Der gute Bruder Ulrich - Marlen Haushofer - E-Book

Der gute Bruder Ulrich E-Book

Marlen Haushofer

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Beschreibung

Zwei Jahre nach Marlen Haushofers Tod erschienen die drei Märchen Das Waldmädchen, Das Nixenkind und Der gute Bruder Ulrich in einer kleinen Reihe für Kinderliteratur, wurden kaum wahrgenommen und bald vergessen. Von Haushofers Wiederentdeckung in den 1980er-Jahren blieben die Märchen unberührt – und können hier erstmals zugänglich gemacht werden. Vom Duktus her an die Grimm'schen Märchen angelehnt, reizt Haushofer das Genre aus: In den Märchen um das Waldmädchen, das Königin wird, ein lange kinderloses Müllerpaar, das ein Nixenkind aufzieht, und ein ungleiches Paar von Ziehbrüdern gibt es keine Schätze, keine Rätsel, keine Drachen und Ritter. Das Wunderbare wird den Menschen als Geschenk zuteil, Hoffnung und Versprechen sind ein reines Produkt der menschlichen Einbildungskraft. Markus Bundi hat schon in seinem Haushofer-Essay Begründung eines Sprachraums (Limbus 2019) auf die Märchen Bezug genommen; hier fungiert er als Herausgeber und fügt dieses vergessene Triptychon in Haushofers Werk, aber auch in die Märchengattung ein.

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Marlen Haushofer

Der gute Bruder Ulrich

Märchen-Trilogie

Mit einem Nachwort

Das Waldmädchen

Das Waldmädchen hatte braune Locken und grüne Augen und war so rank gewachsen wie eine junge Birke. Es wohnte allein in einem kleinen Häuschen mitten im Wald und hatte weder Vater noch Mutter.

Einen einzigen Verwandten besaß es, und das war der Räuber Schlagetot. Der kam jeden Winter in das kleine Häuschen und blieb dort, bis es Frühling wurde.

Und das Mädchen freute sich das ganze Jahr hindurch auf diesen Besuch, denn der alte Schlagetot war der einzige Mensch, den es kannte.

Wenn er dann vor dem flackernden Feuer saß und behaglich seine langen Beine ausstreckte, bat ihn das Mädchen oft, von seinen Abenteuern zu erzählen, und er ließ sich nicht zweimal bitten. Wer wollte es ihm übelnehmen, wenn er dabei ein bißchen log und seine großen und kleinen Räuberstückchen so lange ausschmückte, bis sie dem staunenden Kinde wie Heldentaten erschienen. Dann klatschte es fröhlich in die Hände, und der Räuber schmunzelte behaglich und tat einen tiefen Schluck aus dem Metkrug.

Einmal bat das Mädchen: „Erzähl mir von den Menschen, lieber Schlagetot, ich möchte sie so gerne kennenlernen!“

„Sie sind nicht der Rede wert“, brummte der Alte, „aber ich werde dir einen Wolf fangen, der soll dir die Zeit vertreiben.“

So lebten sie glücklich den ganzen Winter zusammen. Wenn aber der Schnee taute und es vom Dach zu tropfen begann und die Luft lau von den Bergen strich, wurde der Räuber unruhig.

Witternd hob er die Nase und sagte: „Es riecht nach Rauch und Hunden, ich muß mich auf die Beine machen.“

Und er schliff sein breites Messer, bis es in der Sonne funkelte, und steckte es in den Gürtel.

Das Mädchen aber zupfte traurig Moos und Heu aus seines Freundes Bart und seufzte, denn nun lag wieder ein langer einsamer Sommer vor ihm.

Aber der alte Schlagetot hielt Wort und brachte den versprochenen Wolf. Der kam auf leisen Sohlen gegangen, legte seine Nase auf die Knie des Waldmädchens und knurrte dreimal, und das sollte heißen:

„Ich bin der Grauwolf und habe die spitzesten Zähne im ganzen Wald. Wer dich anfaßt, den reiße ich in Stücke!“

Dabei riß er wild den Rachen auf, so daß man seine lange, feuerrote Zunge sehen konnte.

Da strich ihm das Mädchen beruhigend über das Nackenhaar und freute sich über das Geschenk des Räubers.

Aber das war nicht der einzige Freund, den es hatte.

Der Igel, der mit Frau und Kindern im Blätterhaus wohnte, kam jeden Morgen und schaute mit seinen listigen schwarzen Augen in die Hütte, und wenn ihm das Mädchen zunickte, trollte er sich zufrieden weiter. Manchmal schnürte auch der Fuchs vorüber und warf einen Blick durch die offene Tür.

Und Tag und Nacht murmelte die Quelle unter den Haselstauden, und die hochstämmigen Fichten sandten ihren harzigen Duft durch das kleine Fensterchen.

So schön war es im Wald.

Einmal im Herbst flog eine gefleckte Wildtaube auf das Fensterbrett. Sie hatte einen Flügel verletzt, und das Waldmädchen pflegte sie gesund. Da blieb die dankbare Taube in der Hütte. Sie hatte weiche, glänzende Federn und rote Füße. Oft steckte sie zärtlich den Schnabel in die braunen Locken ihrer Herrin und gurrte: Gurruu … Gurruu – Gurruu.

So hätte das Mädchen noch lange in der Einsamkeit leben können, wenn es nicht dem jungen König eingefallen wäre, gerade in jenem Wald zu jagen.

Er war bei der Verfolgung eines Bären vom rechten Pfad abgewichen und hatte seine Begleiter verloren. Plötzlich stand er vor einem Mädchen, das vor einer Quelle kniete und das kristallklare Wasser über die braunen Hände rieseln ließ.

Als die Kniende den Fremden sah, erschrak sie sehr. Noch nie hatte sie solch silberhelles Haar und ein so lichtes Antlitz gesehen, und sie glaubte, einen jener Elfen vor sich zu haben, von denen der alte Schlagetot oft erzählt hatte.

Der König stand wie verzaubert.

„Wie schön sie ist“, murmelte er und trat einen Schritt näher.

Da sank das Mädchen zu Boden, denn es hatte noch nie Edelsteine gesehen und fürchtete sich vor dem hellen Gefunkel.

Der König jedoch hob die Zitternde auf, setzte sie auf sein Roß und führte sie aus dem Wald. Dort warteten seine Ritter und Knappen, und der König befahl ihnen, sich vor der schönen Fremden zu verneigen.

Da neigten alle die Stirne bis zur Erde, und das Waldmädchen war verwundert und wußte nicht, wie ihm geschah.

Sobald sie das Schloß erreicht hatten, befahl der König, zur Hochzeit zu rüsten.

Wie liefen da die Diener und Köche!

Bald zog süßer Kuchenduft durch alle Säle und Gänge, so daß den kleinen Pagen das Wasser im Mund zusammenlief.

Das Waldmädchen aber saß in seinem hohen Gemach vor dem Himmelbett und wagte nicht, die Wange auf das seidene Kissen zu legen. Es hatte die Hände im Schoß gefaltet und staunte über all die Pracht.

Und als sich der König herabneigte und es auf den Mund küßte, erschrak es von neuem, denn es hatte noch nie einen Kuß bekommen. Bald aber merkte es, daß ihm der König nichts zuleide tun wollte, und strich ihm zögernd mit den Fingerspitzen über die Wangen und wollte noch immer nicht glauben, daß er kein Elf war.

Da lachte der König, streichelte die braunen Locken des Mädchens und ließ es allein.