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Die Geschichte des jungen Heinrich Lee, der darum kämpft, seine Ambitionen, ein erfolgreicher Maler zu werden, zu erfüllen und zwischen der sanften Anna und der stolzen und sinnlichen Judith hin- und hergerissen ist, ist einer der herausragendsten und persönlichsten Bildungsromane, die in deutscher Sprache geschrieben wurden. Der poetische, halb-autobiografische Roman, den Keller (in seiner ersten Fassung) zwischen 1846 und 1855 geschrieben hat, schöpft aus der eigenen Jugend, den künstlerischen Studien und der Entwicklung des Autors als Mann und bietet gleichzeitig ein umfassendes Porträt seines Landes und seiner Zeit. “Der grüne Heinrich” ist einer der wichtigsten Romane der europäischen Literatur und zweifelsohne das größte Meisterwerk des Schweizer Schriftstellers. Das Werk liegt hier in der zweiten, vom Autor selbst überarbeiteten Fassung vor. Dieses ist der dritte von insgesamt vier Bänden.
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Seitenzahl: 375
GOTTFRIED KELLER
DER GRÜNE HEINRICH
(Zweite Fassung)
ROMAN
in vier Bänden
Band Drei
Der grüne Heinrich wurde in der hier vorliegenden zweiten Fassung zuerst veröffentlicht vom Verlag Göschen, Stuttgart 1879/80.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2022
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band Drei (eBook)
ISBN 978-3-96130-474-5
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
DER GRÜNE HEINRICH. Band Drei
Impressum
Dritter Teil
1. Arbeit und Beschaulichkeit
2. Ein Wunder und ein wirklicher Meister
3. Anna
4. Judith
5. Torheit des Meisters und des Schülers
6. Leiden und Leben
7. Annas Tod und Begräbnis
8. Auch Judith geht
9. Das Pergamentlein
10. Der Schädel
11. Die Maler
12. Fremde Liebeshändel
13. Wiederum Fastnacht
14. Das Narrengefecht
15. Der Grillenfang
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Zu guter Letzt
Ich schlief fest und traumlos bis zum Mittag; als ich erwachte, wehte noch immer der warme Südwind, und es regnete fort. Ich sah aus dem Fenster und erblickte das Tal auf und nieder, wie Hunderte von Männern am Wasser arbeiteten, um die Wehren und Dämme herzustellen, da in den Bergen aller Schnee schmelzen mußte und eine große Flut zu erwarten war. Das Flüßchen rauschte schon stark und graugelblich daher; für unser Haus war gar keine Gefahr, da es an einem sicher abgedämmten Seitenarme lag, der die Mühle trieb; doch waren alle Mannspersonen fort, um die Wiesen zu schützen, und ich saß mit den Frauensleuten allein zu Tische. Nachher ging ich auch hinaus und sah die Männer ebenso rüstig und entschlossen bei der Arbeit, als sie gestern die Freude angefaßt hatten. Sie schafften in Erde, Holz und Steinen, standen bis über die Knie in Schlamm und Wasser, schwangen Äxte und trugen Faschinen und Balken umher, und wenn so acht Mann unter einem schweren langen Baume einhergingen, konnte man glauben, sie hielten wieder einen Aufzug; doch der Unterschied war gegen gestern, daß man keine Tabakspfeifen sah. Ich konnte nicht viel helfen und war den Leuten eher im Wege; nachdem ich daher eine Strecke weit das Wasser hinaufgeschlendert, kehrte ich oben durch das Dorf zurück und sah auf diesem Gange die Tätigkeit auf allen ihren gewohnten Wegen. Wer nicht am Wasser beschäftigt war, der fuhr ins Holz, um die dortige Arbeit noch schnell abzutun, und auf einem Acker sah ich einen Mann so ruhig und aufmerksam pflügen, als ob es weder der Nachtag eines Festes, noch eine Gefahr im Lande wäre. Ich schämte mich, allein so müßig und zwecklos umherzugehen, und um nur etwas Entschiedenes zu tun, entschloß ich mich, sogleich nach der Stadt zurückzukehren. Zwar hatte ich leider nicht viel zu versäumen, und meine umgeleitete haltlose Arbeit bot mir in diesem Augenblicke gar keine lockende Zuflucht, ja sie kam mir schal und nichtig vor; da aber der Nachmittag schon vorgerückt war und ich durch Kot und Regen in die Nacht hinein wandern mußte, so ließ eine asketische Laune mir diesen Gang als eine Wohltat erscheinen, und ich machte mich trotz aller Einreden meiner Verwandten ungesäumt auf den Weg.
So stürmisch und mühevoll dieser war, legte ich doch die bedeutende Strecke zurück wie einen sonnigen Gartenpfad; denn in meinem Innern erwachten alle Gedanken und spielten fort und fort mit dem Rätsel des Lebens wie mit einer goldenen Kugel, und ich war nicht wenig überrascht, mich unversehens in der Stadt zu befinden. Als ich vor unser Haus kam, merkte ich an den dunklen Fenstern, daß meine Mutter schon schlief; mit einem heimkehrenden Hausgenossen schlüpfte ich ins Haus und auf meine Kammer, und am Morgen tat meine Mutter die Augen weit auf, als sie mich unerwartet zum Vorschein kommen sah.
Ich bemerkte sogleich, daß in unsrer Stube eine kleine Veränderung vorgegangen war. Ein Lotterbettchen stand an der Wand, welches die Mutter billigen Preises von einem Bekannten gekauft, der es nicht mehr unterzubringen wußte; es war von der größten Einfachheit, leicht gebaut und nur mit weiß und grünem Stroh überflochten und doch ein ganz artiges Möbel. Aber auf ihm lag ein ganz ansehnlicher Stoß Bücher, an die fünfzig Bändchen, alle gleich gebunden, mit roten Schildchen und goldenen Titeln auf dem Rücken versehen und durch eine starke vielfache Schnur zusammengehalten. Es waren Goethes sämtliche Werke, welche ein Trödler, der mich mit alten Büchern und vergilbten Kupferblättern in ein vorzeitiges gelindes Schuldentum zu verlocken pflegte, hergebracht hatte, um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf anzubieten. Vor einigen Jahren hatte ein deutscher Schreinergeselle, welcher in unserer Stube etwas zurechthämmerte, dabei von ungefähr gesagt: »Der große Goethe ist gestorben«, und dies Wort klang mir immer wieder nach. Der unbekannte Tote schritt fast durch alle Beschäftigungen und Anregungen, und überall zog er angeknüpfte Fäden an sich, deren Enden in seiner unsichtbaren Hand verschwanden. Als ob ich jetzt alle diese Fäden in dem ungeschlachten Knoten der Schnur, welche die Bücher umwand, beisammen hätte, fiel ich über denselben her und begann hastig ihn aufzulösen, und als er endlich aufging, da fielen die goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf das schönste auseinander, verbreiteten sich über das Ruhebett und fielen über dessen Rand auf den Boden, daß ich alle Hände voll zu tun hatte, den Reichtum zusammenzuhalten. Ich entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom Lotterbettchen und las vierzig Tage lang, indessen es noch einmal Winter und wieder Frühling wurde; aber der weiße Schnee ging mir wie ein Traum vorüber, den ich unbeachtet von der Seite glänzen sah. Ich griff zuerst nach allem, was sich durch den Druck als dramatisch zeigte, dann las ich manches Gereimte, dann die Romane, dann die Italienische Reise, und als sich der Strom hierauf in die prosaischen Gefilde des täglichen Fleißes, der Einzelmühe verlief, ließ ich das weitere liegen und fing von vorn an und entdeckte diesmal die ganzen Sternbilder in ihren schönen Stellungen zueinander und dazwischen einsame seltsam glänzende Sterne, wie den Reineke Fuchs oder den Benvenuto Cellini. So hatte ich noch einmal diesen Himmel durchschweift und vieles wieder doppelt gelesen und entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen Stern: Dichtung und Wahrheit. Ich war eben mit diesem zu Ende, als der Trödler hereintrat und sich erkundigte, ob ich die Werke behalten wolle, da sich sonst ein anderweitiger Käufer gezeigt habe. Unter diesen Umständen mußte der Schatz bar bezahlt werden, was jetzt über meine Kräfte ging; die Mutter sah wohl, daß er mir etwas Wichtiges war, aber mein vierzigtägiges Liegen und Lesen machte sie unentschlossen, und darüber ergriff der Mann wieder seine Schnur, band die Bücher zusammen, schwang den Pack auf den Rücken und empfahl sich.
Es war, als ob eine Schar glänzender und singender Geister die Stube verließ, so daß diese auf einmal still und leer schien; ich sprang auf, sah mich um und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben, wenn nicht die Stricknadeln meiner Mutter ein freundliches Geräusch verursacht hätten. Ich machte mich ins Freie; die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne, und indem meine Blicke alles umfaßten, empfand ich ein reines und nachhaltiges Vergnügen, das ich früher nicht gekannt. Es war die hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet. Diese Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des einzelnen zu eigennützigem Zwecke, welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt; sie steht auch höher als das Genießen und Absondern nach Stimmungen und romantischen Liebhabereien, und nur sie allein vermag eine gleichmäßige und dauernde Glut zu geben. Es kam mir nun alles und immer neu, schön und merkwürdig vor, und ich begann, nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt, das Wesen und die Geschichte der Dinge zu sehen und zu lieben. Obgleich ich nicht stracks mit einem solchen fix und fertigen Bewußtsein herumlief, so entsprang das nach und nach Erwachende doch durchaus aus jenen vierzig Tagen, so wie deren Gesamteindrucke noch folgende Ergebnisse ursprünglich zuzuschreiben sind.
Nur die Ruhe in der Bewegung hält die Welt und macht den Mann; die Welt ist innerlich ruhig und still, und so muß es auch der Mann sein, der sie verstehen und als ein wirkender Teil von ihr sie widerspiegeln will. Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es; Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn. Für den künstlerischen Menschen nun wäre dies so anzuwenden, daß er sich eher leidend und zusehend verhalten und die Dinge an sich vorüberziehen lassen, als ihnen nachjagen soll; denn wer in einem festlichen Zuge mitzieht, kann denselben nicht so beschreiben wie der, welcher am Wege steht. Dieser ist darum nicht überflüssig oder müßig, und der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen, und wenn er ein rechter Seher ist, so kommt der Augenblick, wo er sich dem Zuge anschließt mit seinem goldenen Spiegel, gleich dem achten Könige im Macbeth, der in seinem Spiegel noch viele Könige sehen ließ. Auch nicht ohne äußere Tat und Mühe ist das Sehen des ruhig Leidenden, gleichwie der Zuschauer eines Festzuges genug Mühe hat, einen guten Platz zu erringen oder zu behaupten. Dies ist die Erhaltung der Freiheit und Unbescholtenheit unserer Augen.
Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen. Ich hatte mir, ohne zu wissen wann und wie, angewöhnt, alles, was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand, poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Dasein wert macht; aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich nun, daß das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und Überschwengliche nicht poetisch ist und daß, wie dort die Ruhe und Stille in der Bewegung, hier nur Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen, mit einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf. Dies ist zwar eine alte Geschichte, indem man schon im Aristoteles ersehen kann, daß seine stofflichen Betrachtungen über die prosaisch-politische Redekunst zugleich die besten Rezepte auch für den Dichter sind.
Denn wie es mir scheint, geht alles richtige Bestreben auf Vereinfachung, Zurückführung und Vereinigung des scheinbar Getrennten und Verschiedenen auf einen Lebensgrund, und in diesem Bestreben, das Notwendige und Einfache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen, ist Kunst; darum unterscheiden sich die Künstler nur dadurch von den anderen Menschen, daß sie das Wesentliche gleich sehen und es mit Fülle darzustellen wissen, während die anderen dies wieder erkennen müssen und darüber erstaunen, und darum sind auch alle die keine Meister, zu deren Verständnis es einer besonderen Geschmacksrichtung oder einer künstlichen Schule bedarf.
Ich hatte es weder mit dem menschlichen Wort, noch mit der menschlichen Gestalt zu tun und fühlte mich nur glücklich und zufrieden, daß ich auf das bescheidenste Gebiet mit meinen Fuß setzen konnte, auf den irdischen Grund und Boden, auf dem sich der Mensch bewegt, und so in der poetischen Welt wenigstens einen Teppichbewahrer abgeben durfte. Goethe hatte ja viel und mit Liebe von landschaftlichen Sachen gesprochen, und durch diese Brücke glaubte ich ohne Unbescheidenheit mich ein wenig mit seiner Welt verbinden zu können.
Ich wollte sogleich anfangen, nun so recht mit Liebe und Aufmerksamkeit die Dinge zu behandeln und mich ganz an die Natur zu halten, nichts Überflüssiges oder Müßiges zu machen und mir bei jedem Striche ganz klar zu sein. Im Geiste sah ich schon einen reichen Schatz von Arbeiten vor mir, welche alle hübsch, wert- und gehaltvoll aussahen, angefüllt mit zarten und starken Strichen, von denen keiner ohne Bedeutung war. Ich setzte mich ins Freie, um das erste Blatt dieser vortrefflichen Sammlung zu beginnen; aber nun ergab es sich, daß ich eben da fortfahren mußte, wo ich zuletzt aufgehört hatte, und daß ich durchaus nicht imstande war, plötzlich etwas Neues zu schaffen, weil ich dazu erst etwas Neues hätte sehen müssen. Da mir aber nicht ein Blatt eines Meisters zu Gebote stand und die prächtigen Blätter meiner Phantasie sogleich in nichts sich auflösten, wenn ich den Stift auf das Papier setzte, so brachte ich ein trübseliges Gekritzel zustande, indem ich aus meiner alten Weise herauszukommen suchte, welche ich verachtete, während ich sie jetzt sogar nur verdarb. So quälte ich mich mehrere Tage herum, in Gedanken immer eine gute und sachgemäße Arbeit sehend, aber ratlos mit der Hand. Es wurde mir angst und bange, ich glaubte jetzt sogleich verzweifeln zu müssen, wenn es mir nicht gelänge, und seufzend bat ich Gott, mir aus der Klemme zu helfen. Ich betete noch mit den gleichen kindlichen Worten, wie schon vor zehn Jahren, immer das gleiche wiederholend, so daß es mir selbst auffiel, als ich halblaut vor mich hin flüsterte. Darüber nachsinnend, hielt ich mit der hastigen Arbeit inne und sah in Gedanken verloren auf das Papier.
Da überschattete sich plötzlich der weiße Bogen auf meinen Knien, der vorher von der Sonne beglänzt war; erschrocken schaute ich um und sah einen ansehnlichen, fremd gekleideten Mann hinter mir stehen, welcher den Schatten verursachte. Er war groß und schlank, hatte ein bedeutsames und ernstes Gesicht mit einer stark gebogenen Nase und einem sorgfältig gedrehten Schnurrbart und trug sehr feine Wäsche.
In hochdeutscher Sprache redete er mich an: »Darf man wohl ein wenig Ihre Arbeit besehen, junger Mann?« Halb erfreut und halb verlegen hielt ich meine Zeichnung hin, welche er einige Augenblicke aufmerksam besah; dann fragte er mich, ob ich noch mehr in meiner Mappe bei mir hätte und ob ich wirklicher Künstler werden wollte. Ich trug allerdings immer einen Vorrat des zuletzt Gemachten mit mir herum, wenn ich nach der Natur zeichnete, um jedenfalls etwas zu tragen, wenn ich einen unergiebigen Tag hatte; und während ich nun die Sachen nach und nach hervorzog, erzählte ich fleißig und zutraulich meine bisherigen Künstlerschicksale; denn ich merkte sogleich an der Art, wie der Fremde die Sachen ansah, daß er es verstand, wo nicht selbst ein Künstler war.
Dies bestätigte sich auch, als er mich auf meine Hauptfehler aufmerksam machte, die Studie, welche ich gerade vorhatte, mit der Natur verglich und mir an letzterer selbst das Wesentliche hervorhob und mich es sehen lehrte. Ich fühlte mich überglücklich und hielt mich ganz still, wie jemand, der sich vergnüglich eine Wohltat erzeigen läßt, als er einige Laubpartien auf meinem Papier mit ihrem Vorbilde zusammenhielt, Licht und Formen klar machte und auf dem Rande des Blattes mit wenigen mühlosen Meisterstrichen das herstellte, was ich vergeblich gesucht hatte.
Er blieb wohl eine halbe Stunde bei mir, dann sagte er: »Sie haben vorhin den wackern Habersaat genannt; wissen Sie, daß ich vor siebzehn Jahren auch ein dienstbarer Geist in seinem verwünschten Kloster war? Ich habe mich aber beizeiten aus dem Staube gemacht und bin seither immer in Italien und Frankreich gewesen. Ich bin Landschafter, heiße Römer, und gedenke mich eine Zeitlang in meiner Heimat aufzuhalten. Es soll mich freuen, wenn ich Ihnen etwas nachhelfen kann; ich habe manche Sachen bei mir, besuchen Sie mich einmal oder kommen Sie gleich mit mir nach Hause, wenn's Ihnen recht ist!«
Ich packte eilig zusammen und begleitete in feierlicher Stimmung den Mann, und mit nicht geringem Stolze. Ich hatte oft von ihm sprechen gehört; denn er war eine der großen Sagen des Refektoriums, und Meister Habersaat tat sich nicht wenig darauf zugut, wenn es hieß, sein ehemaliger Schüler Römer sei ein berühmter Aquarellist in Rom und verkaufe seine Arbeiten nur an Fürsten und Engländer. Auf dem Wege, solange wir noch im Freien waren, zeigte mir Römer allerlei gute Dinge in der Natur. Aufmerksam begeistert sah ich hin, wo er mit der Hand fein wegstreichend hindeutete; ich war erstaunt, zu entdecken, daß ich eigentlich, so gut ich erst kürzlich noch zu sehen geglaubt, noch gar nichts gesehen hatte, und ich staunte noch mehr, das Bedeutende und Lehrreiche nun meistens in Erscheinungen zu finden, die ich vorher entweder übersehen oder wenig beachtet. Jedoch freute ich mich, leidlich zu verstehen, was mein Begleiter jeweilig meinte, und mit ihm einen kräftigen und doch klaren Schatten, einen milden Ton oder eine zierliche Ausladung eines Baumes zu sehen, und nachdem ich erst einige Male mit ihm spaziert, hatte ich mich bald gewöhnt, die ganze landschaftliche Natur nicht mehr als etwas rund in sich Bestehendes, sondern nur als ein gemaltes Bilder- und Studienkabinett, als etwas bloß vom richtigen Standpunkte aus Sichtbares zu betrachten und in technischen Ausdrücken zu beurteilen.
Als wir in seiner Wohnung anlangten, welche aus ein paar eleganten Zimmern in einem schönen Hause bestand, setzte Römer sogleich seine Mappen auf einen Stuhl vor das Sofa, hieß mich auf dieses neben ihn sitzen und begann die Sammlung seiner größten und wertvollsten Studien eine um die andere umzuwenden und aufzustellen. Es waren alles umfangreiche Blätter aus Italien, auf starkes grobkörniges Papier mit Wasserfarben gemalt, doch auf eine mir ganz neue Weise und mit unbekannten kühnen und geistreichen Mitteln, so daß sie ebensoviel Schmelz und Duft als Klarheit und Kraft zeigten und vor allem auch in jedem Striche bewiesen, daß sie vor der lebendigen Natur gemacht waren. Ich wußte nicht, sollte ich über die glänzende und angenehm nahe tretende Meisterschaft der Behandlung oder über die Gegenstände mehr Freude empfinden, denn von den mächtigen dunklen Zypressengruppen der römischen Villen, von den schönen Sabinerbergen bis zu den Ruinen von Pästum und dem leuchtenden Golf von Neapel bis zu den Küsten von Sizilien mit den zauberhaften hingehauchten, gedichteten Linien tauchte Bild um Bild vor mir auf mit den köstlichen Merkzeichen des Tages, des Ortes und des Sonnenscheins, unter welchem sie entstanden. Schöne Klöster und Kastelle glänzten in diesem Sonnenschein an schönen Berghängen, Himmel und Meer ruhten in tiefer Bläue oder in heitrem Silberton, und in diesem badete sich die prächtige, edle Pflanzenwelt mit ihren klassisch einfachen und doch so vollen Formen. Dazwischen sangen und klangen die italischen Namen, wenn Römer die Gegenstände benannte und Bemerkungen über ihre Natur und Lage machte. Manchmal sah ich über die Blätter hinaus im Zimmer umher, wo ich hier eine rote Fischerkappe aus Neapel, dort ein römisches Taschenmesser, eine Korallenschnur oder einen silbernen Haarpfeil erblickte; dann sah ich meinen neuen Beschützer aufmerksam und von Grund aus wohlwollend an, seine weiße Weste, seine Manschetten; und erst, wenn er das Blatt umwandte, fuhr mein Blick wieder auf dasselbe, um es noch einmal zu überfliegen, ehe das nächste erschien.
Als wir mit dieser Mappe zu Ende waren, ließ mich Römer noch flüchtig in einige andere blicken, von denen die eine einen Reichtum farbiger Details, die andere eine Unzahl Bleistiftstudien, eine dritte lauter auf das Meer, Schiffahrt und Fischerei Bezügliches, eine vierte endlich verschiedene Phänomene und Farbenwunder, wie die Blaue Grotte, außergewöhnliche Wolkenerscheinungen, Vesuvausbrüche, glühende Lavabäche und so weiter enthielten. Dann zeigte er mir noch im andern Zimmer seine gegenwärtige Arbeit, ein größeres Bild auf einer Staffelei, welches den Garten der Villa d'Este vorstellte. Dunkle Riesenzypressen ragten aus flatternden Reben und Lorbeerbüschen, aus Marmorbrunnen und blumigen Geländern, an welchen eine einzige Figur, Ariost, lehnte, in schwarzem ritterlichen Kleide, den Degen an der Seite. Im Mittelgrunde zogen sich Häuser und Bäume von Tivoli hin, von Duft umhüllt, und darüber hinweg dehnte sich das weite Feld, vom Purpur des Abends übergossen, in welchem am äußersten Horizonte die Peterskuppel auftauchte.
»Genug für heute!« sagte Römer, »kommen Sie öfter zu mir, alle Tage, wenn Sie Lust haben, bringen Sie mir Ihre Sachen mit, vielleicht kann ich Ihnen dies und jenes zum Kopieren mitgeben, damit Sie eine leichtere und zweckmäßigere Technik erlangen!«
Mit der dankbarsten Verehrung verabschiedete ich mich und sprang mehr, als ich ging, nach Hause. Dort erzählte ich meiner Mutter das glückliche Abenteuer mit den beredtesten Worten und verfehlte nicht, den fremden Herrn und Künstler mit allem Glanz auszustatten, dessen ich habhaft war; ich freute mich, ihr endlich ein Beispiel rühmlichen Gelingens als einen Trost für meine eigene Zukunft vorführen zu können, besonders da ja Römer ebenfalls aus Herrn Habersaats kümmerlicher Pflanzschule hervorgegangen war. Allein die fünfzehn in der weiten Ferne zugebrachten Jahre, welche zu diesem Gelingen gebraucht worden, leuchteten meiner Mutter nicht sonderlich ein; auch hielt sie dafür, daß es noch gar nicht ausgemacht wäre, ob der Fremde sich wirklich wohl befinde, indem er als solcher so einsam und unbekannt in seiner Heimat angekommen sei. Ich hatte aber ein anderweitiges geheimes Zeichen von der Richtigkeit meiner Hoffnungen, nämlich das plötzliche Erscheinen Römers unmittelbar, nachdem ich gebetet hatte, da ich ungeachtet meines unkirchlichen Rebellentums noch immer ein richtiger Mystosoph war, sobald es sich um mein persönliches Wohl oder Weh handelte.
Hiervon sagte ich aber nichts zu meiner Mutter; denn erstens war zwischen uns nicht herkömmlich, daß man viel von solchen Dingen sprach; und dann baute die Mutter wohl fest auf die Hilfe Gottes, aber es würde ihr nicht gefallen haben, wenn ich mich eines so merkwürdigen und theatralischen Falles gerühmt hätte. Sie war froh, wenn Gott das Brot nicht ausgehen ließ und für schwere Leiden, für Fälle auf Leben und Tod seine Hilfe in Bereitschaft hielt, und sie hätte mich wahrscheinlich ziemlich ironisch zurechtgewiesen; desto mehr beschäftigte ich mich den Abend hindurch mit dem Vorfalle und muß gestehen, daß ich dabei doch eine zweifelhafte Empfindung hatte. Ich konnte die Vorstellung eines langen Drahtes nicht unterdrücken, an welchem der fremde Mann auf mein Gebet herbeigezogen sei, während, gegenüber diesem lächerlichen Bilde, mir ein Zufall noch weniger munden wollte, da ich mir sein Ausbleiben nun gar nicht mehr denken mochte. Seither habe ich mich gewöhnt, dergleichen Glücksfälle, so wie ihr Gegenteil, wenn ich nämlich ein unangenehmes Ereignis als die Strafe für einen unmittelbar vorhergegangenen, bewußten Fehler anzusehen noch immer wieder getrieben fühle, als vollendete Tatsachen einzutragen und Gott dafür dankbar zu sein, ohne mir des genaueren einzubilden, es sei unmittelbar und insbesondere für mich geschehen. Doch kann ich mich bei jeder Gelegenheit, wo ich mir nicht zu helfen weiß, nicht enthalten, von neuem durch Gebet solche Lösungen anzustreben und für die Zurechtweisungen des Schicksals einen Grund in meinen Fehlern zu suchen und Besserung zu geloben.
Ich wartete ungeduldig einen Tag und ging dann am darauffolgenden mit einer ganzen Last meiner bisherigen Arbeiten zu Römer. Er empfing mich freundlich zuvorkommend und besah die Sachen mit aufmerksamer Teilnahme. Dabei gab er mir fortwährend guten Rat, und als wir zu Ende waren, sagte er, ich müßte vor allem die ungeschickte alte Manier, das Material zu behandeln, aufgeben, denn damit ließe sich gar nichts mehr ausrichten. Nach der Natur sollte ich fleißig vor der Hand mit einem weichen Blei zeichnen und für das Haus anfangen, seine Weise einzuüben, wobei er mir gerne behilflich sein wolle. Auch suchte er mir aus seinen Mappen einige einfache Studien in Bleistift sowie in Farben, welche ich zur Probe kopieren sollte, und als ich hierauf mich empfehlen wollte, sagte er: »Oh! bleiben Sie noch ein Stündchen hier, Sie werden den Vormittag doch nichts mehr machen können; sehen Sie mir ein wenig zu und plaudern wir ein bißchen!« Mit Vergnügen tat ich dies, hörte auf seine Bemerkungen, die er über sein Verfahren machte, und sah zum erstenmal die einfache, freie und sichere Art, mit der ein Künstler arbeitet. Es ging mir ein neues Licht auf und es dünkte mich, wenn ich mich selbst auf meine bisherige Art arbeitend vorstellte, als ob ich bis heute nur Strümpfe gestrickt oder etwas Ähnliches getan hätte.
Rasch kopierte ich die Blätter, die Römer mir mitgab, mit aller Lust und allem Gelingen, welche ein erster Anlauf gibt, und als ich sie ihm brachte, sagte er: »Das geht ja vortrefflich, ganz gut!« An diesem Tage lud er mich ein, da das Wetter sehr schön war, einen Spaziergang mit ihm zu machen, und auf diesem verband er das, was ich in seinem Hause bereits eingesehen, mit der lebendigen Natur, und dazwischen sprach er vertraulich über andere Dinge, Menschen und Verhältnisse, welche vorkamen, bald scharf kritisch, bald scherzend, so daß ich mit einemmal einen zuverlässigen Lehrer und einen unterhaltenden und umgänglichen Freund besaß.
Bald fühlte ich das Bedürfnis, immer und ganz in seiner Nähe zu sein, und machte daher immer häufiger von meiner Freiheit, ihn zu besuchen, Gebrauch, als er eines Tages, nachdem er gründlich und schon etwas strenger eine Arbeit durchgesehen, zu mir sagte: »Es würde gut für Sie sein, noch eine Zeit ganz unter der Leitung eines Lehrers zu stehen; es würde mir auch zum Vergnügen und zur Erheiterung gereichen, Ihnen meine Dienste anzubieten; da aber meine Verhältnisse leider nicht derart sind, daß ich dies ganz ohne Entschädigung tun könnte, wenigstens wenn es nicht durchaus sein muß, so besprechen Sie sich mit Ihrer Frau Mutter, ob Sie monatlich etwas daran wenden wollen. Ich bleibe jedenfalls einige Zeit hier und in einem halben Jahre hoffe ich Sie so weit zu bringen, daß Sie später besser vorbereitet und selbst imstande, einigen Erwerb zu finden, Ihre Reisen antreten könnten. Sie würden jeden Morgen um acht Uhr kommen und den ganzen Tag bei mir arbeiten.«
Ich wünschte nichts Besseres zu tun und lief eiligst nach Hause, den Vorschlag meiner Mutter zu hinterbringen. Allein sie war nicht so eilig wie ich und ging, da es sich um Ausgabe einer erklecklichen Summe handelte und ich selbst einen Teil des an Habersaat Bezahlten für verlorenes Geld hielt, erst jenen vornehmen Herrn, bei dem sie schon früher einmal gewesen, um Rat zu fragen; denn sie dachte, derselbe werde jedenfalls wissen, ob Römer wirklich der geachtete und berühmte Künstler sei, für welchen ich ihn so eifrig ausgab. Doch man zuckte die Achseln, gab zwar zu, daß er als Künstler talentvoll und in der Ferne renommiert sei; über seinen Charakter jedoch hüllte man sich ins Unklare, wollte nicht viel Gutes wissen, ohne etwas Näheres angeben zu können, und meinte schließlich, wir sollten uns in acht nehmen. Jedenfalls sei die Forderung zu groß, unsere Stadt sei nicht Rom oder Paris, auch hielte man dafür, es wäre geratener, die Mittel für meine Reisen aufzusparen und diese desto früher anzutreten, wo ich dann selbst sehen und holen könne, was Römer besäße.
Das Wort Reisen war nun schon wiederholt vorgekommen und war hinreichend, meine Mutter zu bestimmen, jeden Pfennig zur Ausstattung aufzubewahren. Daher teilte sie mir die bedenklichen Äußerungen mit, ohne zu viel Gewicht auf die den Charakter betreffenden zu legen, welche ich auch mit Entrüstung zunichte machte; denn ich war schon dagegen gewaffnet, indem ich aus verschiedenen rätselhaften Äußerungen Römers entnommen, daß er mit der Welt nicht zum besten stehe und viel Unrecht erlitten habe. Ja, es hatte sich schon eine eigene Sprache über diesen Punkt zwischen uns ausgebildet, indem ich mit ehrerbietiger Teilnahme seine Klagen entgegennahm und so erwiderte, als ob ich selbst schon die bittersten Erfahrungen gemacht oder wenigstens zu fürchten hätte, welche ich aber festen Fußes erwarten und dann zugleich mich und ihn rächen wollte. Wenn Römer hierauf mich zurechtwies und erinnerte, daß ich die Menschen doch nicht besser kennen werde als er, so mußte ich dies annehmen und ließ mich mit wichtiger Miene belehren, wie es anzufangen wäre, sich gehörig zu stellen, ohne daß ich eigentlich wußte, worum es sich handelte und worin jene Erfahrungen denn bestanden.
Ich entschloß mich kurz und sagte zur Mutter, ich wolle das Gold, welches in meinem ehemals geplünderten Sparkästchen übriggeblieben, für die Sache opfern. Hiergegen hatte sie nichts einzuwenden; ich nahm also die Schaumünze und einige Dukaten, welche dabei waren, und trug alles zu einem Goldschmied, welcher mir den Wert in Silber dafür bezahlte, brachte das Geld zu Römer und sagte, das sei alles, was ich verwenden könnte, und ich wünschte wenigstens vier Monate seines Unterrichts dafür zu genießen. Zuvorkommend sagte er, das sei gar nicht so genau zu nehmen! Da ich tue, was ich könne, wie es einem Kunstjünger gezieme, so wolle er nicht zurückbleiben und ebenfalls tun, was er könne, solange er hier sei, und ich solle nur gleich morgen kommen und anfangen.
So richtete ich mich mit großer Befriedigung bei ihm ein. Den ersten und zweiten Tag ging es noch ziemlich gemütlich zu; allein schon am dritten begann Römer einen ganz anderen Ton zu singen, indem er urplötzlich höchst kritisch und streng wurde, meine Arbeit erbarmungslos heruntermachte und mir bewies, daß ich nicht nur noch nichts könne, sondern auch lässig und unachtsam sei. Das kam mir höchst wunderlich vor; ich nahm mich ein wenig zusammen, was aber nicht viel Dank einbrachte; im Gegenteil wurde Römer immer strenger und ironischer in seinem Tadel, den er nicht in die rücksichtsvollsten Ausdrücke faßte. Da nahm ich mich ernstlicher zusammen, der Tadel wurde ebenfalls ernstlich und fast rührend, bis ich endlich mich ganz zerknirscht und demütig daran machte, mir bei jedem Striche den Platz, wo er hin sollte, wohl besah, manchmal ihn zart und bedächtig hinsetzte, manchmal nach kurzem Erwägen plötzlich wie einen Würfel auf gut Glück hinwarf und endlich alles genau so zu machen suchte, wie Römer es verlangte. So erreichte ich endlich etwelches Fahrwasser, auf welchem ich ganz still dem Ziele einer leidlichen Arbeit zusteuerte. Der Fuchs merkte aber meine Absicht und erschwerte mir unversehens die Aufgaben, so daß die Not von neuem anging und die Kritik meines Meisters schöner blühte denn je. Wiederum steuerte ich endlich nach vieler Mühe einer angehenden Tadellosigkeit entgegen und wurde nochmals durch ein erschwertes Ziel zurückgeworfen, statt daß ich, wie ich gehofft, ein Weilchen auf den Lorbeeren einer erreichten Stufe ausruhen konnte. So erhielt mich Römer einige Monate in großer Unterwürfigkeit, wobei jedoch die mystischen Gespräche über die bitteren Erfahrungen und über dies und jenes fortdauerten, und wenn die Tagesarbeit geschlossen war oder auf unseren Spaziergängen blieb unser Verkehr der alte. Dadurch entstand eine seltsame Weise, indem Römer mitten in einer traulichen und tiefsinnigen Unterhaltung mich jählings andonnerte: »Was haben Sie da gemacht! Was soll denn das sein? O Herr Jesus! Haben Sie Ruß in den Augen?« so daß ich plötzlich still wurde und voll Ingrimm über ihn und mich selbst meine Arbeit mit verzweifelter Aufmerksamkeit wieder aufnahm.
So lernte ich endlich die wahre Arbeit und Mühe kennen, ohne daß sie mir lästig wurde, da sie in sich selbst den Lohn der immer neuen Erholung und Verjüngung trägt, und ich sah mich in den Stand gesetzt, eine große Studie Römers, welche schon mehr ein Bild zu nennen war, vornehmen zu dürfen und so zu kopieren, daß mein Lehrer erklärte, es sei nun genug in dieser Richtung, ich würde ihm sonst seine ganzen Mappen nachzeichnen; dieselben seien sein einziges Vermögen und er wünsche bei aller Freundschaft doch nicht, eine förmliche Dublette in anderen Händen zu wissen.
Durch diese Beschäftigung war ich wunderlicherweise im Süden weit mehr heimisch geworden als in meinem Vaterlande. Da die Sachen, nach welchen ich arbeitete, alle unter freiem Himmel und sehr trefflich gemacht waren, auch die Erzählungen und Bemerkungen Römers fortwährend meine Arbeit begleiteten, so verstand ich die südliche Sonne, jenen Himmel und das Meer beinahe, wie wenn ich sie gesehen hätte.
Einen besonderen Reiz gewährten mir die Trümmer griechischer Baukunst, welche sich da und dort fanden. Ich empfand wieder Poesie, wenn ich das sonnige Marmorgebälke eines dorischen Tempels vom blauen Himmel abheben mußte. Die horizontalen Linien an Architrav, Fries und Kranz sowie die Kannelierungen der Säulen mußten mit der zartesten Genauigkeit, mit wahrer Andacht, leis und doch sicher und elegant hingezogen werden; die Schlagschatten auf diesem goldenen edlen Gestein waren rein blau, und wenn ich den Blick fortwährend auf dies Blau gerichtet hatte, so glaubte ich zuletzt wirklich einen leibhaftigen Tempel zu sehen. Jede Lücke im Gebälke, durch welche der Himmel schaute, jede Scharte an den Kannelierungen war mir heilig, und ich hielt genau ihre kleinsten Formen fest.
Im Nachlasse meines Vaters fand sich ein Werk über Architektur, in welchem die Geschichte und Erklärung der alten Baustile nebst guten Abbildungen mit allem Detail enthalten waren. Dies zog ich nun hervor und studierte es begierig, um die Trümmer besser zu verstehen und ihren Wert ganz zu kennen. Auch erinnerte ich mich der Italienischen Reise von Goethe, welche ich gelesen; Römer erzählte mir viel von den Menschen und Sitten und der Vergangenheit Italiens. Er las fast keine Bücher, als die deutsche Übersetzung von Homer und einen italienischen Ariost. Den Homer forderte er mich auf zu lesen, und ich ließ mir dies nicht zweimal sagen. Im Anfange wollte es nicht recht gehen, ich fand wohl alles schön, aber das Einfache und Kolossale war mir noch zu ungewohnt, und ich vermochte nicht lange nacheinander auszuhalten. Aber Römer machte mich aufmerksam, wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das einzig Nötige und Angemessene anwende, wie jedes Gefäß und jede Kleidung, die er beschreibe, zugleich das Geschmackvollste sei, was man sich denken könne, und wie endlich jede Situation und jeder moralische Konflikt bei ihm bei aller fast kindlichen Einfachheit von der gewähltesten Poesie getränkt sei. »Da verlangt man heutzutage immer nach dem Ausgesuchten, Interessanten und Pikanten und weiß in seiner Stumpfheit gar nicht, daß es gar nichts Ausgesuchteres, Pikanteres und ewig Neues geben kann als so einen homerischen Einfall in seiner einfachen Klassizität! Ich wünsche Ihnen nicht, lieber Lee, daß Sie jemals die ausgesuchte pikante Wahrheit in der Lage des Odysseus, wo er nackt und mit Schlamm bedeckt vor Nausikaa und ihren Gespielen erscheint, so recht aus Erfahrung empfinden lernen! Wollen Sie wissen, wie dies zugeht? Halten wir das Beispiel einmal fest! Wenn Sie einst getrennt von Ihrer Heimat und allem, was Ihnen lieb ist, in der Fremde umherschweifen, und Sie haben viel gesehen und viel erfahren, haben Kummer und Sorge, sind wohl gar elend und verlassen: so wird es Ihnen des Nachts unfehlbar träumen, daß Sie sich Ihrer Heimat nähern; Sie sehen sie glänzen und leuchten in den schönsten Farben; holde, feine und liebe Gestalten treten Ihnen entgegen; da entdecken Sie plötzlich, daß Sie zerfetzt, nackt und staubbedeckt einhergehen; eine namenlose Scham und Angst faßt Sie, Sie suchen sich zu bedecken, zu verbergen und erwachen in Schweiß gebadet. Dies ist, solange es Menschen gibt, der Traum des kummervollen umhergeworfenen Mannes, und so hat Homer jene Lage aus dem tiefsten und ewigen Wesen der Menschheit herausgenommen!«
Inzwischen war es gut, daß das Interesse Römers, hinsichtlich des Kopierens seiner Sammlungen, sich mit dem meinigen vereinigte; denn als ich nun, gemäß seiner Aufforderung, mich wieder vor die Natur hinsetzte, erwies es sich, daß ich Gefahr lief, meine ganze Kopierfertigkeit und mein italienisches Wissen zu einer wunderlichen Fiktion werden zu sehen. Es kostete mich die größte Beharrlichkeit und Mühe, ein nur zum zehnten Teile so anständiges Blatt zuwege zu bringen, als meine Kopien waren; die ersten Versuche mißlangen fast gänzlich, und Römer sagte schadenfroh: »Ja, mein Lieber, das geht nicht so rasch! Ich habe es wohl gedacht, daß es so kommen würde; nun heißt es auf eigenen Füßen stehen oder vielmehr mit eigenen Augen sehen! Eine gute Studie leidlich kopieren, will nicht so viel heißen! Glauben Sie denn, man läßt sich ohne weiteres für andere die Sonne auf den Buckel zünden?« und so fort. Nun begann der ganze Krieg des Tadels gegen das Bemühen, demselben zuvorzukommen und ihm boshafte Streiche zu spielen, von neuem; Römer ging mit hinaus und malte selbst, so daß er mich immer unter seinen Augen hatte. Es war hier nicht geraten, die Torheiten und Flausen zu wiederholen, die ich unter Herrn Habersaat gespielt hatte, da Römer durch Steine und Bäume zu sehen schien und jedem Striche anmerkte, ob derselbe gewissenhaft sei oder nicht. Er sah es jedem Aste an, ob er zu dick oder zu dünn sei, und wenn ich meinte, der Ast könnte ja am Ende so gewachsen sein, so sagte er: »Lassen Sie das gut sein! Die Natur ist vernünftig und zuverlässig; übrigens kennen wir solche Finessen wohl! Sie sind nicht der erste Hexenmeister, welcher der Natur und seinem Lehrer ein X für ein U machen will!«
Weil ich die mir durch den Aufenthalt Römers zugemessene Zeit wohl benutzen mußte, so konnte ich nicht daran denken, das Dorf zu besuchen, obschon ich verschiedene Grüße und Zeichen von daher erhalten hatte. Um so fleißiger dachte ich an Anna, wenn ich arbeitete und die grünen Bäume leise um mich rauschten. Ich freute mich für sie meines Lernens, und daß ich in diesem Jahre so reich an Erfahrung geworden gegen das frühere Jahr; ich hoffte einigen wirklichen Wert dadurch erhalten zu haben, der in ihren Augen für mich spräche und in ihrem Hause die Hoffnung begründe, die ich selbst für mich zu hegen mir erlaubte.
Der Herbst war gekommen, und als ich eines Mittags zum Essen nach Hause ging und in unsere Stube trat, sah ich auf dem Ruhbettchen einen schwarzseidenen Mantel liegen. Freudig betroffen eilte ich auf denselben zu, hob das leichte angenehme Ding in die Höhe und untersuchte es von allen Seiten. Ich eilte damit in die Küche, wo ich die Mutter beschäftigt fand, ein besseres Essen als gewöhnlich zu bereiten. Sie verkündigte mir die Ankunft des Schulmeisters und seiner Tochter, fügte aber sogleich mit besorgtem Ernst bei, daß sie leider nicht zum Vergnügen gekommen wären, sondern um einen berühmten Arzt zu besuchen. Während die Mutter in die Stube ging und den Tisch deckte, deutete sie mir mit einigen Worten an, daß sich bei Anna seltsame und beängstigende Anzeichen eingestellt hätten, der Schulmeister sehr bekümmert sei und sie, die Mutter, selbst nicht minder; denn nach der ganzen Erscheinung des armen Mädchens könne es sich ereignen, daß das zarte Wesen nicht alt werde.
Ich saß auf dem Ruhbette, hielt den Mantel fest in meinen Händen und hörte ganz verwundert auf diese Worte, die mir so unerwartet und fremd klangen, daß sie mir mehr merkwürdig als erschreckend vorkamen. In diesem Augenblicke ging die Tür auf, und die ebenso geliebten als wahrhaft geehrten Gäste traten herein. Überrascht stand ich auf und ging ihnen entgegen, und erst als ich Anna die Hand geben wollte, sah ich, daß ich immer noch ihren Mantel hielt. Sie errötete und lächelte zugleich, während ich verlegen dastand; der Schulmeister warf mir vor, daß ich mich den ganzen Sommer über nie sehen lassen, und so vergaß ich über diesen Begrüßungen die Mitteilung der Mutter, an welche mich auch nichts Auffallendes erinnerte. Erst als wir am Tische saßen, wurde ich durch eine gewisse vermehrte Liebe und Aufmerksamkeit, mit welcher meine Mutter Anna behandelte, gemahnt und glaubte jetzt nur zu sehen, daß sie gegen früher fast größer, aber auch zugleich zarter und schmächtiger erschien; ihre Gesichtsfarbe war wie durchsichtig geworden, und um ihre Augen, welche erhöht glänzten, bald in dem kindlichen Feuer früherer Tage, bald in einem träumerischen tiefen Nachdenken, lag etwas Leidendes. Sie war heiter und sprach ziemlich viel, während ich schwieg, hörte und sie ansah; auch der Schulmeister war heiter und ganz wie sonst; denn bei den Schicksalen und Leiden, welche uns Angehörige betreffen, benehmen wir uns nicht lamentabel, sondern fast vorn ersten Augenblicke an mit der gleichen Gefaßtheit, mit dem gleichen Wechsel von Hoffnung, Furcht und Selbsttäuschung wie die Betroffenen selbst. Doch ermahnte er jetzt seine Tochter, nicht zu viel zu sprechen, und mich fragte er, ob ich die Ursache der kleinen Reise schon kenne, und setzte hinzu: »Ja, lieber Heinrich! meine Anna scheint krank werden zu wollen! Doch laßt uns den Mut nicht verlieren! Der Arzt hat ja gesagt, daß vorderhand nicht viel zu sagen und zu tun wäre. Er hat uns einige Verhaltungsregeln gegeben und anbefohlen, ruhig zurückzukehren und dort zu leben, anstatt hieher zu ziehen, da die dortige Luft angemessener sei. Für unsern Doktor will er uns einen Brief mitgeben und von Zeit zu Zeit selbst hinauskommen und nachsehen.«
Ich wußte hierauf rein nichts zu erwidern, noch meine Teilnahme zu bezeugen; vielmehr wurde ich ganz rot und schämte mich nur, nicht auch krank zu sein. Anna hingegen sah mich bei den Worten ihres Vaters lächelnd an, als ob sie Mitleid mit mir hätte, so peinliche Dinge hören zu müssen.
Nach dem Essen verlangte der Schulmeister, von meinen Beschäftigungen zu wissen und etwas zu sehen; ich brachte eine wohlgefüllte Mappe herbei und erzählte von meinem Meister; doch verweilte er nicht lange dabei, sondern machte sich bereit, einige Gänge zu tun und Einkäufe zu besorgen. Meine Mutter begleitete ihn, und ich blieb allein mit Anna zurück. Sie fuhr fort, meine Sachen aufmerksam zu beschauen; auf dem Ruhbett sitzend, ließ sie sich alles von mir vorlegen und erklären. Während sie auf meine Landschaften sah, blickte ich auf sie nieder, manchmal mußte ich mich beugen, manchmal hielten wir ein Blatt zusammen in den Händen lange Zeit, doch ereignete sich sonst gar nichts Zärtliches zwischen uns; denn während sie für mich nun wieder ein anderes Wesen war und ich mich scheute, sie nur von ferne zu verletzen, häufte sie alle Äußerungen der Freude und der Aufmerksamkeit allein auf meine Arbeiten und wollte sich nicht von denselben trennen, während sie mich selbst nur wenig ansah.
Plötzlich sagte sie: »Unsere Tante im Pfarrhaus läßt dir sagen, du solltest mit uns sogleich hinausfahren, sonst sei sie böse! Willst du?« Ich erwiderte: »Ja, jetzt kann ich schon!« und setzte hinzu: »Was fehlt dir denn eigentlich?« »Ach, ich weiß es selbst nicht, ich bin immer müde und leide manchmal ein wenig; die anderen machen mehr daraus, als ich selbst!«
Meine Mutter und der Schulmeister kamen zurück; neben den fremdartigen, pharmazeutischen Paketen, die er mit einem verstohlenen Seufzer auf den Tisch legte, brachte er einige Geschenke für Anna mit, gute Kleiderstoffe, einen großen warmen Schal und eine goldene Uhr, als ob er mit diesen kostbaren und auf die Dauer berechneten Sachen eine günstige Wendung des Geschickes erzwingen wollte. Als Anna darüber erschrak, sagte er, sie habe die Dinge schon lange verdient und das bißchen Geld hätte gar keinen Wert für ihn, wenn er nicht ihr eine kleine Freude dadurch verschaffen könnte.
Er zeigte sich zufrieden, daß ich mitfahre; meine Mutter sah es auch gern und legte mir einige Sachen zurecht, indessen ich das Gefährt aus dem Gasthause holte, wo es eingestellt war. Anna sah allerliebst aus, als sie wohlvermummt und verschleiert dem Schulmeister zur Seite saß. Ich nahm den Vordersitz und hatte das Leitseil des gutgenährten Pferdes ergriffen, das schon ungeduldig scharrte; die Mutter machte sich noch lange am Wagen zu schaffen und wiederholte dem Schulmeister ihre Anerbietungen zu jeglicher Hilfe, und wenn es notwendig würde, hinzukommen und Anna zu pflegen; die Nachbaren steckten die Köpfe aus den Fenstern und vermehrten mein Selbstbewußtsein, als ich endlich mit meiner liebenswürdigen und anmutigen Gesellschaft die enge Straße entlang fuhr.