Der grüne Chinese - Dagmar Scharsich - E-Book

Der grüne Chinese E-Book

Dagmar Scharsich

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

2009: Marie Baer, Antiquarin in Mitte, bekommt ein paar uralte Romanhefte angeboten: Wanda von Brannburg, Deutschlands Meisterdetectivin. Eine weibliche Hauptfigur in einer Groschenheft-Serie der Kaiserzeit? Doch das eigentlich faszinierende Manuskript, das Marie dabei in die Hände fällt, ist das Tagebuch einer jungen Landadligen, die in einen Polit-Thriller verstrickt wird. Ist diese Frau nun echt oder ›nur‹ eine literarische Gestalt? 1909: Im Berlin der Kaiserzeit muss sich Wanda unter Fremden durchschlagen. Sie trifft auf Künstler, Schurken und Idealisten. Es sind turbulente Tage – die Zeit der Schauspielerin Sarah Bernhardt, der Fliegerin Melli Beese, des Physikers Albert Einstein. Wissenschaftler erforschen den drahtlosen Funkverkehr, das Kaiser- Wilhelm-Institut wird gegründet, der erste Zeppelin schwebt über Berlin. Und eine große Intrige ist im Gang.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 794

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2018

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2008/2018

Lektorat: Else Laudan

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 22.03.2018

ISBN 978-3-95988-115-9

Über das Buch

2009: Marie Baer, Antiquarin in Mitte, bekommt ein paar uralte Romanhefte angeboten: Wanda von Brannburg, Deutschlands Meisterdetectivin. Eine weibliche Hauptfigur in einer Groschenheft-Serie der Kaiserzeit? Doch das eigentlich faszinierende Manuskript, das Marie dabei in die Hände fällt, ist das Tagebuch einer jungen Landadligen, die in einen Polit-Thriller verstrickt wird. Ist diese Frau nun echt oder ›nur‹ eine literarische Gestalt?

1909: Im Berlin der Kaiserzeit muss sich Wanda unter Fremden durchschlagen. Sie trifft auf Künstler, Schurken und Idealisten. Es sind turbulente Tage – die Zeit der Schauspielerin Sarah Bernhardt, der Fliegerin Melli Beese, des Physikers Albert Einstein. Wissenschaftler erforschen den drahtlosen Funkverkehr, das Kaiser- Wilhelm-Institut wird gegründet, der erste Zeppelin schwebt über Berlin. Und eine große Intrige ist im Gang.

Über die Autorin

Dagmar Scharsich, geboren 1956 in Magdeburg, studierte an der Humboldt-Universität Kultur- und Theaterwissenschaften. Neben Studium und Arbeit in einem Berliner Kulturhaus sowie in der Kulturabteilung der Charité war sie am Pantomimentheater vom Prenzlauer Berg, machte Praktika am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin sowie am Theater im Palast in Berlin. Ab 1989 freie Autorin. Für ihr Roman­debüt Die gefrorene Charlotte erhielt sie den Brandenburgischen ­Literatur-Förderpreis, neben zwei weiteren Romanen schrieb sie Kriminalerzählungen, Kriminalhörspiele für den Rundfunk sowie verschiedene Theaterstücke.

Dagmar Scharsich

Der grüne Chinese

Vorwort von Else Laudan

Seit meiner Kindheit schwingt in dem Wort Schmöker für mich eine magische Verheißung mit. Es ist das Versprechen, entführt zu werden in eine mir unbekannte Welt, gepackt und davongetragen, bis ich nach der Lektüre mit fetter Beute zurückkehre, bereichert um neue Bilder, Geschichten, im besten Fall einen ganzen Kosmos, der fortan in meinem Kopf wohnt.

Der grüne Chinese ist der Idealfall eines Schmökers: ein süffiger, ausgreifender, mehrschichtiger Spannungsroman mit hohem Identifikationsfaktor. Den Rahmen bildet ein Berliner Großstadtszenario, modern, originell erzählt, schwungvoll durch die Lebendigkeit der Figuren, allen voran die eigensinnige Antiquarin Marie. Dann tauchen Relikte aus der Vergangenheit auf: Heftchenkrimis der Kaiserzeit, eine historische Form der Unterhaltungsliteratur um Verbrechen und Gewalt. Ein Rätsel manifestiert sich, und gleich darauf ein zweiter Erzählkosmos, historisch gesättigt, opulent und zunehmend ­voller Action: Wanda von Brannburgs dramatische Erlebnisse im Jahre 1909. In der Hauptstadt trifft sie auf Künstler, ­Schurken und Idealisten, begegnet der Fliegerin Melli Beese sowie ­einem bekannten Physiker … und gerät mitten in eine grimmige ­Intrige.

Der grüne Chinese ist geradezu eine Ode an den im Laufe seiner Geschichte so vielgestaltigen Kriminalschmöker, ein Galopp durch mehrere historische Facetten dieser reichen Gattung – so zeitlos mitreißend, dass ich ihn auch bei der erneuten Relektüre wieder mit glühenden Ohren verschlungen habe. Deshalb ist es mir ein Fest, diesen gelungenen Erzähl­exzess noch einmal neu herauszubringen und in einer Zeit, da das Medium Buch schon um seine Existenz kämpft, zu zeigen, welch üppigen Genuss eine solche Lektüre verschaffen kann.

Else Laudan

Die Fliege weiß zuerst, was in der Gruft ist. Sie ist mit mir hereingekommen, aus der Hitze des Tages in die kühle Haupthalle des Doms. Während ich durch den Hauptgang laufe, auf den Altar zu, hastig die Wände absuche, die Durchgänge zwischen den Säulen, immer schwebt ihr Brummen neben mir. Auch als ich die Kaiserloge entdecke, habe ich ihr Summen im Ohr.

Ich steuere darauf zu. Hundert neugierige Zuschauer. Schwarzrotgelbe Absperrbänder mit dem Bundesadler vor dem Eingang. Wichtige Herren in Anzügen mit Funksprechgeräten überwachen den Einlass. Davon steht nichts in meiner Zeitung. Egal, ich dränge mich durch, laufe genau auf sie zu. Schon drei Meter vor der Pforte stellen sie sich mir in den Weg. Kein Zutritt! Regierungsveranstaltung. Nur für Geladene!

Ich bin geladen, und wie! Hektisch wedele ich mit der Zeitung. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, wirklich peinlich, wir blamieren uns vor der Kanzlerin. Ich bin Assistentin der Produktionsleitung, hurtig, Jungs, mein Chef macht mich zur Sau, ohne mich geht da unten nicht mal ein Scheinwerfer an!

Keine gute Ausrede, aber auf die Schnelle fällt mir nichts Besseres ein. Ich lächele sie an, entschlossen und verzweifelt. Kaum zu glauben, sie nicken sich verständnisvoll zu. Einer hebt die Absperrung, ich schlüpfe hindurch, er läuft vor mir her, durch den Zugang zur Kaiserloge, in einen langen, spärlich beleuchteten Gang. Dort weist er auf den Anfang der Treppe. Da geht’s runter, Mädchen, nun lauf! Er zwinkert mir zu. Ich mache mich schleunigst an den Abstieg. Modrige ­Schwüle schließt mich ein, trotz der Abluftanlagen. Mir bricht der Schweiß aus. Die Fliege summt dicht neben meinem Ohr. Am Fuß der Treppe der private Zugang von Kaiser Wilhelm II. zu den Grabgewölben seiner Vorfahren. Restauriert, mit Schautafeln ausgestattet, alle Särge und Sarkophage ausführlich deklariert. Auch hier Absperrbänder. Wegweiser ins Gewirr der geheimen Gänge unter Dom und Spree. Sicherheitsleute, Journalisten, Kameramänner. Vorsicht, die Kabel! – Es hat schon begonnen! – Scht, Tonaufnahme! – Ein Lamellenvorhang aus dicker Baufolie, das vertraute Summen neben mir, wir schlüpfen hinein. Zehn, zwölf Reihen von Klappstühlen, würdige Herren und Damen in schwarzen Anzügen, die Kanzlerin, der Innenminister, der Regierende Bürgermeister, Nachfahren der Kaiserlichen Familie, alle starren auf ein grünes Baunetz, breit gespannt über die hintere Seite des Raumes. Kameras, riesige Scheinwerfer, ARD oder ZDF, die Hofberichterstattung im Einsatz. Hinter dem Rednerpult der Ministerpräsident.

… freue ich mich, Sie heute zu diesem außergewöhnlichen Ereignis begrüßen zu dürfen. Ein bewegender Moment deutscher Geschichte. In wenigen Minuten wird diese Mauer hinter meinem Rücken durchbrochen. Von Ultraschallechountersuchungen wissen wir, dass sich dahinter ein Raum befindet, der auf keinem Grundriss des Berliner Domes verzeichnet ist.

Mir tritt Schweiß auf die Stirn, meine Hände zittern. Ich bin drin, gerade noch rechtzeitig! Das Summen ist immer noch neben mir. Es wechselt von meinem rechten zu meinem linken Ohr. Dann entfernt es sich plötzlich. Ein brummender schwarzer Punkt fliegt über die gut frisierten Köpfe, umkreist den Redner, lässt sich auf dem grünen Baunetz nieder, schlüpft durch ein Loch auf die Rückseite. Bauarbeiter mit erhobenen Vorschlaghämmern warten auf ihren Einsatz. Das Summen wird leiser, der schwarze Punkt erscheint über der Oberkante des grünen Netzes, wo eine unverputzte alte Mauer sichtbar ist.

Wenn ich nun das Zeichen gebe, werden wir diese Mauer einreißen. Ein durch glücklichen Zufall entdeckter, seit hundert Jahren verschlossener Raum wird vor unseren Augen sein Geheimnis preisgeben. Wir alle wünschen und hoffen mit Ihnen, verehrte Familie von Hohenzollern, dass wir hier die so lange verschollenen Sarkophage der Hohenwalder Linie finden.

Ja, das hoffe ich auch. Bitte, nur langweilige Särge von langweiligen Hohenzollern! Nicht eine junge Frau im eleganten Seidenkostüm mit schwarzen Schnürstiefeln, die vor einhundert Jahren hier eingemauert wurde, tot oder lebendig …

Mitten auf der Mauer verschwindet die Fliege in einer offenen Fuge. Sie ist drin. Ihr Summen verstummt. Der Ministerpräsident hebt den Arm. Der erste Hammerschlag saust auf die alten Steine nieder. Ich halte den Atem an.

Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuße der Ngongberge …

… Ich habe ein Antiquariat in Berlin, am unteren Ende der Großen Hamburger Straße, zwischen Oranienburger, August- und Linienstraße, mittendrin in der Mitte von Berlin.

Solange ich denken kann, bin ich hier. Und solange ich denken kann, gibt es Bücher für mich. Meinen Großvater kennen alle in dieser Gegend als Bücher-Willi, die alten Leute genau wie die jungen. Auch die Studenten der Humboldt-Universität kennen ihn. Sie müssen nur über die Museumsinsel und auf der Monbijoubrücke die Spree überqueren. Opa Willi hat Generationen von ihnen mit Büchern versorgt. Besonders in den Jahren, in denen Bücher knapp waren. Bückware eben. Opa kannte alle seine Kunden, er bückte sich unter den Ladentisch und holte für jeden das richtige Buch heraus. Lehrbücher, Dissidentenbücher, Kochbücher, Krimis, Bücher mit erhabenen Botschaften oder neuen Philosophien.

Das machte er für seine Kunden, und das machte er genauso in der Familie. Als ich geboren wurde, legte Großvater meiner Mutter die druckfrische Ausgabe von Pierre und Marie. Die Entdecker des Radiums auf ihre Bettdecke in der Charité-Frauen­klinik. Botschaft: Auch eine Frau, die ein Kind hat, kann immer noch Großes vollbringen. Großvater Willi gab meiner Mutter einen Kuss und stand fast schon wieder in der Tür, als sie hinter ihm herrief. »Und wie soll das Kind nun heißen?«

Besinnliches Schweigen. Ihre Blicke müssen beinahe gleichzeitig auf das Buch auf der Bettdecke gefallen sein. Sie waren sich sofort einig. Opa Willi nickte. »Marie also, jut jut!«

Er lächelte Mama zu. Mir auch, in meinem kleinen Plexiglasbettchen. Dann hastete er mit wehenden grauen Haaren zurück zur Buchhandlung, an deren Tür er sein übliches Pappschild hinterlassen hatte. KOMME GLEICH WIEDER! Und für ganz eilige Kunden den Ladenschlüssel nebenan im Gemüseladen.

Marie, was für ein Name. Er klingt modern, wie von ­heute, und doch gibt es ihn schon seit 2000 Jahren. Die wirklich ­genialen Dinge fallen einem immer in ein, zwei Sekunden ein. Tagelanges Verhandeln führt meist zu geistigen Havarien. Das sieht man am Potsdamer Abkommen, wie Großvater immer wieder sagte, wenn in der Buchhandlung hinter vorgehaltener Hand von der Teilung Berlins die Rede war. Und das ist auch heute nicht anders. Im September war Bundestagswahl, danach haben sie wochenlang überlegt und verhandelt. Und was dabei wirklich herausgekommen ist, ahnen wir eigentlich immer noch nicht. Dabei weiß jedes Schulkind, wenn du eine Klassenarbeit in den Sand gesetzt hast, werden deine Fehler rot angestrichen, und du musst eine ordentliche Berichtigung machen. Aber hier gibt’s keine Berichtigung! Der alte Kanzler darf gehen und hinterlässt uns den kompletten Bestand seiner gesammelten Katastrophen. Super! Mit mir wäre das nicht so gelaufen. Ich hätte völlig anders entschieden, und darüber ­hätte ich keine Minute nachdenken müssen.

Jut jut, so bin ich. Aber leider bin ich nicht immer so schnell. Wenn ich über Fritz nachdenke, das mache ich schon seit drei Jahren, ich denke und denke und es wird einfach nichts besser davon.

Ich hatte eine Farm in Afrika …

Ich habe ein Antiquariat in Berlin, am unteren Ende der Großen Hamburger Straße, mittendrin in der Mitte von Berlin – und ich liebe es.

Jetzt, im Oktober, wenn die Touristen langsam weniger werden und sich manchmal eine ganze Stunde kein Mensch zu mir in den Laden verirrt, mache ich es mir auf dem grünen Polstersessel vor dem Romanregal bequem. Der Herbst ist trocken in diesem Jahr, ich schlage meine Ladentür weit auf, ­warme Luft flutet herein, die Sonnenstrahlen legen sich über die Auslagen im Schaufenster und den Fußboden. Der Lärm von Berlin ist zu hören. Vor meiner Ladentür eilen Fußgänger vorüber, rasen Autos durch die schmale Straße. Auch wenn jetzt vorne auf der Oranienburger nicht mehr die quietschende alte Straßenbahn fährt wie zu Opa Willis Zeiten, ist es hier lauter als früher. Hier kann ich hören, wie lebendig ich bin. Jut jut, Marie, Berlin, mittendrin, genau wie ich es will!

Die schönsten Tage sind die, wenn das Telefon klingelt und eine brüchige alte Stimme mich zu einer Bücherschrankbesichtigung einlädt. Oder eine graulockige Dame legt mir den kompletten 1. Jahrgang der SIBYLLE von 1956 auf den Ladentisch. Meist sind es alte Leute, die mir ihre Bücher verkaufen. Wenn sie in eine kleinere Wohnung ziehen, wenn sie ein Zimmer untervermieten wollen, wenn sie umziehen auf den Friedhof, wo ihre letzte Wohnung auf Erden eben keine Bücherregale mehr hat – dann kaufe ich ihre Bücher und verkaufe sie weiter an die jungen Leute, die jetzt in Scharen in diese Gegend ziehen.

Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuße der Ngongberge. Hundert Meilen nördlicher lief der Äquator durchs Hochland, aber die Farm lag in einer Höhe von über zweitausend Metern. Da spürt man tagsüber die Höhe, die Nähe der Sonne, aber die Morgenfrühe und die Abende sind klar und friedvoll, und die Nächte sind kalt.

Die geographische Lage und die Höhe haben vereint eine Landschaft geschaffen, die in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat. Nirgends ist etwas Üppiges oder Überschwängliches; es ist, als wäre Afrika hier gleichsam durch zweitausend Meter emporgeläutert zu einer starken und klaren Essenz seines Wesens. Die Farben sind trocken und glasiert wie Farben irdener Geschirre …

Wie schön diese Zeilen sind. Das ist eines meiner Lieblingsbücher, ich kann die Sätze längst auswendig. Aber nichts ist angenehmer, als ein altes Buch in der Hand zu haben. Dieses hier hat eine Prägung in Türkis und Gold, dünne raschelnde Seiten mit Goldschnitt, der schwere Buchdeckel legt sich wie ein Haustier in meine Hand. So mache ich es immer, ich lese die erste Seite. Nicht mehr. Die ersten Sätze von berühmten Romanen sind wie die Vorspeise eines Fünf-Sterne-Menüs. Ein großes Versprechen, das nie gehalten wird. Ein ganzes Buch lese ich selten.

Das ist eben heute so. Kein Mensch liest heute noch ein Buch nach dem anderen, wie damals zu Opas Zeiten. Heute gehen die Leute nach der Arbeit ins Kino oder nach Hause zum Fernsehen. Ein Film von zwei Stunden erzählt eine ­komplette ­Lebensgeschichte. Du kannst lachen und weinen, alles an einem Abend. 500 Seiten liest dafür keiner mehr. Und genau deshalb haben Bücher keine Zukunft. Sie haben allenfalls eine geduldete Gegenwart. Was bleibt, ist ihre große Vergangenheit. Die wirft man nicht einfach weg, Bücher gehören nicht auf den Müll, nur weil keiner mehr Zeit für sie hat. Und das ist der Grund. Darum habe ich aus Opa Willis Buchhandlung, als ich sie vor vier Jahren übernommen habe, ein Antiquariat gemacht.

Jut jut, Marie. Ich setze nicht auf die Zukunft von Buchhandlungen.

Für die nächsten 300 Seiten von Jenseits von Afrika habe ich sowieso keine Zeit. Es ist ein sonniger Tag. Die Touristen wandern. Frauen und Männer stürmen aus den Büros. Mit ihren superkorrekten Frisuren, schwarzen Anzügen und kurzen Mänteln hasten sie in der Mittagspause die Straße entlang. Plötzlich bleibt eine junge Frau vor meinem Schaufenster stehen. Eine abgeschabte Einkaufstasche drückt sie an sich, die aussieht, als hätte sie sie ihrer Oma gemaust. Sie heftet ihren Blick auf die Auslagen. Lange steht sie und guckt, tritt von ­einem Fuß auf den anderen.

Die Tür ist offen! Ich nicke ihr zu, lächele sie an. Nicht mal die ganz alten Damen brauchen so viel Aufmunterung, um über meine Schwelle zu kommen. Worauf wartet sie denn? Soll ich einen roten Teppich ausrollen?

Doch, sie kommt ja, aber erst nach dem dritten Lächeln. Ich habe genug Zeit, sie ausgiebig zu betrachten. Sie trägt ­einen Wollpullover über ihren Jeans, zu warm für das schöne Herbstwetter. Ihre dunklen Haare hat sie mitten auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengesteckt. Berliner Portierszwiebel, würde Opa sagen. Der Frisur nach ist sie ungefähr 80. Aber ihre Augen gleiten flink über meine Auslagen, dunkel, hellwach. Wenn es nach den Augen geht, ist sie Mitte 30, wie ich.

Sie stelzt zu mir herein, ich bin längst aus dem grünen Sessel heraus und stehe ordentlich hinter meinem Ladentisch. Sie kommt auf mich zu und … reicht mir zur Begrüßung die Hand. Au je! Wir sind in Berlin! Kein Mensch hier begrüßt seinen Bäcker mit Handschlag, seinen Briefträger, seine Antiquarin. Freunde begrüßen sich mit Küsschen, rechts und links neben die Wange gehaucht. Aber niemals einen Handschlag. Mädchen, Mädchen, was bist du denn für eine?

Miss Portierszwiebel reicht mir ihr eiskaltes Händchen, guckt sich unsicher um. »Sagen Sie … ist das hier ein Antiquariat?«

»Gut erkannt. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Ich … nein … aber draußen über dem Laden steht BUCHHANDLUNG Baer … und jetzt wusste ich nicht …«

Opas alte Inschrift, na gut, daran hänge ich nun mal. Und die Leute finden schon selbst heraus, was das hier für ein ­Laden ist. »Sehen Sie sich ruhig um, Sie können stöbern, solange Sie wollen.« Das mache ich doch gerne, schüchternen Hinterwäldlerinnen erzählen, was in Berlin, Große ­Hamburger Straße, so Sache ist.

Zögernd wie ein Rehlein im Unterholz streicht sie an den Regalen entlang. Ihr Blick wandert hinauf und hinab. Sie sagt nichts, fragt nichts, nicht ein einziges Mal streckt sie die Hand nach einem Buch aus. Dabei würde ich ihr gerne ein paar ­Titel empfehlen, ein paar Anekdoten erzählen, sie müsste mir nur ­einen Hinweis geben. Gleich schlafe ich ein. Aber dann bleibt das Rehlein abrupt stehen, kommt entschlossen zum Ladentisch und legt ihre Einkaufstasche darauf. »Ich … wissen Sie … eigent­lich suche ich gar nichts. Ich wollte Ihnen nur etwas zeigen.«

Im Nu bin ich wieder hellwach. Meine Enttäuschung über diese langweilige Kundin löst sich auf wie Zucker im Tee. »Ja, klar, zeigen Sie her!« In so einem Moment erbebt mein Antiquarinnen-Herz.

Sie zieht ein kleines Paket aus der Einkaufstasche. So groß wie ein Schreibheft, so dick wie ein Buch. Umständlich holt sie es aus einer Plastiktüte, löst einen dicken Papierbindfaden, schlägt es aus seinem Einwickelpapier. Und da liegen sie vor mir, vier uralte Groschenromane. Das obere Heft ist wie neu, das sehe ich sofort, fast wie ungelesen, Bestzustand. Irgendwann aus der Zeit zwischen 1905 und 1920 könnte es sein. ­Damals gab es Rolf Brand – Der deutsche Sherlock Holmes, Master King oder Geheimpolizist Gerhard Rotenberg. Diese Heftchen hat jeder gelesen in der guten alten Zeit, von der Gräfin bis zum Küchenmädchen, vom Grafen bis zum Kutscher. Die wurden immer weitergereicht, bis sie auseinanderfielen. Deshalb gibt es nur noch wenige gut erhaltene Exemplare, die tauchen kaum in Antiquariaten auf. Und davon ein ganzer ­Stapel? Ein kleiner Schatz! So etwas habe ich noch nie in meinem Laden gehabt. »Wo haben Sie die denn gefunden?«

»Ich … ja … Großmama …«

Sie sucht umständlich nach Worten. Ich nicke ihr aufmunternd zu.

»Großmama möchte die Hefte … sie würde …«

»Sie verkaufen? Selbstverständlich kaufe ich die! Wissen Sie, wie viel Geld Ihre Oma dafür haben will?«

»Ich … nein. Großmama weiß nicht. Und ich auch nicht. Was sagen denn Sie?«

Ich nehme den kleinen Stapel vorsichtig in die Hand. Vier Hefte. Baronesse Wanda von Brannburg. Deutschlands Meister Detectivin. Ich kann mich dunkel erinnern, von dieser Heldin habe ich in meiner Ausbildung gehört. Es gab hunderte Polizisten, Privatdetektive, Piloten und Oberförster, aber Frauen als Titelheldinnen gab es nur drei- oder viermal.

Obenauf in dem Stapel in meiner Hand liegt Heft Nr. 19. Der Brautschmuck der schlesischen Herzogstochter. Ganz klein über allem die Zeile: Jeder Band ist vollständig abgeschlossen – 20 Pfennige (25 Heller, 20 Centimes). Darunter ein fulminantes Titelbild. Die Porträtzeichnung einer jungen Frau mit weißem Rüschenkleid und dunklen aufgesteckten Haaren. Daneben eine Zeichnung, wie ein Foto aus einem Bühnenstück. Ein junger Mann im Frack mit einer Pistole in der hoch erhobenen Hand, der, von einem Schuss durch das offene Fenster getroffen, hintenübersinkt. Um ihn herum Damen und Herren aus den besseren Kreisen mit erschreckten Gesichtern. Bild­unterschrift: Mit einem lauten Schrei brach Heribert, der ­Mörder, auf derselben Stelle, auf welcher er gestern heimtückisch seinen Onkel niedergeschossen hatte, zusammen.

Ach, freu dich, mein Antiquarinnen-Herz, die Sonne geht auf!

Vorsichtig schiebe ich den kleinen Heftstapel auseinander. Nur nichts beschädigen! Keine zerlesenen Titelblätter zerreißen! Aber die unteren Hefte sind genauso ungelesen und unberührt wie das obere. Und … Überraschung! Ich halte viermal Wanda von Brannburg – Der Brautschmuck der schlesischen Herzogstochter in der Hand. Ich sehe Miss Portiers­zwiebel an.

»Können Sie mir das erklären?«

Sie guckt wieder wie ein Reh, zieht die Schultern nach oben. »Ich weiß gar nichts davon. Großmama hat mindestens ­zwanzig von diesen Paketen. Sie sagt, die sind ihr im Weg …«

»Wie viele genau?«

»Wenn ich das wüsste. Die liegen ja hinten, im großen Schrank.«

»Sie soll ja nichts wegwerfen!«

Sie steht vor mir, tritt von einem Fuß auf den anderen, guckt mich erwartungsvoll an. Bambi!

»Am besten, Sie gehen jetzt nach Hause und packen Omas Päckchen zusammen. Bitte gleich zählen und alles aufschreiben, wenn’s keine Mühe macht. Und dann kommen Sie mit dem ­Zettel her, damit ich Ihrer Oma ein Angebot machen kann!«

Wenn ich in den Spiegel gucke, sehe ich immer auch Opa Willi. Die dünne Nase, die wehenden glatten Haare haben wir beide, obwohl seine inzwischen weiß sind. Auch in der Figur ähneln wir uns, nicht wie ein Ei … eher wie ein Buch dem anderen. Ich bin groß und hager wie er. Wenn ich aufgeregt bin, hebe ich beim Gehen meine Knie wie ein großer Kranich, genau wie Opa es macht. Wer uns nebeneinander sieht, könnte uns für Geschwister halten. Bei einer Brillenstärke ab 8,5.

Keine Ahnung, wie er das macht, aber wenn ich am Abend die Wohnung aufschließe und als Erstes mit Haarbürste und Lippenstift vor dem Flurspiegel stehe – immer springt sofort seine Zimmertür auf und er steht neben mir. »Marie, du wirst jeden Tag hübscher!«

»Danke, Opa. Du auch!«

Opa strahlt. »Jut jut, Marie, ich weiß ja, dass ich ein Schlingel bin!«

Stimmt, manchmal könnte er mir schon ein bisschen von der Pelle rücken. Aber ich mag ihn, so wie er ist. Opa Willi ist cool. Und wenn jemand mich fragt, ob ich es hin und wieder bereue, dass ich mit ihm in eine Opa-und-Enkelin-WG gezogen bin, dann ist meine Antwort Nein. Das würde ich jederzeit wieder tun.

»Marie, dein neuer Lippenstift sieht zum Anbeißen aus!« Da, kaum bin ich vor dem Spiegel, schon steht er wieder im Flur.

»Ja, Opa, der Lippenstift heißt auch zum Anbeißen. Pink Grapefruit.«

»Ist der jetzt in?«

»Wie man’s nimmt. Fritz hat ihn mir geschenkt.«

»Ach so, der Fritz. Aber die Farbe ist trotzdem okay.«

Ich hake Opa unter und schiebe ihn langsam durch den Flur. »Du ahnst nicht, was ich heute angekauft habe!«

»Könntest du es beim Essen erzählen, Marie? Ich habe riesigen Hunger.« Seine große hagere Gestalt wankt mit unsicheren Schritten in Richtung Küche. Seine langen weißen Haare schaukeln hin und her, als ginge ein Wind durch unsere Wohnung.

»Opa, ich habe Abendessen für uns bei unseren Freunden im Milano geholt. Das ist dir doch recht, oder?«

Opa nickt. Sein flatteriges Jackett und seine wehenden Haare nicken mit ihm. »Bitte, von was für Freunden?«

»Von Luigi und Mario.«

»Ach, von den Italienern. Sag das doch gleich, Marie. Wenn wir früher gesagt haben die Freunde – weißt du, was wir damit gemeint haben?«

Ich bugsiere ihn vorsichtig auf den Küchenstuhl. Die vier kleinen Hefte lege ich auf dem Sideboard ab, nehme zwei ­Teller und drapiere Risotto Funghi und Broccoli al Gorgonzola darauf. Nach dem Essen könnte ich Werner in Hamburg anrufen. Oder den Kollegen, der das Comic-Antiquariat in der Bundesallee hat. Aber führt der auch Romanhefte vom Jahrhundertanfang? Hat der nicht frühestens die fünfziger Jahre?

»Marie! Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja, Opa, die Freunde, das waren immer die Russen, unsere Brüder, unsere Genossen, das hast du schon öfter erzählt.«

»Ja, Marie, ich weiß, dass das keiner mehr hören will. – Ich habe dich grade nach den Büchlein gefragt, die auf dem ­Küchenschrank liegen. Das sind doch nicht etwa Comics? Seit wann kaufst du denn so was an?«

»Ja, irgendwie sind das schon Comics, allerdings aus der Kaiserzeit. Eigentlich eher Groschenhefte. Hast du die früher nie gehabt?«

Opas Blick folgt hungrig meinen Bewegungen, während ich Tomaten aufschneide und Salbeipesto und Pepperonicreme auf unsere Teller verteile. Dann schweift er wieder zurück zu dem Heftchenstapel. »Ich? Comics? In meiner Buchhandlung? Gott bewahre! Nicht gelesen und nicht verkauft. Sind die denn irgendwas wert?«

»Nachher rufe ich Werner in Hamburg an, der wird es mir sagen.«

»Jut jut, Marie, mach mal!«

Nach unserem köstlichen Mahl nimmt Opa im Vorbeigehen ganz unauffällig ein Heft und humpelt in sein Zimmer. Ich verschwinde in meinem, setze mich an den Schreibtisch und wähle die Nummer von Werner in Hamburg. Werner hat auch so ein Kiez-Antiquariat wie ich, wir haben uns vor drei Jahren auf einem Kongress der Antiquare im Europa-Center kennengelernt. Seitdem mailen wir uns. Oder ich rufe ihn an, wenn ich Rat brauche. Manche Sachen weiß er einfach besser als ich.

Werner geht nicht ran. Schließlich lege ich den Hörer auf. Schade. Bleibt nur das Internet. Werner ist immer nett zu mir, Google nicht. Meine erste Suche nach Wanda von Brannburg sagt mir, dass WANDA eine Abkürzung für Water Analysis Data Advisor ist. Außerdem finde ich den Aufruf zu einem inter­nationalen Praktikantenaustausch vom ­Landesbauernverband Brandenburg, bei dem Wanda Wodarski, ausgestattet mit ­einer ellenlangen Telefonnummer, die Ansprechpartnerin ist. Eine Seite erläutert, dass es einen Fisch namens Wanda gibt. Und noch ein Hinweis: Zukerman performs the Brandenburg ­Concertos with the New York Philharmonics. Ah ja.

Jut jut, Marie. Noch während ich das Wort Groschenheft eingebe, schrillt das Telefon genau neben meiner Hand.

»Marie – nie rufst du mich an!«

Wenn dieser Satz nicht von meiner Mutter kommt, dann kommt er von Fritz.

Fritz ist ein kleiner König. Sein üppiges blondes Haar wallt um seinen Kopf wie eine goldene Krone. Um seine runden Hüften trägt er schwarze Hosen aus Büffelleder. Meistens auch Lederstiefel und ein Lederjackett. Und ein schneeweißes ­Rüschenhemd. Einen mattschwarzen Binder. Man muss was aus sich machen, sagt Fritz, Kleidung muss teuer sein, jeder Kunde muss sehen können, wie erfolgreich man ist.

Ich versuche es mit meiner üblichen Ausrede. »Ach, Fritz, du weißt doch, dass es schwierig ist mit dem Anrufen. Das Geschäft …«

Er fängt an zu lachen. »Dein Geschäft? Von einem Geschäft kann man sprechen, wenn man Umsatz hat. Und – treten bei dir hundert Kunden am Tag das Linoleum platt? Du kannst dir kein Auto leisten. Dein Handy ist von kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Du hast nicht einmal eine Wohnung für dich.«

Es hat nicht viel Sinn, ihm zu widersprechen. Er hört sowieso nur, was er hören will. »Ich wohne mit Opa zusammen, weil ich das so möchte!«

»Gut, Schätzchen, lass uns nicht lange palavern. Ich komme morgen. Und dann gehen wir ins Weinhaus Huth und essen mal ordentlich.«

»Ich will allerhöchstens ganz kurz ins Milano!«

Er bricht schon wieder in sein höhnisches Lachen aus. Schließlich macht er mir gerade ein Superangebot, vornehm Essen gehen am Potsdamer Platz, mit ihm höchstpersönlich. »Marie, du kannst nicht immer nur arbeiten!«

Doch, das kann ich. Wenig Geld verdienen kann genauso viel Zeit in Anspruch nehmen wie viel Geld verdienen. Vielleicht sogar mehr Zeit. Manchmal muss man sich richtig ins Zeug legen. Aber das mache ich gerne. Ein Abend mit Opa und mit meiner Arbeit ist manchmal schöner als ein Abend mit Fritz. Kurzweiliger, spritziger, interessanter. Nein, nicht manchmal. Eigentlich immer. Sollte ich ihm das mal sagen? Schließlich habe ich es schon vor drei Jahren bemerkt, gleich als ich ihn kennenlernte. Aber so ist das mit den Dingen, über die man zu lange nachdenkt. Mist, Mist, Mist. Meine Laune sinkt in den Keller. Wenn wenigstens Werner zu erreichen wäre. »Mach’s gut, lieber Fritz, meine Pflicht ruft!« Ich lege auf, Tonstörung.

Ich schicke Werner eine SMS. Kurz wie ein Telegramm. Was weißt du über Groschenromane der Kaiserzeit? Habe ein Angebot, mehrere Hefte. Was zahlt man dafür?

Dann begebe ich mich wieder zu meinem Nicht-Freund Google. Unter dem Suchwort Groschenheft habe ich mehr Treffer als vorhin bei Wanda. Es gibt eine Internet-Auktion, auf der Sammler ihre Suchanzeigen veröffentlichen. Warte auf Einstellungen von alten Romanheften! Fred Gunther’s Abenteuer, Fürst Petroff, Harry Pitt’s Abenteuer, Harry Taxon und sein Meister, Jim Buffalo – Der Mann mit der Teufelsmaschine, Kapitän Axel Holm’s Abenteuer … eine Aufzählung von mehr als zwanzig ­Titeln, ganz unten in der Liste die Meisterdetectivin Wanda von Brannburg. Jedes einzelne und gut erhaltene Groschenheft gesucht. Bitte nur Originalhefte. Bezahle pro Heft bis zu 100 Euro.

Ach? Für diese vier kleinen Wanda-Heftchen will der Mann 400 Euro zahlen? Ich würde gerne anrufen, ihn ein bisschen ausfragen. Aber da steht keine Nummer, die ich wählen kann. Ich kann ihm nicht einmal mailen, es sei denn, ich klicke auf den Knopf Angebot machen und biete ihm eines der Heftchen an. Aber das kommt überhaupt nicht in Frage. Das ist mein Angebot, nicht seins!

Auf der nächsten Seite, die ich öffne, erscheint nach drei ­Sekunden die Meldung, dass ich sofort ein Programm instal­lieren muss, das meinen Computer vor Überlastung und vor dem Eindringen von Viren schützt. Die Meldung ist so gestaltet, als würde sie von meinem eigenen Betriebssystem stammen, aber sie ist voller Schreibfehler. Ich klicke sie weg, folge dem Pfad, der mich zu den Namen von Sammlern von ­Comics und Groschenheften bringen soll, da erscheint die Meldung von neuem. Dringent! Instaliere jetz dem Programm! Ich ­schließe die Meldung, klicke die nächste Seite auf. Wieder öffnet sich mitten auf der Seite das blaue Feld.

Wahnsinn! Wegklicken. Weg! Ich hasse das Internet! Ich hasse meinen Computer, der mich vor diesen dummen Leuten nicht schützt.

Noch ein Versuch. Ich gebe mein Lieblingswort ein. Antiquariat. Google führt mich zu einem Adressbuch der Büchersammler und Antiquare. Groschenhefte kaufen viele an. Ein Kollege aus Schöneberg sammelt Heftchen aus allen Zeiten, Filmprogramme und Taschenbücher. Ich greife zum Telefon. Es ist neun Uhr abends, weit außerhalb seiner Öffnungszeiten, aber er geht sofort ran.

Er hat den Mund voll, kaut ohne Hast sein Abendessen hinunter. Dann erzählt er mir ruhig und freundlich, wie extrem selten diese Hefte sind. Schließlich sind die nicht alt, die sind uralt. Baronesse Wanda von Brannburg, das war doch noch zu Zeiten von Kaiser Wilhelm. Und dann eine weibliche Heldin … nie kriegt man so etwas in die Hand. Vor fünf Jahren hatte er mal zwei gut erhaltene Exemplare, die konnte er für 75 Euro verkaufen.

»Also eines für 37,50?«

»Nein, beide zusammen für 150. So selten sind die.«

Wanda von Brannburg Deutschlands Meister Detectivin

Sammlung hervorragender Criminal-Novellen aller Länder, genau nach den Tagebüchern der Baronesse von Brannburg

Dreizehn Jahre im Kampf gegen die internationale Verbrecherwelt

Der Brautschmuck der schlesischen Herzogstochter

Von Emil Eggert-Breslau

1. Kapitel Das Verbrechen auf der Kleinbahn

Die drei Inhaber der bedeutendsten Berliner Juwelier-Firma »Jakob Helder, Langenstein & Komp.« saßen in ihrem hinter dem Geschäftslokal gelegenen Privatkontor in eifrigstem Gespräch.

»Aber ich verstehe gar nicht, wie Sie noch im Zweifel darüber sein können, ob wir den Wunsch des Herzogs erfüllen sollen oder nicht«, sagte der Kompagnon Fritz Hartmann, ein junges, schneidiges Herrchen, zu seinen beiden Geschäftskollegen, zwei alten bedächtigen Herren. »Der Herzog ist seit Jahren unser bester Kunde, der prompt und ohne zu handeln bezahlt, was er gekauft oder bestellt hat, und da darf es doch wohl gar keine Frage geben, ob wir wollen oder nicht.«

Der junge Herr nahm bei diesen Worten einen offen daliegenden Brief vom Tische und las denselben nochmals durch, trotzdem er dessen kurzen Inhalt fast auswendig kannte.

Schloss Montesberg / Schl.

Privatkabinet

Seiner Hoheit des Herzogs

Mont von Montesberg

An die Firma J. Helder, Langenstein & Komp., Berlin

Ich ersuche Sie, mir umgehend die gesamte Kollektion Schmuck, welche ich bei meinem Dortsein zur engeren Wahl zusammengestellt hatte, durch einen zuverlässigen Mann hierher zu senden, da ich verhindert bin, nochmals nach dort zu kommen, wie ich dieses beabsichtigte.

Ich komme selbstverständlich für die durch meine erneute Disposition entstehenden Unkosten auf; außerdem ist Ihnen ja bekannt, dass mein Einkauf nicht unter300 000 Mark betragen wird, weshalb Sie mir auch alles, was ich zur engeren Wahl gestellt, schicken wollen.

Der von Ihnen zu sendende Bote soll gleichzeitig meinen Familienschmuck mitnehmen, damit Sie an demselben die von mir gewünschten Änderungen vornehmen können.

Sie wollen also einen absolut sicheren Menschen mit der Sache betrauen.

Mit Hochachtung

Mont, Herzog von Montesberg

auf Montesberg

***

»Na, Opa, was sagst du?« Ich lege das Heft hin, gucke ihn erwartungsvoll an.

»Und du meinst wirklich, dass dir jemand für so einen Unsinn 75 Euro bezahlt?« Opa kuschelt sich in sein Bett, ich erhebe mich träge aus seinem Liegesessel und stopfe die Decke um ihn herum. »Noch die Wolldecke, bitte, mir klappern die Zähne. Soll man nicht denken, bei den sonnigen Tagen.«

»Das ist dein Kreislauf, Opa. – Doch, der Antiquar in Schöneberg hat eindeutig 75 Euro gesagt.«

»Aber das ist echter Mist! Ich hab’s doch gelesen. Alle zwei Seiten passiert ein neues Verbrechen. Der Bote mit dem Schmuck wird erschossen. Dann stirbt der alte Herzog. Dann diese Schauspielerin. Zum Schluss auch noch Heribert. Ich bitte dich, Marie, dazu dieser Stil! Das ist jenseits aller Literatur! Das hat keine Sprache, keine Poesie!«

»Ich mache hier nur ein Geschäft, Opa. Da gibt es Sammler, die unbedingt diese Hefte besitzen wollen. Es gibt eine alte Dame, die sie loswerden will. Und dazwischen bin ich.«

»Ich verstehe die Welt nicht, Marie. Aber jut jut, wenn du sie verstehst!«

»Schlaf schön, Opa.«

Die Tür knarrt ein wenig beim Schließen. Ich gehe hinaus auf den Balkon. Unsere Wohnung liegt im Dachgeschoss, nicht gerade seniorengerecht. Von hier oben haben wir ­einen Blick über unseren Hof, auf den winzigen Baum, den sie vor ein paar Jahren im Nachbarhof gepflanzt haben als Ersatz für den, der schon vor dem Krieg dort stand. Rechts ragt der Turm der Sophienkirche über das Dach vom Seitenflügel, über das Hinterhaus guckt der Fernsehturm. Die Wohnung ist ­ruhig. Im Erdgeschoss bläst jemand seinen ganzen Weltschmerz durch sein Saxophon. Die türkische Familie zwei Häuser weiter hat ihr Radio aufgedreht und überschwemmt uns mit Heimatklängen. Vorne auf der Straße fahren immer noch Autos. So schön ist Berlin.

Ach, Opa, leicht verständlich finde ich die Welt auch nicht. Eher wie ein Kreuzworträtsel. Keiner sagt dir die Fragen, aber du sollst die Lösungen eintragen, genau passgerecht. Du musst alte Gedanken wegstreichen, neue Ideen finden. Was dabei herauskommt, sieht aus wie ein ägyptisches Hieroglyphenfeld. Auf diesem Papyrus mache ich Inventur, jeden Abend. Erstens, zweitens und drittens.

1. Ich habe meine Umsatzsteuervoranmeldung für das letzte Quartal immer noch nicht gemacht. Spätestens Ende der Woche werde ich Ärger mit dem Finanzamt kriegen.

2. habe ich morgen vielleicht das größte Geschäft seit Eröffnung meines Ladens vor mir. Und

3. Fritz … na ja, weiß ich auch nicht. Er gibt sich Mühe mit mir. Und ich gebe mir eben auch Mühe.

Über allem hängt schwer und halb verdeckt von Wolken ein strahlender Vollmond. Jut jut, Marie, mal abgesehen von erstens, zweitens und drittens geht es mir eigentlich gut.

Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuße der Ngongberge. Die drei Inhaber der bedeutendsten Berliner Juwelier-Firma ­»Jakob Helder, Langenstein & Komp.« saßen in ihrem hinter dem ­Geschäftslokal gelegenen Privatkontor in eifrigstem Gespräch.

Mein Lippenstift heißt heute Strawberry Fields. Ich habe meine Haare zu einem Sixties-Dutt hochgesteckt und trage ein Twinset, das Strawberries und Fields miteinander vereint: Grün und Rot. Allerdings kann ich mich immer noch nicht überwinden, meine Umsatzsteuervoranmeldung zu machen. Stattdessen sitze ich im grünen Plüschsessel und blättere in einem Buch. Eigentlich warte ich, dass Miss Portierszwiebel endlich ihre Liste oder besser gleich alle Romanhefte in einer Kiste zu meiner Tür hereinträgt.

Die Frau lässt sich Zeit. Eine Stunde vergeht, eine ­weitere. Draußen scheint freundlich die Sonne. Aber das sonnige Herbstwetter täuscht. Heute Morgen, als ich in dünnen Pumps, Pullover und Strickjacke meinen Laden aufschloss, war es ­erschreckend kalt. Gegen elf stürmt eine kleine Reisegruppe mit rheinländischem Akzent aus dem Tor vom Sophienfriedhof und strandet vor meinem Schaufenster. Sie betrachten die Auslagen mit den Berlin-Bildbänden und den kulturhistorischen Büchern. Einer nach dem anderen kommt herein, zwölf Mal klappt meine Ladentür. Alle Reisenden, die hierherkommen, sind auf der Suche nach den Geheimnissen des Scheunenviertels und der Spandauer Vorstadt. Sie kaufen Insider-Bildbände und Insider-Reiseführer, keiner kauft jemals einen Roman, es sei denn, er spielt hier im Viertel. Und alle sind ein dankbares Publikum für meine Anekdoten.

Ich habe ein breites Repertoire für sie. Diese Gruppe erfreue ich mit meiner Erzählung über Wilhelm Krützfeld, den beherzten Reviervorsteher der Polizeiwache 16 am Hackeschen Markt Ecke Rosenthaler. Er verhinderte in der Nacht vom 9. November 1938 den Brand der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Ringsum brennen in Deutschland die jüdischen Gotteshäuser, da wedelt er dem SA-Trupp, der die Synagoge anstecken soll, mit seiner Pistole und einer Denkmalschutzerklärung von Kaiser Wilhelm I. vor den Gesichtern herum. Er stellt sich vor die Herren der SA, kanzelt sie ab wie freche Jungs, die etwas Dummes tun wollen, schickt sie nach Hause. Und die, wirklich, lassen sich von ihm ausschimpfen und gehen! – Diese Geschichte spiele ich immer mit verstellter Stimme und verteilten Rollen. Das wirkt echt bedrückend. Für gewöhnlich hängen die Touristen an meinen Lippen. Sie wissen nie, wie es ausgeht, und warten mit eingezogenen Köpfen das schreckliche Ende ab. Gerade stehe ich mit gezogener Dienstwaffe in der hoch erhobenen Hand vor den Nazis und rede streng wie ein Vater auf sie ein, da reißt Miss Portierszwiebel die Tür auf und stürmt in meinen Laden. Die Touristen zucken zusammen, als hätte ich auf sie geschossen.

»Bitte … haben Sie für mich Zeit?«

Klar habe ich Zeit für sie, sieht man ja. »Nur einen Moment Geduld bitte, meine Liebe.« Ich versuche es noch einmal mit meiner bedrückenden Rede, senke meine Stimme bedrohlich …

»Bitte, es ist dringend … Großmama wirft die Hefte weg.«

Das ist allerdings ein Argument. Ich lasse meine Dienstwaffe sinken. Die Touristen wenden sich enttäuscht den kulturhistorischen Auslagen zu. Für gewöhnlich schließe ich meine Vorstellung damit, dass ich ihnen drei, vier ultimativ subversive, authentisch recherchierte und wissenschaftlich tadellos untermauerte Quellenwerke aus meinem Bestand ans Herz lege, die allesamt noch dazu großen Unterhaltungswert haben. Aber jetzt eilt es. Ich ziehe einfach ein paar Bände von Knobloch, von de Bruyn, Fontane und Brussig aus dem Regal und werfe sie auf den Ladentisch. »Die empfehle ich Ihnen besonders. Wenn Sie sie kaufen wollen, legen Sie einfach das Geld auf den Holzteller. Dann schließen Sie ab und bringen den Schlüssel nebenan in den Gemüseladen.«

Sie gucken mich an, als wären sie mitten in einen Film geraten. Lola rennt. Oder doch eher Ein Käfig voller Narren. Diese Kunden werden nie wiederkommen.

Ich schnappe mein Handy vom Schreibtisch im Hinterzimmer, greife mir meine Handtasche, packe Miss Portierszwiebel am Arm und springe zur Tür. »Behalten Sie meinen Laden in guter Erinnerung!« Und weg sind wir. Schnell noch den Kopf um die Ecke in Anorags Laden gesteckt. Er stapelt gerade Kisten mit Äpfeln und Auberginen in seine Regale. »Bist du so nett und guckst mal – ich habe noch ein paar Leute im Laden!«

Anorag lächelt freundlich. Wir laufen los.

Ach … mein Schild. Ich muss nochmal zurück. ­»Anorag … ich habe mein KOMME-GLEICH-WIEDER-Schild vergessen. Würdest du bitte …?«

»Aber sischa, sischa, nun ge schonn, ge!«

Wir eilen die Straße hinab. Sie läuft vor mir, mit wehender Winterstrickjacke. Nach den ersten Metern wird sie langsamer, ich überhole sie, sie bleibt hinter mir zurück. Wo laufen wir eigentlich hin? Wer führt hier wen?

»Wo wohnt denn die Oma?«

Sie ist vollkommen außer Atem. »Geradeaus … In der Oranienburger …«

Also richtige Richtung. Das nennt man Intuition. Oder einfach Glück. Wir laufen. Am Edel-Schnickschnack-Laden vorbei, am AARTI und am Kunsthof. Ich keuche, sie keucht lauter als ich. Nun rennt Lola doch noch. Zwei Lolas rennen. Eine von beiden bricht gleich zusammen.

So schlimm wird es dann doch nicht. Wir müssen nicht mal bis zur Synagoge. Sie stoppt unvermittelt wie ein D-Zug. Da ist ein freundliches kleines Restaurant, das die Markisen tief über seine Straßentische heruntergezogen hat, so dass die Gäste vor dem Herbstwind geschützt sind. Neben dem letzten Tisch eine breite hochherrschaftliche Haustür. Wir werfen uns dagegen und drücken sie auf.

Alles ist tadellos renoviert. Der lichthelle Flur so hoch wie ein Kirchenschiff, eine altmodische Portiersloge zieht sich über die ganze Seite. Auf einer ausladenden Treppe mit schmiedeeisernem Blütengeländer fließt ein plüschiger roter Teppich nach oben. Wir hasten die Stufen hinauf. Mit zitternden Händen schließt Miss Portierszwiebel die breite Wohnungstür auf.

»Großmama? Wo bist du?« Wir treten ein. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss. Ein dunkler Korridor, nirgendwo dringt ein Lichtschein herein. Ein leises Klicken, sie drückt auf einen Schalter, über uns flammt ein Kronleuchter auf. Wir stehen in einem Raum, der von oben bis unten mit Nussbaumholz getäfelt ist. Vielleicht ist es auch nachgedunkelte Kirsche? Opa wüsste das gleich. Auf die Felder der Täfelung sind chinesische Blumen und Vögel gemalt. Darunter eine lange Reihe von ­Garderobenhaken, an denen Jacken und Mäntel hängen. Nichts Modernes, alles in Schwarz oder Dunkelblau, fast wie Uniformen, goldene Knöpfe und goldene Tressen. Und da, hinten in der Ecke, ist das ein Säbel? Wo sind wir hier eigentlich? Im Kostümfundus der DEFA?

Sie stürmt vor mir her, lässt mir nicht viel Zeit, diese Pracht zu betrachten. Jetzt übernimmt sie endlich die Führung. »Kommen Sie, schnell!«

Sie öffnet eine Tür, läuft geradeaus, vorbei an einer altmodischen Sitzgruppe, an goldgerahmten Gemälden, hohen Flügeltüren, biegt links um die Ecke, wieder Türen, Gemälde, mehr als im Bode-Museum. Schließlich bremst sie ab und bleibt vor einer Tür stehen. Vorsichtig drückt sie die Klinke hinunter, sieht ins Zimmer hinein, zieht den Kopf wieder zurück und klopft an.

Keine Antwort.

»Großmama, bitte … ich komme jetzt rein.« Nein, das ist kein Museum, das ist ein Irrenhaus.

Der Raum ist taghell. Die Vorhänge sind zugezogen, überall strahlende Leuchten und Spiegel. Auf einem Lesetisch brennt eine Tiffany-Lampe mit tiefblauem Schirm. Ein blaues Sofa, voll mit Kissen und Polstern. Ein altmodischer Damenschreibtisch mit geschwungener Arbeitsplatte, eine uralte Frisierkommode, vollgestellt mit Familienfotos, ein schmales Bücherregal. Vor einem geöffneten Kleiderschrank, umgeben von kleinen verschnürten Päckchen, kniet eine alte Dame. Schlohweiße Haare, gerade geschnitten zu einem Bubikopf, thronen über einem schneeweißen Blusenkragen und langem schwarzem Kleiderrock. Wache Augen gucken durch dicke Brillengläser. »Wer sind Sie denn?«

Bevor ich antworten kann, steht sie auf, ohne jede Hilfe. Sie ist nicht sehr groß, aber schlank und drahtig.

»Sind Sie von der Müllabfuhr? Habe ich vorhin mit Ihnen telefoniert?«

»Ich … nein.« Ich bin die Irrenwärterin mit der Zwangsjacke, aber ich brauche gleich selber eine. Unsinn, verworrene Situa­tionen hab ich mit Opa schon oft erlebt. Auch er hat hin und wieder demenzielle Ausfälle. Das hier wird mich nicht um­hauen. Wozu habe ich das Buch über Validation gelesen? Erste Regel: nicht widersprechen. Gehen Sie in den Schuhen des alten Menschen. Begeben Sie sich in seine Welt und versuchen Sie nicht, ihn in Ihre zu holen. »Doch, ja, von der Müllabfuhr bin ich schon …« Zweite Regel: W-Fragen stellen. Wer, was, wie, wo zuletzt gesehen? »Was soll ich denn abholen?«

Sie zieht ihre Augenbrauen nach oben, schüttelt den Kopf. »Was denn nun, junge Frau? Erst sagen Sie, Sie wären nicht von der Stadtreinigung. Dann fragen Sie, was Sie abholen sollen. Sie sollten sich für eine Lüge entscheiden! Gesine, hol den Wäschekorb!«

»Ja, Großmama.«

Schön, Miss Portierszwiebel hat einen Namen. Während Gesine in den Flur rennt, stehen die alte Dame und ich uns gegenüber und haben viel Zeit, uns zu mustern. »Ich würde mich gerne bekannt machen. Ich bin Marie Baer, mir gehört das Antiquariat in der Großen Hamburger Straße.«

»Ach? Das, was früher mal die Buchhandlung war, von diesem Herrn … Bücher-Willi?«

Ich nicke. »Das ist mein Opa.«

Sie streckt mir die Hand entgegen, nickt mir würdevoll zu. »Die Ähnlichkeit mit Ihrem Großvater ist nicht zu übersehen. Wegen der Sache mit der Müllabfuhr würde ich mich schämen an Ihrer Stelle. Ich bin Rose von Reventlow. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?«

Ich bemühe mich, es zu erklären. Gesine mit der Zwiebelfrisur unterstützt mich mit keinem Wort. Sie packt gehorsam die verschnürten Pakete in den altmodischen Wäschekorb. Ich versuche zu zählen, möglichst ohne dass die alte Dame das bemerkt. Fünfzehn Pakete, siebzehn, zwanzig … Es ist ein riesiger Korb, die Badetücher einer ganzen Hoteletage hätten bequem darin Platz. Jetzt wird er randvoll.

»Die wollen Sie aber nicht in den Müll werfen, oder?«

»Doch. Ganz bestimmt.«

»Sie könnten mir ein oder zwei Pakete mitgeben, damit ich Ihnen ein Angebot machen kann.«

»Nein.«

»Verstehen Sie denn nicht? Jedes einzelne Heft ist wahrscheinlich 50 Euro wert!«

»Ich verstehe sehr wohl, liebe Frau Baer. Aber das hier sind die Abfälle meines Lebens, die verkaufe ich nicht.«

»Das würde Ihnen viel Geld bringen!«

»Was soll ich mit Geld? Ich habe alles, was ich brauche.«

»Vielleicht machen Sie eine Reise?«

»Mein liebes Kind, ich bin dreiundneunzig.«

»Dann geben Sie es Ihrer Enkelin!«

»Gesine kann von mir alles haben, was sie will. Sie muss es nur sagen.«

Mein Blick schweift kurz zur Seite, diese Gesine steht neben mir, mit niedergeschlagenem Bambiblick.

»So, meine liebe Frau Baer, und jetzt gehen Sie bitte. Auch wenn der nette Herr Willi Ihr Großvater ist, wir beide kommen nicht ins Geschäft. Gesine, stell den Wäschekorb in die Flurgarderobe. Ich rufe noch einmal die Müllabfuhr an.«

Gesine packt die Henkel vom Wäschekorb und versucht ihn zu heben. Braves Mädchen. Das schafft sie natürlich nicht. Sie ändert die Taktik, hängt sich an eine Seite vom Korb und zieht ihn über den Fußboden. Zehn, fünfzehn Zentimeter, weiter kommt sie nicht.

Die alte Dame reicht mir die Hand. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Frau Baer. Oder sagen wir lieber, teils-teils.«

Ich reiche ihr überhöflich die Hand, lächele ihr zu wie die bravste Knigge-Schülerin, greife den zweiten Henkel vom ­Wäschekorb und hebe an. Gesine stapft neben mir. Der Flur ist breit genug für uns beide. Der Weidenkorb knarrt unter der schweren Last. Die alte Dame schreitet mit kräftigen Schritten hinter uns her.

Schweigend laufen wir an den Zimmertüren vorbei. Die alte Dame steuert eine Tür am Ende des Flures an, Gesine biegt mit mir zur Garderobe. Lenkt mich in einen kleinen Raum. Lange Mäntel, breite Federhüte, schwarze Schnürstiefel. Schon wieder der Kostümfundus der DEFA, Abteilung Historien­filme. Wir stellen den Korb auf einen Hocker, der sich gut eignen würde, um darauf Schnürstiefel zu binden.

Gesine streckt ihren Rücken. »Es tut mir leid, dass sie die Päckchen nicht rausrückt. Jetzt war alles umsonst …«

Wieso denn? So schnell gebe ich nicht auf! Ich greife in den Wäschekorb und bediene mich. Neige mich zu Gesines Ohr. »Lassen Sie sich was einfallen! Bringen Sie den Korb in den Keller. Verstecken Sie ihn.«

Hinten im Flur erschallt eine kräftige Stimme. »Gesine, ich hoffe, du bringst Frau Baer bis zur Tür!«

»Ja, sicher, Großmama!« Sie guckt mich flehentlich an. Aber ich mache nicht, was sie will. Ich mache, was ich will! Die drei Päckchen, die ich mir aus dem Wäschekorb genommen habe, lege ich nicht zurück.

Ich öffne die Wohnungstür. »Auf Wiedersehen, Gesine! Leben Sie wohl, Frau von Reventlow!« Mit schnellen Schritten springe ich die Treppe hinab.

In meinen Laden kommen viele Touristen. Sie laufen durch Berlin-Mitte, die Nationalgalerie und das Bode-Museum, wandern vom Alexan­derplatz ins Nicolaiviertel und die Linden hinunter bis zum Brandenburger Tor. Dort teilen sich die Touristenströme, die einen sehen sich das neue Rosmarin-Karree an und die glas- und stahlblinkenden Galeries Lafayette, die anderen kommen zu uns in die Sophienstadt und suchen das alte Berlin.

Aber auch die Leute vom Kiez kommen zu mir. Der Bäcker, der Fleischer, der Apotheker, die Nachbarn, die schon seit Opas Zeiten hier leben, alle verkaufen mir ihre alten Bücher. Und es kommen die ganz jungen Leute, zwanzig Jahre alt, fünfundzwanzig, sie tragen Klamotten aus den Golden Sixties und erobern das Viertel für sich. Ihnen verkaufe ich den Geist dieser Gegend, ihre Vergangenheit. Romane vom Ende des Ostens, Bildbände von Volker Döring und Harald Hauswald. Alte Stadtpläne von Ostberlin, auf denen hinter der Mauer nur schneeweiße Landschaften lagen.

Manchmal sagen sie mir, in welcher Straße sie eine Wohnung gefunden haben, in welchem Haus, in welcher Etage. Wenn mir die Adresse bekannt vorkommt, sehe ich in meiner Buchführung nach. Wer hat dort vorher gewohnt? Habe ich Bücher von da angekauft? Dann suche ich genau diese Bücher in meinen Regalen zusammen, schwärme den jungen Leuten vor. Und manchmal geht es auf. Die Bücher kehren in ihre alte Wohnung zurück. Ich packe sie ein, aber ich sage kein Wort darüber. Kreise, die sich schließen, mögen Zwanzigjährige überhaupt nicht. Aber ich! Ich mag Zeitschleifen. Und deshalb ist es so schade. Die Baronesse Wanda von Brannburg, Deutschlands Meisterdetectivin, kommt leider nicht aus dem Kiez. Nicht einmal aus Berlin. Schade, aber nicht zu ändern.

Bis zum Mittag passiert gar nichts. Ich setze mich im Hinterzimmer an meinen Schreibtisch und fülle die Umsatzsteuervoranmeldung aus. Der Nachmittag beginnt herbstlich und ruhig, keine Kunden. Eine Gruppe von Schwestern in Diakonissentracht wandert hinüber zur Sophienkirche, keine macht einen Abstecher zu mir. Es kommt auch keine Zwiebelfrisur, um die verschnürten Päckchen zurückzufordern. Niemand. Nichts. Mittlerweile hatte Gesine drei Stunden Zeit.

Jut jut, Marie, dann greife ich eben zu. Ich mache es mir im grünen Sessel bequem und schnüre das erste Päckchen auf. Dicker brauner Papierbindfaden, feste Knoten, mehrere Lagen Einwickelpapier.

Überraschung: schon wieder eine Zeitschleife! Es ist alles wie gestern. Ein kleiner Stapel Hefte, viermal der gleiche Titel von Baronesse Wanda von Brannburg, Deutschlands Meisterdetectivin. Alle sind, als wären sie gestern gekauft, ladenneu, Bestzustand. Die Geschichte in diesem Paket heißt Die Todesfahrten der Berliner Droschkenkutscher. Doch Berlin?

Im zweiten Päckchen sind vier ladenneue Hefte von Der Verbrecherkönig von Hamburg. Schade, doch nicht Berlin. Die vier Hefte im dritten Paket heißen In den Lasterhöhlen von Budapest. Nein, nicht Berlin, nicht mein Kiez. Jut jut, Marie, aber Geschäft ist Geschäft.

Wanda von Brannburg Deutschlands Meister Detectivin

Sammlung hervorragender Criminal-Novellen aller Länder, genau nach den Tagebüchern der Baronesse von Brannburg

Der Verbrecherkönig von Hamburg

Von Emil Eggert-Breslau

1. Kapitel Dem Gefängnisse entronnen

Der Verbrecherkönig von Hamburg

Die beiden Wärter, die in der Abteilung für Schwerste Verbrechen im Hamburger Hauptgefängnis ihren Dienst taten, saßen ruhig bei ihrem Mittagsmahle. Der Umgang mit Dieben und Mördern, der ihnen über die Jahre zur alltäglichen Pflicht geworden war, konnte sie nicht davon abbringen, sich ihrem bescheidenen Mahl zu widmen, welches ihre treuen Ehefrauen ihnen wie immer zur Mittagszeit an das Tor des Gefängnisses gebracht hatten. Schweigend beugten sie sich über ihre Eßgeschirre, als ein laut ausgestoßener Schrei sie gänzlich unerwartet aus ihrer Ruhe brachte.

»Mann entflohen! Mann entflohen!«

Vollkommener Pflichterfüllung gewiß, erhoben sich ­beide von ihrem Sitzplatz und strebten dem vergitterten Fenster zu, um festzustellen, woher der Schrei gekommen war. Doch schaffte der Blick aus dem Fenster für sie keine Befriedigung ihrer Wißbegierde. Blitzschnell warfen sie ihre Eßbestecke zurück auf den Tisch und gaben sich, schon im Laufen begriffen, Hinweise für ihr weiteres Vorgehen.

»Auf den Hof hinunter!« rief der ältere der beiden. »Die Hoftür verschließen, die Ausgänge im Auge behalten!«

***

Da schwebt im Schein der späten Nachmittagssonne ein riesiger gelber Rosenstrauß zu mir in den Laden.

»Du rufst ja nie an! Und da ich gerade hier in der Nähe bin …« Fritz zieht mich aus meinem grünen Sessel, schließt seine Arme um mich. Die Ärmel von seinem Lederjackett knarren neben meinen Ohren. »Um halb sechs beginnt die Nachmittagsvorstellung. Flightplan – Ohne jede Spur. Los, wir schaffen das noch! Wenn du jetzt deine Ladentür zuschließt, merkt das doch eh keiner.« Wenn Fritz mich überreden will, lässt er seine Stimme wie die Synchronstimme von Brad Pitt klingen. Das muss er geübt haben. Johnny Depp kann er auch. Wenn er nach zwei Flaschen Wein richtig in Stimmung ist, kann er sogar ­Robert Redford. »Marie! Diese eine Stunde! Nun komm!«

Oh nein! Es ist gar nicht eine Stunde, es sind zwei. Und es ist mein Laden, ich halte ihn offen, solange ich will. Ich will nicht ins Weinhaus Huth und nicht ins Kino! Ich mag keine Kata­strophenfilme, nichts mit Flugzeugen und klaustrophobischer Enge, nichts mit Kindern, die plötzlich verschwinden. Da müsste ich zwei Kannen Baldriantee in meinen Rotwein ­mischen, damit ich hinterher schlafen kann. Und diese Katastro­phen, die nach Kino und Rotwein in meinem Bett passieren, die mag ich nun überhaupt nicht. »Ach, Fritz, lassen wir das.«

Da steht er mit seinen Rosen, reißt seine hellblauen Augen auf, strahlt mich an wie ein Leuchtturm in dunkler Nacht. Das Nein kommt gar nicht bei ihm an. Er drückt mir die Rosen in den Arm, geht ins Hinterzimmer, kommt mit meinem Ladenschlüssel zurück. Total von sich überzeugt. Er ist der Tollste, der Schönste, der Klügste, er hat hellblaue Augen und er ist blond. Wenn sein Haar sich frisch gewaschen um seinen Kopf wellt, zieht er die Blicke sämtlicher Frauen auf sich. Damit hat er Erfolg. Der erfolgreichste Autoverkäufer von Berlin. Nächsten Monat macht er sein eigenes Autohaus auf. BMW, selbstverständlich. Natürlich in Steglitz, wo er zu Hause ist.

Er hat einfach alles. Es gibt nur noch eins, was ihm fehlt. »Ach, Marie, wann hörst du endlich auf mich und machst deinen Laden dicht?« Brad Pitt.

»Wie meinst du das – dicht?«

»Ganz einfach: Zumachen! Schließen! Schluss, aus!« Brad Pitt, immer noch, säusel, säusel.

»Und wovon soll ich leben?«

Er bleibt vor mir stehen, den Ladenschlüssel in der Hand. Sein Gesicht knautscht sich zu diesem reizenden Lächeln, mit dem er mich immer einwickelt. Schon ahne ich, was er gleich sagen wird. Halt bloß die Klappe, Fritz, sag nichts!

»Ich brauche jemanden, der mir das Büro führt, wenn ich jetzt mein eigenes Autohaus habe.« Seine Augen strahlen. Meerblau. Dabei ist dieses Meer furchtbar flach. Es gibt so viele Frauen, meint Fritz, die immer wieder darin ertrinken. Aber sosehr ich mich auch bemühe, ich schaffe das nicht. »Marie, komm, heirate mich! Du musst dir nie wieder Sorgen machen!«

Oh nein! Jetzt auch noch Johnny Depp!

»Na, was sagst du, Marie?« Er strahlt. Ein Nein gibt es für ihn nicht. Er zieht nicht einmal die Möglichkeit in Betracht. Wenn ich jetzt nichts sage, dann hat er von mir ein Ja gehört, laut und deutlich. Dann gibt es Verwicklungen, die das ganze diplomatische Corps der deutschen Regierung nicht mehr aus der Welt schaffen kann.

Los, Marie, sag Nein. Sag es! »Ich … Fritz … ich glaube nicht …«

Ein Feigling bist du, Marie! Sein Lächeln bleibt unerschütterlich, seine Lippen formen schon an dem Wort Bedenkzeit, da reißt jemand meine Ladentür auf. Wir fahren herum, als hätte man uns bei einem Banküberfall ertappt.

Die kleine Gestalt von Rose von Reventlow schreitet mit kräftigen Tritten preußisch gerade auf meinen grünen Plüschsessel zu. »Frau Baer! Ich bin wirklich sehr ungehalten. Sie sagen mir bitte sofort, wo sie ist.«

Oh mein Gott. Diese Frau kommt auf die Sekunde genau richtig. Oder nein, eigentlich doch nicht: Die Romanhefte, die ich heute Morgen aus ihrem Wäschekorb entwendet habe, liegen auf meinem Ladentisch. Das gibt Ärger … aber nur, wenn sie die Hefte sieht. Und das muss sie ja nicht. Mit großem Schwung lege ich den Blumenstrauß quer über den Ladentisch. Greife Fritz bei den Unterarmen und bugsiere ihn so, dass er die Hefte mit seinem Rücken verdeckt. Das dauert nur eine Sekunde und ist geschafft, bevor sie neben mir steht. Fritz lächelt immer noch. Alles ist vollkommen harmlos.

Ein wenig irritiert starrt Rose von Reventlow durch ihre ­dicken Brillengläser in das grinsende Halbmondgesicht. »Kennen wir uns, junger Mann?«

»Sie kennen ihn nicht, Frau von Reventlow, aber ich mache Sie gerne bekannt.«

»Nein, danke vielmals, das ist sicher nicht nötig. Ich wollte zu Ihnen, mein Kind. Um es kurz zu machen: Es hat keinen Sinn, sie hier zu verstecken. Sie kommt doch immer wieder zu mir zurück. Ersparen wir uns diesen Umweg!« Die Haare in ihrem weißen Bubikopf sträuben sich wie bei einer kampflustigen Katze. Sie übersieht meine Hand, mit der ich ihr Platz in dem grünen Sessel anbiete. Ihr heller Blick huscht durch meinen Laden, über die Rücken der Bücher, die ­hohen Holzfronten der Regale, den Eingang zur Hintertür. Ihre Stimme wird plötzlich laut. »Gesine! Wenn du hier bist, dann komm raus! Wir können über alles reden. Bitte sei nicht so dickköpfig!«

Fritz dreht sich langsam zur Hintertür. Eben war er dort und hat meine Schlüssel geholt. Vertrauen heischend lächelt er zu Rose von Reventlow hinab. »Aber da hinten ist niemand, gute Frau!«

»Ich bin nicht Ihre gute Frau, junger Mann! Und wenn meine Gesine nicht da ist, dann merke ich das alleine, ist das klar?« Sie fixiert mich mit ihrem Blick, eine Minute vergeht, eine zweite. Schließlich schreitet sie an mir vorbei und wirft einen Blick in den hinteren Raum. Ganz langsam entspannt sie sich. »Nun gut. Dann eben nicht. Aber wenn Sie sie sehen, Frau Baer, sagen Sie ihr …«

Die kleine Frau beginnt plötzlich zu wanken. Ich greife nach ihren Armen, schwenke sie herum, setze sie auf den grünen Sessel. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser!«

Fritz steht sofort in den Startlöchern. »Das kann ich doch!«

»Nein, Fritz! Du bleibst genau da, wo du bist.« Ich eile ins Hinterzimmer.

Ihr Blick wird wieder klarer, während sie trinkt. Sie mustert mich immer noch, ihre Stimme klingt beinahe freundlich. »Wir haben gestritten, Gesine und ich. Ich fürchte, sie tut ­etwas wirklich Dummes.«

»Sie meinen … wegen der Romanhefte?«

Rose von Reventlow verzieht schmerzvoll den Mund. »Ach, diese alten Hefte, darüber streiten wir nicht. Nein … es ist vielmehr … ich hoffe, sie fährt nicht zurück auf das Gut. Sie kann sich nicht ihr Leben lang hinter Kühen und Kartoffeln verstecken. Sie muss eine Entscheidung treffen!«

Ich nehme ihr das leere Glas aus der Hand. Wir sehen einander ins Gesicht, prüfend. Vorsichtig wage ich einen kleinen Vorstoß. »Wenn die Hefte für Sie nicht so wichtig sind, warum verkaufen Sie sie dann nicht?«

Sie verzieht wieder das Gesicht. Bitter. Keiner ist da, der sie versteht. »Ach … das bringt mir alles kein Glück. Was vergangen ist, soll vergangen sein. Schluss damit. Aber diese Hefte hängen wie Mühlsteine an meinem Genick.«

»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

Sie presst die Lippen zusammen, beginnt langsam zu nicken. »Überzeugen Sie sie, dass sie zu mir zurückkommt. Oder sagen Sie mir wenigstens, wo sie ist.«

»Das werde ich. Wenn ich von ihr höre. Haben Sie Telefon?«

Ein empörter Blick trifft mich. »Natürlich habe ich ein Telefon. Ein erstklassiges Siemensgerät von 1950. Aber es hat keinen Sinn, bei mir anzurufen, ich gehe nicht ran, wenn es läutet.«

»Gut, dann komme ich zu Ihnen. Ich klingele zweimal kurz, zweimal lang an Ihrer Wohnungstür. Und dann öffnen Sie mir!«

Rose von Reventlow nickt.

An den meisten Tagen besteht mein Leben aus einer fortlaufenden Reihe von Kompromissen. Aber das ist gut so, das gibt mir eine gewisse Sicherheit, denn wenn ich plötzlich alles so machen dürfte, wie ich will, würde ich mein Leben vielleicht nicht mehr wiedererkennen.

Zuerst gehen wir zu Jodie Foster ins CinemaxX am Potsdamer Platz. Dann überrede ich Fritz, wir gehen nicht sofort ins Weinhaus Huth, wo ich mich mit Perlhuhn und Austern aus der Bretagne verwöhnen lassen soll. Stattdessen fahren wir mit der S-Bahn in die Oranienburger Straße zurück. Ich nehme Fritz am Ellenbogen und dirigiere ihn sanft die Stufen zum ­Milano hinauf. Sogar die Tür halte ich für ihn auf.

»Was wollen wir denn hier? Ich denke, du musst dich um Opa kümmern?«

»Ich hole nur das Abendessen für ihn. Geht ganz schnell.«

Die Salumeria ist rappelvoll. Luigi steht hinter seinem ­Ladentisch mit dem gläsernen Aufsatz voller Delikatessen und lächelt uns breit entgegen. »Ah, Marie, wie geht’s, alles tutti paletti? Buona sera, Signor Fritze! Wir haben uns lang nich gesehn.« Dann schreit er quer durch den Laden. »Mario, schau mal, Marie is hier!«

Mit umbrischer Grandezza balanciert Mario zwischen Tischen und Stühlen hindurch, stellt das Tablett mit den leeren Gläsern ab und schließt mich in seine Arme. »Marie, buona sera!«

Ich spüre, wie Fritz hinter meinem Rücken erstarrt. Nicht eben leise nörgelt seine Stimme an meinem Ohr. »Sag mal, was hast du mit diesen Mafiosi? Kaufst du hier Spaghetti oder gehst du mit denen ins Bett?«

Mario stellt sich stolz vor die Auslagen mit den leckeren Vorspeisen. »Guckte mal – was wollt ihr? Mozzarella Caprese mit frische Tomate und Basilikum, iste heute sehre gut. Carpaccio di Manzo mit frische Champignons? Broccoli al Gorgonzola? Wir haben heute eine wunderbare Tiramisu, schwimmte in ­Eierlikör, iste einfach phantastisch.«

Ich stehe vor ihm, lasse seine Worte auf meinen Gaumen wirken. Luigi hält schon das erste Schüsselchen in der Hand. »Na, schwer zu entscheiden? Iste für Opa? Oder wollt ihr mit nach Hause nehmen für euch?«

»Nein, für Opa. Aber wir könnten hier essen, nicht wahr, Fritz, meinst du nicht auch?«

»Waas? Nicht ins Weinhaus Huth? Ich hab einen Tisch bestellt!«

»Ach, das macht nichts. Bitte, Fritz, da rufen wir an.«

»Marie, du machst mich verrückt!«

Ich nehme von dem Carpaccio. Lasse mir noch eine extraheiße Portion Rigatoni al Gorgonzola einpacken, die gerade in dieser Minute fertig sind. Wenn ich schnell laufe, sind die Rigatoni noch warm, wenn sie auf Opas Teller liegen. Schon habe ich die Türklinke in der Hand. »Bis gleich!«

Fritz guckt mich an, völlig entgeistert. »Hast du nicht eben gesagt, wir essen jetzt?«

»Willst du, dass Opa vor Hunger die Nachbarn zusammenschreit?«

»Marie, kannst du dich endlich entscheiden!«

»Das habe ich schon. Du bleibst hier und suchst schon mal aus, was wir essen. Ich bin gleich wieder da.«

Luigi drückt mir die Tüte in die Hand. »Ich hätte da noch eine Fahrrad. Iste meine alte Sportrad. Rischtisch schnell.«

»Das würdest du mir leihen?«

»Sicher. In fünfe Minuti kommst du wieder zur Türe herein.«