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»Toxische Männlichkeit« Die Lehrerin Franziska Steinbrenner hat endlich den Sorgerechtsstreit um ihre Tochter gewonnen. Sie unterrichtet in einer sogenannten »Problemschule« und verzweifelt am Bildungssystem. Der Polizist Philip Hoffmann befindet sich in einem Liebesdilemma. Obwohl seine Frau von ihm schwanger ist, hat er mit einer mysteriösen Fremden eine Affäre begonnen. Diese droht jetzt, »die Bombe platzen zu lassen.« Währenddessen sitzt ein Mann in einer Wohnung und denkt über sein gescheitertes Leben nach. Neben ihm lehnt ein Sturmgewehr StG 77 mit 42 Kugeln im Magazin. Weder die Lehrerin noch der Polizist oder der Mann sind sich jemals zuvor begegnet, aber an diesem einen Tag spitzen sich die Ereignisse auf fatale Weise zu. Kurt Palm ist ein Meister der Spannung, wie ein Thriller liest sich dieser Roman, der im Galopp auf die Katastrophe zusteuert. Ein Buch, das tief in die Abgründe seiner Figuren blicken lässt und die Auswüchse toxischer Männlichkeit haarsträubend vor Augen führt.
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Seitenzahl: 286
Kurt Palm
ROMAN
All the beautiful things of this world are lies.They count for nothing in the end.
Patrick McCabe: The Butcher Boy
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Die Liebe zur Wurstverkäuferin war nicht schön. Und es war auch gar keine richtige Liebe. Einmal haben wir uns getroffen. Bei mir. Dann habe ich sie nie wiedergesehen. Auch nicht im Supermarkt. Bianka hat sie geheißen. Man hat sie wahrscheinlich versetzt. Oder sie hat sich versetzen lassen. Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Dabei ist zwischen uns gar nichts passiert. Leider. Ich hatte bereits alles vorbereitet: eine Kerze, gelbe Gummihandschuhe, zwei Dildos und eine CD mit dem »Cocksucker Blues« von den Rolling Stones. Dass die Sache schiefgelaufen ist, war nicht meine Schuld. Ich war mir sicher, dass sie mit mir –. Warum nicht? Sie war ja auch eher dick. Wie ich. Allerdings war ich damals noch nicht so dick wie heute. Trotzdem wollte sie nicht. Weil sie viel zu verklemmt war.
Ich habe sie gefragt, ob sie sich einen Pornofilm ansehen möchte. Als Vorspiel sozusagen. Ich hatte sogar schon einen ausgewählt. Einen über fickende Mormonen. Wahrscheinlich hat sie gar nicht gewusst, wer oder was fickende Mormonen überhaupt sind. Vielleicht hat sie gedacht, dass es sich dabei um Murmeltiere handelt. Oder um Kormorane. Keine Ahnung. Als ich ihr das mit dem Pornofilm vorgeschlagen habe, ist sie aufgestanden und gegangen. Oder sagen wir so: Sie wollte gehen. Aber das wollte ich nicht. Also habe ich sie an den Oberarmen gepackt und festgehalten. Sie hat zu schreien begonnen, da habe ich dann ein bisschen fester zugedrückt. Ich wollte ja nicht, dass irgendjemand im Haus etwas hört. Okay, einen leichten Stoß habe ich ihr auch versetzt. Aber passiert ist ihr nichts, außer –. Die Ohrfeige hat sie jedenfalls zur Besinnung gebracht.
Jetzt fangen die Schüler im Pausenhof wieder an herumzuschreien. Grauenhaft. Nur wenn es kalt ist oder regnet, habe ich Ruhe. Aber heute ist es heiß, sehr heiß sogar. Durch den Feldstecher sehe ich genau, wer gerade mit wem streitet. Von meiner Wohnung im dritten Stock habe ich freie Sicht auf den Schulhof. Ein paar Mal bin ich hinübergegangen und habe mich beim Direktor beschwert. Aber es hat nichts genützt. »Da kann man nichts machen«, hat er gesagt und dabei die Bleistifte auf seinem Schreibtisch der Größe nach geordnet. In Wirklichkeit hat ihn das gar nicht interessiert. Beim Verlassen des Direktionszimmers haben mich die Schüler am Gang ausgelacht. »Fettsack« hat mir einer nachgeschrien. Und »fette Sau« ein anderer. Das waren Jugos oder Türken, deren Väter wahrscheinlich alle schwarz am Bau arbeiten und deren Mütter als Putzfrauen zusätzlich Geld verdienen müssen, damit sie sich ihre Häuser in Serbien oder Anatolien leisten können. Die aber nie fertig werden, weil sie ja keine Zeit zum Bauen haben. Oder weil ihnen ständig die Kohle ausgeht. Dann wohnen sie zu zehnt in zwei Zimmern und bringen sich gegenseitig um.
Es hätte ein schöner Abend werden können. Und was macht Bianka? Sie schaut mich entsetzt an. Was hat sie sich erwartet? Dass wir vor dem Ficken gemeinsam beten? Wie die polnischen Nutten. Dabei hatte ich die Kerze neben dem Bett schon angezündet. Und die CD war auch schon vorbereitet. »Oh where can I get my cock sucked?« Bianka hatte rote Lippen, was sicher kein Zufall war. »Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da.« Warum malt sich eine Frau die Lippen rot an, wenn sie nichts von einem Mann will? Mir kann da keiner etwas erzählen. Stiefel hatte sie auch an. Es war zwar Winter, trotzdem hätte sie ihre Stiefel ausziehen können. Aber sie wollte nicht. Um jederzeit flüchten zu können? Das mit den Stiefeln habe ich erst gemerkt, als sie auf dem Sofa saß. Zuvor habe ich sie ja immer nur hinter der Theke gesehen. In ihrer hässlichen Supermarkt-Uniform. Sie hat so komisch geschaut und mich gefragt, weshalb in meiner Wohnung so viele Kisten herumstehen. Und warum meine Fenster mit Zeitungspapier zugeklebt sind. Ich habe mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass ich in den Kisten alles aufbewahre, was mir wichtig ist. Zum Beispiel mein Sturmgewehr 77. Volles Magazin, 42 Schuss, Halbautomatik, vier Kilo, sehr handlich. Aber das habe ich Bianka natürlich nicht gesagt. Stattdessen habe ich ihr erzählt, dass ich meine Gitarre darin aufbewahre und dass ich früher in einer Band gespielt habe. Ist schon lange her. Wir haben harte Sachen gespielt, keine Schmachtfetzen wie »Melancholie – oh oh oh oh – im September, das ist alles, was mir blieb von dir«. Am Land sind wir besonders gut angekommen. Da mussten wir ab und zu auch solche Schlager spielen, weil die Weiber so darauf abgefahren sind. Tiefe Geschichten waren das. Am wildesten ist es bei den Hochzeiten zugegangen, da wurde gesoffen, bis sich keiner mehr ausgekannt hat. Oft hat die Braut nicht mehr gewusst, mit wem sie gerade bumst. »Ganz in weiß mit einem Blumenstrauß.« Und am nächsten Tag war alles aus. Natürlich gab es auch viele Schlägereien. Wie ich das alles ausgehalten habe, weiß ich nicht. Damals war ich noch fit, heute bin ich ein Wrack. Aber das spielt jetzt alles keine Rolle mehr.
Moment, was raschelt da? Da raschelt doch etwas hinter einer der Kisten. Um Gottes willen, wenn das Mäuse sind, drehe ich durch. Obwohl es mir eigentlich egal sein könnte. Voriges Jahr habe ich einmal Mäuse gehabt. Ich habe sofort bei der Hausverwaltung angerufen und mich darüber beschwert, dass es im Haus Mäuse gibt. Die Frau am Telefon hat gesagt, dass es noch nie Beschwerden wegen Mäusen gab, und dass sie jemanden vorbeischicken werde. Ich habe das natürlich abgelehnt. In meine Wohnung lasse ich niemanden. Außer Frauen wie Bianka. Ich habe mir dann ein paar Mausefallen gekauft und zuerst nur Wollmäuse gefangen. Riesige Wollmäuse. Im Laufe einer Woche habe ich dann tatsächlich sechs echte Mäuse gefangen. Dann war Schluss. Wie die in meine Wohnung gekommen sind, ist mir ein Rätsel.
Bianka. Komisch, dass ich ausgerechnet heute an sie denken muss. Eigentlich habe ich sie gemocht, aber sie hat das nicht verstanden. Auch das mit den zwei Dildos nicht. Ist doch ganz einfach: Double penetration, mit Handschellen. Natürlich tut das am Anfang weh. Mir hat auch vieles wehgetan in meinem Leben, aber gejammert habe ich nie. Hätte mir ohnehin nichts genützt. Wen hätte das interessieren sollen? Meine Mutter? Dass ich nicht lache. Dildo oder Schwanz, ist doch alles egal. Aber eigentlich graust mir vor Sex. Ich darf mir andere Leute beim Sex gar nicht vorstellen, ohne dass mir sofort schlecht wird. Mit Bianka wäre es vielleicht etwas anderes gewesen. Aber sie hätte sich halt nicht so anstellen sollen.
Mit den Kakerlaken war es dasselbe wie mit den Mäusen. Plötzlich waren sie da. Und sie waren riesig. Zuerst habe ich gar nicht gewusst, was das für Tiere sind, weil sie ziemlich schnell waren. Dann habe ich gemerkt, dass sie gerne Bier mögen. Also habe ich Bier in eine Untertasse geleert und gewartet, bis sie der Reihe nach aus ihren Verstecken gekrochen kamen. So wie die Tiere bei den Wasserstellen im Dschungel oder in der Wüste, was weiß ich. Sobald sie mit dem Trinken angefangen haben, habe ich mit dem Schuh auf sie eingeschlagen. Weil Kakerlaken einen sehr dicken Panzer haben, hat es immer ordentlich geknackt, wie wenn man jemandem einen Knochen bricht. Das Geräusch kannte ich von früher. Es war eine ziemliche Sauerei, weil einige von ihnen voll mit Eiern waren. Kakerlaken fressen sogar die Überreste ihrer toten Artgenossen. Kein schöner Anblick, auch wenn Kannibalismus im Tierreich weit verbreitet sein soll. Angeblich gibt es sogar Riesenechsen, die es mit toten Weibchen treiben. Das muss man sich einmal vorstellen. Obwohl –.
Kakerlaken sind auch in der Nacht unglaublich aktiv. Schlimm war, dass sie oft im Schlaf an meinen Mundwinkeln gesaugt haben. Und zwar dort, wo sich Bierreste angesammelt hatten. Einmal habe ich in meinem Schreck tatsächlich eine verschluckt, die ist mir im Hals steckengeblieben. Ich habe gedacht, ich sterbe. Wenn sich Kakerlaken einmal in einer Wohnung eingenistet haben, ist es schwer, sie wieder loszuwerden. Die legen nämlich Tausende Eier. Ich habe das gesehen, weil sie unter einem Haufen gebrauchter Papiertaschentücher neben meinem Bett Eier abgelegt haben. Hunderte winzige Kakerlaken sind dort herumgekrochen. Es hat ausgesehen wie in einem Horrorfilm.
Warum müssen die Schüler im Pausenhof ständig so schreien? Können die sich nicht im Turnunterricht abreagieren? Wie ich in die Hauptschule gegangen bin, bin ich am liebsten an dieser Stange hinaufgeklettert und dann langsam heruntergerutscht. Dabei habe ich meinen Pimmel ganz fest gegen die Stange gedrückt, und wenn ich unten angekommen bin, hat es gekitzelt. Der Lehrer hat sich schon gewundert, warum ich dauernd die Stange rauf und runter bin. Bei einem Ausflug aufs Land habe ich einmal gesehen, wie junge Burschen von einem Maibaum heruntergerutscht sind. Die hatten aber Lederhosen an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dabei etwas gespürt haben.
Ein Fensterflügel Richtung Pausenhof ist nicht mit Zeitungspapier zugeklebt. Ich muss ja den Überblick bewahren. Mein Feldstecher liegt immer bereit. Wenn die jungen Mädchen wüssten, wie nahe ich ihnen komme. 8 x 25, den habe ich von meiner Zeit beim Bundesheer, ist zwar schon alt, aber immer noch scharf. Schade, dass nur ein paar Schülerinnen enge Hosen oder kurze Röcke tragen, die meisten sind ja Musliminnen. Aber ich kann mir genau vorstellen, was sie treiben, wenn sie ihre Kopftücher abnehmen und sich ihre langen Kleider vom Leib reißen. Wie alt sind die? Dreizehn oder vierzehn, da werden sie schon herumficken wie die Kaninchen. Die brauchen mir nichts zu erzählen, ich kenne ja die Pornos mit den jungen Araberinnen. Da gibt es keine Tabus. Bei den Türkinnen ist es dasselbe. Ich hasse sie alle.
Da, jetzt raschelt es wieder. Das darf doch nicht wahr sein. Ich muss ruhig bleiben, sonst bekomme ich noch einen Herzinfarkt. Oder haben sich womöglich Mäuse im Hohlraum unter den Holzdielen eingenistet? Wenn ich im Fußboden tatsächlich Mäuse hätte, müsste ich die Dielen herausreißen und Nachschau halten. Es hätte zwar keinen Sinn mehr, aber ich würde es trotzdem tun. Zuerst würde ich mich auf den Boden legen und horchen. Als ich das letzte Mal bei der Ohrenärztin war, hat sie gemeint, dass da ein ganz komischer Dreck drinnen ist. Dann hat es zu allem Überfluss auch noch zu rauschen begonnen. Das war der absolute Wahnsinn. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, ob das Geräusch von außen oder von innen kommt, oder ob ich meine eigene Blutzirkulation höre. Ich war kurz davor durchzudrehen. Zum Glück hat mich die Ärztin auch ohne E-Card behandelt. Ich besitze ja keine E-Card, weil diese Idioten von der Versicherung gemeint haben, dass ich gar keinen richtigen Beruf ausübe. Dabei bin ich nachweislich in der Public-Relations-Branche tätig gewesen. Ich habe ihnen sogar meine Bestätigung von diesem Kommunikations-Abendkurs gezeigt, zu dem mich das Arbeitsamt gezwungen hat. Ja, gezwungen, freiwillig hätte ich mir diesen Blödsinn sicher nicht angehört: »Maximieren Sie Ihr individuelles rhetorisches Profil, das sich von anderen abhebt. Die Stimme ist ein Schlüsselreiz in der Kommunikation, sie signalisiert Ihrem Gegenüber, ob Sie meinen, was Sie sagen.« Schlüsselreiz? Ich kenne nur einen Hustenreiz oder einen Juckreiz. Aber der Trampel bei der Sozialversicherung hat unablässig den Kopf geschüttelt und gesagt, dass der Besuch eines Kommunikations-Abendkurses kein Nachweis für die Ausübung eines Berufs sei. Dabei hat mich das Arbeitsamt dazu gezwungen, verdammt noch einmal.
Wie gut, dass ich damals vom Bundesheer das StG 77 mitgenommen habe, samt Munition. Ein paar Mal war ich kurz davor. Bianka hätte ich aber nicht erschossen. Bei der hat es genügt, dass ich ihr eine geknallt habe. Es war keine feste Ohrfeige. Glaube ich zumindest. Obwohl sie ziemlich –. Aber warum musste sie auch so ein Theater machen?
Vor vielen Jahren habe ich einmal ein Gedicht für eine Supermarkt-Kassiererin geschrieben. Die hat das auch nicht verstanden. Das Gedicht hieß »Ode an das Kassenfräulein« und ging so:
Schön sind deine langen Finger
mit den aufgeklebten Nägeln.
Schön ist dein lachendes Gesicht,
auch wenn es ein paar Pickel hat.
Schön ist es,
wenn du gedankenverloren Zahlen eintippst.
Deine Augen schweifen ab von den Waren
auf dem Förderband,
wenn ich plötzlich vor dir stehe.
Dann tippst du weiter und tust so,
als wäre ich gar nicht da.
Obwohl ich ja vor dir stehe.
Komm doch, vergiss die Preise, denke ich mir,
Zieh deinen weißen Kittel aus, und
geh mit mir nach Hause.
Ich habe ihr den Zettel zugesteckt und war mir sicher, dass ihr das Gedicht gefallen würde. Aber stattdessen ist beim nächsten Einkauf der Geschäftsführer zu mir gekommen und hat gemeint, dass es besser wäre, wenn ich diese Filiale nicht mehr betreten würde. Die Kassiererin hat genau gesehen, was passiert ist, hat aber weggeschaut. Feige Sau. Dabei war das Gedicht gar nicht von mir. Ich habe es aus einer Zeitschrift abgeschrieben. Einmal habe ich nach Geschäftsschluss auf sie gewartet, weil ich sehen wollte, wo sie wohnt. Ich bin ihr gefolgt, und irgendwann ist sie in einem heruntergekommenen Gemeindebau verschwunden. Sie wäre also ohnehin nichts für mich gewesen. Ein paar Mal bin ich noch hingefahren, weil ich schauen wollte, ob sie einen Mann hat. Einmal hat sie tatsächlich einen Typen mit in ihre Wohnung genommen, da bin ich natürlich wütend geworden und –.
Vor Kurzem ist in der Nähe ein Sozialmarkt eröffnet worden, aber um dort einkaufen zu dürfen, hätte ich einen Nachweis vom Sozialamt gebraucht, was unter meiner Würde ist. Außerdem wollte ich mit diesen Asozialen und Asylanten nichts zu tun haben. Da bin ich lieber in den Supermarkt gegangen. Also nicht in den, in dem Bianka gearbeitet hat. Bianka, Bianka. Ewig schade um die roten Lippen. Aber eigentlich ist das alles gar nicht mehr wichtig. Ein gutes Gefühl, wenn man weiß, dass nichts mehr von Bedeutung ist. Mir ist sogar egal, ob die Wohnung über mir wieder vermietet wird. Obwohl gar nicht klar ist, ob diese Japanerin tatsächlich ausgezogen ist, oder ob sie nur eine Reise gemacht hat. Eine lange Reise. »Es geht eine Träne auf Reisen.«
Jedenfalls war das die Hölle. Da gibt es weltweit mindestens eine Milliarde Wohnungen, und dann muss diese Yumiko Kobayashi ausgerechnet in die Wohnung über mir einziehen. Einen Lotto-Sechser habe ich nie gemacht, dafür ist eine geigenspielende Japanerin über mir eingezogen. So viel Pech musst du erst einmal haben.
Am Anfang habe ich mir noch nichts dabei gedacht, obwohl mir gleich beim ersten Geigenton Übles schwante. Viele Japanerinnen fahren ja nach Wien, um hier ein Instrument zu lernen. Weiß der Teufel, warum. Japan hat 126 Millionen Einwohner, aber anscheinend keine Geigenlehrer. Diese Yumiko Kobayashi hat also jeden Tag Geige gespielt. Nein, falsch. Sie hat Geige geübt. Und zwar tagelang das gleiche Stück. Das treibt jeden normalen Menschen in den Wahnsinn. Ich habe mich auf die Leiter gestellt und das Geigengekratze aufgenommen. Zum Beweis. Man kann ja nie wissen. Das Gurgeln im Badezimmer, das Gekläff der Hunde, das Geschrei der Frauen beim Orgasmus oder wenn sie geschlagen werden, das Quietschen der Straßenbahn, das Scheppern der Gastherme, das Gurren der Tauben, das Getrampel der Kinder, das Knarren der Sesselleisten, das Plärren der Babys, das Geschrei der Schüler im Pausenhof – alles habe ich aufgenommen. Oft hat man die Geräusche aber gar nicht mehr gehört, weil das Rauschen des Tonbands lauter war als die Aufnahme selbst.
Moment einmal, was brummt da vor dem Fenster? Das sind ja – sind das Bienen? Nein, für Bienen sind die zu groß. Das sind Hummeln oder Hornissen. Woher kommen die plötzlich?
Ich habe einmal gelesen, dass es Stille in dem Sinn eigentlich gar nicht gibt. Im Universum soll es auch sehr laut sein. Allerdings können wir das nicht hören, weil das andere Frequenzen sind. Wie bei den Elefanten. Die verständigen sich auch, ohne dass wir das mitbekommen. Oder die Wale. Walfischgesänge sollen gut für die Nerven sein. Selbst Taube hören ihr eigenes Blut zirkulieren. Tauben wahrscheinlich auch. Ein Horror, wenn ich mir vorstelle, dass ich taub bin und Tag und Nacht nichts anderes höre als das Zirkulieren meines eigenen Blutes. Interessant wäre zu wissen, ob ein hoher Blutdruck anders klingt als ein niedriger. Ein niedriger Blutdruck klingt wahrscheinlich dumpfer. Oder klingt der hohe dumpfer? Jetzt gurrt wieder so eine verdammte Taube im Lichthof. Letzten Winter habe ich dieses Granulat ausgestreut, das mir ein freundlicher Herr von der Taubenabwehrfirma verkauft hat. Unter der Hand natürlich. Das Zeug wird mit Körnern vermischt, und innerhalb weniger Stunden krepieren diese verdammten Biester an Unterkühlung. Das Mittel funktioniert aber leider nur, wenn es weniger als fünf Grad hat.
Yumiko heißt auf Deutsch übrigens schönes Kind. Den Namen muss diese Yumiko allerdings zu einem Zeitpunkt bekommen haben, als man noch nicht wissen konnte, wie sie später einmal aussehen wird. Schön ist sie jedenfalls nicht gewesen. Und O-Beine hat sie auch gehabt. Wie die meisten Japanerinnen. Jetzt knarren wieder die Sesselleisten. Vielleicht wegen der Hitze. Ich habe mir da extra einen Silikonfugendichter gekauft, der oben hineingedrückt wird, damit die Leisten keinen Spielraum mehr haben. Der Verkäufer im Baumarkt hat mich nur blöd angeschaut, als ich ihm mein Problem geschildert habe. Knarrende Sesselleisten? Nie gehört. Dem hätte ich wahrscheinlich zuerst einmal erklären müssen, was Sesselleisten überhaupt sind. Woher kommen eigentlich die Arbeitskräfte in den Baumärkten? Sind das Freigänger aus den Gefängnissen? Oder Leute, die sie bei der Post hinausgeschmissen haben? Aber warum die Sesselleisten trotz Silikonfugendichter wieder knarren, ist mir ein Rätsel. Wie so vieles andere im Leben auch.
Ich habe das Gekratze der Japanerin mindestens drei oder vier Mal aufgenommen. Ich wollte ja wissen, was das für ein Stück ist, mit dem sie mich da täglich quält. Also bin ich in einen Musikladen gegangen und habe die Aufnahme einer Verkäuferin vorgespielt. In den großen CD-Geschäften kann man ohnehin niemanden fragen. Das sind ja alles umgeschulte Metzger- oder Konditorlehrlinge, die außer Lady Gaga und Katy Perry niemanden kennen. Die Frau im Musikladen hat das Stück zwar auch nicht gekannt, aber ein Kunde, der zufällig anwesend war, hat gleich gewusst, was es ist. Das Gekratze war demnach Teil der »Instructiven Übungsstücke für Violine in verschiedenen Lagen und Sticharten, Opus 31« eines gewissen Carl Henning. Das muss man sich einmal vorstellen: Da fliegt diese Yumiko Kobayashi 9.132 Kilometer von Tokio nach Wien, um mich mit Übungsstücken eines Herrn Carl Henning zu quälen. Und dann unterzeichnen sie ausgerechnet in Japan das Kyoto-Protokoll über den Klimaschutz. Diese Idioten sollen mit dem Klimaschutz zuerst einmal im eigenen Land beginnen und allen Japanerinnen verbieten, in Wien ein Musikinstrument zu lernen. Was glauben die eigentlich? Dass hier die Geigen auf den Bäumen wachsen und Johann Strauß an jeder Straßenecke spielt? In Wirklichkeit scheißen die Hunde auf die Straße, und die Besoffenen pissen ungeniert gegen die Hausmauern. Habe ich auch gemacht, früher. Aber das ist diesen Yumikos und Sakuras, oder wie sie alle heißen, vollkommen egal. Die sind glücklich, wenn sie in Wien »Instructive Übungsstücke für Violine in verschiedenen Lagen und Sticharten, Opus 31« von Carl Henning spielen können. Ich habe zweimal nachschauen müssen, aber das hieß tatsächlich Sticharten. Ich dachte immer, dass es sich bei der Geige um ein Streichinstrument handelt und nicht um ein Stichinstrument. Vielleicht hat das Gekratze dieser Yumiko aber auch deshalb so grauenvoll geklungen, weil sie auf ihre Violine eingestochen hat.
Jetzt bellt wieder dieser verdammte Köter im Nachbarhof. Aber heute wird reiner Tisch gemacht. Das Problem mit dieser Yumiko war ja nicht nur das Geigenspiel, sondern auch dieses unerträglich laute Getrampel in ihrer Wohnung. Anfangs wusste ich gar nicht, was das ist. Erst am dritten oder vierten Tag habe ich mitbekommen, dass diese Wahnsinnige Holzschuhe trägt. Kaum hat sie die Wohnung betreten, ist sie schon in ihre Holzschuhe geschlüpft, und keine fünf Minuten später ist das Geigengekratze losgegangen. Vorher wird sie noch irgendsoeinen japanischen Fraß verschlungen haben. Sushi oder Kimchi oder wie dieses verdorbene Zeug heißt, von dem man nur fürchterliche Blähungen bekommt. Natürlich habe ich immer sofort an die Decke geklopft, wenn sie einen Schritt gemacht hat, aber das war Yumiko vollkommen egal. Wahrscheinlich hat sie gedacht, dass das normal ist, wenn jemand klopft. Ich habe ja keine Ahnung, wie die Japaner wohnen, aber soviel ich weiß, sind dort die Häuser so gebaut, dass praktisch jeder jeden hören kann. Ein Albtraum, aber ich glaube, dass es mit den Erdbeben zusammenhängt. Deshalb sind die Wände in den Häusern ja auch so dünn. Wenn dort einer furzt, rennen die Nachbarn sofort auf die Straße, weil sie glauben, dass die Erde bebt oder dass ein Vulkan ausgebrochen ist. Oder dass ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen ist.
Sobald diese Yumiko also den ersten Schritt in der Wohnung gemacht hat, habe ich mit dem Besenstiel gegen die Decke geklopft, wodurch sich im Laufe der Zeit leider Dellen gebildet haben. Einen Zusatzbesen hatte ich auch immer griffbereit neben dem Bett. Da habe ich mir so eine Verlängerung gebaut, damit ich nicht extra aufstehen muss und die Zimmerdecke auch im Liegen erreichen kann. Das Blöde war nur, dass irgendwann der Putz zu rieseln begonnen hat und das ganze Zeug genau auf meinem Kopfpolster gelandet ist.
Nach einer Woche hat es mir dann gereicht, und ich habe ihr einen Zettel an die Tür geklebt: »Please, could you be so kind and take off your wooden shoes, when you walk in your room.« Ich habe natürlich mit verstellter Schrift geschrieben und ohne meinen Namen zu nennen. Ich war ja sicher nicht der Einzige im Haus, den das gestört hat. Es hätte also jeder sein können. Vielleicht hat sie die Nachricht nicht verstanden, weil ich für die Übersetzung mein altes Wörterbuch aus der Hauptschule verwendet habe. Die Holzschuhe ausgezogen hat sie jedenfalls nicht. Keine Spur von Einsicht. Ich habe ihr dann einen zweiten Zettel geschrieben: »Your wooden shoes are so loud that I cannot sleep. I ask you again to put off your wooden shoes, when you are at home.« Wieder nichts. Sobald sie nach Hause gekommen ist, habe ich mit dem Besenstiel zu klopfen begonnen, noch bevor sie den ersten Schritt gemacht hat. Aber sie hat sich dumm gestellt. Beim dritten Mal habe ich nur noch einen Zettel mit einem Totenkopf an die Tür gehängt. Auch das war ihr egal. Pech für sie. Wer nicht hören will, muss fühlen.
Serbe sein ist mein Gesetz. Wer es verletzt, wird zerfetzt. Wer darüber lacht, wird umgebracht.
Diese Kampfparole liest der 14-jährige Murat auf der Facebook-Seite seines Klassenkollegen Zlatko. Murat steckt sein Handy ein und hält Ausschau nach seinem Erzfeind, der im Pausenhof gerade Halime beschimpft. »Alter, du bist so cringe mit deinem schwulen Kopftuch.« Zlatko sagt »Alter« zu Halime, weil es unter seinen Diggas gerade porno ist, Mädchen so zu nennen. Genauso wie »Schwuler« oder »Behinderter«. Dann macht Zlatko ein Handyfoto von Halime und lacht blöd. »Türkisches Opfer mit verficktem Hidschab, werde ich unter dieses Pic schreiben.« Auch »Opfer« ist als Schimpfwort immer noch in, obwohl es eigentlich schon out ist. Zlatko hebt die Faust und skandiert »Partizan Grobari«, um seine Verbundenheit mit dem Fußballklub Partizan Belgrad zum Ausdruck zu bringen. Grobari, also Totengräber, lautet der Schlachtruf der radikalen Partizan-Fans, zu denen sich Zlatko zählt, obwohl er noch nie ein Spiel seines Lieblingsvereins live gesehen hat.
Halime ist den Tränen nahe und dreht sich um, dabei stößt sie mit Murat zusammen, der sie zur Seite schubst. Murat packt Zlatko am Kragen seiner Nike-Sportjacke mit dem Abzeichen von Partizan Belgrad. »Was hast du da geschrieben, du abgeranzter Mongo? Ich lache über dein Gesetz, also, was ist, bringst du mich jetzt um, du Wichswichtel?«
Zlatkos Kameraden Dejan, Neven und Viktor kommen ihrem Freund sofort zu Hilfe und schlagen auf Murat ein. Dejan verliert dabei seine Gipsy-Mafia-Kappe, die er grundsätzlich verkehrtherum trägt, weil auch das porno ist. Er muss aber aufpassen, dass seine brandneuen Adidas-Stan-Smiths-Sneaker nichts abbekommen, weil die sowas von cheedo sind, dass er sie nicht schon am ersten Tag ruinieren möchte. Nur Novak, der Fünfte im Bunde der Partizan Grobari, hält sich zurück. Ihm geht Zlatko mit seinem lächerlichen Macho-Gehabe auf die Nerven, außerdem ist er ein Fan von Roter Stern Belgrad, was er aber nicht laut sagen darf, weil Zlatko und seine Kumpane ihn sonst verprügeln würden. Serbe hin oder her.
Halime und ein paar andere Mädchen beginnen zu schreien, und kurze Zeit später taucht Franziska Steinbrenner im Pausenhof auf. »Seid ihr verrückt geworden? Hört sofort auf! Habt ihr den Verstand verloren? Wenn ihr nicht sofort aufhört, rufe ich die Polizei. Ihr fünf kommt nach dem Unterricht zum Direktor. Mir reicht es!« Wieder einmal ist Franziska Steinbrenner froh, dass der Pausenhof von der Straße nicht einsehbar ist. Ihr genügt es, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner der umliegenden Häuser immer wieder über den Lärm ihrer Schülerinnen und Schüler beschweren.
»Warum muss ich zum Obermacker?«, fragt Murat empört. Er bringt sein Hemd in Ordnung, bei dem jetzt zwei Knöpfe fehlen, und deutet auf Zlatko. »Dieser Smombie hat auf Facebook geschrieben, dass er jeden umbringt, der über die Serben lacht.« Murat hält der Lehrerin sein Handy vors Gesicht. »Hier steht es. Will er mich umbringen, nur weil ich im Kosovo geboren bin?«
Franziska Steinbrenner liest das Posting und merkt, wie ihr das Herz bis zum Hals schlägt. Sie ist wütend, obwohl sie weiß, dass sie ihre Wut vor den Schülerinnen und Schülern nicht zeigen darf, weil die nur darauf warten, dass sie wieder einmal die Fassung verliert. Also atmet sie ein paar Mal tief durch. Lieber würde sie einen Schluck aus ihrem Flachmann nehmen, aber den kann sie sich erst in der nächsten Pause gönnen. Auf der Toilette.
Murat zeigt Zlatko den Mittelfinger und verschwindet im Schulgebäude. Zlatko und seine Diggas tauschen ein paar Worte auf Serbisch aus, und auch wenn Franziska Steinbrenner nicht versteht, was sie sagen, weiß sie, dass es bald wieder Ärger geben wird. Seit zehn Jahren unterrichtet sie an dieser Schule, und seit zehn Jahren gibt es diese Auseinandersetzungen zwischen Serben und Kosovaren, Tschetschenen und Türken, Irakern und Afghanen. Sie kann sich gar nicht mehr erinnern, wie viele Gespräche sie mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern schon geführt hat, allerdings ohne dass sich viel geändert hätte. Die gegenseitigen Vorurteile scheinen derart tief im kollektiven Gedächtnis verankert zu sein, dass sie als Streitschlichterin auf verlorenem Posten steht.
Diese wiederholten Konflikte waren schließlich auch der Grund, weshalb sie der Idee einer Regisseurin, einen Film über ihre Klasse zu drehen, anfangs skeptisch gegenüberstand. Aber nach einem Treffen mit der Filmemacherin Edina Damjanović änderte sie ihre Meinung, weil sie deren Konzept überzeugend fand. Edina stammte aus Bosnien-Herzegowina und war noch während des Krieges mit ihren Eltern nach Österreich geflüchtet, um hier ein neues Leben zu beginnen.
Edina will mit ihrem Film den Angehörigen der »Klasse der Chancenlosen«, wie sie sie nennt, Gesichter und Stimmen geben. Jener Klasse, die üblicherweise keine Möglichkeit hat, sich öffentlich zu äußern. Ihr erklärtes Ziel ist es, über persönliche Geschichten Einblicke in Welten zu geben, die den meisten unbekannt sind.
Auch wenn sich Edinas Erfahrungshorizont in vielen Punkten mit dem ihrer Schülerinnen und Schüler deckt, ist bei Franziska Steinbrenner eine Restunsicherheit zurückgeblieben. Was, wenn die eine oder andere Situation vor laufender Kamera eskaliert und das Projekt bereits am ersten Drehtag scheitert? Jetzt hofft sie, dass sie mit ihrer Zusage keinen Fehler gemacht hat.
Franziska Steinbrenner ist nervös. Der Mangel an Schlaf hat sie fahrig werden lassen. Angespannt beobachtet sie die in Gruppen beieinanderstehenden Jugendlichen, die sich lautstark über die neuesten Filme und die angesagtesten Bands unterhalten. Sie könnte eigentlich entspannter sein, weil der Tag für sie so gut begonnen hat: Nach monatelangen nervenaufreibenden Auseinandersetzungen mit ihrem Ex-Mann hat sie von ihrem Anwalt endlich die lang ersehnte Nachricht erhalten, dass der Streit um das Sorgerecht für ihre fünfjährige Tochter Sophia endgültig zu ihren Gunsten entschieden worden ist. Daraufhin hat sie spontan beschlossen, nach dem Unterricht mit ihrer Tochter übers Wochenende wegzufahren. Sie kann es kaum erwarten, ein paar Tage mit Sophia zu verbringen, ohne ständig Angst haben zu müssen, in Zukunft das Sorgerecht mit ihrem Ex-Mann teilen zu müssen. Aber Jürgen ist psychisch krank, und einem psychisch Kranken kann man kein fünfjähriges Kind anvertrauen. Schließlich ist er auch schuld an Sophias Essstörungen, die unmittelbar nach der Scheidung begonnen haben. Gerade heute Früh hat Sophia außer einem kleinen Stück Butterbrot wieder einmal nichts gegessen.
Wäre Jürgen nicht depressiv gewesen, hätte sie sich auch nicht scheiden lassen. Es war alles seine Schuld, daran gibt es keinen Zweifel. Er meckerte ja auch ständig wegen alltäglicher Kleinigkeiten wie ihrer herumliegenden BHs, oder wenn sie beim Pinkeln die WC-Tür offen ließ. Sie dagegen hasste es, wenn Jürgen das Klopapier falsch herum aufhängte. Franziska Steinbrenner ist der festen Überzeugung, dass Toilettenpapier nach vorne abgerollt werden muss. Je nach Depressionsgrad hängte Jürgen das Klopapier aber auf, wie es ihm gerade gefiel. Dabei ist klar, dass jemand, der das Klopapier nach hinten hängen lässt, sein Leben nicht im Griff hat. Jürgen ist der beste Beweis dafür.
Aber das alles spielt jetzt keine Rolle mehr, denkt Franziska Steinbrenner, obwohl sie sich eingestehen muss, dass sie sich lieber mit der falschen Abrollrichtung einer Klopapierrolle beschäftigen würde als mit der Frage nach der gegenwärtigen Befindlichkeit ihres Ex-Manns. Wie wird er reagieren, wenn er vom Urteil erfährt?
»Frau Steinbrenner«, wird Franziska aus ihren Gedanken gerissen. »Frau Steinbrenner, kann ich Sie bitte einen Augenblick sprechen?« Haniya steht vor ihr. Sie trägt ein helles Kopftuch, das in deutlichem Kontrast zu ihren schwarz geschminkten Lippen und den mit Mascara umrandeten Augen steht.
»Was gibt es, Haniya?« Franziska Steinbrenner ist ungeduldig, sie hat mit Zlatko und Murat ohnehin schon genug Probleme am Hals.
»Meine Mutter hat gesagt, dass ihr alles zu viel wird und sie sich nicht mehr um mich und meine vier Geschwister kümmern kann. Sie möchte mich in einer betreuten Wohngemeinschaft unterbringen, weil ich die Älteste bin. Was soll ich tun? Sie wissen ja, dass mein Vater zurück nach Marokko gegangen ist und dort wohl auch bleiben wird, jetzt, wo er eine neue Frau gefunden hat.«
Franziska Steinbrenner nickt abwesend. »Ja, das mit deinem Vater hast du mir bereits erzählt, und das tut mir auch leid, Haniya, aber wie stellt sich das deine Mutter vor? Das sind schwerwiegende Entscheidungen. Du kannst nicht von heute auf morgen in eine betreute WG einziehen, das ist ein Prozess, der Zeit braucht und von verschiedenen Faktoren abhängt.«
Haniya ist sichtlich enttäuscht und zupft nervös an ihrem Kopftuch.
»Ich muss mich auch erst erkundigen, welche konkreten Schritte in diesem Fall notwendig sind.« Franziska Steinbrenner wirft einen Blick auf das Display ihres Handys. »In drei Minuten beginnt der Unterricht. Kannst du nach der Stunde zu mir kommen? Hier können wir nicht reden.«
Haniya zuckt mit den Schultern. »Ja, aber ich habe zu Hause keine Ruhe mehr, ich habe nicht einmal Platz, um ungestört meine Hausaufgaben machen zu können. Gestern musste ich in die Waschküche im Keller ausweichen, weil ich das Chaos in der Wohnung einfach nicht mehr ausgehalten habe.«
»Das ist schlimm.« Franziska Steinbrenner senkt ihre Stimme, weil sie nicht möchte, dass die anderen hören, was sie sagt. »Aber du bist die Beste in deiner Klasse und du wirst das schaffen. Natürlich werde ich dir helfen, aber ich muss das zuerst mit deiner Mutter besprechen. Und mit dem Direktor. Und mit dem Stadtschulrat. Und mit der zuständigen Sozialarbeiterin. Verstehst du das?«
»Wachcha«, sagt Haniya auf Arabisch. Sie klingt resigniert und mischt sich unter ihre Klassenkameradinnen.
Franziska Steinbrenner seufzt. Gleich beginnt der Unterricht in Geschichte und Sozialkunde. Mit Zlatko, Dejan, Neven, Viktor, Murat, Haniya und neunzehn anderen Schülerinnen und Schülern, von denen sich nur die wenigsten für dieses Fach interessieren.
»Frau Lehrer, Frau Lehrer, schauen Sie einmal.« Nermina deutet aufgeregt zur Hausmauer.
»Nermina, das heißt: Frau Lehrerin, nicht Frau Lehrer. Ich bin eine Frau.«
»Ja, Frau Lehrer, aber schauen Sie, die vielen Bienen.«
Franziska Steinbrenner nähert sich der Hausmauer und sieht tatsächlich einen Schwarm großer Wespen.
»Das sind keine Bienen, das sind Hornissen«, sagt Novak. »Bienen sehen ganz anders aus. Und Hornissen sind nicht gefährlich, wenn man sie in Ruhe lässt.«
»Woher weißt du das?«, fragt Franziska Steinbrenner, die sich jetzt daran erinnert, dass sie sich in Vorbereitung auf die heutige Biologiestunde Bilder von Bienen, Wespen, Hummeln und Hornissen im Internet angesehen hat. Und es scheinen tatsächlich Hornissen zu sein.
Novak zuckt mit den Schultern. »Von meinem Großvater.«
»Also, ihr habt ja gehört, dass das Hornissen sind, die euch nichts tun, wenn ihr sie in Ruhe lasst. Bitte geht jetzt in euer Klassenzimmer.«
Auf dem Flur sieht Franziska Steinbrenner, wie Zlatko und seine Freunde die Köpfe zusammenstecken und wahrscheinlich besprechen, wo sie am Nachmittag Murat abpassen und verprügeln werden. Aber sie kann nichts dagegen tun, weil der bloße Verdacht nicht ausreicht, um die Polizei einzuschalten. Selbst als kürzlich eine Gruppe tschetschenischer Jugendlicher einem Schüler auflauerte, der angeblich die Schwester eines der Tschetschenen gestalkt hatte, unternahm die Polizei nichts. Schließlich war es Jugendlichen nicht verboten, sich an öffentlichen Orten zu versammeln. Am nächsten Tag haben die Tschetschenen den Schüler dann zwei Straßen weiter abgepasst und ihn dort verprügelt.
Ein paar Minuten später steht Franziska Steinbrenner im Klassenzimmer und sagt, was sie nach jeder Pause sagt: »Ahmet, kannst du bitte das Fenster öffnen, hier stinkt es.«
»Abdul hat gefurzt«, sagt Ahmet, und alle lachen.
»Selber Furzer, du Lauch«, antwortet Abdul.
»Umso wichtiger ist es, dass gelüftet wird. Und jetzt genug gescherzt. Nehmt bitte eure Unterlagen zur Hand.« Franziska Steinbrenner wirft einen Blick in die Klasse. »Ömer, du sollst nicht zum Fenster hinausschauen, sondern deine Unterlagen herausholen.«
Ömer zuckt gelangweilt mit den Schultern. »Hab zu Hause vergessen«, sagt er trotzig.
»Was heißt: Hab zu Hause vergessen?«
»Hab zu Hause vergessen heißt: Hab zu Hause vergessen, Alman«, wiederholt Ömer provokant.
»Ömer, sag nie wieder Alman zu mir, du weißt, dass das ein Schimpfwort ist, das ich nicht toleriere. Du hast also zum wiederholten Male dein Heft zu Hause vergessen. Aufgrund deiner bisherigen Leistungen und deiner verweigerten Mitarbeit müsste ich dir eigentlich ein Nicht genügend geben. Ich verstehe nicht, weshalb dir das alles egal ist. Wie willst du mit einem solchen Zeugnis jemals eine Lehrstelle bekommen?«
»Ich klotze in Autowerkstatt von Onkel.«
»Und du glaubst, dass du in Autowerkstatt von Onkel keine Leistung erbringen musst? Also mein Auto würde ich von dir nicht reparieren lassen.« Franziska Steinbrenner schüttelt verärgert den Kopf. »Wer hat noch seine Unterlagen zu Hause vergessen?«
Drei weitere Schüler zeigen auf: Mustafa, Iwan und Antun.