Der Herr der Meere - M.C. March - E-Book

Der Herr der Meere E-Book

M.C. March

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Beschreibung

Der Herr der Meere ist eine spannende Abenteuer-Reihe, die den Leser in die Welt der Meeresvölker und an versteckte Orte entführt. Der zwölfjährige Suli Neron lebt mit seiner Familie im Königreich Faranon. Er verdient sich sein Taschengeld als Stallbursche. Bis er eines Tages in der Verbandskammer einen Dolch findet, der ihn sofort in seinen Bann zieht. Von da an passieren merkwürdige Dinge, die Sulis Alltag auf den Kopf stellen. Gemeinsam mit seiner Adoptivschwester Bonka geht er den Ereignissen auf den Grund und findet mehr Fragen als Antworten. Dann erhält Suli auch noch eine Einladung aus dem Eispalast des Meeresgottes, die vielleicht das Rätsel um den Dolch lösen könnte. Doch etwas Bedrohliches hindert ihn daran, das Königreich zu verlassen und bringt damit nicht nur Suli in Gefahr.

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Die Autorin

Michelle C. March wuchs in Saarbrücken auf und lebt seit fast vierzig Jahren mit ihrer Familie an der südlichen Weinstraße.

Als Kind verschlang sie alles, was sie aus der Leihbücherei nach Hause tragen konnte. Als Fan von J.R.R. Tolkien und Tad Williams begann sie vor zwanzig Jahren, selbst Fantasy-Geschichten zu schreiben.

Eine Fernseh-Dokumentation über Korallenriffe inspirierte sie zu der Buchreihe »Der Herr der Meere. «

»Der Korallenthron« ist der Auftakt zu einem spannenden Abenteuer, dass den Leser in die Welt der Meeresvölker und an versteckte Orte entführt.

Inhalt

DAS BLAUE KÖNIGREICH

ABSCHIED UND UMZUG

STALL UND KAMMER

TISCH UND BETT

STUBBI UND PRINZ

AUSSEN UND INNEN

BEEREN UND GIFT

DOLCH UND STIMME

EINTOPF UND FAMILIE

SCHRIFT UND KLINGE

MAUER UND GEDÄCHTNIS

TRÄUMER UND GEHEIMNIS

STALLBURSCHE UND KÖNIG

HOFRAT UND WÄCHTER

BOTSCHAFT UND LAUSCHER

BAUCH UND SPEER

TRÜMMER UND BRUCHSTÜCKE

SEEGRAS UND TINTE

KAMM UND TÖPFCHEN

DECKEL UND KAPUZE

PATIENT UND GESTÄNDNIS

AUFSEHER UND NASEWEIS

HALM UND HARFE

AUGEN UND GRÜBCHEN

WUT UND OHNMACHT

MUSCHEL UND KUTSCHER

DAS BLAUE KÖNIGREICH

Siehst Du die Hügel im Sonnenschein,

die Meeresbewohner, groß und klein?

Die blühende Pracht, die gut verdeckt,

was sich in den Hügeln dort versteckt?

Von Baumeistern erschaffen und Künstlern bemalt,

sind die Höhlen und Gänge, schon alle uralt.

Das seltsame Volk feiert in den mächtigen Hallen,

zu ihnen gehören Heiler, bewundert von allen.

Von tapferen Kriegern bei Tag und Nacht

wird dieses schöne Königreich bewacht.

Und auf dem prächtigen Korallenthron

sitzt der stolze König von Faranon!

ABSCHIED UND UMZUG

Mit einem Seufzer legte Bola Chron behutsam die schlaffe Hand der Patientin auf die Bettdecke. Sie hatte als oberste Heilerin des Königreichs Faranon schon oft den Kampf gegen eine böse Krankheit oder eine schwere Verletzung verloren. Dieses Mal traf sie der Verlust einer Patientin mehr als sonst, denn die soeben verstorbene Frau war eine alte Schulfreundin von ihr gewesen.

Bedrückende Stille herrschte in der kleinen Schlafkammer, die nur von dem sanften Licht eines Algensteins erhellt wurde.

»Ruhe in Frieden bei deinen Ahnen, Berit.« Bola blickte voller Mitgefühl zu dem Jungen und dem Mädchen, die stumm und mit tränenüberströmten Gesichtern am Bett der Verstorbenen saßen.

Hinter den beiden stand Kara, die Mutter des zehnjährigen Mädchens. Sie hatte ihre Hände auf die Schultern des gleichaltrigen Jungen gelegt und beugte sich nun zu ihm hinunter. »Sie musste nicht lange leiden, Suli«, sprach sie leise zu ihm.

Der Junge nickte. »Ich weiß, Kara.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Der Kloß in seinem Hals war so dick, dass er kaum atmen konnte. Suli hatte gerade seine Großmutter verloren. Seine Eltern waren bereits bei einem Seebeben vor neun Jahren gestorben und sie war alles, was ihm von seiner Familie geblieben war.

Das Mädchen drückte seine Hand und holte tief Luft. »Deine Oma Berit hat dich sehr liebgehabt.« Ihre Stimme zitterte verräterisch. Sie hatte die alte Frau gut gekannt und war kurz davor, nochmal in Tränen auszubrechen. »Und Mama hat ihr versprochen, dass du bei uns bleiben darfst. Nicht wahr, Mama?« Sie drehte sich zu ihrer Mutter um.

»Ja, Bonka«, antwortete Kara. »Dein Papa und ich haben das so mit ihr vereinbart.«

»Kommt Papa hierher?«, hakte Bonka nach.

»Ja. Wir gehen jetzt nach Hause. Komm, Suli.« Sie hatte den Satz kaum beendet, als es an der Tür klopfte.

Bonka lief auf den Flur und öffnete die Wohnungstür. Ihr Vater, Adin Neron, war Bolas Stellvertreter. Er nahm die Augengläser ab und schaute seine Tochter fragend an.

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Berit ist gestorben. Ich fühle mich ganz furchtbar, Papa. Ich kann Suli überhaupt nicht helfen«, flüsterte sie ihm zu und drückte sich an ihn.

Der Heiler legte die Arme um seine Tochter und hielt sie einen Moment fest. Dann beugte er sich zu ihr hinunter. »Du kannst für ihn da sein und ihm zuhören, wenn er reden möchte, Bonka. Das wird ihm guttun«, tröstete er sie. Dann ließ er Bonka los und ging auf Suli zu.

Der kleine Junge stand zitternd und schluchzend vor ihm. Mit einem Tuch wischte Kara vorsichtig die Tränen von seinen Wangen.

Adin ging vor Suli in die Hocke und strich ihm liebevoll über den Kopf. »Komm, mein Junge. Jetzt gehörst du zu unserer Familie.« Suli nickte stumm und legte die Arme um den Hals seines Adoptivvaters.

Die kleine Familie verließ die Wohnhöhle im Putzerhügel, die einmal Sulis zu Hause gewesen war, und machte sich auf den Weg zum Heilertrakt im Medusenhügel.

STALL UND KAMMER

Hoffentlich ist Koliba nicht zu schwer verletzt! Mit kräftigen Arm- und Beinzügen schwamm der zwölfjährige Suli Neron durch den großen Stall des Königreiches Faranon.

Die Unterbringung für die Seepferde lag knapp unterhalb der Wasseroberfläche im Korallenmeer. Der Ausgang des Stalles führte direkt in den Ozean.

Auf den zierlichen Seepferden kontrollierten die Krieger der Schutztruppe in regelmäßigen Abständen bei Tag und auch in der Nacht alle sieben Hügel von Faranon. Das kleine Königreich lag am nördlichen Ende des Great Barrier Reefs.

Die schwarzen Haare von Suli waren zu einem dicken Zopf geflochten, der hinter ihm durchs Wasser schwebte. Ungeduldig suchten seine blauen Augen nach der richtigen Box. Nach einer Weile fand er die junge Seepferdstute und untersuchte sie. Aus einem kleinen Riss am Schwanz trat Blut heraus.

Koliba zitterte so stark, dass die blauen Knochenplatten, die ihren Körper umhüllten, vibrierten und kleine Wellenbewegungen erzeugten.

»Die Verletzung ist nicht groß und wird gut heilen. Du bist draußen am Riff den Stacheln des Seeigelfelsens zu nahegekommen, hm?« Behutsam streichelte Suli den Hals des Riesenseepferdes, bis es beruhigt schnaubte.

»He, Suli, wie geht es Koliba?« Rune, sein gleichaltriger Freund, kam in die Box geschwommen und blickte neugierig auf den Schwanz des Seepferdes. »Sieht aber nicht so schlimm aus.« Er lächelte Suli an. Dabei bildeten sich Grübchen auf seinen Wangen.

»Ist nur ein kleiner Riss. Ich bin gleich fertig, Rune.«

»Ich wollte dich nur warnen. Tomos ist auf dem Weg zur Futterkammer und will garantiert Streit. Jedenfalls guckt er so. Lass dir bloß nichts gefallen!« Rune klopfte ihm auf die Schulter. »Ich muss mit dem Füttern weitermachen. Also, bis später!«

Nachdenklich schaute Suli seinem Freund hinterher, der mit seinen kräftigen Händen einen der Futterkörbe packte und damit die Stallgasse entlang schwamm.

Schließlich drehte Suli sich wieder zur Stute um. »Tomos hat mir gerade noch gefehlt. Ständig sucht er Streit mit uns jüngeren Stallburschen, weil er sich überlegen fühlt. Dabei bin ich ganze vier Jahre jünger und zwei Köpfe kleiner als er! Der soll mich bloß in Ruhe lassen!« Er verteilte eine grüne Wundsalbe auf einem Verband und wickelte ihn fest um den Schwanz des Reittieres.

»In zwei bis drei Tagen ist die Wunde verheilt.« Die Stute rieb den Kopf an Sulis schmalen Schultern und warf ihn dabei beinahe um. »Ich muss jetzt beim Füttern helfen. Du bekommst auch noch etwas.«

Einer der anderen Stallburschen brachte die Algensteine zum Leuchten, die überall an den Kalksteinsäulen entlang der Stallgassen angebracht waren. Winzige Tierchen lebten in den Steinen und wenn man über die Oberfläche rieb, bewegten sie sich und glühten. Das warme Licht strömte durch den Stall und verbreitete so eine gemütliche Stimmung.

Sulis Magen knurrte laut vor Hunger. Hoffentlich kann ich bald nach Hause!, dachte er sehnsüchtig und hängte sich die Verbandstasche um. Er wollte gerade aus der Box herausschwimmen, doch als er sich umdrehte, zuckte er zusammen.

Tomos versperrte ihm den Weg. Der große Junge hielt sich an den beiden Kalksteinsäulen fest, die den Durchgang zur Stallgasse bildeten. Mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht musterte er Suli.

»Suli Neron, der Wunderheiler von Faranon!«, höhnte Tomos. »Was würden wir nur ohne dich tun? Jetzt hast du dich bestimmt wieder beim Stallmeister Olbian eingeschleimt.«

Mit dieser boshaften Bemerkung hatte Suli nicht gerechnet. Sein Herz begann in seiner Brust zu hämmern und das Blut schoss ihm vor Wut in den Kopf. Er ballte seine Fäuste.

»Lass mich in Ruhe, du Vollidiot!«, brach es aus ihm heraus. »Hast du nichts zu tun?«

Tomos schwamm auf ihn zu. »Sieh mal an, der Winzling wehrt sich! Woher nimmst du so viel Mut, hä?« Er baute sich vor Suli auf und packte ihn am Arm. »Ich sage dir jetzt, was du zu tun hast, du halbe Portion.«

Der bedrohliche Ton in Tomos‘ Stimme versetzte Suli in Panik. Was sollte er jetzt machen? Am liebsten hätte er ihm einen Kinnhaken verpasst. Aber dazu war er nicht mutig und kräftig genug. Traurig blickte er an seinem dünnen Körper herunter. Obwohl er gerne und viel aß, konnte man alle Rippen an ihm zählen.

Nebenan fütterten die anderen Stallburschen Polle und Sax ein paar Seepferde. Über die niedrigen Boxenwände aus doppelt geflochtenen Seegrasmatten konnte Suli durch den ganzen Stall blicken. Im Moment waren nur Tomos und die beiden Kameraden in seiner Nähe. Sie blickten fragend zu ihm herüber. Suli schaute sie an. »Helft mir doch!«, rief er ihnen in Gedanken zu.

Tomos bemerkte seinen flehenden Blick und zeigte den beiden anderen die Faust. »Haltet euch da raus!«

Die Jungen duckten sich weg und machten mit ihrer Arbeit weiter. Die helfen mir nicht, stellte Suli enttäuscht fest. Und Rune ist irgendwo mit dem Füttern beschäftigt. Ich muss hier weg!

Der Gurt der schweren Verbandstasche drückte Suli auf die rechte Schulter. Die Verbandstasche! Das war seine Rettung!

Mit der rechten Hand griff er hinein und tastete nach den Behältern aus gebranntem Kalksteinlehm. In ihnen bewahrte Suli verschiedene Salben auf. Er überlegte noch, ob sie kaputt gehen könnten, wenn er …

Immer noch schaute Tomos mit siegessicherem Grinsen zu den beiden Stallburschen in der Nachbarbox hinüber. Suli packte die Tasche, holte aus und schleuderte sie, so fest er konnte, gegen ihn. Das Wasser bremste sie zwar ab, aber es reichte trotzdem: Die Tasche schlug mit voller Härte an Tomos‘ Schulter. Damit hatte der Angeber nicht gerechnet. Er verlor das Gleichgewicht, ließ Suli los, stolperte zur Seite und prallte gegen die Abtrennung. Schnell ergriff Suli die Chance und glitt an ihm vorbei zur Stallgasse hinaus.

Wütend richtete sich Tomos wieder auf. »Feigling! Heulst du dich jetzt bei unserem Stallmeister aus und rufst nach deiner toten Oma? Du armes Waisenkind!«

In rasendem Tempo schwamm Suli in die Verbandskammer, schloss die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Sein Herz pochte heftig und die Beine zitterten. Mit geballten Fäusten fing er an zu zählen. Als er bei fünfzig angekommen war, hatte sich sein Puls beruhigt.

Vor der Tür hörte er die Stimme seines Onkels Olbian. »Tomos, sieh zu, dass du in die Futterkammer kommst! Da wartet noch eine Menge Arbeit auf dich. Und du gehst erst nach Hause, wenn du damit fertig bist.«

Neugierig presste Suli sein Ohr an die Tür.

»Ich bin schon auf dem Weg, Stallmeister«, antwortete sein Peiniger und Suli hätte schwören können, dass er sich dabei verbeugte. »In spätestens zwei Glasen ist alles fertig. Versprochen!«

»Du elender Schleimer«, zischte Suli hinter der Tür. »Onkel Olbian weiß genau, wie du deine Zeit im Stall absitzt!«

Er stellte die Verbandstasche auf den kleinen Tisch, der am Ende der Kammer stand. Sein Blick fiel auf einen Korb aus Seegras, der neben einem Regal abgestellt worden war.

Neugierig schaute er hinein und entdeckte ein paar kleine, schmutzige Tücher. Er durchwühlte sie und fand eine abgewetzte Scheide, in der ein Dolch steckte. Neugierig zog er am Griff und staunte.

Die schwarze Waffe war doppelt so lang wie seine Hand. Klinge und Griff waren aus dem Vulkanglas Obsidian geschliffen. »Oma hat aus Obsidian Schmuckstücke hergestellt«, erinnerte sich Suli laut. »Die Waffen der Schutztruppe haben eine Klinge aus glänzendem Tamuronit.«

Nachdenklich drehte er den Dolch in der Hand und stutzte. Auf beiden Seiten der Klinge waren silberne Linien eingeritzt.

»Das sieht wie eine Schrift aus«, murmelte er überrascht. »Der Dolch ist bestimmt zufällig zwischen die Tücher geraten. Ich zeige ihn gleich Onkel Olbian. Vielleicht weiß er, wem diese Waffe gehört.«

Er wollte zur Tür hinausschwimmen. Aber als Suli die Hand nach dem Griff ausstreckte, um sie zu öffnen, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Der Dolch ist mein Geheimnis. Niemand darf von ihm wissen! Entschlossen drehte er sich zur Garderobe an der Wand um, nahm seine Schultasche vom Haken und hängte sie über die Schulter.

Die Waffe vibrierte leicht, als er sie in die Tasche legte. Doch Suli dachte sich nichts dabei und verließ die Kammer.

Mit Schwung packte er einen der großen Futterbehälter, die bereits gefüllt an der Wand der Stallgasse standen, und schwamm durch die Boxen. In jeder standen vier hungrige Seepferde, an die er Krebse und Garnelen verteilte. Zwischendurch winkte er Rune in der anderen Stallgasse zu und hielt den rechten Daumen hoch, um seinem Freund zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Alle Stallburschen waren mit der Nahrungsverteilung beschäftigt, denn das war ihre letzte Aufgabe in dieser Schicht.

Die tiefe Stimme des Stallmeisters drang aus der Futterkammer. »Wie willst du in zwei Glasen fertig sein, wenn du bisher nicht einmal die Hälfte des Tranks abgefüllt hast, du Faulpelz?«

Tomos‘ Antwort konnte Suli zwar nicht hören, aber die spöttischen Bemerkungen seiner Kameraden und ihr Gelächter erfüllten ihn mit Genugtuung.

»Das geschieht ihm ganz recht. Hoffentlich muss Tomos bis Mitternacht hierbleiben!«, flüsterte er einem Seepferd zu und hielt ihm eine Garnele vors Maul.

Die letzte Portion bekam die Seepferdstute Koliba. Gierig verschlang sie ihr Futter und rieb zum Dank den Kopf an Sulis Bauch. »Ist schon gut«, raunte er der Stute zu. »Schlaf gut.«

In der Stallgasse traf er auf Rune. »He, Suli, bist du fertig? Gib mir die Futterbox, ich räume sie weg.«

»Danke. Übrigens: Morgen ist Medullan, Rune. Dann kriegen die Seepferde ihren magischen Trank.«

»Ach ja, stimmt. Den dürfen wir beide verteilen. Ich möchte zu gerne wissen, was in ihrem Körper passiert, wenn sie ihn getrunken haben. Immerhin verleiht ihnen der Trank zusätzliche Kraft und Ausdauer und sie können sich tausendmal schneller durchs Wasser bewegen.«

»Ich weiß nicht, was der Trank mit den Seepferden macht, Rune. Ich hoffe nur, dass Tomos für jedes Tier die richtige Menge abfüllt.«

»Weißt du, was mir gerade einfällt?« Rune grinste seinen Freund an.

»Keine Ahnung. Willst du Tomos vielleicht helfen?«

»Ganz bestimmt nicht! Ich meine den alten Kinderreim über die Wochentage!« Rune stellte den leeren Futterkorb ab und schwamm im Kreis um Suli herum. Dabei sagte er das Gedicht auf, das er mit vier Jahren in der Kinderstube gelernt hatte:

»Die Woche fängt am Fischtag an.

Der Dirimstag folgt ihm sodann.

Und jedes Jahr an Medullan

fängt das Korallenschlüpfen an.

Am Malltag sind wir aufgeregt,

weil Otcho dann die Schule fegt.

Den Fünftag sehnen wir herbei,

die Tage drauf sind nämlich frei.

Am Ruhtag steht die Arbeit still,

weil Eburon das halt so will.

Am Soltag gehen wir alle raus

und toben uns so richtig aus!«

Rune verneigte sich mit gekreuzten Beinen und verlor dabei beinahe das Gleichgewicht.

»Bravo!« Suli klopfte seinem Freund lachend auf die Schulter und spöttelte: »Hast du gut gemacht, mein Kind!«

Vorsichtig blickte er zur Tür der Futterkammer. »Tomos traut sich nicht herauszukommen. Dafür hat er vor Onkel Olbian zu viel Respekt! Gut so!«

»Der Angeber ist wieder frech geworden, habe ich gehört?« Rune schüttelte den Kopf. »Bei mir traut er sich das nicht. Dann kriegt er nämlich Ärger mit meinem großen Bruder.«

»Du hast so ein Glück. Tomos würde meine Schwester Bonka genauso auslachen wie mich«, erwiderte Suli leise und schwamm vor zur Sattelkammer. Nach und nach trudelten auch die anderen Stallburschen ein.

»Puh«, stöhnte Hanko, er war ein Jahr älter als Suli. »War wieder anstrengend heute. Hoffentlich kommen die anderen von der Nachtwache bald.«

»Keine Sorge, die sind bestimmt gleich da.« Bardiz, sein Bruder, lehnte sich an die Wand. »Die haben es wirklich gut. Schließlich müssen sie nur die Seepferde der Nacht- und Frühwache auf- und absatteln. Ansonsten können sie schlafen, während wir in der Tagschicht auch noch die Fütterung erledigen müssen.«

»Hör auf zu meckern, Bardiz«, entgegnete Rune, der gerade dazu gekommen war. »Du wolltest ja unbedingt zum Stalldienst. Und du bekommst dreißig Sol pro Woche als Taschengeld, das ist nicht wenig. Außerdem darfst du ab dem nächsten Jahr auch in die Nachtschicht, wenn du siebzehn geworden bist.«

Bardiz winkte ab. »Ist ja schon gut. Ich wollte es ja nur mal gesagt haben.«

»Wenn wir in der Schutztruppe gedient haben, alt und wacklig geworden sind, dürfen wir vormittags die Seepferde versorgen, während die jüngeren Stallburschen zur Schule gehen. Darauf freue ich mich schon.« Hanko rieb sich die Hände und grinste. »Dann werde ich jeden Morgen in der Sattelkammer erst einmal lang und ausgiebig frühstücken!«

»Träum weiter, Bruderherz!« Bardiz lachte.

Rune tippte Suli auf die Schulter. »Du solltest deinem Onkel sagen, dass Tomos dich wieder geärgert hat. Der braucht eine ordentliche Standpauke.«

Suli verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das würde alles nur noch schlimmer machen.«

»Das denke ich nicht. Er wird diesen Nichtsnutz rauswerfen. Sag es ihm.«

Gerade, als Suli etwas erwidern wollte, tauchte sein Onkel auf und schickte die Jungen nach Hause.

TISCH UND BETT

Das Königreich Faranon war im Inneren von sieben großen Hügeln verborgen. Winzige Schnecken krochen durch die unzähligen Ritzen im Kalkstein der Außenwände und ernährten sich von dort abgelagerten Algen. Dabei produzierten sie einen Schleim, der sich verhärtete und so die Wände gegen das Meerwasser abdichtete.

Im Inneren der Hügel rankte überall Summakraut an den Wänden und Treppen hinauf. Die Pflanze verwandelte die verbrauchte Luft in frischen Sauerstoff. Ihre kleinen, blauen Blüten verströmten einen angenehmen Blumenduft.

Deshalb bewegten sich die Faraner zu Fuß durch ihr Königreich und atmeten dabei frische Luft, während die Hügel von Faranon von Meerwasser umgeben waren.

Müde schwamm Suli mit den anderen Jungen zum Eingang des Stalls neben der Sattelkammer. Von dort führte ein Tunnel zu einem kleinen See im Medusenhügel.

Nach kurzer Zeit tauchten alle Stallburschen am Steg des Sees auf und hüllten sich in die bereitgelegten großen Handtücher.

»Morgen wird es wieder hektisch, wenn wir unsere Zusatzaufgabe erledigen müssen.« Rune rubbelte sich die nassen Haare trocken. »Hoffentlich wird Tomos mit seiner Arbeit heute noch fertig und füllt alle Portionen des magischen Trankes ab. Sonst kommen wir morgen Nachmittag nicht voran.«

Bardiz schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er seine Arbeit beendet. Irgendwann heute Abend lässt er garantiert einfach alles stehen und liegen und haut ab. Tomos ist stinksauer, weil er länger dableiben muss. Außerdem hat Suli es ihm heute mal richtig gezeigt.«

Er drehte sich zu ihm um, grinste und klopfte Suli auf die Schulter. »Gut gemacht, Kleiner!« Die anderen Stallburschen stimmten ihm zu und klatschten Beifall.

Suli war von dem Lob überrascht und starrte verlegen auf seine nassen Füße. Die Jungen verabschiedeten sich und stiegen die große Wendeltreppe in der Mitte des Platzes hinauf. Sie führte durch den gesamten Medusenhügel bis in den zwanzigsten Stock.

Lächelnd blickte Suli seinen Kameraden nach. Ich muss mich bei niemandem einschleimen. Ich bin schon beliebt!, stellte er fest.

Erleichtert betrat er den Eingang des Heilertraktes neben dem See und lief die lange Treppe hinauf. Zwischendrin musste er kurz halt machen und verschnaufen.

»Vierhundert Stufen bis zur Wohnhöhle meiner Eltern«, schimpfte er und wischte sich über die Stirn. »Mussten sie unbedingt in den obersten Stock ziehen?«

»Fünfter Stock, Innere Abteilung«, las Suli auf dem Schild gegenüber der Treppe. Einige der Angestellten des Heilertraktes grüßten kurz und liefen an ihm vorbei die Treppe hinunter.

Mit schweren Beinen quälte er sich die Stufen hinauf und wünschte sich, er wäre schon oben. Sicher wartete seine Familie schon mit dem Abendessen auf ihn!

Die oberste Heilerin Bola Chron kam ihm von den oberen Stufen entgegen.

»Na, Suli«, grüßte sie. »Ist der Stalldienst für heute zu Ende?« Die kleine, rundliche Frau lächelte ihn verschmitzt an.

»Ja, Bola. Und es gab viel zu tun. Wie immer«, antwortete er schnaufend.

Bola nickte ihm zu. »Dann hab‘ einen schönen Abend, mein Junge. Grüß mir deine Eltern.«

»Mach ich. Dir auch einen schönen Abend«, erwiderte Suli, lächelte und nickte ihr zu. Mit einem tiefen Seufzer blickte er die Treppe hoch. Er hatte noch ein ganz schönes Stück vor sich!

Im neunten Stockwerk fiel ihm der seltsame Fund aus der Verbandskammer ein. Vorsichtig tastete Suli mit der Hand nach dem Dolch in seiner Tasche. Ich darf auf keinen Fall etwas davon erzählen. Wenn meine Eltern erfahren, dass ich eine Waffe aus dem Stall mitgenommen habe, gibt es Ärger!, überlegte er mit Herzklopfen. Dann darf ich bestimmt nicht mehr zum Stalldienst!

Auf der letzten Etage bog er in den linken Gang ab. Sein Adoptivvater wartete bereits am Eingang der Wohnhöhle. »Hallo Suli, wie war es im Stall? Alles ruhig?«

»Ja, Adin.« Er wischte sich mit seinem Handtuch über die Stirn. »Und bei euch im Heilertrakt?«

»Ich komme auch gerade vom Dienst.« Adin hängte seine Weste an einem Garderobenhaken auf und fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare.

»Du weißt ja, dass wir auch die Mitglieder der anderen Meeresvölker hier bei uns behandeln. Heute haben wir zehn Elianer aufgenommen. Sie haben sich mit einem unbekannten Virus angesteckt. Wir haben sie unter Quarantäne gestellt.«

Suli hob die Augenbrauen. »Elianer? Sie kommen doch aus der Stadt im Atlantik, wo die vielen Wissenschaftler leben. Gibt es in Elian keine Ärzte?«, wollte er wissen.

»Nein, Suli. Es ist dort nicht so wie hier in Faranon. Ein paar Elianer können kleinere Wunden versorgen, das haben sie bei uns gelernt. Aber die schweren Verletzungen und die Krankheiten werden bei uns behandelt. Die Elianer haben nämlich andere Aufgaben.«

»Aber ihr macht sie doch wieder gesund, nicht wahr?« Suli wusste von seinen Adoptiveltern, wie gefährlich Viren für die Meeresvölker sein konnten. »Es gibt doch so viele Heilmittel.«

Adin lächelte ihm zu. »Wir geben unser Bestes. Jetzt zieh dich um, deine Mutter wartet bereits mit dem Essen.«

Sulis Schlafkammer lag am Ende des Flurs. Sie war nicht besonders groß und hatte – wie Bonkas Schlafkammer und der kleine Baderaum dazwischen – kein Fenster. Daher leuchteten in diesen Räumen immer ein paar Algensteine.

Dem Summakraut machte das nichts aus. Es kroch überall in der Wohnhöhle an den Wänden hoch. In den Schlafräumen bildete es meistens an den Decken ein grünes Dach über den Betten.

Zufrieden betrachtete Suli sein kleines Reich. Seine Adoptivmutter Kara hatte das Bett frisch bezogen, wie er gleich bemerkte. Der Seifengeruch der Bettwäsche hing in der Luft und kitzelte ihn in der Nase. Der Stuhl steht mitten im Weg. Und die Wäsche hat sie auch nicht in die Kommode eingeräumt. Das soll ich wohl selbst machen, stellte er überrascht fest. Aber das hat Zeit bis nach dem Abendessen.

Er nahm den Dolch aus der Tasche und legte ihn unter das Kopfkissen. Bonka durfte ihn auf keinen Fall sehen. Sie würde sofort eine Menge unbequeme Fragen stellen und den Eltern davon erzählen.

»In den nächsten Tagen schaue ich mir diese Waffe genauer an. Vielleicht ist sie sehr wertvoll«, murmelte er vor sich hin und freute sich über seinen geheimen Besitz.

Erleichtert streifte er die nassen Kleider ab, rubbelte seinen Körper trocken und schlüpfte in seine grüne Schlaftunika. Um die Haare wickelte er ein trockenes Handtuch. Ich sehe bestimmt lustig aus!, dachte er und verließ grinsend die Kammer. Auf dem Flur konnte er Stimmen hören. Adin erzählte seiner Familie von den kranken Elianern.

Suli trat durch den Vorhang in die Küche. Es roch lecker nach gebackenem Brot und Gemüsesuppe. Der Tisch war gedeckt und einige Algensteine verbreiteten ihr warmes Licht im Raum.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, wie Suli mit einem Blick aus dem Fenster erkennen konnte. Die Küche und die Schlafkammer der Eltern direkt daneben waren mit einem großen Fenster ausgestattet. Suli war darauf schon ein bisschen neidisch. Es musste schön sein, nachts im Bett zu liegen und ins dunkle Meer hineinzuschauen, wenn die Strahlen des Vollmondes durchs Wasser schienen!

Kara begrüßte Suli und strich ihm die schwarzen Haare aus der Stirn, die aus dem Handtuch herausschauten. »Hallo, mein Junge. Heute war wieder viel los, nicht wahr? Komm, setz dich. Du bist bestimmt hungrig.«

Bonka saß schon auf der Bank und las in einer Schriftrolle. Als Suli sich zu ihr setzte, nickte sie nur kurz, ohne aufzuschauen. Ihre Tunika war fleckig. Die Augengläser saßen schief auf ihrer Nase und die Haare waren zerzaust.

Kara betrachtete ihre Tochter kopfschüttelnd und stellte eine große Schüssel auf den Tisch. »So, jetzt wird gegessen. Bonka, leg die Schriftrolle weg.«

Sehnsüchtig blickte Suli auf den dampfenden Eintopf, den Kara in die Teller verteilte. »Herrlich, darauf habe ich mich schon den ganzen Tag gefreut!« Mit Heißhunger löffelte er seinen Teller leer und schöpfte noch zweimal nach. Die Reste des Eintopfes tupfte er mit einem Stück Seehaferbrot aus dem Teller.

»Wie ich sehe, musst du Sulis Teller nicht mehr abwaschen, Kara«, bemerkte Adin und grinste.

»Suli macht doch nie Reste«, erwiderte Bonka und wischte sich die Nase am Ärmel ihrer Tunika ab. »Man könnte meinen, dass er sonst verhungert oder dass er nichts mehr abbekommt.« Sie stieß ihn am Arm.

Viel zu erschöpft für eine Antwort lehnte Suli sich an der Bank zurück. Er hatte Mühe, die Augen offen zu halten und nickte ein. Die Stimme seiner Schwester und ihre Erzählungen waren weit weg.

Bonka redete von den Kindern, die sich ein paar Etagen tiefer von einer Fieberkrankheit erholten.

Kara räumte das Geschirr ab und stellte die Teekanne auf den Tisch. »Suli, möchtest du auch Tee?«, fragte sie ihren dösenden Sohn.

Erschrocken, weil er in seinem Schlaf gestört wurde, öffnete Suli die Augen und setzte sich auf. »Oh, ja bitte«, stammelte er.

Kurz darauf erfüllte der fruchtige Geruch des Sonnentautees die Küche. Suli hielt die Nase über den Teebecher und atmete tief den Duft ein. Kara reichte ihm den Honiglöffel. Er ließ ein paar dickflüssige Tropfen ins heiße Getränk fallen. Schon der erste Schluck wärmte seinen vollen Bauch. Erstaunt bemerkte Suli, dass seine Schwester schon wieder in der Schriftrolle las. Er tippte mit einem Finger auf ihren Arm.

»Was liest du denn andauernd?«, erkundigte er sich.

»Das ist eine Beschreibung der Fieberkrankheit der Patienten«, erwiderte sie, ohne aufzuschauen.

Bevor Suli darauf antworten konnte, verkündete Adin: »In den nächsten Tagen werde ich deine Augen untersuchen, Bonka.«

Überrascht starrte ihn seine Tochter an. »Wieso?«

»Du liest sehr viel und hältst dabei die Schriftrollen sehr nah vor dein Gesicht. Es wäre möglich, dass deine Sehkraft im Laufe der Zeit nachgelassen hat«, erklärte Adin. »Das möchte ich überprüfen. Hast du manchmal Kopfschmerzen?«

Bonka runzelte die Stirn. »Ab und zu. Aber die sind nicht schlimm, Papa!«

»Trotzdem machen wir die Untersuchung«, entschied der Heiler, trank seinen Becher leer und blickte zur Uhr neben dem Fenster. »Ihr müsst ins Bett. Morgen ist wieder Schule.«

Gähnend stand Suli auf und stupste seine Schwester an. »Komm mit, du musst mir die Haare bürsten.«

Genervt verdrehte Bonka die Augen und maulte: »Kannst du das nicht mal selber machen?«

»Doch«, entgegnete Suli. »Aber du kannst es besser.«

Die beiden Kinder wünschten ihren Eltern eine gute Nacht und verließen die Küche.

»Setz dich auf den Stuhl«, forderte Bonka ihren Bruder auf. »Ich hoffe, deine Haare sind heute nicht so verknotet wie sonst.« Sie begann, den langen Zopf zu lösen.

»Keine Ahnung. Mach einfach, au!«

»Stell dich nicht so an. Hättest halt nicht so fest mit dem Handtuch rubbeln sollen. Dadurch entstehen doch erst die ganzen Knoten.«

»Ich habe nicht gerubbelt. Nur abgetupft. Au!«

»Ja, ja. Ich weiß, was du unter Tupfen verstehst. Die armen Seepferde können einem leidtun, wenn du das als Abtupfen verstehst!«

»Den Seepferden geht es bei mir sehr gut! Pass doch auf!«

Bonka ließ die Bürste unerbittlich durch die schwarzen Haare gleiten, bis sie vollkommen glatt bis an Sulis Po reichten. Bonkas eigenen Haare waren genauso lang. Wenig später flocht sie einen Zopf und wickelte ein Band darum. »Fertig.«

»Na endlich! Ich dachte schon, du willst mir die Haare einzeln ausreißen!« Suli griff sich an den Kopf und stand auf. »Trotzdem danke.«

Eine kleine Schriftrolle und ein Schreibhalm wanderten in seine Schultasche, die er auf der Kommode abstellte.

Bonka ließ sich auf das Bett plumpsen und musterte ihren Bruder. »Ist heute beim Stalldienst etwas passiert? Irgendwie bist du heute komisch drauf.«

Schlagartig fiel Suli ein, dass er unter seinem Kopfkissen eine Waffe versteckt hatte. Erschrocken drehte er sich um. Das Blut schoss ihm vor Scham in den Kopf. Er hatte sonst nie Geheimnisse vor seiner Schwester und überlegte fieberhaft, was er sagen sollte. Bonkas Blick war so durchdringend, dass er beinahe alles über den Dolch verraten hätte. Mühsam presste Suli die Lippen zusammen und setzte sich langsam aufs Bett.

»Was ist? Raus damit!«, drängte Bonka ihn.

Er holte tief Luft. »Es ist alles in Ordnung. Ich hatte nur ein bisschen Ärger mit Tomos. Ist ja nichts Neues.«

»Ach, ja?« Skeptisch betrachtete Bonka ihren Bruder. »Du weißt, dass du über alles mit mir reden kannst.«

Einen kurzen Moment schwieg Suli. Dann fiel ihm zum Glück etwas ein, das Bonka ablenken würde. »Kara hat bald Geburtstag, stimmt‘s?«

»Richtig. Ich überlege schon die ganze Zeit, was wir ihr schenken könnten. Aber mir fällt bestimmt noch etwas ein.«

»Meine Oma hat auch bald Geburtstag.« Nachdenklich blickte Suli zu dem gewebten Tuch an der Wand. Als er noch klein war, hatte Berit ihn manchmal nach dem Baden darin eingewickelt. Ab und zu roch er an diesem Andenken, um sich an die schöne Zeit in der kleinen Wohnhöhle im Putzerhügel zu erinnern. Und an die wohlige Wärme, die dort herrschte, und an die vielen Geschichten, die er dort gehört hatte.

Mitfühlend legte seine Schwester eine Hand auf seinen Arm. »Du denkst noch oft an deine Oma, nicht wahr?«

»Sie ist ja erst vor zwei Jahren gestorben. Weißt du, ich … ich habe immer gehofft, dass sie doch wieder gesund wird«, antwortete Suli leise. Sein Herz wurde schwer und die Tränen schossen in seine Augen. In Gedanken hörte er ihre Stimme und ihr Lachen.

Bonka nahm ihn in den Arm. »Ich bin sehr froh, dass du bei uns bist. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du bei einer anderen Familie leben müsstest.«

»Ich auch nicht, Bonka.« Suli räusperte sich und wischte sich verstohlen über die Augen.

»Sag mal, willst du später wirklich Stallmeister werden wie Onkel Olbian?«, wollte Bonka plötzlich wissen.

Irritiert über die Frage runzelte Suli die Stirn. »Natürlich, was denn sonst? Ich fühle mich im Stall sehr wohl. Und Onkel Olbian wird mir alles beibringen, was ich wissen muss.«

Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass eine größere Aufgabe auf dich wartet.« Sie klopfte auf die Bettdecke und ging zur Tür. »Schlaf gut.«

Verblüfft schaute Suli ihr hinterher. Meine Eltern waren ganz normale Leute. Und auf mich soll eine größere Aufgabe warten? Das ist ja lächerlich! Er legte sich hin und zog die Decke über den Kopf.

STUBBI UND PRINZ

Am nächsten Morgen trommelte Bonka ungeduldig mit den Fingern auf dem Küchentisch. »Bist du mal endlich mit dem Frühstück fertig?«

»Ja! Hör auf, mich dauernd zu hetzen! Ich werde ja wohl in Ruhe essen können!« Suli nahm sich noch eine Scheibe Brot und klatschte die Marmelade darauf.

Genervt verdrehte seine Schwester die Augen. »Brauchst du auch noch frischen Tee?« Sie griff nach der Kanne.

»Ja. Vielen Dank. Mach den Becher ruhig voll«, erwiderte Suli mit vollem Mund.

Bonka schnaubte verächtlich. »Man soll ja gut frühstücken, aber du übertreibst es heute wieder. Das ist schon die dritte Scheibe Marmeladenbrot!«

»Ich muss noch wachsen!«, verteidigte Suli seinen Hunger und biss ins Brot.

»Bei den Mengen, die du täglich in dich hineinstopfst, müsstest du schon zwei Meter groß sein!«, entgegnete seine Schwester bissig und stand auf. »Ich gehe noch kurz ins Badezimmer. Bis ich wiederkomme, bist du ja hoffentlich fertig.«

Grinsend blickte Suli ihr nach und kaute auf seinem Brot. Genüsslich trank er dann seinen Teebecher leer und wischte sich den Mund ab.

Auf dem Weg zu seiner Schlafkammer begegnete ihm Bonka auf dem Flur. »Können wir los?«

»Ich hole noch schnell meine Schultasche«, antwortete Suli.

Er betrat den kleinen Raum und zog den Dolch unter seinem Kopfkissen hervor. Die silbernen Linien leuchteten kurz auf. Erschrocken ließ er die Waffe aufs Bett fallen.

»Los, komm, wir sind spät dran!«, rief Bonka ihm vom Flur zu.

Schnell schob Suli die Waffe wieder in die Hülle und legte sie unter das Kissen. Den leuchtenden Algenstein packte er in die oberste Schublade seiner Kommode. Die Algen bewegten sich nicht mehr und ihr Leuchten endete. Auf dem Flur blickte er sich um. »Wo sind Kara und Adin?«, wollte er wissen.

»Hast du den Zettel auf dem Tisch nicht gesehen? Sie mussten zu einem Notfall.«

»Nein, den habe ich nicht gesehen. Ich hole noch mein Essen.« Er legte das Päckchen mit den Früchten zu der Schriftrolle in die Tasche.

»Geht das auch ein bisschen schneller? Ich möchte deinetwegen keinen Verweis fürs Zuspätkommen kriegen!«

»Ich komme ja schon!«

Mit schlurfenden Schritten folgte Suli seiner Schwester zur Wohnungstür. »Ich habe heute keine Lust auf Schule«, maulte er und lehnte sich an die Wand.

Sie drehte sich um. »Wie bitte? Du bist doch sonst so wild aufs Lernen! Was ist mit dir los?«

»Ach, ich weiß nicht.« Suli konnte seiner Schwester nicht sagen, dass er Angst vor einer Begegnung mit Tomos hatte. Sie würde mich dafür auslachen!

Bonka starrte ihn nachdenklich an. »Hast du schlecht geschlafen?«

»Nein, ich habe gut geschlafen. Lass mich einfach in Ruhe.« Lustlos zog er die Wohnungstür hinter sich zu und dachte an den weiten Schulweg.

Bis zum Mondhügel waren es drei Kilometer. Wie viele andere Kinder aus dem Heilertrakt mussten Suli und Bonka die Strecke im Laufschritt bewältigen.

Vom obersten Stock im Heilertrakt führte ein Gang an der großen Treppe im Medusenhügel vorbei. Auch auf diesem Gang rankte das Summakraut an den Wänden empor. Beim Laufen mussten die Kinder darauf achten, dass sie nicht über die Pflanzenwurzeln stolperten, die teilweise aus dem Boden herauswuchsen. Als sie an der Treppe ankamen, erklang von unten der dumpfe Ton einer Muschel.

»Aaachtung! Stubbi im Anmarsch!«, rief jemand hinauf.

Bonka stöhnte. »Ich würde mich bedanken, wenn ich jeden Morgen diese Treppe bis in den zwanzigsten Stock hochlaufen müsste.«

»Die Ausbilder achten darauf, dass kein Stubbi schummelt und zwei Stufen auf einmal nimmt.« Suli stellte seine Schultasche auf dem Boden ab. »Einige Mädchen machen das anstrengende Training mit. Sie wollen unbedingt in der Schutztruppe dienen.«