Der ideale Gatte - Oscar Wilde - E-Book

Der ideale Gatte E-Book

Oscar Wilde

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Beschreibung

"Der ideale Gatte" ist ein Stück in vier Akten des berühmten irischen Schriftstellers Oscar Wilde, in dem es um Erpressung und politische Korruption geht und das die Themen öffentlicher und privater Ehre berührt. Es wurde erstmals 1895 am Haymarket Theatre in London aufgeführt und erlebte 124 Vorstellungen. Daneben wurde es in vielen Produktionen fürs Theater verarbeitet und für Kino, Radio und Fernsehen adaptiert. Die vorliegende deutsche Neuübersetzung stammt aus dem Jahre 2021.

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Seitenzahl: 144

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Der ideale Gatte

 

Deutsche Neuübersetzung

 

OSCAR WILDE

 

 

 

 

 

 

 

 

Der ideale Gatte, O. Wilde

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849661588

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

 

Inhalt:

Dramatis Personae. 1

1. Akt2

2. Akt34

3. Akt64

4. Akt88

 

 

Dramatis Personae

 

Der Earl of Caversham, Ritter des Hosenbandordens.

Viscount Goring, sein Sohn.

Sir Robert Chiltern, Baronet, Unterstaatssekretär für auswärtige Angelegenheiten.

Vicomte De Nanjac, Attaché bei der französischen Botschaft in London

Mr. Montford

Mason, Butler von Sir Robert Chiltern

Phipps, Lord Gorings Diener

James, Lakai

Harold, Lakai

Lady Chiltern

Lady Markby

Die Gräfin Basildon

Mrs. Marchmont

Miss Mabel Chiltern, Sir Robert Chilterns Schwester

Mrs. Cheveley

 

Die Schauplätze des Stückes

 

1. Akt: Der Oktagon-Raum in Sir Robert Chilterns Haus am Grosvenor Square.

2. Akt: Der Frühstücksraum in Sir Robert Chilterns Haus.

3. Akt: Die Bibliothek in Lord Gorings Haus in der Curzon Street.

4. Akt: Wie im 2. Akt

 

Zeit: Heute

Ort: London.

 

Die Handlung vollzieht sich binnen 24 Stunden.

 

 

1. Akt

 

Schauplatz: Der Oktagon-Raum in Sir Robert Chilterns Haus am Grosvenor Square.

 

[Der Raum ist hell erleuchtet und voller Gäste. Am oberen Ende der Treppe steht Lady Chiltern, eine Frau von gravitätischer, hellenischer Schönheit, etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Sie begrüßt die Gäste, wenn diese heraufkommen. Über der Treppe hängt ein riesiger Kronleuchter mit Kerzen, die einen großen französischen Wandteppich aus dem 18. Jahrhundert beleuchten, der den "Triumph der Liebe" nach einem Entwurf von Boucher darstellt und an der Wand des Treppenhauses aufgehängt ist. Auf der rechten Seite befindet sich der Eingang zum Musikzimmer. Leise ist die Musik eines Streichquartetts zu hören. Der Eingang auf der linken Seite führt zu anderen Empfangsräumen. Mrs. Marchmont und Lady Basildon, zwei sehr hübsche Frauen, sitzen zusammen auf einem Louis-Seize-Sofa. Sie sind von grazilem, fast zerbrechlichem Aussehen. Ihr affektiertes Auftreten hat einen unterschwelligen Charme. Watteau hätte sie vermutlich  gerne gemalt.]

 

Mrs. Marchmont. Gehen Sie heute Abend auch zu den Hartlocks, Margaret?

Lady Basildon. Ich denke schon. Und Sie?

Mrs. Marchmont. Ja. Ihre Partys sind immer schrecklich langweilig, nicht wahr?

Lady Basildon. Schrecklich langweilig! Ich weiß nicht, warum ich überhaupt hingehe. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt irgendwo hingehe.

Mrs. Marchmont. Heute Abend bin ich hier, um mich weiterzubilden.

Lady Basildon. Ach! Ich hasse es, mich weiterzubilden!

Mrs. Marchmont. Ich auch. Man fühlt sich dabei so gewöhnlich, nicht wahr? Aber die liebe Gertrude Chiltern sagt mir immer, man müsse im Leben ein ernsthaftes Ziel verfolgen. Also bin ich hier, um eines zu finden.

Lady Basildon. [Sieht prüfend durch ihre Stielbrille] Ich sehe hier heute Abend niemanden, den man so bezeichnen könnte. Der Mann, der mich hierher einlud, hat dabei die ganze Zeit über seine Frau gesprochen.

Mrs. Marchmont. Wie gewöhnlich von ihm!

Lady Basildon. Schrecklich gewöhnlich! Worüber hat der Mann, der Sie eingeladen hat, gesprochen?

Mrs. Marchmont. Selbstverständlich über mich.

Lady Basildon. [Langsam] Und nun? Sind Sie interessiert?

Mrs. Marchmont. [Schüttelt den Kopf] Nicht im Geringsten.

Lady Basildon. Was sind wir doch für Märtyrer, liebe Margaret!

Mrs. Marchmont. [Steht auf] Und wie gut uns diese Rolle steht, Olivia!

[Sie erheben sich und gehen in Richtung Musikzimmer. Der Vicomte de Nanjac, ein junger Attaché, der für seine Krawatten und seine Anglomanie bekannt ist, nähert sich mit einer tiefen Verbeugung und nimmt an ihrer Unterhaltung teil].

Mason. [Kündigt weitere Gäste vom oberen Ende der Treppe aus an] Mr. und Lady Jane Barford. Lord Caversham.

[Auftritt Lord Caversham, ein alter Herr von siebzig Jahren, trägt das Band und den Stern des Hosenbandordens. Ein feiner Pinkel, der Whig-Partei angehörig, der aussieht wie ein Porträt von Lawrence].

Lord Caversham. Guten Abend, Lady Chiltern! Haben Sie meinen Taugenichts von einem Sohn gesehen?

Lady Chiltern. [Lächelnd] Ich glaube, Lord Goring ist noch nicht eingetroffen.

Mabel Chiltern. [Auf Lord Caversham zugehend] Warum nennen Sie Lord Goring einen "Taugenichts"?

[Mabel Chiltern ist ein perfektes Beispiel für die englische Definition von Schönheit, dem Typ "Apfelblüte.". Sie duftet wie eine Blume und verhält sich ganz ungezwungen. In ihrem Haar fängt sich ein Sonnenstrahl nach dem anderen, und der kleine Mund mit den geschürzten Lippen sieht erwartungsvoll aus, wie der eines Kindes. Sie vereint die faszinierende Tyrannei der Jugend und den erstaunlichen Mut der Unschuld. Gescheiten Menschen würde sie nicht an ein Kunstwerk erinnern. Tatsächlich sieht sie aber aus wie eine Tanagra-Statuette und wäre ziemlich verärgert, wenn man ihr das sagen würde].

Lord Caversham. Weil er ein Müßiggänger ist.

Mabel Chiltern. Wie können Sie so etwas sagen? Nun, er reitet morgens um zehn Uhr in der Row, geht dreimal die Woche in die Oper, wechselt mindestens fünfmal am Tag seine Kleidung und geht jeden Abend in der Saison auswärts essen. Nennen Sie so jemanden etwa einen Müßiggänger?

Lord Caversham. [Betrachtet sie mit einem freundlichen Funkeln in den Augen] Sie sind eine ganz bezaubernde junge Dame!

Mabel Chiltern. Wie nett von Ihnen, das zu sagen, Lord Caversham! Kommen Sie doch öfters zu uns. Sie wissen, wir sind mittwochs immer zu Hause, und Sie sehen so gut aus mit Ihrem Stern!

Lord Caversham. Ich gehe nirgendwo mehr hin. Habe die Londoner Gesellschaft satt. Hätte nichts dagegen, meinem Schneider vorgestellt zu werden; immerhin wählt er die richtige Partei. Aber ich weigere mich dagegen, mit dem Hutmacher meiner Frau essen zu gehen. Konnte Lady Cavershams Hauben noch nie ausstehen.

Mabel Chiltern. Oh, ich liebe die Londoner Gesellschaft! Ich finde, sie hat sich ungemein verbessert und besteht derzeit nur noch aus hübschen Idioten und brillanten Verrückten. Genau, wie eine Gesellschaft sein sollte.

Lord Caversham. Hm! In welche von beiden Klassen gehört Goring? Zu den hübschen Idioten oder in die andere?

Mabel Chiltern. [Ernst] Ich würde Lord Goring in eine Klasse für sich stecken. Aber er entwickelt sich hervorragend.

Lord Caversham. In was?

Mabel Chiltern. [Mit einem leichten Knicks] Ich hoffe, es Ihnen bald verraten zu können, Lord Caversham!

Mason. [Der weitere Gäste ankündigt] Lady Markby. Mrs. Cheveley.

[Auftritt Lady Markby und Mrs. Cheveley. Lady Markby ist eine angenehme, freundliche, beliebte Frau, mit grauem Haar à la marquise. Mrs. Cheveley, ihre Begleiterin, ist groß und ziemlich schlank. Ihre sehr dünnen Lippen sind grell gefärbt und wirken wie eine scharlachrote Linie quer durch ihr blasses Gesicht. Sie hat rötlich-blondes Haar, eine Adlernase und einen langen Hals. Rouge akzentuiert die natürliche Blässe ihres Teints. Ihre graugrünen Augen bewegen sich ohne Unterlass. Sie trägt ein lila Kleid, mit Diamanten abgesetzt. Sie sieht fast aus wie eine Orchidee und fordert die Neugierde jedes Betrachters heraus. Jede ihrer Bewegungen ist äußerst anmutig. Im Großen und Ganzen ein Kunstwerk, das von zu vielen Schulen beeinflusst wurde].

Lady Markby. Guten Abend, liebe Gertrude! Wie nett von Ihnen, dass ich meine Freundin, Mrs. Cheveley, mitbringen durfte. Zwei so charmante Frauen sollten sich unbedingt kennenlernen!

Lady Chiltern. [Geht freundlich lächelnd auf Mrs. Cheveley zu. Dann hält sie plötzlich inne und verbeugt sich eher distanziert] Ich glaube, Mrs. Cheveley und ich sind uns schon einmal begegnet. Ich wusste nicht, dass sie ein zweites Mal geheiratet hat.

Lady Markby. [Herzlich] Ach, heutzutage heiraten die Leute doch so oft sie können, nicht wahr? Es ist einfach sehr in Mode. [Zur Herzogin Maryborough] Liebe Herzogin, und wie geht es dem Herzog? Immer noch bei schwachem Verstand, nehme ich an? Nun, das ist nur zu erwarten, nicht wahr? Seinem guten Vater ging es ebenso. Es geht doch nichts über gute Erbanlagen, finden Sie nicht auch?

Mrs. Cheveley. [Spielt mit ihrem Fächer] Sind wir uns wirklich schon einmal begegnet, Lady Chiltern? Ich kann mich nicht erinnern, wo. Ich war so lange nicht in England gewesen.

Lady Chiltern. Wir waren zusammen in der Schule, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley [Hochmütig] Tatsächlich? Ich habe meine Schulzeit völlig vergessen. Allerdings habe ich den vagen Eindruck, dass sie abscheulich war.

Lady Chiltern. [Kühl] Das wundert mich nicht!

Mrs. Cheveley. [Übertrieben süßlich] Ich freue mich schon darauf, Ihren klugen Mann kennenzulernen, Lady Chiltern. Seit er im Auswärtigen Amt ist, wird in Wien so viel über ihn gesprochen. Sie schreiben sogar seinen Namen richtig in den Zeitungen. Das allein ist schon Ruhm genug für den Kontinent.

Lady Chiltern. Ich glaube kaum, dass Sie und mein Mann viele Gemeinsamkeiten finden werden, Mrs. Cheveley! [Geht weg]

Vicomte de Nanjac. Ah! chère Madame, quelle surprise! Ich habe Sie seit Berlin nicht mehr gesehen!

Mrs. Cheveley. Nicht seit Berlin, Vicomte. Es war vor fünf Jahren!

Vicomte de Nanjac. Und Sie sind jünger und schöner als je zuvor. Wie schaffen Sie das nur?

Mrs. Cheveley. Indem ich es mir zur Regel mache, nur mit so bezaubernden Menschen wie Ihnen zu sprechen.

Vicomte de Nanjac. Ah! Sie schmeicheln mir – Sie schmieren mir Honig ums Maul, wie man hier sagt.

Mrs. Cheveley. Sagt man das hier? Wie schauderhaft!

Vicomte de Nanjac. Ach was, die Sprache hier ist wunderbar. Viel mehr Menschen sollten sie sprechen.

[Auftritt Sir Robert Chiltern. Ein Mann von vierzig Jahren, aber etwas jünger aussehend. Sauber rasiert, mit fein geschnittenen Zügen, mit dunklen Augen und Haaren. Eine Persönlichkeit von Format. Nicht sehr beliebt – das sind nur wenige Persönlichkeiten. Aber von einigen zutiefst bewundert und vom Rest noch tiefer respektiert. Sein Auftreten und sein Tonfall zeugen von vollkommener Vornehmheit, mit einem leichten Anflug von Stolz. Man spürt, dass er sich seines Erfolgs bewusst ist. Er hat ein nervöses Temperament und einen erschöpften Blick. Der kantige Mund und das Kinn stehen in auffälligem Kontrast zu dem romantischen Ausdruck in den tiefliegenden Augen. Fast wirkt es wie eine völlige Trennung von Leidenschaft und Intellekt, als ob Vernunft und Emotion durch irgendeine Willenskraft jeweils in ihrer eigenen Sphäre isoliert würden. Seine Nasenlöcher und die bleichen, dünnen, spitzen Hände zeugen ebenfalls von seiner Nervosität. Es wäre falsch, ihn malerisch zu nennen. Etwas Malerisches kann im Unterhaus nicht überleben. Aber Van Dyck hätte sicher gerne seinen Kopf gemalt].

Sir Robert Chiltern. Guten Abend, Lady Markby! Ich hoffe, Sie haben Sir John mitgebracht?

Lady Markby. Oh! Ich habe eine viel charmantere Person als Sir John mitgebracht. Sir Johns Launen sind unerträglich geworden, seit er sich ernsthaft der Politik verschrieben hat. Gerade jetzt, wo das Unterhaus eventuell nützlich werden könnte, schadet es sehr.

Sir Robert Chiltern. Das hoffe ich doch nicht, Lady Markby. Jedenfalls tun wir unser Bestes, um die öffentliche Zeit zu verschwenden, nicht wahr? Aber wer ist diese charmante Person, die Sie freundlicherweise mitgebracht haben?

Lady Markby. Ihr Name ist Mrs. Cheveley! Eine der Dorsetshire-Cheveleys, nehme ich an. Aber ich weiß es nicht genau. Die Familien sind heutzutage nicht mehr so klar abgegrenzt. Tatsächlich entpuppt sich irgendwann jeder als jemand anderes.

Sir Robert Chiltern. Mrs. Cheveley? Ich glaube, ich kenne den Namen.

Lady Markby. Sie ist soeben aus Wien eingetroffen.

Sir Robert Chiltern. Ach ja! Ja. Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen.

Lady Markby. Sie ist dort auf allen Partys zu finden und erzählt so unterhaltsamen Klatsch über all ihre Freunde. Ich muss unbedingt im nächsten Winter nach Wien fahren und hoffe, die Botschaft hat einen guten Koch.

Sir Robert Chiltern. Falls es keinen gibt, sollten wir den Botschafter dort unbedingt abziehen. Bitte zeigen Sie mir Mrs. Cheveley. Ich würde sie gerne treffen.

Lady Markby. Ich stelle Sie ihr vor. [Zu Mrs. Cheveley] Meine Liebe, Sir Robert Chiltern brennt darauf, Sie kennen zu lernen!

Sir Robert Chiltern. [Verbeugt sich vor ihr] Alle brennen darauf, die zauberhafte Mrs. Cheveley kennen zu lernen. Unsere Attachés in Wien schreiben uns von nichts anderem mehr.

Mrs. Cheveley. Ich danke Ihnen, Sir Robert. Aus einer Bekanntschaft, die mit einem Kompliment beginnt, wird ganz sicher eine echte Freundschaft werden. Zumindest beginnt sie so, wie sie sollte. Übrigens kenne ich Lady Chiltern bereits.

Sir Robert Chiltern. Tatsächlich?

Mrs. Cheveley. Ja. Sie hat mich gerade daran erinnert, dass wir zusammen zur Schule gegangen sind. Jetzt erinnere ich mich genau. Sie bekam immer ein Sonderlob für gutes Betragen. Ich erinnere mich genau, dass Lady Chiltern immer das Sonderlob für gutes Betragen bekam.

Sir Robert Chiltern. [Lächelnd] Und welche Preise haben Sie erhalten, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley. Ich habe meine Preise erst etwas später im Leben bekommen. Aber ich glaube, es war keiner für gute Führung darunter. Ehrlich gesagt, habe ich es vergessen!

Sir Robert Chiltern. Ich bin sicher, Sie haben sie für etwas sehr Reizendes bekommen!

Mrs. Cheveley. Mir wäre nicht bekannt, dass Frauen jemals für ihre Reize belohnt worden wären. Für gewöhnlich werden sie eher dafür bestraft! Sicherlich altern die Frauen heutzutage mehr durch die Treue ihrer Verehrer alt als durch irgendetwas anderes! Zumindest kann ich mir nur so das furchtbar ausgezehrte Aussehen der meisten hübschen Frauen in London erklären!

Sir Robert Chiltern. Was für eine entsetzliche Weltanschauung! Der Versuch, Sie einstufen zu wollen, Mrs. Cheveley, wäre eine Frechheit. Aber darf ich fragen, sind Sie im Grunde Ihres Herzens eher eine Optimistin oder eine Pessimistin? Das scheinen mir die beiden einzigen modernen Religionen unserer heutigen Welt zu sein.

Mrs. Cheveley. Oh, ich bin weder noch. Optimismus beginnt mit einem breiten Grinsen, und Pessimismus endet mit einer verdunkelten Brille. Außerdem sind beide Haltungen nur aufgesetzt.

Sir Robert Chiltern. Sie ziehen es vor, natürlich zu sein?

Mrs. Cheveley. Manchmal. Oft fällt es allerdings sehr schwer, diese Haltung aufzusetzen.

Sir Robert Chiltern. Was würden die modernen psychologischen Schriftsteller, von denen wir so viel hören, zu einer solchen Theorie sagen?

Mrs. Cheveley. Ach! Die Stärke der Frauen entstammt einem Umstand, den uns die Psychologie nicht erklären kann. Männer kann man analysieren, Frauen – nur anhimmeln.

Sir Robert Chiltern. Sie glauben, die Wissenschaft kann sich nicht mit dem Problem der Frauen auseinandersetzen?

Mrs. Cheveley. Die Wissenschaft kann sich mit überhaupt nichts Irrationalem auseinandersetzen. Deshalb hat sie auch keine Zukunft in dieser Welt.

Sir Robert Chiltern. Und Frauen repräsentieren das Irrationale.

Mrs. Cheveley. Gut gekleidete Frauen schon.

Sir Robert Chiltern. [Sich höflich verbeugend] Ich fürchte, da kann ich Ihnen kaum zustimmen. Aber setzen Sie sich doch. Und nun sagen Sie mir, wie kamen Sie auf die Idee, Ihr glänzendes Wien für unser düsteres London zu verlassen – oder ist diese Frage etwa indiskret?

Mrs. Cheveley. Fragen sind nie indiskret. Antworten manchmal schon.

Sir Robert Chiltern. Nun, dürfte ich jedenfalls wissen, ob es wegen der Politik oder dem Vergnügen war?

Mrs. Cheveley. Politik ist mein einziges Vergnügen. Sehen Sie, heutzutage ist es für Frauen unter vierzig nicht mehr in Mode, zu flirten, und um romantisch zu sein, sollte man wenigstens fünfundvierzig sein; also bleibt uns armen Frauen, die unter dreißig sind, oder dies wenigstens behaupten, nichts anderes als Politik oder Philanthropie. Wobei Philanthropie mir wie die Zuflucht von Leuten vorkommt, die ihren Mitmenschen auf die Nerven gehen wollen. Ich bevorzuge die Politik. Ich finde – sie steht mir besser!

Sir Robert Chiltern. Ein politisches Leben ist eine stattliche Karriere!

Mrs. Cheveley. Manchmal. Manchmal ist es auch nur ein geschicktes Spiel, Sir Robert. Oder ein ziemlich großes Ärgernis.

Sir Robert Chiltern. Und wie steht es mit Ihrem Leben?

Mrs. Cheveley. Mit meinem? Wohl eine Kombination aus allen drei Möglichkeiten. [Lässt ihren Fächer fallen]

Sir Robert Chiltern. [Hebt den Fächer auf] Darf ich?

Mrs. Cheveley. Danke.

Sir Robert Chiltern. Aber Sie haben mir immer noch nicht erzählt, was Sie so plötzlich nach London treibt. Die Saison hier ist fast vorbei.

Mrs. Cheveley. Ach! Die Londoner Saison ist mir egal! Da geht es doch nur um Ehen. Entweder sind die Frauen auf der Jagd nach Ehemännern oder verstecken sich vor ihnen. Nein – ich wollte Sie kennenlernen. Ehrlich. Sie wissen, wie groß die Neugierde einer Frau ist? Fast so groß wie die eines Mannes! Ich wollte Sie unbedingt kennen lernen und – Sie bitten, mir einen Gefallen zu tun.

Sir Robert Chiltern. Ich hoffe, es ist keine Kleinigkeit, Mrs. Cheveley. Ich finde, dass gerade kleine Gefallen so schwer zu erfüllen sind.

Mrs. Cheveley. [Nach kurzer Überlegung] Nein, ich finde nicht, dass es eine Kleinigkeit ist.

Sir Robert Chiltern. Da bin ich aber froh. Sagen Sie mir, um was es geht.

Mrs. Cheveley. Später. [Erhebt sich] Darf ich mir Ihr herrliches Haus ansehen? Ich hörte, Sie besitzen ganz bezaubernde Bilder. Der arme Baron Arnheim – Sie erinnern sich an ihn? – sagte mir, Sie hätten einige wunderbare Corots.

Sir Robert Chiltern. [Zuckt kaum wahrnehmbar zusammen] Kannten Sie Baron Arnheim gut?

Mrs. Cheveley. [Lächelnd] Wir waren sehr vertraut. Und Sie?

Sir Robert Chiltern. Ich habe ihn einmal getroffen.

Mrs. Cheveley. Ein wunderbarer Mann, nicht wahr?

Sir Robert Chiltern. [Nach kurzer Pause] Ein sehr bemerkenswerter Mann, in vielerlei Hinsicht.

Mrs. Cheveley. Ich finde es schade, dass er nie seine Memoiren geschrieben hat. Sie wären höchst interessant gewesen.

Sir Robert Chiltern. Ja, er war ein Kenner der Menschen und der Städte – wie die alten Griechen.

Mrs. Cheveley. Ohne den furchtbaren Nachteil, dass eine Penelope zu Hause auf ihn gewartet hätte.

Mason. Lord Goring.

[Auftritt Lord Goring. Vierunddreißig, sagt aber immer, er sei jünger. Ein wohlerzogenes, ausdrucksloses Gesicht. Er ist klug, möchte aber nicht dafür gehalten werden. Ein lupenreiner Dandy. Es würde ihn ärgern, wenn man ihn für romantisch hielte. Er spielt mit dem Leben, ist mit der Welt im Reinen und mag es, missverstanden zu werden. Das verschafft ihm eine vorteilhafte Position].

Sir Robert Chiltern. Guten Abend, mein lieber Arthur! Mrs. Cheveley, darf ich Ihnen Lord Goring vorstellen, den müßigsten Mann Londons.

Mrs. Cheveley. Ich habe Lord Goring bereits kennengelernt.

Lord Goring. [Verbeugt sich] Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich an mich erinnern, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley. Mein Gedächtnis funktioniert noch hervorragend. Sind Sie noch Junggeselle?

Lord Goring. Ich – glaube schon.

Mrs. Cheveley. Wie romantisch!

Lord Goring. Oh! Ich bin ganz und gar nicht romantisch. Dafür bin ich noch nicht alt genug. Ich überlasse die Romantik lieber den Älteren.

Sir Robert Chiltern. Lord Goring ist ein Produkt des Boodle's Club, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley. Er macht der Institution alle Ehre.

Lord Goring. Darf ich fragen, ob Sie lange in London bleiben?

Mrs. Cheveley. Das hängt teils vom Wetter, teils von der Küche, und teils von Sir Robert ab.

Sir Robert Chiltern. Ich hoffe doch, Sie werden uns nicht in einen europäischen Krieg stürzen?

Mrs. Cheveley. Dazu besteht derzeit keinerlei Gefahr! [Sie nickt mit einem amüsierten Blick in den Augen Lord Goring zu und geht mit Sir Robert Chiltern hinaus. Lord Goring schlendert zu Mabel Chiltern hinüber]

Mabel Chiltern. Sie sind sehr spät dran!

Lord Goring. Haben Sie mich bereits vermisst?

Mabel Chiltern. Ganz schrecklich!

Lord Goring. Dann tut es mir leid, dass ich nicht länger weggeblieben bin. Ich mag es, wenn man mich vermisst.

Mabel Chiltern. Wie egoistisch von Ihnen!

Lord Goring. Ich bin sehr selbstsüchtig.

Mabel Chiltern. Sie erzählen mir immer nur von Ihren schlechten Eigenschaften, Lord Goring.

Lord Goring. Oh, ich habe Ihnen bisher nur die Hälfte davon erzählt, Miss Mabel!

Mabel Chiltern. Sind die anderen sehr schlecht?

Lord Goring. Ganz furchtbar! Wenn ich nachts daran denke, schlafe ich sofort ein.

Mabel Chiltern. Nun, ich freue mich über Ihre schlechten Eigenschaften. Sie sollten sich nicht von einer einzigen trennen.

Lord Goring. Wie nett von Ihnen! Aber Sie sind ja immer nett. Übrigens möchte ich Sie etwas fragen, Miss Mabel. Wer hat Mrs. Cheveley mitgebracht? Die Frau in dem lila Kleid, die soeben mit Ihrem Bruder aus dem Zimmer gegangen ist?

Mabel Chiltern. Oh, ich glaube, Lady Markby hat sie mitgebracht. Warum fragen Sie?