Die gefrorene Charlotte - Dagmar Scharsich - E-Book

Die gefrorene Charlotte E-Book

Dagmar Scharsich

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Beschreibung

Ein geschichtlich brisanter, literarisch überragender Wendekrimi. August 1989, die letzten Wochen der DDR, Ostberlin. Die stille Cora Ost bekommt zum dreißigsten Geburtstag von ihrer Tante sieben »Gefrorene Charlotten«, zarte Porzellanwesen aus der riesigen, kostbaren Puppensammlung. Dann droht der Sammlung Pfändung, Cora trifft einen Antiquitätenexperten, ein Mord geschieht! Zugleich spitzt sich rings um sie die Atmosphäre von politischem Unmut, bürokratischem Stellungskrieg und Verdächtigungen zu, bis niemand niemandem mehr trauen kann.

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Seitenzahl: 628

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Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2018

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Ariadne Verlag 1993/2018

Lektorat: Else Laudan

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 22.03.2018

ISBN 978-3-95988-116-6

Über das Buch

Ein geschichtlich brisanter, literarisch überragender Wendekrimi.

August 1989, die letzten Wochen der DDR, Ostberlin. Die stille Cora Ost bekommt zum dreißigsten Geburtstag von ihrer Tante sieben »Gefrorene Charlotten«, zarte Porzellanwesen aus der riesigen, kostbaren Puppensammlung. Dann droht der Sammlung Pfändung, Cora trifft einen Antiquitätenexperten, ein Mord geschieht! Zugleich spitzt sich rings um sie die Atmosphäre von politischem Unmut, bürokratischem Stellungskrieg und Verdächtigungen zu, bis niemand niemandem mehr trauen kann.

Über die Autorin

Dagmar Scharsich, geboren 1956 in Magdeburg, studierte an der Humboldt-Universität Kultur- und Theaterwissenschaften. Neben Studium und Arbeit in einem Berliner Kulturhaus sowie in der Kulturabteilung der Charité war sie am Pantomimentheater vom Prenzlauer Berg, machte Praktika am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin sowie am Theater im Palast in Berlin. Ab 1989 freie Autorin. Für ihr Roman­debüt Die gefrorene Charlotte erhielt sie den Brandenburgischen ­Literatur-Förderpreis, neben zwei weiteren Romanen schrieb sie Kriminalerzählungen, Kriminalhörspiele für den Rundfunk sowie verschiedene Theaterstücke.

Dagmar Scharsich

Die gefrorene Charlotte

Vorwort von Else Laudan

Es war ein ganz normaler Anruf im Arbeitsalltag einer Lektorin: leichter Berliner Dialekt, die Stimme leise, aber klar und fest. Sie habe da ein Manuskript in der Schublade, ihr sei empfohlen worden, es an Ariadne zu schicken. Aber – sie sei im Buchladen gewesen, habe sich das Verlagsprogramm angesehen, das seien ja mehr internationale Autorinnen, da hätten wir wohl kein Interesse an etwas Deutschem? Auf meine Rückfrage erklärte sie, sie habe versucht, den Sommer 1989 – die Wochen unmittelbar vor der Wende – in einem Krimi einzufangen, Ort der Handlung Berlin. Das klang reizvoll. So etwas hatten wir noch gar nicht. Ich bat sie, es zu schicken. Und als in der folgenden Woche (1993, noch in der Ära materieller Post) das Manuskript kam, packte ich es mit milder Neugier aus, um die ersten paar Zeilen zu überfliegen und zu entscheiden: Möchte ich das heute Abend direkt mit nach Hause nehmen, oder kommt es auf den stetig wachsenden Pflichtstapel?

Im gefühlt nächsten Moment war ich auf Seite 43, während nebenan (schon etwas unwirsch) drei Leute auf mich warteten, um mit der wöchentlichen Sitzung zu beginnen. Musste mich losreißen, um aufzutauchen aus der träumerisch-klaustrophobischen Atmosphäre eines Ostberliner Wohnzimmers, in dem noch gar nichts Gravierendes passiert war, und doch hatte es mich völlig gepackt. So eine Erzählerin ist Dagmar Scharsich.

Die gefrorene Charlotte trägt uns in die Zeit vor dem Mauer­fall, erlebt aus der Sicht von Cora, deren Unbedarftheit die Geschehnisse eigentümlich chiffriert und verdichtet. Geruhsam, milieugenau und bildstark schildert Dagmar Scharsich einen Mikro­kosmos im Umbruch, klischeefrei, mit dem hypnotischen Sog, den grandio­se Literatur manchmal zu erzeugen vermag.

Else Laudan

Sie saßen auf einem winzigen Sofa und hielten sich an den Händen: Mieze Schindler in ihrem weißen gehäkelten Sommerkleid und die gute Luise mit dem Tausendschön-Kränzchen aus Seide im Haar. Die kleine Marie, die so winzig war, dass sie in Luises Arm saß wie ein Schoßhündchen mit verfilzten Locken. Und Queen Anne, die echte Queen Anne, mit ihren bedächtig nach oben gezogenen Augenbrauen und ihrem schmal zusammengepressten hölzernen Mund.

Queen Anne war die älteste von ihnen allen. Zweihundertfünfzig Jahre alt war sie in diesem Jahr. Und sie war nicht die Einzige in diesem ehrwürdigen Alter. Es war eng geworden in Tante Johannas Wohnung. Viel zu eng für Mieze Schindler, Queen Anne und all die anderen Puppen, die die Tante zusammengetragen hatte in langer Zeit.

Sie hingen an den Wänden. Sie belagerten die riesigen Glasvitrinen im Berliner Zimmer. Sie blockierten jeden noch so winzigen Platz auf der Kommode, auf dem Vertiko oder auf dem Buffet.

Aus jedem Schrank, den ich öffnete, lächelten mir freund­liche, zarte Gesichter mit glänzenden Glasaugen entgegen. Ziellos und sanft gingen die kleinen Blicke ins Leere. Ihre feinen, schwarz aufgemalten Wimpern aber hielten mich umgarnt und gefangen wie ein winziges zartes Spinnennetz. So wie sie es schon getan hatten, als ich noch ein kleines Mädchen war. Wie damals schon, als ich zu Tante Johanna in ihre Wohnung ziehen musste, weil meine Mutter von einer Reise nach Bayern nicht wiedergekommen war.

Alles war, wie ich es kannte seit dreißig Jahren.

Und doch erinnerte ich mich später immer wieder an diesen Tag. Es war der letzte Tag, von dem ich sagen konnte, es war damals noch beinahe so, wie es mir immer vertraut war.

Kleine Ringe aus Sonnenlicht quälten sich durch die Spitzengardinen in Tantes Wohnzimmer und warfen Muster über den Fußboden und die Wände. Es war Anfang August, die Sonne stand hoch am Himmel und heizte uns mächtig ein. ­Staubig und trocken stand die Nachmittagshitze im Zimmer. Wir saßen am großen Esstisch, rührten in unseren Kaffeetassen und vergingen vor Wärme wie Blumentöpfe in der Mittagssonne in einem schlecht gelüfteten Gewächshaus. Trotzdem hatte Tante Johanna entschieden: Den weißen, mit Waschblau getönten Gardinen und den zarten Frisuren der Puppen zuliebe blieben die Fenster zu.

Wir stöhnten. Hedda hob mühsam ihre zweihundertzwanzig Pfund Lebendgewicht aus dem Sessel und hievte ein neues Stück Torte auf ihren Teller. Sie drückte die Kuchengabel durch die weich gewordenen Cremeschichten und schob Stück für Stück in ihren Mund. Ihre Lippen und ihr rundliches schmales Kinn glänzten von Zucker und Fett.

Marion folgte den Bewegungen von Heddas Kuchengabel mit den Augen. Hin und wieder zog sie an ihrer Alten Juwel, wickelte ihre hibiskusroten Haare um ihre Finger und blies träge und langsam den Rauch über den Tisch. Wir sehnten uns nach etwas kühler Luft.

Aber Tante Johanna war unerbittlich. Sie saß in der Sofaecke, hielt Horstis Hand zwischen ihren Händen und ließ sich nicht anmerken, ob sie eingeduselt war in der Wärme oder ob sie wach war und uns nicht aus den Augen ließ.

Auf jeden Fall ließ sie uns schwitzen.

Verborgen und verboten für uns fuhr drei Meter unter dem Haus die U-Bahn vom Wedding nach Tempelhof und ließ die fetten fleischigen Blätter des Gummibaumes und der Sanse­veria in der heißen Nachmittagsluft zittern. Unten auf der ­Wilhelm-Pieck-Straße rasten die Autos vorüber. Eines hinter dem anderen. Sie wirbelten sandigen heißen Staub auf und schlugen ihn gegen Tante Johannas Fenster im ersten Stock.

Sogar die Fahnen, die rote Fahne und die mit den Streifen in Schwarz-Rot-Gold mit dem Ährenkranz, die immer paarweise aufgesteckt wurden, hingen schlaff und staubig wie alte Wischlappen unter den Straßenlampen draußen vor Tantes Haus.

Ich saß am Tisch, nippte manchmal an meinem Kaffee und genoss diesen Nachmittag in Tantes Nähe. Nicht einmal die Hitze machte mir da etwas aus.

Am Abend, als der Verkehr langsam verebbte und der schmutzige Staub sich auf die Baustellen vor der Tür niedersenkte, stand Tante Johanna vom Tisch auf und öffnete die großen Fenster. Ein kühler Luftzug wehte durchs Zimmer und vermischte sich mit dem warmen Geruch von Perückenleim und alterndem Puppenhaar.

Wir atmeten wieder ein wenig tiefer.

Tante Johanna rückte ihre weißen Manschetten zurecht und richtete ihren Kragen. Dann setzte sie sich in der Sofaecke hoch auf und hob ihre Hände. Mit einem Mal waren wir alle hellwach. Sie war ein Magier. Mager, mit brennenden braunen Augen. Ihre grauen Haare waren am Hinterkopf zu einem angestrengt ordentlichen Gouvernantenknoten zusammengezwängt. Störrische hellgraue Strähnen hingen darunter hervor. Sie ließ uns nicht aus den Augen. »Und das, liebe Cora«, sagte sie leise, »das ist dein Geburtstagsgeschenk.«

Hedda ließ langsam die Kuchengabel zum Teller sinken und vergrub ihre Fingerspitzen in den Ärmeln ihrer altrosa Bluse. Ihre fusseligen weißen Haare schienen sich aufzurichten vor Anspannung.

Marion heftete ihre brennende Zigarette an den Rand des Aschenbechers, ohne noch ein einziges Mal daran zu ziehen. Und mir stand, wie immer in solchen Situationen, der Mund weit offen.

Keiner sagte ein Wort. Sogar Horsti saß friedlich und ruhig in seiner Sofaecke. Aufmerksam und ruhig sah Tante Johanna von einem zum andern.

»Mach den Mund zu, Cora.«

Ein letzter Blick ging in ihr Publikum. Jetzt hatte sie uns. Blitzschnell griff sie unter ihren Sessel und zog einen kleinen Kasten darunter hervor. Mit einem kräftigen Schwung stellte sie ihn mitten auf unseren Kaffeetisch.

Ich klappte den Mund zu.

Der Kasten war hellgrau, mit winzigen weißen Streifen, wie die Wandverkleidung eines altmodischen Boudoirs. Das Papier, mit dem er beklebt war, hing rissig und vergilbt von den Rändern des Deckels. Aber gerade das zeigte den Wert seines Inhalts. Diese Art von Karton kannten wir alle. Es war ein Puppenkarton.

Hedda zog scharf und pfeifend die Luft ein. Dann griff sie nach der Goldbrand-Flasche, die in ihrer Reichweite auf dem Tisch stand. »Mann, oh Mann, oh Mann«, schrie sie heiser und nahm einen Zug aus der Flasche. »Johanna, Mensch, altes Mädchen, haste dir doch überwunden?«

Marion schob schnell die Tortenplatte und die Kaffeekanne zur Seite und sorgte für Platz in der Mitte des Tisches. »Nun mach doch schon auf, Cora, mach es auf.«

Aber ich konnte nicht. Ich saß da und guckte auf den ­Karton hinunter.

»Mach den Mund zu.«

Ich klappte den Mund wieder zu. Und ich überlegte. Was hatte diese Tante sich jetzt wieder ausgedacht? Welche Großzügigkeit wollte sie mir heute antun?

Die Blätter des Gummibaumes vibrierten. Unter dem Haus, hinter den zugemauerten Eingängen, fuhr die nächste U-Bahn. Ein heimlicher Fünf-Minuten-Takt. An den Straßenlampen draußen vor Tantes Fenster wehten die roten Fahnen träge im Nachmittagswind. Es war das vierzigste DDR-Jahr, und es war kurz vor irgendwas, einem Staatsbesuch oder einem Feier­tag, und es wurde geflaggt auf den Hauptstraßen. Oder es war die Beflaggung, die wahrscheinlich schon gar nicht mehr abgenommen wurde, weil es in diesem Jahr immer gerade vor irgendwas war.

Hier aber, in Tantes großer geräumiger Wohnung im ersten Stock, hinter den weißen gestärkten Gardinen mit den handgeklöppelten Plauener Spitzenkanten, war die Welt ­stehen geblieben vor langer Zeit. Zwischen den glatten, alterslosen Gesichtern der Puppen hatten vierzig Jahre keine Bedeutung. Sie waren vergangen, ohne Spuren zu hinterlassen. Für die Puppen waren sie nicht mehr als ein Augenblick.

Und nun saß die Tante auf ihrem Sofa und machte Geschenke aus der Vergangenheit. Ich wusste ja, die Tante meinte es gut mit mir. Und die einzigen Dinge, die sie besaß und die sie verschenken konnte, waren nun einmal Puppen. Hatte sie etwa eine von diesen alten porzellangesichtigen Kostbarkeiten in den Karton gelegt? Eine von diesen starräugigen holzköpfigen Damen mit ihrem hypnotischen Blick?

Schon einmal war ihr solch eine Überraschung gelungen, an meinem zwanzigsten Geburtstag. Ich hatte den Karton aufgeklappt, einen ebensolchen zartgrauen mit weißen Streifen, einen Puppenkarton. Tante Johanna und Hedda hatten am Tisch gesessen. Sie hatten mich mit beifallheischenden ­Blicken durchbohrt und gewartet. Und dann hatte Pythia in dem Kasten gelegen und hatte mich angestarrt. Allwissend, abweisend und rätselhaft. Pythia, die kleine Seherin. Auch solch ein Wesen, das überallhin passen konnte, nur nicht in unsere Zeit.

Ich hob den Blick und suchte die Wände ab, die Vitrinen. Aber da war nichts: Sie saßen und standen und lagen, wie ich es immer gekannt hatte. Lückenlos, dicht an dicht. Es schien keine zu fehlen. Und nun ahnte ich auf einmal, was ich finden würde in diesem Karton. Langsam wurde mir wieder wohler.

»Mach doch den Kasten auf, Cora. Und mach endlich den Mund zu.«

Ich gehorchte. Vorsichtig hob ich den Deckel zurück. Sie waren es. Sie waren es wirklich.

Zwischen cremefarbenem Seidenpapier und flauschiger Watte lagen sechs kleine Figuren aus hellem Biskuitporzellan. Sechs winzige nackte Püppchen, feingliedrig und zart, saßen mit angewinkelten Armen und Beinen an einem ebenso winzigen Waschzuber. Sie wuschen sich. Sie hielten die kleinen Hände übereinander, um die Seife darin zu verreiben. Oder sie beugten sich über ihre Füße, um einen schmerzenden Dorn aus ihrer Fußsohle zu ziehen. Aber sie taten es nicht. Sie waren unbeweglich und steif.

Nie würden die kleinen Hände zueinanderkommen. Nie würden die zarten Finger, die den Dorn schon gefasst hielten, sich von ihrem Fuß wegziehen lassen. Der Dorn würde für immer in ihnen stecken bleiben. Wie erstarrt waren sie. Wie erfroren, mitten in einer Bewegung, die sie niemals zu Ende führen würden. Die gefrorenen Charlotten – so hatte die Tante sie immer genannt.

Wie oft hatte ich mit ihnen gespielt, früher, als Horsti und ich noch Kinder waren. In diesem Zimmer hatten wir auf dem Fußboden gehockt und hatten die sechs kleinen Püppchen zart mit unseren ungeschickten Händen berührt.

Sechs? Wieso denn sechs? Wieso waren es nicht alle sieben? Ich guckte zur Tante hinüber, die sich weit in ihrem Stuhl zurückgelehnt hatte, und sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick, kniff ein Auge zusammen wie ein alter Seeräuber und blinzelte mir zu.

»They fall and fall, till at November’s close / The snow-flakes drop as lightly – snows on snows«, sagte die Tante geheimnisvoll.

Ich hob die kleinen Erfrorenen vorsichtig aus dem Kasten heraus auf das Tischtuch. Horsti klatschte laut in die Hände und freute sich.

»Sinn die kostbar, die nackerten weißen Frösche?«, krächzte Hedda. Sie hielt immer noch den Goldbrand in ihrer Hand und kämpfte gegen das Kratzen in ihrem Hals an, das unweigerlich jedem Schluck Goldbrand folgte.

Tante Johanna zog die Schultern nach oben. »Kostbar? Ich weiß nicht. Ich wollte Cora nur eine Freude machen.«

»Tu dir ma nich so, Hanna.« Hedda ließ ihren Blick abschätzend über die Reihen der vielen alt gewordenen Puppen wandern. Mit Geld war es nicht zu bezahlen, was die Tante zusammengetragen hatte im Lauf der Zeit. »Det wird schon janz schön wat wert sein, wenn du dir ma zu wat durchringst. Det haste richtich jemacht, Hanna. Die Kleene hat es verdient. Hat doch nischt uff de Welt außer dir, seit deine Schwester innen Westen verschwunden is.«

Tante Johanna zog noch einmal die Schultern hoch. Immer, wenn es darauf ankam, verlegte sie sich auf solche Gesten. Aber ich wusste, in Tante Johannas Leben gab es nur wenige Gegenstände, die wirklich für sie von Bedeutung waren. Die Puppen gehörten auf jeden Fall auch dazu. Schon wegen Horsti. Horsti liebte die Puppen.

Seine schmalen mongoloiden Augen strahlten, wenn er sie in seine Arme nahm. Jeden Tag begann er damit, dass er mit einem weichen Pinsel den Staub von den kleinen Gesichtern aus Pappmaché und aus Porzellan herunterwischte. Langsam und bedächtig ging er von einer zur anderen und redete ernsthaft und auffallend freundlich auf sie ein, während er ihre zarten Kleider und die feinen verfilzten Frisuren aufschüttelte und entstaubte.

Seltsam geschickt zogen seine kurzen, plumpen Finger die Haarschleifen glatt und die großen Spitzenkragen gerade. Bei der kostbaren großen Queen Anne genauso wie bei der winzigen Allerweltsdame Marie. Das machte er so, Woche für Woche, in jedem Monat, in jedem Jahr. An jedem Morgen. Immer und immer wieder von vorn.

Ich glaube, das war das Einzige, was er wirklich gern und ohne Widerstand machte. Es gab nichts anderes, worin er besser und geschickter war als jeder von uns. Und es würde mit Sicherheit auch das Einzige bleiben, was er je lernen würde. Er mochte Hedda, und er mochte mich. Aber nur diese Puppen und Tante Johanna waren wirklich wichtig geworden für ihn in seinem engen autistischen Leben. Es gab Tage, an denen die Puppen die einzige Brücke waren zwischen ihm und ihr.

Horsti war nicht einmal ein halbes Jahr älter als ich. Er war dreißig geworden in diesem Jahr.

Die Tante lächelte sanft und energisch wie ein Elefantendompteur und fasste über den Tisch nach Horstis pummliger kleiner Hand. Er brummte leise und ließ sich von ihr streicheln.

Hedda tätschelte Tante Johannas Wange und ließ ihre Hand langsam über den Hals der Tante nach unten gleiten. Sie sahen sich an und lächelten. Manchmal tauschten sie Zeichen mit­einander, die kein anderer sah und verstand. Nicht einmal ich wusste genau, was zwischen den beiden war, seit sie hier in dieser Wohnung gemeinsam lebten.

Wie immer, wenn jemand dabei war, der nicht zur Familie gehörte, ignorierte die Tante Heddas Zärtlichkeit. Aber Marion war mit den kleinen Püppchen beschäftigt und bemerkte von alledem nichts.

Vorsichtig nahm sie den kleinen Waschzuber zwischen zwei Finger und setzte ihn auf ihre flache Hand. Das dickliche kleine Kerlchen darin rührte sich nicht von der Stelle. Es saß steif und fest in seiner Badewanne und lächelte unverrückbar fröhlich. Klamm und gefroren. Marion strich vorsichtig mit dem Zeigefinger über den kahlen Babykopf und das zarte Gesicht. Sie grinste. »Guck mal, Cora. Wie frühreife Embryos sehen die aus«, flüsterte sie leise neben meinem Ohr. »Vielleicht ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl. Mit dreißig, Cora, da wird es langsam Zeit.«

Ich wusste, wie Tante Johannas Mundwinkel weit nach unten rutschten, wenn von Männern und vom Kinderkriegen die Rede war. »Halt bloß die Klappe«, zischte ich leise zurück. »Wenn die Tante das hört.«

Und sie hörte. »Für Sie habe ich auch etwas, Marion. Tut mir leid, dass ich nicht schwerhörig bin.«

Marion wurde dunkelrot.

»Horsti. Hol mal die schöne Mieze aus der Vitrine.« Die Tante zog vorsichtig an seiner Hand.

Er lächelte Marion zu, freundlich und arglos wie ein kleines Kind. Marion sah ihm ruhig in die schmalen Augen. Mir war nie wohl dabei, wenn die beiden ihre stummen zärtlichen ­Blicke tauschten. Mein armer Horsti. Dem Alter nach könnte er beinahe Marions Mann sein.

Er zwängte sich mühsam aus seiner Sofaecke. Dann nahm er den Schlüssel, den er immer an einem Band um seinen Hals gehängt trug, und schloss damit die Glasvitrine im hinteren Teil des Zimmers auf. Die Vitrine, in der seine liebsten Puppen lagen. Aber er kam freundlich und gut gelaunt an den Tisch zurück. Mieze Schindler hielt er in seinem Arm.

»Nimm mal die«, sagte er zu Marion. Er baute sich neben ihrem Stuhl auf und hielt ihr Mieze entgegen. Mieze mit den dunklen Augen, Mieze mit dem langen rotbraunen Lockenhaar. Noch einmal eine Marion, in Kleinformat. »Nimm mal die geschenkt.« Horsti fasste nach Marions Hand und legte sie auf Mieze Schindlers hübschen Kopf aus Biskuitporzellan.

Marion saß auf der Kante ihres Stuhles und sah unsicher auf die Tante.

»Nehmen Sie ruhig, Marion. Ich habe mir das gut überlegt. Und wir kennen uns nun schon so lange.« Tantes Blick ging zwischen mir und Marion hin und her. Was sie sah, schien sie sehr glücklich zu machen. Ich ahnte, was sie vermutete, nun, wo Marion und ich schon so viele Jahre eng miteinander befreundet waren. Und ich hatte ihr in all diesen Jahren nur Marion vorgestellt. Nicht ein einziges Mal hatte ich einen Mann mit zur Tante nach Hause gebracht. Nur gut, dass Marion nichts von Tantes Gedanken ahnte. Sie streichelte andächtig und bewundernd über die kleinen zartrosa Bäckchen und fuhr mit den Fingerspitzen durch Miezes langes lockiges Haar. Dann hob sie den Blick und guckte zur Tante hinüber. Die Tante lächelte aufmunternd.

»Wenn Horsti auch einverstanden ist«, sagte Marion schließlich, »dann kann ich sie nehmen.«

Horsti war selig. Er legte Marion die schöne Mieze in den Arm, hielt ihre Hand fest und streichelte ihre hibiskusrot lackierten Fingernägel. Ich schob meinen Arm über seinen Rücken und zog ihn zu uns heran. Er stand zwischen mir und Marion, ließ den Kopf auf meine Schulter rutschen und streichelte Marions Arm. Es war lange her, dass er so glücklich und anschmiegsam gewesen war.

»Mann, oh Mann, oh Mann«, sagte Hedda leise, während sie die Goldbrand-Flasche zuschraubte, und pfiff durch die Zähne.

***

Was dann kam, an diesem Abend, das war noch viel wichtiger als der ganze Geburtstag und das Theater mit Mieze Schindler und mit den kleinen Charlotten. Das heißt, später stellte es sich als wichtig heraus. Ein, zwei Monate später, als ich endlich anfing, über das alles nachzudenken. Darüber, ob ich irgendetwas hätte tun können, um die Ereignisse aufzuhalten. Und wenn das möglich gewesen wäre, warum zum Teufel habe ich es nicht getan?

Es war spät geworden. Ungefähr neun oder halb zehn war es, als wir Horsti ins Bett brachten. Alle gemeinsam.

Horsti schlang seine Arme um Marions Hals und zog sie zu sich herunter. »Kommst du wieder?«, fragte er leise an ­Marions Ohr.

»Natürlich.« Marion breitete ihre Hibiskus-Haare über sein Kopfkissen und strich mit der Hand über seinen Kopf. »Natürlich komme ich, Horsti.«

Dann ging sie hinaus aus dem Zimmer in den schwach erleuchteten Flur. Tante Johanna stand hinten in der Nähe der großen Vitrine und wartete. Ich sah, wie die Tante ihren mageren Arm ausstreckte und Marion dicht an sich heranzog. Die Tante redete leise auf Marion ein. Tiefer und immer tiefer beugte Marion ihren Kopf hinunter zu Tantes Gesicht. Hin und wieder nickte sie langsam und zustimmend.

Ich saß auf der Bettkante in Horstis abgedunkeltem Zimmer und beobachtete die beiden von weitem. Am liebsten wäre ich von Horstis Bett aufgestanden, um ein wenig näher heranzukommen an die Zimmertür und ein paar Worte von ihrem Gespräch aufzuschnappen. Aber Horsti drückte sein Gesicht in meine Arme wie ein kleiner Ringkämpfer beim Training und hielt mich fest.

Dann schlief er ein, lächelnd, seine abgewetzte verlebte Lieblingspuppe in seinem Arm.

Ungefähr um elf ging Marion. Sie sah noch einmal in Horstis Zimmer hinein, ehe sie sich von uns verabschiedete. Tante Johanna lehnte schon in der Tür, ihren Kopf hoch erhoben, und wartete auf Marion. Ihr Gouvernantenknoten baumelte locker und zerzaust zwischen ihren Schulterblättern. Aber das mochte sein, wie es wollte, Tante Johanna sah immer stolz und gerade und meistens sogar schön aus. Sie standen sich gegenüber, mit ihren selbstbewusst gestreckten Rücken, und guckten sich in die Augen. Irgendwie sahen sie sich sogar ähnlich.

Heddas Goldbrand-Atem wehte wieder um mein Gesicht. »Die beeden«, brummte sie dicht neben meinem Ohr und hustete. »Da kriegste wat zu kieken, wat, Cora. Abba mir fracht ja keener, wie ick det finde, wenn meene Hanna mit det ­Meechen …«

Ich drehte meine Nase aus dem Bereich ihres Atems. Wenn sie getrunken hatte, ging sie mir ziemlich auf den Wecker mit ihren berlinischen Sprachhieroglyphen. »So wie du sprichst, so spricht kein Mensch hier. Ich verstehe kein Wort, Hedda.«

Sie hustete beleidigt und entschwand schlurfend mit dem Küchentablett in der Hand in die gute Stube. Das Scheppern der Kuchenteller und der leeren Kaffeetassen drang durch die geöffnete Tür.

Die Tante drückte noch einmal Marions Hand. Diesmal hörte ich deutlich, was sie miteinander besprachen.

»Versprechen Sie es mir, Marion?«

Marion legte beide Hände um Tantes magere schmale Unterarme. »Natürlich verspreche ich es, Frau Ost.« Und dann fügte sie leise hinzu: »Ich verspreche es, soweit das in meiner Macht liegt.«

Nun war mir klar, worum es vorhin im Flur gegangen sein musste. Das kannte ich doch. Wie vielen Menschen hatte die Tante schon dieses Versprechen abgenommen. Dass sie gut auf mich aufpassen sollten, dass sie mich davor bewahren sollten, einen Fehler zu machen. Dass die Zeiten, besonders die im Osten und in Ostberlin, nicht dazu angetan waren, dass ich mich ganz alleine darin zurechtfinden konnte. Na danke.

Marion schob die schöne Mieze vorsichtig in die kleine Tasche, die sie wie einen Kängurubeutel angestrickt hatte an der Innenseite ihres riesigen roten Pullovers. Dann ließ sie ihren roten Seidenschal um ihren Hals fliegen und lief lachend und flink die Treppe hinunter. Unten auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und winkte uns noch einmal zu. Sie sah wirklich wunderschön aus.

Eine Stunde später brachte Johanna mich an die Haustür. Die Schachtel mit den sieben, nein, mit den sechs erfrorenen Puppen lag ganz tief unten versteckt in meiner großen geräumigen Handtasche. Darauf hatte die Tante bestanden.

Heiß und schummrig war es im Hausflur. Die kleinen grünen Scheiben der Flurfenster standen offen für den warmen Nachtwind. Es roch nach den hundertjährigen dicken Wänden und nach dem Sommer.

Die Tante huschte die Treppen hinunter, immer ein paar Schritte vor mir. Sie war dreiundsiebzig und war mir häufig einige Schritte voraus. Nicht nur, wenn es darum ging, eine Treppe hinunterzulaufen.

Mitten auf den Stufen blieb Tante Johanna plötzlich stehen und drehte sich zu mir um. Sie grinste und guckte zu mir herauf. »Hast du was vermisst vorhin, was, Cora, meine Kleine?«

»Ja«, sagte ich zögernd. Mir war nicht gleich klar, was sie meinen könnte. Ich dachte nach.

»Mach den Mund zu, Cora.« Sie griff in die Tasche ihrer Schürze und zog vorsichtig etwas daraus hervor. Dann hielt sie ihre geschlossene Hand vor mein Gesicht.

»Was glaubst du wohl, was hier drin ist?«

Ich atmete seufzend aus und zog die Schultern nach oben. Wie sollte ich das denn wissen? Vorsichtig bogen sich ihre Finger zurück. Auf ihrer Hand lag die zarteste, die beste, die schönste der kleinen Charlotten. Sie saß auf Tantes Handfläche wie Däumelinchen auf der Hand des Riesen und guckte aufmerksam zu uns herauf. Ein kleines Frauchen mit ordentlich aufgesteckten braunen Haaren. Die Arme erhoben, der Mund leicht geöffnet. Erfroren. Festgefroren, mitten in dieser Bewegung.

»Ich behalte sie, Coralein. Ich behalte sie noch ein bisschen.«

Die Tante drehte ihre Handfläche vor meinem Gesicht. Klein und zart und zerbrechlich sah Tante Johanna in diesem Moment aus. Ein lauer Windstoß hätte durch die grünen Flurfenster hereinwehen und sie umpusten können. Ich nahm sie in meine Arme und küsste sie vorsichtig auf ihren faltigen Mund.

»Da hol ich sie aus meiner Schürzentasche und seh sie mir an, und dabei denke ich an dich, Coralein. Sieht sie nicht aus wie du?«

Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Aber ich fragte auch nicht. Ich sah sie nur an und schwieg.

Dann waren wir angekommen, unten, an der Haustür. Draußen war es angenehm kühl. Viel kühler als hier im Hausflur.

Die Tante trat mit mir auf die Straße hinaus. Ihr Blick glitt über die Reihen der Autos, die vor der Tür auf dem Parkstreifen standen. Irgendwie wirkte sie plötzlich zerstreut, irritiert. Ihre Hand mit der erfrorenen kleinen Charlotte verschwand wieder in der Schürzentasche.

»Was sagt sie, deine Freundin Marion? Einen Mann tätst du brauchen, das wär wichtig für dich? Ach Cora. Guck mich an, was hat mir das eingebracht, dass ich einen Mann hatte.« Sie drehte den Kopf zur Treppe und deutete mit ihrem Kinn nach oben, dorthin, wo Horsti schnarchend in seinem alten eisernen Gitterbett lag und tief und zufrieden zwischen den Puppen schlief. »Aber jetzt glaube ich manchmal, du hättest doch einen haben sollen, Cora, so wie die Zeiten jetzt sind. Da brauchst du einen, der dich beschützen kann.«

Ich nickte unsicher. Gerade von der Tante hatte ich so etwas noch nie vorher gehört. »Wovor denn beschützen, Tante?«

»Wovor? Ach, Mädchen. Aber so bist du, Cora. So bist du immer gewesen. Und nun bist du wirklich schon dreißig geworden.«

Ich stand da und guckte.

Tante Johanna war schnell wieder obenauf. Von mir würden keine Fragen kommen, das wusste sie. Sie lachte und fasste nach meinem Arm. »Warte mal, meine Kleene. Ich habe da wen. Einen Wächter für dich, einen Beschützer … Und du wirst ihn brauchen, fürchte ich«, fügte sie nach einem kleinen Zögern hinzu. Sie kniff mir in den Arm und grinste schon wieder ihr Seeräubergrinsen.

Ich zog meinen Arm weg. Diese Art von Späßen mochte ich gar nicht. Ich machte mich von ihr los. »Schlaf gut, Tante Johanna.«

Ich war kurz angebunden und eilig, nun wollte ich endlich gehen. Zum Glück weiß man nie, wenn man sich verabschiedet, ob es das letzte Mal ist.

»Pass auf dich auf, Cora.«

Ihr Blick ging schon wieder über die Reihe der Autos. Sie hakte sich irgendwo fest, an einem weißen oder an einem roten oder an gar keinem Auto, und hielt den Atem an. Die feinen grauen Haare über ihrer Stirn vibrierten leicht im Wind.

»Geh jetzt, Cora. Schnell.«

Sie schob mich zur Tür hinaus. Ich lief los, in Richtung Rosenthaler Platz. Aber ich hörte noch, gleich bei meinen ersten Schritten, wie sie die Tür zudrückte und wie sich ganz schnell der Schlüssel im Schloss drehte.

Sie hatte es mächtig eilig.

***

Die Autos rasten immer noch durch die Wilhelm-Pieck-Straße. Der 30er Bus fuhr rumpelnd und ohne Fahrgäste in Richtung Charité.

Ich lief unter den Straßenlampen, unter den dürren alten Linden und fühlte mich glücklich und zufrieden wie ein Baby in einer Wanne mit warmer Milch. Nach einem Nachmittag bei Tante Johanna hätte mich allenfalls ein mittleres Erdbeben aus diesem Zustand herausreißen können.

Vorne am Rosenthaler Platz lehnten zwei Frauen angekichert am Geländer der zugemauerten U-Bahn. Sie beugten sich weit hinunter, viel weiter als es erlaubt war, am Tage, wenn dieser Platz voller Menschen war.

»Wenn du da runtergehst«, sagte die eine von ihnen, »wennu da runtergehst und durch die Tür durch, bissu schon fast im Westen.«

»Quatsch«, sagte die andere. »Dann bissu tot. Mausetot.«

Sie lachten kreischend und hielten sich mit beiden Händen an dem Geländer aufrecht. Dann war Ruhe. Sie stützten sich auf ihre Arme und guckten mich an.

»Willzu was?«, fragte die eine. »Willzu was von uns, oder wat?«

Die Ampel vorn an der Straße schaltete auf Grün, und die nächsten Autos rasten die Straße hinunter. Den Rest ihrer Anfragen an mich konnte ich nicht mehr verstehen. Ich grinste sie an und ging weiter, noch ein Stückchen die Rosenthaler hinunter. Vorne, hinter der Telefonzelle, die immer kaputt war, bog ich in die Linienstraße ein.

Hier war es ruhiger. Keine Ampeln, keine Autos, kein Bus und keine U-Bahn. Meine Straße war vollgestopft mit Sperrmüllcontainern und Bauwagen und Stapeln von Ziegelsteinen und Brettern, zwischen denen die Kinder spielten am Tag. Sonnig und heiß war es dann hier. Jetzt war es kühler. Es war dunkel wie auf einer Landstraße im hintersten Mecklenburg, nur hin und wieder war eine der Straßenlampen intakt und beleuchtete den Fußweg ein kurzes Stück.

Ich ging hinüber zur anderen Seite, auf der keine Bauwagen und keine Container standen. Hier hatte ich den Fußweg ein wenig besser im Blick. Weiter vorne, von der Alten Schönhauser her, bog ein Auto in die Linienstraße ein. Es blieb stehen, ziemlich weit vorne, und leuchtete die Fußwege und die Straße mit seinem Scheinwerfer ab. Dann glitt es weiter. Der Motor war leise und ruhig. Irgendwo auf dem Parkstreifen verschwand es zwischen den anderen Autos. Die Scheinwerfer gingen aus.

Ich blieb stehen und wartete, ob jemand aussteigen und die Straße überqueren würde. Manchmal verwechselten einsame Herren das Scheunenviertel von heute mit dem, was es noch bis in die ersten Jahre nach dem Krieg gewesen war. Aber ich sah niemanden. Der Mond beleuchtete die Straße und die Reste der ausgebombten Höfe an den Rückseiten der Häuser. Eine Ratte sprang aus einem Müllkübel, lief über die Gehwegplatten und verschwand unter einem Kellerfenster in einem winzigen Loch. Zu meiner Wohnung war es nicht mehr weit.

Ich lehnte mich gegen die große Haustür und stemmte sie langsam nach innen. In dieser Gegend wurde nicht abgeschlossen am Abend, da konnte ich sicher sein. Der Geruch von modrigen, feuchten Wänden schlug mir entgegen. Das Kreischen der herrenlosen, verwilderten Katzen drang aus dem Keller zu mir herauf.

Ich ging in den Hausflur hinein und machte Licht.

Hier war schon das Vorderhaus nicht viel mehr als ein Hinterhof. Die Treppenbeleuchtung war nicht so hell, dass ich die Farbschichten, die sich in großen Flächen von den Wänden schälten, hätte unterscheiden können. Vorne, auf der rechten Seite, war eine kahle Betontreppe, die im Vorderhaus nach oben führte. Damit hatte ich nichts zu tun. Ich musste nach hinten, ganz ans Ende des Flures, in einen winzigen unbeleuchteten Gang. Von hier aus führte eine kleine Schwingtür nach draußen, auf den dunklen, verwinkelten Hinterhof.

Ich zog sie auf. Der Hof war finster und leer. Wenn man sich einigermaßen auskannte in dieser Hinterhof- und Lagerhallen-Architektur, konnte man das mit ziemlicher Sicher­heit über­sehen.

Oben, an der Tür meiner kleinen Dachwohnung im Seitenflügel, hing eine bunte Karte. Es war keine gewöhnliche Ansichtskarte, das sah ich schon, während ich die letzte der vier Treppen nach oben stieg. Ihre Farben waren zart und verblichen und auffallend anders, als eine Ansichtskarte von der Ostsee oder vom Alexanderplatz heute war.

Sie steckte an der Tür fest, zwischen Rahmen und Innenkante, und war nicht herauszukriegen. Ich zog und zog, aber erst als ich den Schlüssel aus meiner Handtasche gesucht und die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, gab sie nach. Ich stand da und hielt sie unschlüssig in den Händen.

Eine abgegriffene vergilbte Karte. Eine Art schwarzweißer Fotografie, sorgfältig und liebevoll handkoloriert. »Ein Gruß aus dem schönen Thüringen« stand in der verschnörkelten Schrift der fünfziger Jahre unter dem Bild einer resedagrünen hügeligen Landschaft mit rosigem Sonnenuntergang. Das mochte der Rennsteig sein oder die Berge von Oberhof, ich wusste das nicht. Aber ich könnte die Tante fragen. Falls es hier jemanden gab, der diese Berge kannte, dann war sie es. Noch heute hörte man ein sanftes thüringisches Klingen in ihrer Stimme, auch wenn sie schon länger in Berlin lebte, als ich auf der Welt war.

Ich drehte die Karte herum. Gebr. Weitling, Künstler. Photographie stand in selbstbewusst großen verschnörkelten Buchstaben an ihrem oberen Rand. Schräg über die ganze Karte hatte jemand mit einem weichen schwarzen Filzschreiber ein paar Worte geschrieben. Ich kannte die Handschrift nicht. Aber neben den kleinen Charlotten, die gut versteckt in meiner Handtasche lagen, war das hier die zweite Überraschung, die mir heute jemand zu meinem Geburtstag machte. Ich las:

»Liebe Cora! Alles Gute zum Dreißigsten« – und »Bis bald!«

***

Das Krankenhaus lag am Stadtrand. Zumindest damals, als es gebaut wurde, am Beginn des Jahrhunderts. Es war ein kompakter dreistöckiger Bau aus rotem, brandenburgischem Backstein. Sparsam, sachlich und ohne jeden überflüssigen Schnörkel. Hier hatte man keine Mark für die Baukunst verschwendet, sondern jeden Groschen in den Dienst der Gesundheit gesteckt. Vom ersten Geschoss bis zum dritten hatte es hohe, freundliche Fenster mit weißgestrichenen Rahmen. Zwei Seitengebäude stießen im preußischen rechten Winkel auf das Haupthaus, in dem die dreiflügeligen Fenster natürlich am größten waren. Ein imposanter Bau, damals, eine Art Bollwerk der Krankenpflege.

Jetzt waren Hochhäuser in die Höhe geschossen, rechts und links von den Gebäuden, und nahmen den Zimmern das Licht. Der Park, der früher das Gebäude umgeben hatte, hatte den Hochhausbauten und den Zuleitungsrohren für die Fernheizung weichen müssen. Sie machten heute den gleichen Fehler wie die knickrigen alten Preußen: keine Mark zu viel für die Baukunst. Wo das Geld blieb, das sie dabei einsparten, blieb ihr Geheimnis. In den Dienst der Gesundheit hatten sie es jedenfalls nicht gestellt. Das wäre mir früher oder später aufgefallen.

Einer der übriggebliebenen Bäume des alten Parks stand ausgerechnet vor unserer Bibliothek. Die alte Kastanie ragte hoch über das Dach und warf ihren Schatten kühl und dunkel über unsere Fenster. Ein bisschen weniger kalt und ein bisschen weniger dunkel als die Schatten der Hochhäuser auf der anderen Seite. Ohne die Kastanie hätten Marion und ich die Hoffnung auf etwas Sonne gehabt, denn die Bibliothek lag im Südflügel.

Ich war wie immer ein wenig zu spät und jagte im Laufschritt durch die schwere alte Eingangstür in das Hauptgebäude.

Eigentlich wusste ich nicht, warum ich mich so verausgabte und wie Emil Zatopek rannte. Warum es so wichtig war, ob die Kranken ihre Bücher fünf Minuten früher oder eine halbe Stunde später ausleihen konnten, das wusste nur unsere Oberin. In unserem Krankenhaus sollte alles zuverlässig, pünktlich und ordentlich seinen Gang gehen, das war nun einmal ihr Herzenswunsch und das Kernstück ihrer sozialistischen Arbeitsmoral, über dessen Erfüllung sie vierundzwanzig Stunden am Tag wachte. Und wer sein gutes Verhältnis zu diesem immer aufmerksam herumschnüffelnden Wachhund des ­Charitas nicht aufs Spiel setzen wollte, der fragte nicht viel, sondern hielt sich gefälligst daran.

An der Rezeption saß der Pförtner auf seinem Drehstuhl und streckte die Beine weit von sich. Er hielt sich das Neue Deutschland vor sein Gesicht und bohrte dahinter mit einem Streichholz in seinen Zähnen. Die Zeit der Schlüsselausgabe war seit einer halben Stunde vorbei. Ich hastete quer durch das Foyer und warf meine Handtasche auf seinen Tresen, genau neben das gravierte graugrüne Plastikschild mit seinem Namen. I. Lehmann – Portier. Acht Jahre lang kam ich nun Morgen für Morgen hierher, aber was dieses ›I.‹ vor seinem Namen bedeuten sollte, hatte ich in all den Jahren noch nicht aus ihm herausgekriegt.

I. Lehmann rührte sich nicht von der Stelle.

»Den Schlüssel, Ingo!«, zischte ich ungeduldig.

»So heiße ich nicht«, murmelte er lässig hinter seiner Zeitung.

»Gib mir den Schlüssel, bitte, Ingomar!«

Langsam ließ er die Zeitung drei winzige Zentimeter nach unten rutschen. Er grinste, aber er rührte sich kein bisschen. Es war jeden Morgen das gleiche Spiel.

»Morgen, Cora«, sagte er schließlich. Es dauerte ziemlich lange, bis er den Zahnstocher so weit hatte, dass er den Mund zum deutlich Sprechen frei bekam. Zu den Leuten, die irgendwann einen Infarkt kriegen würden, gehörte er ganz bestimmt nicht.

»Den Schlüssel, gib mir den Schlüssel«, drängte ich. Die Angst vor der Oberin trieb mir Schweißperlen auf das Gesicht.

Ingo, Irmfried, Ingward, oder wie immer er heißen mochte, sah mir mitleidig in die Augen, hob seine Zeitung wieder in die Höhe und schüttelte langsam den Kopf. Sehr langsam. »Ruhig, Cora, nur nich aufregen. Dein Schlüssel is abgeholt, is schon weg. Deine hübsche Kollegin ist längst an der Arbeit.« Er grinste und zeigte mir in voller Breite sein lückenhaftes Gebiss. »Und heute sieht sie besonders schön aus.«

Ah ja. Das war genau das, was ich gerne hörte an so einem Morgen. Ich zog meine Tasche vom Tresen und schnippte mit den Fingern gegen sein ND. Dann sprintete ich im Laufschritt zurück in die Mitte der Haupthalle. Emil Zatopek hatte sein Rennen noch längst nicht gewonnen.

Der einzige Fahrstuhl des Charitas war belegt und pendelte ununterbrochen zwischen dem zweiten Stock und dem dritten. Zwischen den chirurgischen Stationen und den Operationssälen, wie immer um diese Zeit. Also lief ich den ganzen langen Flur hinunter und um die Ecke herum, bis zur hinteren Seite des Südflügels. Dort konnte ich im Treppenhaus nach oben kommen, zum dritten Stock.

Das war die Treppe, auf der ich mit ziemlicher Sicherheit nicht der Oberin begegnen würde. Trotzdem rannte ich und nahm zwei oder drei Stufen auf einmal bei jedem Schritt.

Ich klinkte die Tür auf und ging leise ins Zimmer. Marion saß schon an ihrem Schreibtisch. Fünf Minuten später saß ich ihr gegenüber, hatte meinen weißen Kittel an und eine Tasse dampfenden heißen Kaffee vor mir. Es war alles in Ordnung, ich saß hier, als würde ich schon seit einer Stunde so sitzen. Und die Oberin hatte mich nicht erwischt. Langsam wurde ich wieder ruhiger.

Marion aber war keinesfalls gelassen und ruhig. Sie hob ihre Handtasche dicht vor ihre Augen und suchte hektisch nach ihren Alten Juwel.

I. Lehmann hatte nicht übertrieben. Heute war sie wirklich besonders schön. Ihre braunroten Haare fielen rechts und links auf ihre Schultern und deckten sie zu wie ein seidiger dichter Vorhang. Meine kurzgeschnittenen blassen Haare erinner­ten mehr an das struppige Fell einer Kellerkatze. Und dass ich es immer wieder mit einer dieser Mayonnaisen aus Eigelb, Öl und kastanienbrauner Haartönung versuchte, konnte auch nichts Wesentliches daran ändern.

Manchmal wünschte ich mir, ich könnte aussehen wie Marion: wie ein Schwan, wie ein Flamingo. Wie ein hibiskusroter Flamingo, exotisch und wunderschön.

Marion hatte endlich die Schachtel gefunden. Sie zog eine dieser kurzen starken Zigaretten heraus und steckte sie zwischen ihre Lippen. Dann riss sie ihre Tasche wieder nach oben und fing an, nach den Streichhölzern zu wühlen.

Irgendetwas lag ihr im Magen und ließ ihr keine Ruhe. Aber es war nie ihre Art, ihre Meinung lange für sich zu behalten. Also wartete ich und sah sie an. Nach zwei Minuten ließ sie ihre Handtasche auf den Boden fallen, legte ihre Unterarme quer über ihren Schreibtisch und schaute mich durchdringend an.

Ich holte eine Schachtel Streichhölzer aus meiner Schreibtischschublade und schob sie Marion über den Tisch. Ihre Hände zitterten leicht, während sie die kleine Flamme unter ihre Alte Juwel hielt. Als sie das brennende Streichholz ausblies und sich über den Schreibtisch hinüberbeugte zum Aschen­becher, fielen unsere Blicke gleichzeitig auf Pythia. Jetzt begann ich zu ahnen, warum sie so aufgeregt war.

Marion nahm ein paar tiefe Züge, dann klemmte sie die Zigarette an den Rand ihres Aschenbechers und griff nach Pythia.

Pythia, meine kleine Seherin, saß nun schon acht Jahre hier zwischen uns und schickte ihre rätselhaften, allwissenden ­Blicke über unsere Schreibtische. Irgendeinen Zauber hatte sie aus der schönen, kostbaren Puppenwelt der Tante in unsere nüchterne Bibliothek gebracht. Jeder, der zu uns kam, nahm sie in die Hände, wurde versöhnlich und ruhig und bewunderte sie.

Marion begann, Pythias cremefarbenes Spitzenkleid aufzuknöpfen und streifte es hinten am Rücken hinunter. Eine Prägemarke, so groß wie ein Zweimarkstück, kam zwischen Pythias Pappmaché-Schultern zum Vorschein. Ein großes B und ein P, die von der Spitze einer herzförmigen Prägung getrennt wurden. Firma Bähr & Pröschild aus Ohrdruf in Thüringen.

Marion griff Pythia mit beiden Händen und hielt mir ihr Hinterteil unter die Nase. Das war es also, was ihr im Magen lag. Genau wie ich es erwartet hatte: Sie hatte den Sinn der ­Prägemarken entdeckt.

»Sieh mal, Cora. Was das bedeutet, weißt du sicher viel besser als ich.«

Ich nickte. Natürlich wusste ich es, dafür hatte Tante Johanna geduldig in vielen Jahren gesorgt. Was die Fabrikmarken und das Alter der Puppen anging, da kannte ich mich einigermaßen aus.

»Na?«, bohrte Marion weiter. »Na? Also? Und was glaubst du, welches Zeichen ich auf Mieze Schindlers Hals gefunden habe?«

Sie brauchte mich nicht zu fragen, und schon gar nicht in solch einem scharfen Ton. Ich wusste es, ja, natürlich. Es war die winzige eingeprägte Kontur eines kleinen Turmes und darunter die Anfangsbuchstaben der Firma Jumeau.

Marion ließ nicht locker. »Cora. Diese Mieze Schindler ist viel Geld wert, sehr viel. Ich habe nachgelesen, noch gestern Abend. Auf einer Auktion in Köln hat so eine Jumeau-Puppe mehr als zehntausend Mark gebracht. D-Mark, Cora. So etwas könnt ihr nicht einfach an mich verschenken.«

Doch, wir konnten. Nein, nicht wir. Die Tante hatte Mieze an Marion verschenkt. Und die Tante wusste immer sehr genau, was sie machte. Das kannte ich nicht anders von ihr. Außerdem lebten wir nicht in Köln, sondern im Osten. Spielzeugauktionen, so etwas gab es bei uns nicht. Die Tante wollte die Puppe nicht verkaufen, und Marion würde sie sicherlich auch nicht verkaufen wollen. Wieso also sollte ich mich mit Marion über Geld streiten?

Ich schüttelte noch einmal energisch den Kopf. So energisch, wie ich eben den Kopf schütteln kann. »Nein, Marion, nein, es bleibt dabei. Die Tante hat es entschieden.«

Marion holte tief Luft und schleuderte ihre rote Flamingo-Mähne nach hinten, in einem großen beachtlichen Schwung. Aber sie kam nicht mehr dazu, mir zu widersprechen. Es klopfte kurz und bestimmt, die Tür wurde aufgerissen, und Doktor Wiesner stand mitten in unserem Zimmer. Er hielt sich nicht lange auf und kam quer durch den Raum zu ­Marions Schreibtisch gelaufen.

Marion wurde sofort dunkelrot. Das Rot ihrer Fingernägel überhauchte ihre Wangen und ihren Hals mit großen Flecken. Sie griff wieder nach ihrer Alten Juwel und hielt sie sich vor ihr Gesicht.

Es half nichts. Wiesner bückte sich trotzdem zu ihr hinunter und küsste sie sanft auf den Mund. Dann schob er ein paar reparaturbedürftige Bücher zur Seite und setzte sich mitten auf unseren Schreibtisch. Gleich neben die aufgeknöpfte Pythia.

»Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden«, sagte er. »Ich habe eben das Okay für meinen Reisepass bei der ­Oberin abholen dürfen. Morgen fahre ich zu diesem Kardiologen-Kongress nach Wien.«

Marion zuckte zusammen und sah zu ihm hoch. Ihr Gesicht wurde noch dunkler.

Er sah sie an und schüttelte langsam den Kopf. »Wein doch nicht, Marion.«

Ich saß selbstvergessen an meinem Schreibtisch und sah zu, wie die Blicke zwischen den beiden hin und her gingen. Verdammt, ich beneidete Marion. Wie schaffte sie das nur, so eng und vertraut mit ihrem Wiesner zu sein. Sicher, das war gar nicht schwierig. Das lief bei Marion genauso wie bei jeder anderen. Sagte Marion. Sie hatte einfach nur gewartet. Sie hatte Wiesner kennengelernt, sie war zusammen gewesen mit ihm, und sie hatte alles, beinahe alles, mit ihm gemacht. Das war eine Woche so gegangen, einen Monat, vielleicht auch ein halbes Jahr. Und irgendwann musste dieser Moment gekommen sein: eine Geste, ein Blick, eine Reaktion auf einen Satz in den Nachrichten oder auf das allgegenwärtige Porträt unseres Staatsratsvorsitzenden an der Kaufhallenwand. Und von da an war alles klar. Von da an hatten die beiden sich alles gesagt. Auch das, was sie dachten. Was sie wirklich dachten. Oder sie mussten gar nichts mehr sagen, weil es klar war, was der andere dachte. So wie jetzt. Ach ja. Es war schön wie im Kino.

Dann sah Wiesner zu mir. Er guckte mich an wie ein halberwachsenes Kind, das seine Eltern bei den ganz wichtigen Gesprächen vorsichtshalber immer noch aus dem Zimmer schicken.

Ich steckte ihm die Zunge heraus, schob meinen Stuhl zurück und ging zu unseren Bücherwagen, die hinten vor der Wand mit den Regalen standen. Mein Wagen war fertig gepackt, ich konnte sofort losgehen. Ich löste die Blockierungen an den Rädern, sah noch einmal zum Schreibtisch hinüber und zog leise die Tür hinter mir zu.

Marion stützte sich mit beiden Unterarmen schwer auf ihren Schreibtisch. Wiesner stand verkrampft hinter ihrem Stuhl und versuchte, wenigstens etwas zu lächeln. So habe ich ihn in Erinnerung behalten. Grinsend, mit dieser angestrengten, schwermütigen Fröhlichkeit. Die Arme von hinten um ­Marions Hals, bestürzt über ihre Tränen.

Zwei Stunden lang schob ich meinen Bücherkarren in der Hitze des Vormittags über die Stationen. Zuerst in den Nordflügel hinüber zur Inneren Frauenstation. Eine einfache, unkomplizierte Station, auf der die meisten Patientinnen aufstehen und zu mir an den Bücherkarren kommen konnten. Sobald ich an die Zimmertüren geklopft und meinen Spruch aufgesagt hatte, bildete sich eine Versammlung wie in einem Dorfkonsum um mich herum. Zwischen geblümten Malimo-Bademänteln und rosa und hellblauen Morgenmänteln aus knisterndem Dederon stand ich hinter meinem Ladentisch und ließ Bücher und Bildbände darauf hin und her wandern.

Ich schwitzte und strengte mich an wie ein Wolgatreidler, um den schweren Wagen über die Flure zu schieben. Aber bis hierher machte das alles noch ziemlichen Spaß. Meine Angst-Station lag heute noch vor mir. Mit dem Fahrstuhl fuhr ich ein Stockwerk tiefer, hinunter zur Chirurgischen. Einmal in jeder Woche musste ich hierherkommen, in diesen Geruch von ­Desinfektionsmitteln und frischen Verbänden. Und obwohl ich schon zehn Jahre am Charitas-Krankenhaus war, kostete es immer noch Überwindung, wenn ich manchmal vor Mitleid und Erschrecken nicht einfach wieder umkehren wollte.

Ich riss mich zusammen und atmete flach wie ein Scheintoter. Leise und unaufdringlich ging ich von Zimmer zu Zimmer, um nach Bücherwünschen zu fragen. Einmal nahm ich mir einen Stuhl, setzte mich neben ein Bett und erzählte ein paar Minuten mit einer Oma. Ein paar Türen weiter schüttelte ich einem Opa das Kopfkissen auf und lud seine heimlichen Bierflaschen unten zwischen die Bücher auf meinen Wagen.

Aber das waren nur kurze Momente, in denen hier jemand mit mir lachte. Ein paar Augenblicke später stand mir schon wieder eine Frau gegenüber, der kleine durchsichtige Plastikröhrchen in ihre Wunde am Hals eingesetzt waren. Erschrocken hielt ich kurz den Atem an, lächelte freundlich und fröhlich wie ein apfelbäckiger Weihnachtsengel und reichte meine Bücher zu ihr hinüber. Wie jedes Mal auf der Chirurgischen wünschte ich mir einen Moment lang, ich wäre Gärtnerin geworden oder Köchin. Aber ich hatte vom Gärtnern und vom Kochen so wenig Ahnung wie eine Kuh vom Fliegen. Und eigentlich wusste ich genau, es gab für mich gar keinen besseren Beruf.

Zwei Stunden später kam ich zur Bibliothek zurück und fand einen kleinen Zettel auf meinem Schreibtisch. »Cora, ich musste weg, mit W. Kannst du bitte heute mal so freundlich sein …«, hatte Marion auf die Rückseite von einem Leihschein geschrieben und ihn dann unauffällig unter Pythias Füße gesteckt.

Ich stand unschlüssig da und sah auf dieses winzige Stück Papier. Es waren nur Andeutungen, die sie geschrieben hatte, und ich wurde nicht sofort schlau daraus. Aber anders konnten wir uns hier oben eben nicht verständigen. Das Zimmer der Oberin lag in unserem Stockwerk, über dem Hauptgebäude. Es war einfach nicht weit genug von unserer Bibliothek entfernt. Bestimmt hatte sie einen Nachschlüssel, nicht nur von unserem Zimmer, und vor ihrer Kontrolle sicher sein konnte ohnehin keiner.

Ich zerriss den Leihschein mit Marions Nachricht in winzige Schnipsel und fluchte leise auf die alte Ziege und ihre pene­trante Neugier. Dann war ich so freundlich und tat das, worum Marion mich gebeten hatte. Ich holte den anderen Bücherkarren aus der Bibliothek und machte mich auf den Weg über Marions Stationen. Eigentlich freute ich mich darüber, dass ich ihre Tour heute übernehmen sollte. Die Kinder-Chirurgie und die Innere Kinderstation waren dabei. Aber nicht einmal die Kinder schafften es, dass ich nicht mehr an Marion denken musste. Ich quälte mich eine Stunde lang lächelnd von Zimmer zu Zimmer und kriegte dieses hilflos verkrampfte Grinsen von Marions Wiesner einfach nicht aus meinem Kopf.

Mittags fuhr ich hinunter in die Kantine. Ich setzte mich alleine an einen der bekleckerten Sprelacart-Tische, aß eine einsame Mailänder Tomatensuppe in mich hinein und ärgerte mich über unsere Reisegesetze. Ich ärgerte mich, dass man in unserem Land immer, wenn jemand nach Bonn oder nach Bochum oder eben nach Wien fuhr wie dieser Wiesner, das Gefühl hatte, er würde unser Sternensystem verlassen und in unerreichbare Fernen entschwinden.

Marion saß jetzt sicher mit ihm auf einer Parkbank im Friedrichshain oder im Monbijou und heulte. Und warum? Was wäre so schlimm daran gewesen, wenn sie ihren Wiesner begleitet hätte für ein paar Tage?

Aber es war nicht an dem, Punktum und Ende. Es lohnte nicht einmal, darüber nachzudenken. Das war eben nicht zu ändern, das wusste jedes Schulkind bei uns. Und eigentlich war es merkwürdig, dass ich mich überhaupt darüber wundern konnte. Schließlich hatte ich es niemals anders gekannt.

Das war am Dienstag. Ein paar Tage später brachte Marion die schöne Mieze mit in die Bibliothek. Am Donnerstag, vielleicht auch am Freitag kann das gewesen sein. Auf jeden Fall war bis zum Wochenende nicht mehr viel Zeit.

An diesem Tag riss Marion mittags um elf die Bibliothekstür auf, stürmte herein, ließ die Tür hinter sich zuknallen und stampfte mit kurzen, energischen Schritten bis an unseren Schreibtisch heran. Dann klappte sie ihre Handtasche auf, wickelte ein riesiges Knäuel Seidenpapier auseinander und setzte die schöne Mieze neben Pythia auf den Tisch.

Ich sah Marion vorsichtig an. Der Streit, den wir miteinander gehabt hatten, war also noch nicht vorüber.

Aber mir war nicht nach Streiten zumute. Hinter mir lagen schon zwei Stationen, die nicht gerade zu den unkomplizierten gehörten. Und nun hatte ich fast eine Stunde lang hier gesessen, hatte herausgerissene Seiten in zerlesene Bücher geklebt und mir um Marion Sorgen gemacht.

»Willst du vielleicht mit mir einen Kaffee trinken gehen?«, fragte ich leise.

Sie antwortete nicht einmal. Sie riss ihren weißen Kittel vom Haken, schnappte sich den Bibliotheksschlüssel von meinem Schreibtisch und stampfte los. Wütend wie ein Stier auf der Suche nach dem Torero, der ihn aufgestachelt hat, und bis auf die Zähne gereizt. »Mach den Mund zu, Cora.«

Ich klappte den Mund zu, schob meinen Stuhl zurück und rannte hinter ihr her.

Es war kurz vor Mittag und heiß unter dem Dach des Krankenhauses. An einem Augusttag wie diesem konnten nicht einmal die riesigen Schatten der Hochhäuser die Temperaturen erträglicher machen. Oben, in unserem Flur, standen fast alle Türen offen.

Marion lief an ihnen vorüber, an der Wäschekammer, an der Versuchstierhaltung und am Labor, und stieß mit dem Arm dagegen. Es knallte kurz und kräftig. Eine Tür nach der anderen fiel krachend zu. Marion rannte und rannte, der Kittel, den sie sich über den Arm gehängt hatte, wehte hinter ihr her. Ich konnte kaum mit ihr Schritt halten.

Im nächsten Flur, hinter der Kurve zum Hauptflügel, gab es noch eine offene Tür. Marion hob ihren Arm, es knallte wieder, und sie fiel krachend zu. Von drinnen dröhnte das Kreischen der Oberin.

»Komm weiter«, sagte Marion unbeeindruckt. »Komm weiter, Cora.«

Aber ich stand still wie ein Kaninchen vor der Schlange und rührte mich nicht mehr. Ich hörte, wie drinnen der Sessel vom Schreibtisch zurückgeschoben wurde, wie harte flache Absätze über den Fußboden knallten. Dann riss die Oberin ihre Tür auf.

Sie hatte eines von den Gesichtern, bei denen man laut loslachen möchte, wenn man es zum ersten Mal sieht, weil es schieläugig, kartoffelnasig und dümmlich verschlafen ist. Beim zweiten Mal merkt man, dass mit diesem Gesicht irgendetwas nicht so ist wie mit anderen Gesichtern, und beim dritten Mal revidiert man sein Urteil und sieht wachsame, verschlagene Luchsaugen, einen schmal zusammengepressten, unnachgiebigen Mund und eine geschwungene Nase, die scharf ist wie der Schnabel eines Raubvogels.

Marion lachte kurz und kichernd auf, dann zog sie zischend wie bei einem kalten Schmerz auf den Zähnen ihre Luft ein. Der Stier hatte seinen Torero gefunden. Mir wurde fürchterlich kalt.

Die Oberin bebte vor Zorn. Ihre Wangen wurden dunkelrot in ihrem kreidebleichen Gesicht. Mit ihren Händen umklammerte sie die Tür. »Wer ist das gewesen?«, schrie sie. »Wer hat das eben gemacht? Waren Sie das, Kollegin Ost? Antworten Sie!«

Ich konnte kaum atmen. Als ich merkte, dass Marion sich zwischen mich und die Oberin schob, zog ich vorsichtig den Kopf ein. Aber es gab keinen Zusammenstoß. Keiner nahm den anderen auf die Hörner.

»Ich war das«, sagte Marion einfach. Nicht das leiseste Kichern und Zischen war noch zu hören von ihr. »Tut mir leid. ’tschuldigung.«

In ihrer Stimme lag eine gehörige Portion von ›Halt die Klappe, du alte Schachtel‹. Eine so gehörige Portion, dass es schon ziemlich ungehörig war. Aber für solche Feinheiten hatte unsere Oberin zum Glück kein Gefühl.

Marion stand vor ihr, mit geradem Rücken und hoch erhobenem Kopf, und sah ihr genau in die Augen. Für einen kleinen Moment dachte ich an Tante Johannas selbstbewusst gereckten Rücken und ihren geraden Blick. Dann nahm ich Marions Hand und zog sie zum Fahrstuhl hinüber.

»Richten Sie Ihre Kleidung. Bringen Sie Ihren Kittel in Ordnung«, schrie die Oberin hinter Marion her.

»Eine furchtbare alte Fregatte«, sagte Marion, noch ehe sich die Fahrstuhltür richtig geöffnet hatte. Ich schob sie hinein, drückte auf den Knopf für das Schließen der Türen und hoffte, die alte Fregatte hörte nichts mehr davon.

Unten im ersten Stock ging Marion wieder in Führung. Sie stürmte aus dem Fahrstuhl, sofort nachdem die Türen sich geöffnet hatten. Als ich endlich um die Kurve zum ­Nordflügel bog, sah ich von Marion nur noch das Schwingen der alten Kantinentür.

Ich drückte die Tür zur Kantine auf und ließ sie hinter mir zufallen. Von Marion keine Spur.

Drei winzige Lehrlinge, die aussahen wie Schulkinder, trugen Schüsseln mit fein geriebenen Möhrchen und Sellerie-Rohkost zur Mitte des Raumes, zu einem Buffet. Es roch nach süßsaurer Mehlsoße mit Speck und verlorenen Eiern, genau dem richtigen Essen für solch einen heißen Tag. Mit einer Tasse Kaffee war wahrscheinlich kaum noch zu rechnen um diese Zeit.

Ich ging zur Theke hinüber. Vielleicht würde ich jemand überreden können, uns einen Kaffee zu machen. Da entdeckte ich Marion. Sie stampfte quer durch den Raum, hinüber zum Rohkost-Buffet und wieder zurück zu den Tischen. Dort stoppte sie kurz, drehte sich um und lief wieder vor dem Buffet auf und ab.

Alle guckten. Aber das war fast schon normal. Immer, wenn Marion die Kantine betrat, wendeten sich alle ihr zu. Die Sta­tionsschwestern warfen giftige Blicke. Die aufgetakelten Sprechstundenhilfen guckten anerkennend und neidvoll. Und selbst die Ärzte der Chirurgie, die für ihre Abgeklärtheit bekannt waren, hielten sekundenlang inne und sahen zu ihr hinüber, ehe sie ihre Gabeln mit den aufgespießten Kotelettstückchen in den Mund schoben.

Marion legte ihren Kopf weit zurück und ließ ihre langen Haare wie einen gewaltigen dunkelroten Federbusch über ihren Rücken fallen. Sie breitete ihre Arme aus wie bunte Flügel und bewegte ihre Lippen, so als würde sie Worte formen. Ich hoffte, sie führte nur Selbstgespräche. Aber ich wartete lieber nicht ab, ob ich das von hier aus herausfinden würde. Ich tauchte unter den neugierigen Blicken der Kollegen hindurch wie durch einen rauschenden Wasserfall und glitt hinüber zu ihr. Sie starrten uns an, und ich schämte mich wie in einem von diesen Angstträumen, in denen man ständig hofft, die Leute um einen herum würden nicht merken, dass man nur in der oberen Hemisphäre bekleidet zwischen ihnen herumläuft.

»Komm mit, Marion.« Ich fasste sie an den Armen und zog sie ganz nach hinten, in eine der Ecken, in denen es um diese Zeit noch leer war. Dort drückte ich sie halbwegs energisch auf einen Stuhl und setzte mich neben sie.

Marion zog eine Alte Juwel aus ihrer Kitteltasche und steckte sie zwischen ihre Lippen. Aber in der Kantine vom Charitas rauchte man natürlich nicht. Also nahm sie die kalte Zigarette wieder in die Hand und drehte sie zwischen ihren Fingerspitzen. So lange, bis das Papier über dem Filter aufriss und die kleinen Tabakkrümel auf das glänzende Parkett hinunterfielen. Marion drehte mechanisch weiter. Ich glaube, sie bemerkte das nicht einmal.

Schließlich hielt ich das Schweigen zwischen uns nicht länger aus. »Du kannst doch nicht Mieze hier ins Krankenhaus bringen«, fauchte ich leise.

Es ging nicht nur um Mieze Schindler, so viel hatte ich schon begriffen. Aber ich war so wütend, dass ich unbedingt reden wollte darüber. Über Mieze Schindler und am liebsten über nichts anderes sonst.

»Marion, du weißt, wie viel Mieze wert ist. Sie gehört nun einmal nicht hierher.«

Marion guckte mir ernst in die Augen und schüttelte ihre Mähne nach hinten. »Doch, Cora, ich weiß, dass sie kostbar ist. Und eben deshalb bleibt sie hier. Deshalb muss sie in deiner Nähe sein.«

Sie war wieder ruhiger geworden. Sie nickte, ohne jedes Lächeln, ohne jede Verbindlichkeit. Ich verstand nichts. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass es ihr leidtat, dass sie sich von Mieze trennte. Ihr Blick glitt über mein Gesicht, hin und her, immer schneller und schneller. Sie suchte nach dem Erfolg ihrer Worte.

»Weißt du, Cora«, flüsterte sie eindringlich. »Weißt du, wie viele von seinen Patienten er hätte retten können? Mit modernerer Diagnostik, als wir sie haben in unserer Steinzeit-Kardio­logie. Und mit einer stabilen Versorgung mit Intrasystosan (Anmerkung: Fiktive Bezeichnung; die medizinischen Angaben sind den Umständen vor der »Wende« nachempfunden). Aber dafür musste er jedes Mal erst im Regierungskrankenhaus anrufen, ob die ihm etwas abgeben könnten von ihrem besonderen Kontingent.«

Immer weiter kam ihr Gesicht mir über den Sprelacart-Tisch entgegen. Ihre Stimme wurde leiser und leiser. Ich konnte ihre Worte kaum noch verstehen.

»Irgend so ein Bürokrat entscheidet«, flüsterte sie. »Er entscheidet, dass es kein Westgeld gibt, um einen Hyperspectro­lot-Karditor* und ein bisschen Intrasystosan zu kaufen für die unbedeutenden Patienten vom Charitas. Und es geht manchmal um Minuten bei einem Herzinfarkt, das weißt du, Cora. Und dann verliert er dieses Wettrennen. Und dann …« Ihre Augen begannen zu schwimmen.

Ich lachte hilflos und bitter. »Behalt sie doch, Marion, bitte, nimm sie doch wieder mit.«

Sie sah mich an wie einen Chirurgen, von dem man plötzlich feststellt, dass er Analphabet ist. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. Die Haare flogen. »Du verstehst wieder mal gar nichts, Cora.« Ihre Augenbrauen wanderten weit nach oben auf ihrer Stirn. Und wieder dieser Analphabetischer-Chirurg-Blick von ihr zu mir. »Wenn du einen Mann hättest, Cora, dann würdest du mich verstehen.«

Das wirkte endlich. Ich legte meine Handflächen aneinander und hielt meine Klappe, auch wenn alles in mir ganz anderer Meinung war. So blöd war ich nun auch wieder nicht. Langsam wie ein Sonnenaufgang dämmerte mir, worüber wir eigentlich sprachen. Aber ich konnte nicht glauben, was sie mir da so unsanft beibrachte.

Ich verstand nichts. Ich wollte auch nichts verstehen. Das Beste war, ich schenkte mir diese Erleuchtung und ließ die Sonne gleich wieder untergehen. Aber ich schaffte es und klappte wenigstens meinen Mund zu.

I. Lehmann segelte leise heran und balancierte ein Tablett mit zwei Kaffeetassen auf seinem hoch erhobenen Arm. Er beugte sich über Marions Rücken und stellte das Tablett in die Mitte zwischen uns auf den Tisch.

»Na, Mädels.« Er lächelte zahnlos. »Nun habt ihr euch wieder versöhnt, wat?« Er beugte sich herunter und wartete auf ein Lächeln von Marion. Es kam nicht, aber er überlebte es. Ein alter Windhund wie Irmfried Lehmann konnte jahrelang auf ein Lächeln warten, ohne jemals ungeduldig zu sein. Er klopfte leicht mit den Fingern der geschlossenen Faust auf die Tischplatte und schwebte unaufdringlich davon. Die Schwingtüren fielen hinter ihm zusammen und pendelten langsam aus.