als die Falsch­spie­ler­ban­de, der Sie an­ge­hör­ten, auf­ge­grif­fen wur­de, und Sie wa­ren zu­frie­den, daß Sie nun eine Zuf­lucht bei mir ge­fun­den hat­ten.«

Er ging lang­sam auf sei­nen Se­kre­tär zu und hak­te sei­nen di­cken Fin­ger in den Wes­ten­aus­schnitt Sa­vi­nis ein.

»Das Ge­schwätz von dem Grü­nen Bo­gen­schüt­zen wird sehr bald sein Ende fin­den«, sag­te er be­deu­tungs­voll. »Und das wäre auch bes­ser. Ich schie­ße rück­sichts­los auf al­les Grü­ne, und ich brau­che dem Lei­chen­be­schau­er nicht zu er­klä­ren, wie sich der Un­glücks­fall zu­trug. In den Zei­tun­gen konn­ten Sie le­sen, daß schon ein­mal ein Grü­ner Bo­gen­schüt­ze ei­nes schnel­len To­des starb – es ist leicht mög­lich, daß sich das wie­der­holt!«

Bel­la­my pack­te sei­nen Se­kre­tär fes­ter und ohne sicht­li­che An­stren­gung schüt­tel­te er den hilflo­sen jun­gen Men­schen hin und her.

»Sie wis­sen, daß ich ein Rauf­bold bin, aber Sie den­ken, ich bin leicht zu durch­schau­en – Sie ir­ren sich! Aber alle Ihre Sch­li­che durch­schaue ich und bin Ih­nen über!«

Plötz­lich streck­te er sei­nen Arm aus und Sa­vi­ni tau­mel­te rück­wärts.

»Den Wa­gen um fünf Uhr!«, Mit ei­ner Seit­wärts­be­we­gung des Kop­fes entließ Bel­la­my sei­nen Se­kre­tär für den Tag.

Sa­vi­ni ging auf sein Zim­mer und kam geis­tig und kör­per­lich all­mäh­lich wie­der zu sich. Er war ver­stört und er­hol­te sich nur all­mäh­lich von sei­ner Furcht. Er stütz­te die Arme auf den Schreib­tisch und schau­te nach­denk­lich auf sein brau­nes Ge­sicht im Spie­gel.

Er hat­te nur die Wahr­heit ge­spro­chen, als er die gan­ze Verant­wor­tung für die Ge­schich­te des Grü­nen Bo­gen­schüt­zen den Zei­tun­gen zu­schob. Er hat­te viel gute Grün­de, um das Neu­auf­tau­chen die­ser son­der­ba­ren Er­schei­nung nicht in die Öf­fent­lich­keit kom­men zu las­sen. Der alte Bel­la­my wuß­te also al­les! Die­se Ent­de­ckung er­schreck­te ihn zu­erst, aber nun war sie ein Trost für ihn. Er hat­te schon in Schre­cken und Sor­ge ge­lebt, daß ei­nes gu­ten Ta­ges sein Vor­le­ben ent­deckt wer­den könn­te, aber warum er das fürch­te­te, ahn­te selbst Abel Bel­la­my nicht. Die sanf­ten, brau­nen Au­gen, die ihm aus dem Spie­gel ent­ge­gen­schau­ten, lä­chel­ten. Abel Bel­la­my ver­mu­te­te es nicht! Er schau­te auf sei­ne Uhr. Es war kurz nach neun, und der gan­ze Tag bis fünf ge­hör­te ihm. Alle die Ent­schul­di­gun­gen, die er sich zu­recht­ge­legt hat­te, um aus­zu­ge­hen, brauch­te er nun nicht. Wenn man Bel­la­my die­nen woll­te, muß­te man ihn ab­so­lut al­lein las­sen, wenn er kei­ne Ge­sell­schaft wünsch­te. Und es gab Tage, an de­nen er den Al­ten von mor­gens bis abends nicht sah, an an­de­ren Ta­gen wie­der wa­ren alle Stun­den aus­ge­füllt mit Kor­re­spon­denz, denn Bel­la­my ließ die Beant­wor­tung von Brie­fen zu­sam­men­kom­men.

Ein Miet­au­to brach­te ihn vor das Por­tal ei­nes großen Häu­ser­blocks in Mai­da Vale. Er ließ sich auch nicht von dem Lift­boy hin­auf­fah­ren, son­dern ging zu Fuß die Trep­pe in die Höhe, zog einen Schlüs­sel aus sei­ner Ta­sche und öff­ne­te Tür Nr. 12.

Bei dem Geräusch des Auf­schlie­ßens trat eine Frau mit ei­ner Zi­ga­ret­te im Mund in den Gang hin­aus, um sich nach dem Be­su­cher um­zu­se­hen.

»O, du bist es!«, sag­te sie gleich­gül­tig, als er die Tür hin­ter sich schloß und sei­nen Hut an den Gar­de­ro­ben­stän­der hing.

»Wer soll­te denn sonst kom­men?«, frag­te er.

»Ich habe das Mäd­chen aus­ge­schickt, um Eier zu ho­len«, ant­wor­te­te sie, als er ihr in das klei­ne, gut­mö­blier­te Wohn­zim­mer folg­te. »Wo warst du ges­tern? Ich dach­te, du wür­dest zum Abend­brot kom­men.«

Sie hat­te sich auf die Ecke des Ti­sches ge­setzt und wipp­te mit den Fü­ßen. Sie war von hüb­scher Ge­stalt, aber et­was un­or­dent­lich in ih­rer Klei­dung. Dich­te blon­de Haa­re um­rahm­ten ihr Ge­sicht mit den schö­nen dunklen Au­gen. Die Pu­der­schicht schi­en ein we­nig un­nö­tig, aber sie gab ihm die Er­klä­rung.

»Sieh mich nicht an«, sag­te sie, als er sie neu­gie­rig und ein­ge­hend be­trach­te­te. »Ich war zum Tan­zen aus bis drei Uhr, und ich habe noch nicht ge­ba­det. Heu­te mor­gen be­kam ich einen Brief von Jer­ry«, füg­te sie plötz­lich hin­zu und lach­te über das er­staun­te Ge­sicht, das er mach­te.

Sie sprang vom Tisch und hol­te einen blau­en Brief­um­schlag vom Ka­min.

»Ich will es gar nicht se­hen, ich has­se die Berüh­rung von Din­gen, die aus dem Ge­fäng­nis kom­men.«

»Du kannst von Glück sa­gen, daß du selbst nicht dort bist, mein Jun­ge«, sag­te sie und steck­te sich eine fri­sche Zi­ga­ret­te mit dem Stum­mel an, den sie eben zu Ende ge­raucht hat­te. »Jer­ry wird in sechs Mo­na­ten aus dem Ge­fäng­nis kom­men. Er möch­te ger­ne wis­sen, was du für ihn tun wirst. Du bist ja jetzt ein Mil­lio­när, Ju­li­us.«

»Sei doch nicht ver­rückt«, sag­te er rauh.

»Bel­la­my ist es we­nigs­tens, und da kannst du doch ver­schie­de­nes er­ben.«

»Si­cher gibt es dort viel zu er­ben.«, Er steck­te die Hän­de in die Ho­sen­ta­schen, schlen­der­te zum Fens­ter und stell­te sich so, daß sein Ge­sicht im Schat­ten war.

»Eine hal­be Mil­li­on gibt es für uns in Gar­re.«

»Meinst du Dol­lars oder Pfund?«, frag­te sie ohne große Be­geis­te­rung.

»Pfun­de.«

Sie lach­te lei­se.

»Der alte Bel­la­my wür­de sehr be­sorgt sein, wenn er wüß­te –«

»Er weiß. Er ist von al­lem un­ter­rich­tet.«

Sie schau­te ihn er­staunt an.

»Daß du –?«

Er nick­te.

»Daß ich viel auf dem Kerb­holz habe –. Er sag­te mir heu­te mor­gen, daß ich ein Ver­bre­cher wäre.«

»Was ist das ei­gent­lich für eine Ge­schich­te mit dem Grü­nen Bo­gen­schüt­zen?«, frag­te sie und er­hob sich, um die Tür zu schlie­ßen, als sie hör­te, daß das Mäd­chen zu­rück­kam. »Ich habe heu­te mor­gen die Sa­che in der Zei­tung ge­le­sen.«

Er ant­wor­te­te nicht gleich.

»Ich habe nichts be­merkt«, sag­te er dann. »Ei­ner von den Dienst­bo­ten glaubt ihn ge­se­hen zu ha­ben, und der Alte hat mir ge­sagt, daß je­mand sei­ne Tür wäh­rend der Nacht ge­öff­net hät­te.«

»Das warst du na­tür­lich!«, Aber zu ih­rem größ­ten Er­stau­nen schüt­tel­te er den Kopf.

»Es liegt doch gar kein Grund vor für sol­che nächt­li­che, Streif­zü­ge. Ich ken­ne je­den Teil des Schlos­ses ge­nau und der Geld­schrank ist ein Ding, das ich nicht al­lein über­neh­men kann. Dazu ge­hört ein Sach­ver­stän­di­ger.«, Er leg­te die Stirn in nach­denk­li­che Fal­ten. »Ich möch­te dir sa­gen, was ich dar­über den­ke. Un­se­re alte Ge­sell­schaft löst sich auf. Jer­ry ist im Ge­fäng­nis, eben­so Ben; Wal­ters ist nach dem Fest­land hin­über. Nur du und ich sind üb­rig­ge­blie­ben. Die Sa­che ist er­le­digt, und wir wol­len sie auch er­le­digt sein las­sen. Was ha­ben wir bei­de denn auch schon groß dar­an ver­dient? Ein paar Pfund die Wo­che mit har­ter Ar­beit, da­von kann man nichts zu­rück­le­gen, wenn wir alle die Un­kos­ten ab­zie­hen. Die Sa­che war zu klein an­ge­legt. Und dum­me Leu­te, die man nep­pen kann, wer­den sel­ten. Aber hier kön­nen wir eine hal­be Mil­li­on be­kom­men, wenn wir uns dran­hal­ten. Ich kann dir nur ver­si­chern, ich bin schon halb ent­schlos­sen, selbst einen Mord zu ris­kie­ren, um das Geld zu be­kom­men!«

Er leg­te den Arm um sie und küß­te sie, aber ihr Arg­wohn war schnell er­wacht.

»Wo­rin be­steht denn dein großer Plan? Ich traue dir nicht, Ju­li­us, wenn du zärt­lich wirst. Soll ich etwa hin­ge­hen und den Geld­schrank auf­bre­chen oder so et­was Ähn­li­ches?«

Er sah ihr ge­ra­de in die Au­gen.

»Ich weiß einen Ort – Sao Pao­lo – wo ein Mann wie ein Fürst le­ben kann, wenn er die Zin­sen von hun­dert­tau­send Dol­lars zu ver­zeh­ren hat. Das ist so un­ge­fähr die Sum­me, die mir der alte Teu­fel zah­len wird, viel­leicht auch mehr. Gar­re Cast­le birgt ein Ge­heim­nis, Fay. Es mag auch sein, daß es hun­dert­tau­send Pfund wert ist und wenn es hart auf hart kommt, so habe ich eine Fla­sche un­sicht­ba­re Tin­te und die ist min­des­tens Zwan­zig­tau­send wert.«

Ju­li­us lieb­te es, sich ge­heim­nis­voll aus­zu­drücken und freu­te sich, als er die Ver­wun­de­rung auf dem Ge­sicht sei­ner Frau las.

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