0,00 €
Fürst Myschkin tritt nach einem fünfjährigen Sanatoriumsaufenthalt in die Petersburger Gesellschaft ein. Durch seine vorherige Isolation hat er sich kindlich wirkende Verhaltensweisen bewahrt, wodurch er in den Augen der anderen ein weltfremder Sonderling ist, den man bestenfalls belächelt. Dem intriganten Treiben sind seine Naivität, Offenheit und Ehrlichkeit wehrlos ausgesetzt, sein Ideal der gelebten Menschenliebe trifft auf Unverständnis. Myschkins Versuche, den Menschen zu helfen, wie auch seine Versuche, sich aus den gesellschaftlichen und persönlichen Verstrickungen, in die er gerät, zu befreien, sind zum Scheitern verurteilt. "Der Idiot" zählt zu den bekanntesten Werken des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881). Der Roman wurde zuerst in Fortsetzungen zwischen 1868 und 1869 in der Zeitschrift „Russki Westnik“ veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe folgt der Übertragung ins Deutsche von Hermann Röhl (1851-1923), ist mit erläuternden Anmerkungen versehen und enthält im letzten Band zusätzlich einen Essay über Dostojewski vom österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Bahr. Dieses ist der erste von vier Bänden. Der Umfang entspricht ca. 300 Druckseiten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 415
DER IDIOT
VON
FJODOR MICHAILOWITSCH DOSTOJEWSKI
Aus dem Russischen übersetzt
von Hermann Röhl
ROMAN
BAND 1
DER IDIOT wurde im russischen Original zuerst veröffentlicht in den Jahren 1868 und 1869 im russischen Journal Russkij vestnik.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2021
V 1.0
Anmerkungen zur Transkription: Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt der Übersetzung von Hermann Röhl (1851-1923) der deutschsprachigen Ausgabe aus dem Jahr 1920.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Buch ist Teil der ApeBook Classics: Klassische Meisterwerke der Literatur als Paperback und eBook. Weitere Informationen am Ende des Buches und unter: www.apebook.de
ISBN 978-3-96130-384-7
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
Alle verwendeten Bilder und Illustrationen sind – sofern nicht anders ausgewiesen – nach bestem Wissen und Gewissen frei von Rechten Dritter, teilweise bearbeitet von SKRIPTART.
Alle Rechte vorbehalten.
© apebook 2021
Books made in Germany with
Bleibe auf dem Laufenden über Angebote und Neuheiten aus dem Verlag mit dem lesenden Affen und
abonniere den kostenlosen apebook Newsletter!
Erhalte zwei eBook-Klassiker gratis als Willkommensgeschenk!
Du kannst auch unsere eBook Flatrate abonnieren.
Dann erhältst Du alle neuen eBooks aus unserem Verlag (Klassiker und Gegenwartsliteratur)
für einen sehr kleinen monatlichen Beitrag (Zahlung per Paypal oder Bankeinzug).
Hier erhältst Du mehr Informationen dazu.
Follow apebook!
DER IDIOT
Klicke auf die Cover!
Inhaltsverzeichnis
DER IDIOT. Band 1 von 4
Impressum
Erster Teil
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
Eine kleine Bitte
Buchtipps für dich
A p e B o o k C l a s s i c s
N e w s l e t t e r
F l a t r a t e
F o l l o w
A p e C l u b
L i n k s
Zu guter Letzt
Es war gegen Ende des November, bei Tauwetter, als sich um neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg-Warschauer Bahn mit vollem Dampf Petersburg näherte. Das Wetter war so feucht und neblig, daß das Tageslicht kaum zur Geltung kam; auf zehn Schritte konnte man rechts und links von der Bahn aus den Fenstern der Waggons nur mit Mühe etwas erkennen. Unter den Passagieren waren einige, die aus dem Ausland zurückkehrten; am meisten gefüllt waren aber die Abteile dritter Klasse, und zwar fast ausschließlich mit kleinen Geschäftsleuten, die nicht aus sehr weiter Entfernung kamen. Alle waren, wie das so zu sein pflegt, müde; allen waren während der Nacht die Augenlider schwer geworden, alle fröstelten, alle Gesichter waren gelblich, von derselben Farbe wie der Nebel.
In einem Waggon dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kom men. Wenn sie beide voneinander gewußt hätten, wodurch sie gerade in diesem Augenblick interessant waren, so hätten sie sich gewiß darüber gewundert, daß der Zufall sie so seltsam in einem Waggon dritter Klasse der Petersburg-Warschauer Eisenbahn einander gegenübergesetzt hatte. Der eine von ihnen war von kleiner Statur, etwa siebenundzwanzig Jahre alt und hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine, graue, aber feurige Augen. Seine Nase war breit und plattgedrückt; die Backenknochen traten stark hervor; die schmalen Lippen verzogen sich fortwährend zu einem dreisten, spöttischen und sogar boshaften Lächeln; aber seine Stirn war hoch und gut geformt und verschönte den unvornehm geschnittenen unteren Teil des Gesichts. Besonders auffällig war an diesem Gesicht seine Totenblässe, die der ganzen Physiognomie des jungen Mannes trotz seiner ziemlich kräftigen Konstitution den Anschein der Erschöpfung verlieh und zugleich den Anschein einer peinvollen Leidenschaftlichkeit, die mit seinem frechen, unhöflichen Lächeln und seinem scharfen, selbstzufriedenen Blick nicht recht im Einklang stand. Er war warm gekleidet, indem er einen weiten, schwarzen, mit Tuch überzogenen Pelz aus Lammfell trug, und hatte in der Nacht nicht gefroren, während sein Reisegefährte an seinem frostzitternden Rücken die ganze Annehmlichkeit einer feuchten russischen Novembernacht hatte aus halten müssen, auf die er offenbar nicht hinreichend vorbereitet war. Er trug einen ziemlich weiten, dicken Mantel ohne Ärmel und mit einer gewaltigen Kapuze, von der Art, wie man sie oft auf Reisen zur Winterzeit irgendwo im fernen Ausland benutzt, zum Beispiel in der Schweiz oder in Oberitalien, wo man dabei natürlich auch nicht auf so weite Fahrten rechnet wie die von Eydtkuhnen nach Petersburg. Aber was in Italien taugte und völlig ausreichte, erwies sich in Rußland als ganz untauglich. Der Eigentümer des Mantels mit der Kapuze war ein junger Mensch, der gleichfalls im Alter von etwa sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren stand, etwas über Mittelgröße, mit sehr hellblondem, dichtem Haar, hohlen Backen und einem kleinen, spitzen, fast ganz weißen Bärtchen. Seine Augen waren groß, blau und ruhig; in ihrem Blick lag etwas Stilles, aber Bedrücktes, etwas von jenem eigentümlichen Ausdruck, an dem manche auf den ersten Blick erraten, daß der Betreffende Epileptiker ist. Das Gesicht des jungen Mannes war übrigens angenehm, mit feinen Zügen und nicht zu fleischig, aber farblos, nur daß es augenblicklich geradezu blaugefroren war. An seinen Händen baumelte ein schmächtiges Bündelchen, das in einem alten, verblichenen, seidenen Tuch, wie es schien, sein ganzes Reisegepäck enthielt. An den Füßen hatte er dicksohlige Schuhe mit Gamaschen – alles in nicht-rus sischer Art. Sein schwarzhaariger Reisegenosse in dem tuchüberzogenen Pelz musterte dies alles genau, zum Teil, weil er nichts anderes zu tun hatte, und fragte schließlich mit jenem taktlosen Lächeln, durch welches manchmal in so ungenierter, geringschätziger Weise das Vergnügen der Leute über das Mißgeschick des Nächsten zum Ausdruck kommt:
»Ist Ihnen kalt?«
Er machte dabei Bewegungen mit den Schultern.
»Ja, sehr kalt«, antwortete der Reisegenosse mit großer Bereitwilligkeit; »und, sehen Sie, dabei haben wir noch Tauwetter. Wie wäre es erst, wenn wir Kälte hätten? Ich hatte gar nicht gedacht, daß es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr gewohnt.«
»Sie kommen wohl aus dem Ausland?«
»Ja, aus der Schweiz.«
»Fuet! Nun sehen Sie einmal an!«
Der Schwarzhaarige tat einen Pfiff und lachte.
Es kam ein Gespräch in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes im Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Gefährten zu antworten, war erstaunlich; er merkte in seiner Harmlosigkeit offenbar gar nicht, daß manche dieser Fragen sehr geringschätzig klangen und höchst unpassend und müßig waren. Bei seinen Antworten teilte er unter anderem mit, daß er tatsächlich lange Zeit nicht in Rußland gewesen sei, über vier Jahre; man habe ihn wegen einer Krankheit ins Ausland geschickt, wegen einer eigentümlichen Nervenkrankheit nach Art der Epilepsie oder des Veitstanzes, die sich in Zuckungen und Krämpfen geäußert habe. Der schwarzhaarige junge Mann lächelte beim Zuhören einige Male; namentlich lachte er auf, als auf die Frage:
»Na, sind Sie denn nun geheilt?« der Blonde erwiderte:
»Nein, geheilt bin ich nicht«.
»Haha! Da haben Sie also Ihr Geld vergebens bezahlt; und wir hier schenken jenen Leuten Vertrauen!« bemerkte der Schwarzhaarige spöttisch.
»Ja, das ist durchaus richtig!« mischte sich in das Gespräch ein daneben sitzender, schlecht gekleideter Herr, so eine Art von geriebenem Amtsschreiber, etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit roter Nase und einem Gesicht voller Pickel. »Das ist durchaus richtig; sie saugen uns Russen das Mark aus, ohne selbst etwas dafür zu leisten!«
»Oh, wie Sie sich in meinem Falle irren!« erwiderte der Schweizer Patient in ruhigem, versöhnlichem Ton. »Ich kann ja allerdings nicht darüber disputieren, weil ich keinen Gesamtüberblick habe; aber mein Arzt hat mir von dem wenigen, was er besaß, noch das Geld für die Fahrt hierher gegeben, und fast zwei Jahre lang hat er mich dort aus seinen eigenen Mitteln unterhalten.«
»Wie? Hatten Sie wirklich niemand, der für Sie bezahlte?« fragte der Schwarzhaarige.
»Nein. Herr Pawlischtschew, der die Kosten meines dortigen Aufenthalts getragen hatte, ist vor zwei Jahren gestorben; ich schrieb dann hierher an die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte von mir, habe aber keine Antwort erhalten. So bin ich denn hergereist.«
»Wo gedenken Sie denn zu bleiben?«
»Sie meinen, wo ich Wohnung nehmen werde? … Das weiß ich noch nicht, wirklich nicht … es ist noch ungewiß …«
»Darüber haben Sie noch keinen Entschluß gefaßt?«
Beide Zuhörer brachen von neuem in ein Gelächter aus.
»Und dieses Bündelchen enthält wohl Ihre ganze Habe?« fragte der Schwarzhaarige.
»Ich möchte darauf wetten, daß es so ist«, fiel mit sehr zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein, »und daß Sie kein weiteres Gepäck im Gepäckwagen haben. Wiewohl Armut keine Schande ist, wie man immer wieder bemerken muß.«
Es stellte sich heraus, daß es sich wirklich so verhielt: der blonde junge Mann gestand dies sofort mit großer Bereitwilligkeit ein.
»Ihr Bündelchen hat trotzdem einen gewissen Wert«, fuhr der Beamte, nachdem er sich satt gelacht hatte, fort (bemerkenswert war, daß auch der Eigentümer des Bündelchens selbst schließlich beim Anblick der beiden mitzulachen anfing, was deren Heiterkeit noch vergrößerte). »Man möchte zwar wetten, daß keine Rollen mit ausländischen Goldstücken, wie Napoleondors, Friedrichsdors oder holländischen Dukaten, darin sind; das kann man zum Beispiel schon aus Ihren ausländischen Gamaschen schließen; aber wenn man zu Ihrem Bündelchen noch eine solche Verwandte hinzunimmt wie die Generalin Jepantschina, dann gewinnt auch das Bündelchen gewissermaßen einen höheren Wert, selbstverständlich nur in dem Falle, wenn die Generalin Jepantschina wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht aus Zerstreutheit irren … was einem außerordentlich leicht passieren kann … sagen wir: infolge eines Übermaßes von Phantasie.«
»Oh, Sie haben wieder das Richtige getroffen«, erwiderte der blonde junge Mensch, »denn ich befinde mich wirklich beinah in einem Irrtum, das heißt, sie ist kaum meine Verwandte; ja, ich habe mich tatsächlich damals gar nicht darüber gewundert, daß ich keine Antwort nach der Schweiz bekam. Ich hatte das eigentlich auch so erwartet.«
»Da haben Sie das Geld für die Frankierung des Briefes unnütz ausgegegen. Hm …! Nun, wenigstens sind Sie offenherzig und aufrichtig, und das ist löblich! Hm …! Den General Jepantschin kenne ich, im Grunde, weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist; und den verstorbenen Herrn Pawlischtschew, der Sie in der Schweiz unterhalten hat, habe ich ebenfalls gekannt, vorausgesetzt, daß es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew handelt; denn es waren zwei Vettern. Der andere befindet sich noch in der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein sehr achtbarer Mann und hatte gute Verbindungen, und besaß seinerzeit viertausend Seelen …«
»Ganz richtig; er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew.«
Nachdem der junge Mensch diese Antwort gegeben hatte, betrachtete er unverwandt und mit lebhaftem Interesse den Herrn, der sich über alles so gut orientiert zeigte.
Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einerSeite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck »sie wissen alles« muß man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was er für eine Frau genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist usw., usw., und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils gehen diese Alleswisser mit durchgestoßenen Ellbogen umher und bekommen siebzehn Rubel Gehalt monatlich. Die Leute, über die sie alle möglichen Einzelheiten wissen, würden natürlich nicht sagen können, warum jene an ihnen ein derartiges Interesse nehmen; und dabei finden viele dieser Alleswisser an diesem Wissen, das einer ganzen Wissenschaft gleichkommt, ein entschiedenes Vergnügen und gelangen dadurch zu Selbstachtung und sogar zu einem sehr hohen Grad seelischer Zufriedenheit. Und es ist auch eine verführerische Wissenschaft. Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre größte Befriedigung, ihr höchstes Ziel fanden und sogar entschieden nur hierdurch Karriere machten. Im weiteren Verlauf dieses ganzen Gesprächs gähnte der schwarzhaarige junge Mensch, blickte ziellos durchs Fenster und wartete mit Ungeduld auf das Ende der Reise. Er war etwas zerstreut, sogar sehr zerstreut, beinah aufgeregt; ja, er benahm sich einigermaßen sonderbar: manchmal hörte er zu, ohne recht zuzuhören, sah, ohne recht zu sehen, und lachte, ohne im nächsten Augenblick zu wissen und sich zu erinnern, worüber er eigentlich gelacht hatte.
»Aber gestatten Sie die Frage: mit wem habe ich die Ehre?« wandte sich auf einmal der Herr mit dem Gesicht voller Pickel an den blonden jungen Mann mit dem Bündelchen.
»Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin«, antwortete dieser ohne zu zögern, mit größter Bereitwilligkeit.
»Fürst Myschkin? Ljow Nikolajewitsch? Kenne ich nicht. Nicht einmal vom Hörensagen«, antwortete der Beamte nachdenkend. »Das heißt, ich meine nicht den Namen; der Name ist ja historisch und in Karamsins ›Geschichte Rußlands‹ zu finden; ich meine Ihre Person, und überhaupt begegnen Fürsten Myschkin einem nirgends mehr; man hört von ihnen nicht einmal reden.«
»Wie könnte es auch anders sein!« versetzte der Fürst sogleich. »Fürsten Myschkin gibt es jetzt außer mir gar nicht mehr; ich glaube, ich bin der letzte. Und was meinen Vater und meinen Großvater anlangt, so besaßen die nur ein einziges Gut, auf dem sie zurückgezogen lebten. Mein Vater war übrigens Leutnant bei der Linie, vorher Fähnrich. Und nun weiß ich nicht, in welcher Weise die Generalin Jepantschina zu den Myschkinschen Fürstentöchtern gehört; sie ist ebenfalls die Letzte in ihrer Art …«
»Hahaha! Die Letzte in ihrer Art! Haha! Wie Sie das gedreht haben!« kicherte der Beamte.
Auch der schwarzhaarige junge Mann lächelte. Der Blonde war etwas verlegen, daß es ihm gelungen war, ein allerdings ziemlich einfaches Wortspiel zu machen.
»Seien Sie überzeugt, ich habe es ganz ohne Absicht gesagt«, erklärte er schließlich einigermaßen befangen.
»Sehr begreiflich, sehr begreiflich!« stimmte ihm der Beamte heiter bei.
»Haben Sie denn dort auch Wissenschaften betrieben, Fürst, bei Ihrem Professor?« fragte unvermittelt der Schwarzhaarige.
»Ja … allerdings …«
»Ich für meine Person habe nie etwas studiert.«
»Auch ich nur ein klein wenig«, fügte der Fürst in einem Ton hinzu, der beinah wie eine Bitte um Entschuldigung klang. »Mir einen regulären Unterricht zu erteilen, hielt man in Anbetracht meiner Krankheit nicht für möglich.«
»Kennen Sie die Familie Rogoschin?« fragte der schwarzhaarige junge Mensch schnell.
»Nein, ich kenne sie nicht, gar nicht. Ich kenne in Rußland überhaupt nur wenige Menschen. Ist Ihr Name Rogoschin?«
»Ja, ich heiße Rogoschin, Parfen Rogoschin.«
»Parfen? Sind Sie da nicht vielleicht ein Mitglied eben jener Familie Rogoschin …«, begann der Beamte mit noch gesteigerter Wichtigtuerei.
»Jawohl, eben jener, eben jener«, unterbrach ihn schnell und mit unhöflicher Ungeduld der Schwarzhaarige, der überhaupt dem Beamten mit dem Gesicht voller Pickel nie Beachtung geschenkt, sondern gleich von Anfang an immer nur zu dem Fürsten gesprochen hatte.
»Ja … ist es möglich?« rief der Beamte; er war ganz starr vor Staunen, die Augen traten ihm beinah aus den Höhlen, und sein ganzes Gesicht nahm sogleich einen ehrerbietigen, knechtischen, ja erschrockenen Ausdruck an. »Sind Sie ein Sohn eben jenes erblichen Ehrenbürgers Semjon Parfenowitsch Rogoschin, der vor einem Monat starb und ein bares Kapital von dreieinhalb Millionen hinterließ?«
»Woher haben Sie denn erfahren, daß er ein bares Kapital von dreieinhalb Millionen hinterlassen hat?« unterbrach ihn der Schwarzhaarige, der sich auch diesmal nicht dazu herabließ, den Beamten anzusehen. »Nun sieh mal einer den Kerl an!« (Er wies den Fürsten durch Augenzwinkern auf ihn hin.) »Und was haben die Leute nur davon, daß sie sich sofort mit Schmeicheleien an einen heranmachen? Aber wahr ist, daß mein Vater gestorben ist und ich jetzt einen Monat nachher beinah ohne Stiefel von Pskow nach Hause fahre. Weder mein niederträchtiger Bruder noch meine Mutter haben mir Geld oder eine Benachrichtigung geschickt – nichts haben sie mir geschickt! Als ob ich ein Hund wäre! Einen ganzen Monat lang habe ich in Pskow im Fieber gelegen!«
»Aber jetzt werden Sie mehr als ein Milliönchen mit einemmal bekommen, mindestens soviel, o mein Herrgott!« rief der Beamte und schlug die Hände zusammen. »Na, was geht ihn das an? Sagen Sie, bitte, selbst!« sagte Rogoschin, wieder mit dem Kopf auf ihn hindeutend, in gereiztem, ärgerlichem Ton. »Ich werde Ihnen ja doch nicht eine einzige Kopeke geben, und wenn Sie sich vor mir auf den Kopf stellen und auf den Händen gehen.«
»Das werde ich tun, das werde ich tun!«
»Da haben wir's! Aber ich werde Ihnen nichts geben, gar nichts, und wenn Sie eine ganze Woche lang tanzen!«
»Sie brauchen mir nichts zu geben! Das verlange ich auch gar nicht! Sie brauchen mir nichts zu geben! Aber ich werde doch tanzen. Meine Frau und meine kleinen Kinder werde ich im Stich lassen und vor Ihnen tanzen. Aus reiner Liebenswürdigkeit!«
»Pfui über Sie!« sagte der Schwarzhaarige und spuckte aus. »Vor fünf Wochen befand ich mich in demselben Zustand wie Sie jetzt«, wandte er sich an den Fürsten, »mit einem einzigen Bündelchen entfloh ich vor meinem Vater nach Pskow zu einer Tante; und dort habe ich am Fieber krank gelegen, und er ist in meiner Abwesenheit gestorben. Ein Schlagfluß hat ihm den Garaus gemacht. Ich wünsche dem Verstorbenen die ewige Ruhe; aber er hat mich damals fast zu Tode geprügelt. Sie können es mir glauben, Fürst, bei Gott! Wäre ich damals nicht davongelaufen, so hätte er mich auf dem Fleck totgeschlagen.«
»Hatten Sie ihn durch irgend etwas gereizt?« fragte der Fürst und betrachtete mit einem gewissen besonderen Interesse den Millionär im Schafpelz.
Aber obgleich schon in der Vorstellung einer zu erbenden Million möglicherweise etwas Merkwürdiges lag, so war da doch noch etwas anderes, was den Fürsten in Verwunderung versetzte und sein Interesse weckte; und auch Rogoschin selbst unterhielt sich aus irgendwelchem Grund gern mit dem Fürsten, wiewohl er anscheinend mehr ein mechanisches als ein seelisches Bedürfnis nach Unterhaltung hatte; sozusagen mehr aus Zerstreutheit als aus Gutherzigkeit; aus Unruhe und Aufregung, um nur jemanden anzusehen und über irgendeinen Gegenstand die Zunge in Bewegung zu setzen. Es schien, daß er auch jetzt noch Fieber hatte, wenigstens in einem gewissen Grade. Was den Beamten anlangt, so hing dieser ordentlich an Rogoschins Mund, wagte kaum zu atmen und fing jedes Wort auf und legte es gleichsam auf die Waage, wie wenn er es für einen Brillanten hielte.
»Er war zornig, gewiß, ja, und vielleicht nicht ohne Grund«, antwortete Rogoschin, »aber wer sich am schlimmsten gegen mich benahm, das war mein Bruder. Von meiner Mutter will ich nichts sagen; sie ist eine alte Frau, liest die Lebensbeschreibungen der Heiligen, sitzt mit alten Weibern zusammen, und was Bruder Senka anordnet, das muß geschehen. Aber er, warum hat er mich seinerzeit nicht benachrichtigt? Na, begreifen läßt es sich schon! Es ist wahr, ich war damals ohne Besinnung. Und es war auch ein Telegramm abgeschickt, sagen sie. Und es ist auch ein Telegramm bei der Tante angekommen. Aber sie ist seit dreißig Jahren Witwe und sitzt immer vom Morgen bis zum Abend mit Jurodiwys zusammen. Sie ist beinah eine Nonne, oder eigentlich noch schlimmer als eine Nonne. Vor Telegrammen hat sie von jeher Angst gehabt, und so hat sie auch dieses uneröffnet auf der Polizei abgeliefert, und da wird es wohl noch liegen. Erst Konew, Wasili Wasiljewitsch Konew, hat sich meiner angenommen und mir alles geschrieben. Von der Brokatdecke auf dem Sarg des Vaters hat der Bruder bei Nacht die massiv goldenen Quasten abgeschnitten und gesagt: ›Die sind einen tüchtigen Batzen Geld wert.‹ Schon allein dafür kann er nach Sibirien kommen, wenn ich will; denn das ist Heiligtumsschändung. He, Sie Vogelscheuche!« wandte er sich an den Beamten. »Wie steht's im Gesetz: ist das Heiligtumsschändung?«
»Jawohl, Heiligtumsschändung, Heiligtumsschändung!« stimmte ihm der Beamte sogleich bei.
»Und kommt einer dafür nach Sibirien?«
»Gewiß, nach Sibirien, nach Sibirien! Ohne weiteres nach Sibirien!«
»Bei mir zu Hause denken sie bestimmt, daß ich noch krank sei«, fuhr Rogoschin, zu dem Fürsten gewendet, fort. »Aber ich habe mich, ohne ein Wort zu sagen, obwohl ich noch nicht hergestellt bin, still auf die Bahn gesetzt und fahre jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bruder Semjon Semjonowitsch! Er hatte mich bei meinem verstorbenen Vater verpetzt, das weiß ich. Aber daß ich wirklich durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna damals den Vater aufgebracht habe, das ist wahr. Da habe ich allein schuld. Das habe ich in einem Augenblick der Unbedachtsamkeit begangen.«
»Durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna?« sagte der Beamte in kriecherischem Ton, wie wenn er etwas überlegte.
»Die Dame kennen Sie nicht!« schrie ihn Rogoschin ungeduldig an.
»Und ich kenne sie doch!« erwiderte der Beamte triumphierend.
»Ach was! Es gibt viele Damen, die Nastasja Filippowna heißen! Und ich muß sagen: was sind Sie für ein unverschämtes Subjekt! Na, das habe ich doch gleich gewußt, daß sich irgend so ein Subjekt an mich hängen wird!« fuhr er, zum Fürsten gewendet, fort.
»Aber vielleicht kenne ich sie doch!« versetzte der Beamte beharrlich. »Da müßte ich nicht Lebedjew sein, wenn ich sie nicht kennen sollte! Euer Durchlaucht belieben mir einen Vorwurf zu machen; aber wie, wenn ich Ihnen den Beweis liefere! Also es ist dieselbe Nastasja Filippowna, um derentwillen Ihr Vater Sie mit einem Haselstock ermahnen wollte; es ist Nastasja Filippowna Baraschkowa, sozusagen sogar eine vornehme Dame und in ihrer Art eine Fürstin, und sie hat ein Verhältnis mit einem gewissen Tozki, mit Afanasi Iwanowitsch Tozki, ausschließlich mit diesem einen, einem Gutsbesitzer und Großkapitalisten, Mitglied verschiedener Handelsgesellschaften, der infolge dieser seiner kommerziellen Tätigkeit mit dem General Jepantschin in sehr freundschaftlicher Beziehung steht …«
»Na, nun sieh mal an!« rief Rogoschin, wirklich erstaunt, aus. »Pfui Teufel, er weiß wahrhaftig genau Bescheid!«
»Er weiß alles! Lebedjew weiß alles! Auch Alexander Lichatschows Begleiter bin ich zwei Monate lang gewesen, Euer Durchlaucht, und zwar ebenfalls nach dem Tod seines Vaters, und ich kenne alle, geradezu alle seine Heimlichkeiten, und es kam so weit, daß er ohne mich keinen Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuldgefängnis; aber damals hatte ich Gelegenheit, auch Fräulein Armance und Fräulein Corallie und die Fürstin Pazkaja und Nastasja Filippowna kennenzulernen, und auch vieles, vieles zu erfahren hatte ich Gelegenheit.«
»Nastasja Filippowna? Hat sie etwa mit Lichatschow …«, rief Rogoschin und blickte den Redenden böse an; sogar seine Lippen waren blaß geworden und zitterten.
»N-nein! N-nein! Entschieden nein!« beeilte sich der Beamte, schnell gefaßt, zu erwidern. »Bei der konnte Lichatschow durch kein Geld zum Ziele gelangen! Nein, die ist von anderer Art wie Fräulein Armance. Da ist Tozki der einzige. Abends sitzt sie im Großen Theater oder im Französischen Theater in ihrer eigenen Loge. Die Offiziere reden ja da unter sich allerlei; aber auch die können nichts beweisen. ›Da ist die berühmte Nastasja Filippowna‹, sagen sie, aber das ist auch alles; was Weiteres anlangt, so ist da nichts zu sagen! Weil eben nichts vorliegt.«
»Ja, so verhält sich das alles«, bestätigte Rogoschin mit trüber, finsterer Miene. »Auch Saloschew hat es mir damals gesagt. Ich ging damals, Fürst, in einem Schnurrock, den mein Vater schon vor zwei Jahren abgelegt hatte, über den Newski-Prospekt, und sie kam aus einem Laden heraus und stieg in ihren Wagen. Da stand ich auf der Stelle in Flammen. Ich begegnete meinem Freund Saloschew; der sah anders aus als ich; er geht wie ein Friseurgehilfe, immer die Lorgnette im Auge; wir aber mußten bei unserm Vater in Schmierstiefeln gehen und uns an fastenmäßiger Kohlsuppe delektieren. ›Die ist nichts für dich‹, sagte er; ›das ist‹, sagte er, ›eine Fürstin; sie heißt Nastasja Filippowna, mit dem Familiennamen Baraschkowa, und lebt mit Tozki; Tozki aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr loskommen soll, weil er nämlich schon ganz in die soliden Jahre hineingekommen ist (er ist fünfundfünfzig) und eine der ersten Schönheiten von ganz Petersburg heiraten will.‹ Dann teilte er mir noch mit, daß ich Nastasja Filippowna an demselben Tag im Großen Theater wiedersehen könne, im Ballett; sie werde in ihrer Parterreloge sitzen. Bei uns zu Hause, bei unserm Vater, da hätte es mal einer probieren sollen und sagen, er wolle ins Ballett gehen; der Vater hätte kurzen Prozeß gemacht und ihn halbtot geprügelt! Ich schlich mich indessen still für ein Stündchen weg und sah Nastasja Filippowna wieder; die ganze folgende Nacht konnte ich nicht schlafen. Am andern Morgen gab mir der Vater zwei fünfprozentige Staatsschuldscheine, jeden zu fünftausend Rubeln, und sagte: ›Geh hin und verkaufe sie; dann trage siebentausendfünfhundert Rubel zu Andrejew auf's Kontor und bezahle sie dort; und was du von den zehntausend noch übrig hast, das bring geradewegs hierher und liefere es mir ab; ich werde auf dich warten.‹ Die Staatsschuldscheine verkaufte ich und empfing das Geld dafür; aber zu Andrejew auf's Kontor begab ich mich nicht, sondern ich ging, ohne mich umzusehen, nach dem Englischen Magazin und suchte dort für das ganze Geld ein Paar Ohrgehänge aus, jedes mit einem Brillanten fast von Nußgröße; vierhundert Rubel blieb ich noch schuldig; ich nannte meinen Namen, und man gab mir Kredit. Mit den Ohrgehängen ging ich gleich zu Saloschew: ›So und so, Bruder‹, sagte ich, ›wir wollen zu Nastasja Filippowna gehen.‹ Wir gingen hin. Was ich damals unter den Füßen und vor mir und rechts und links hatte, das weiß ich nicht; dafür habe ich keine Erinnerung. Wir traten bei ihr gleich in den Salon ein, und dann kam sie selbst zu uns. Ich verlautbarte übrigens damals nicht, daß ich selbst der Geber sei, sondern Saloschew sagte: ›Von Parfen Rogoschin, der Sie gestern gesehen hat, ein kleines Andenken; haben Sie die Gewogenheit, es anzunehmen!‹ Sie öffnete das Etui, betrachtete den Schmuck und lächelte. ›Sagen Sie Ihrem Freund Herrn Rogoschin meinen Dank‹, sagte sie, ›für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit!‹ Dann verneigte sie sich und ging hinaus. Na, warum bin ich damals nicht dort auf dem Fleck gestorben! Aber wenn ich fortging, so tat ich es mit dem Gedanken: ›Lebendig komme ich doch nie wieder her!‹ Was ich aber am schwersten als Kränkung empfand, das war, daß diese Kanaille, der Saloschew, sich angemaßt hatte, alles allein zu reden und zu tun. Ich bin von kleiner Statur und war wie ein Plebejer gekleidet, und hatte dagestanden, sie angestarrt und geschwiegen, weil ich mich schämte; er aber in modischem Anzug, mit pomadisiertem und gekräuseltem Haar, mit seinem frischen Teint und mit seiner karierten Krawatte hatte den Liebenswürdigen gespielt und einmal über das andere gedienert, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie ihn für mich genommen! ›Na‹, sagte ich, als wir hinausgegangen waren, ›du wage nicht, dich wieder bei mir blicken zu lassen, verstehst du?‹ Er lachte: ›Aber wie wirst du jetzt vor deinem Vater Semjon Parfenowitsch Rechenschaft ablegen?‹ Die Wahrheit zu sagen, ich hatte damals schon vor, ohne erst nach Hause zu gehen mich ins Wasser zu stürzen; aber ich dachte: ›Es ist ja doch ganz gleich!‹ und kehrte wie ein armer Sünder nach Hause zurück.«
»O weh, o weh!« sagte der Beamte und schnitt dabei eine Grimasse; ja, er schüttelte sich sogar mit dem ganzen Leib. »Und der Selige war imstande, nicht nur um zehntausend, sondern schon um zehn Rubel willen einen in jene Welt zu spedieren.« Er blickte zum Fürsten.
Der Fürst sah Rogoschin mit lebhaftem Interesse an; es schien, als sei der in diesem Augenblick noch blasser.
»Dazu war er imstande!« wiederholte Rogoschin. »Aber was wissen Sie davon?« Dann erzählte er dem Fürsten weiter: »Er erfuhr sogleich alles; Saloschew hatte es jedem, der ihm begegnete, ausgeschwatzt. Der Vater nahm mich, schloß mich im oberen Stockwerk ein und prügelte mich eine ganze Stunde lang. ›Und das ist nur eine Vorbereitung für dich‹, sagte er; ›heute abend komme ich, um dir gute Nacht zu sagen.‹ Sollte man's glauben? Der alte Mann fuhr zu Nastasja Filippowna hin, verbeugte sich tief vor ihr und flehte sie unter Tränen an; endlich holte sie ihm das Etui herbei, warf es ihm hin und sagte: ›Da hast du deine Ohrringe, alter Graubart; sie sind für mich jetzt um das Zehnfache im Wert gestiegen, nun ich weiß, daß Parfen sie einem so strengen Vater zum Trotz beschafft hat. Grüße Parfen Semjonowitsch von mir und bestelle ihm meinen Dank!‹ Na, ich hatte unterdessen mich von meiner Mutter segnen lassen und mir von Sergei Protuschin zwanzig Rubel geborgt; damit setzte ich mich auf die Bahn und fuhr nach Pskow, wo ich fiebernd ankam. Dort langweilten mich die alten Frauen durch das Vorlesen von Gebeten aus dem Kirchenkalender rein zu Tode, und ich saß betrunken dabei; als ich gerade mein letztes Geld in den Kneipen vertrunken hatte, lag ich die ganze Nacht bewußtlos auf der Straße, und am Morgen hatte ich dann das hitzige Fieber; und außerdem hatten mich in der Nacht auch noch die Hunde angefressen. Nur mit Mühe habe ich mich erholt.«
»Nun, nun, jetzt wird aber Nastasja Filippowna in einer andern Tonart zu uns reden!« kicherte der Beamte und rieb sich dabei die Hände. »Was ist jetzt an jenem Ohrgehänge gelegen, mein Herr! Jetzt werden wir ihr solche Ohrgehänge zum Ersatz schenken, daß …«
»Hören Sie mal, wenn Sie nur noch ein einziges Mal ein Wort über Nastasja Filippowna sagen, dann gnade Ihnen Gott! Ich werde Sie durchprügeln, wenn Sie auch mit Lichatschow verkehrt haben!« schrie Rogoschin und packte ihn kräftig am Kragen.
»Aber wenn Sie mich durchprügeln, so bedeutet das, daß Sie mich nicht von sich stoßen! Prügeln Sie mich! Gerade dadurch gewinnen Sie mich zum Freund! Wenn Sie mich durchgehauen haben, so haben Sie gerade dadurch unsere Freundschaft besiegelt … Aber da sind wir angelangt!«
Sie fuhren tatsächlich in den Bahnhof ein. Obgleich Rogoschin gesagt hatte, daß er ganz in der Stille abgereist sei, erwarteten ihn doch schon mehrere Menschen. Sie riefen und winkten ihm mit den Mützen.
»Nun sieh mal, Saloschew ist auch da!« murmelte Rogoschin, indem er mit einem triumphierenden, sogar etwas boshaften Lächeln nach ihnen hinblickte; dann wandte er sich auf einmal zum Fürsten: »Fürst, ich weiß nicht, weswegen ich dich liebgewonnen habe. Vielleicht, weil ich dich in einem solchen Augenblick getroffen habe; aber den hier habe ich doch auch getroffen« (er wies auf Lebedjew), »und den habe ich nicht liebgewonnen. Komm zu mir, Fürst! Wir werden dir diese Gamaschen ausziehen; ich werde dir den besten Marderpelz kaufen, dir den schönsten Frack machen lassen, eine weiße Weste oder was für eine du sonst wünschst; ich werde dir die Taschen voll Geld stopfen, und … dann wollen wir zu Nastasja Filippowna fahren! Wirst du kommen oder nicht?«
»Gehen Sie darauf ein, Fürst Ljow Nikolajewitsch!« fügte Lebedjew in eindringlichem, feierlichem Ton hinzu. »Lassen Sie sich das ja nicht entgehen! Lassen Sie sich das ja nicht entgehen!«
Fürst Myschkin stand auf, streckte Rogoschin höflich die Hand hin und sagte freundlich zu ihm:
»Ich werde mit dem größten Vergnügen kommen und danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie mich liebgewonnen haben. Ich werde sogar vielleicht heute schon kommen, wenn ich Zeit finde. Denn ich sage Ihnen aufrichtig: auch Sie haben mir sehr gefallen, und besonders, als Sie von den Brillantohrgehängen erzählten. Aber auch schon vor den Ohrgehängen haben Sie mir gefallen, wiewohl Sie eine so düstere Miene haben. Ich danke Ihnen auch für die versprochenen Kleider und den Pelz; denn ich werde wirklich Kleider und einen Pelz bald nötig haben. An Geld besitze ich in diesem Augenblick kaum eine Kopeke.«
»Geld wird dasein, zum Abend wird Geld dasein; komm nur!«
»Es wird dasein, wird dasein«, echote der Beamte. »Zum Abend, noch vor Sonnenuntergang, wird welches dasein!«
»Sind Sie ein großer Freund des weiblichen Geschlechts, Fürst? Sagen Sie es mir schon vorher!«
»Ich? N-n-nein! Ich bin ja … Sie wissen vielleicht nicht, ich kenne ja infolge meiner angeborenen Krankheit die Frauen überhaupt nicht.«
»Nun, wenn's so ist«, rief Rogoschin, »so bist du ja ein richtiger Jurodiwy, Fürst, und solche Menschen wie dich liebt Gott.«
»Und solche Menschen liebt Gott der Herr«, wiederholte der Beamte.
»Und Sie können mir folgen, Sie Schmeißfliege!« sagte Rogoschin zu Lebedjew.
Alle verließen den Waggon.
Lebedjew hatte also schließlich doch sein Ziel erreicht. Bald entfernte sich der lärmende Haufe in der Richtung nach dem Wosnesenski-Prospekt zu. Der Fürst mußte sich nach der Litejnaja-Straße wenden. Es war feucht und naß; der Fürst erkundigte sich bei Vorübergehenden: er hörte, daß es bis zum Ende seines Weges etwa drei Werst seien, und entschied sich dafür, eine Droschke zu nehmen.
Der General Jepantschin wohnte in seinem eigenen Haus, etwas seitwärts von der Litejnaja-Straße, nach der Preobraschenski-Kathedrale zu. Außer diesem stattlichen Haus, von dem fünf Sechstel vermietet waren, besaß General Jepantschin noch ein gewaltiges Haus in der Sadowaja-Straße, das gleichfalls einen sehr hohen Ertrag brachte.
Außer diesen beiden Häusern hatte er dicht bei Petersburg ein sehr bedeutendes, einträgliches Gut und ferner im Petersburger Kreis eine Fabrik. In früheren Zeiten hatte General Jepantschin, wie allgemein bekannt war, sich auch an Branntweinpachtungen beteiligt. Jetzt war er Mitglied mehrerer solider Aktiengesellschaften und hatte dabei eine sehr gewichtige Stimme. Er galt als ein Mann mit großem Vermögen, ausgedehnter Tätigkeit und einflußreichen Verbindungen. An manchen Stellen hatte er es verstanden, sich völlig unentbehrlich zu machen, unter anderm auch in seinem Dienst. Aber daneben war auch bekannt, daß Iwan Fjodorowitsch Jepantschin ein Mann ohne Bildung war, der Sohn eines gemeinen Soldaten; dies konnte ihm ohne Zweifel nur zur Ehre gereichen; aber obgleich der General ein verständiger Mensch war, so war er doch nicht frei von kleinen, sehr verzeihlichen Schwächen und liebte es nicht, daß jemand auf gewisse Dinge anspielte. Aber ein verständiger, gewandter Mensch war er unstreitig. So zum Beispiel befolgte er den Grundsatz, sich nicht vorzudrängen, wo es zweckmäßig war, in den Hintergrund zu treten, und viele schätzten ihn gerade wegen seiner Schlichtheit, gerade deswegen, weil er immer seinen Platz kannte. Wenn indessen diese Beurteiler nur gesehen hätten, was manchmal in Iwan Fjodorowitschs Seele vorging, der seinen Platz so gut kannte! Obgleich er tatsächlich große Geschicklichkeit und Erfahrung in irdischen Dingen und mancherlei sehr beachtenswerte Fähigkeiten besaß, so vermied er es doch, als der geistige Urheber eines Planes zu erscheinen, und tat lieber so, als führe er nur eine fremde Idee aus; er gab sich als einen Mann, der »ohne Kriecherei treu ergeben« sei, und (wozu läßt man sich nicht durch die Zeitverhältnisse bringen?) sogar als echten Russen. In letzterer Hinsicht begegneten ihm sogar einige amüsante Geschichten; aber der General ließ nie den Kopf hängen, auch bei den komischsten Vorfällen nicht; außerdem hatte er Glück, sogar im Kartenspiel, und er spielte außerordentlich hoch und verbarg absichtlich nicht diese kleine (wenn man will) Schwäche für das Kartenspiel, die ihm in vielen Fällen so wesentlichen Nutzen brachte, sondern kehrte sie vielmehr heraus. Die gesellschaftlichen Kreise, in denen er verkehrte, waren von sehr verschiedener Art, selbstverständlich aber sämtlich »durchaus anständig«. Aber es lag noch eine große Zukunft vor ihm; er konnte es abwarten, konnte es noch sehr abwarten, und alles mußte zu seiner Zeit und in der richtigen Ordnung kommen. Auch was sein Lebensalter anlangte, befand sich General Jepantschin noch, was man zu nennen pflegt, in den besten Jahren, das heißt, er war sechsundfünfzig Jahre alt, nicht älter, was jedenfalls ein blühendes Lebensalter darstellt, ein Lebensalter, mit dem eigentlich erst das richtige Leben beginnt. Seine Gesundheit, seine frische Gesichtsfarbe, die kräftigen, wenn auch schwarzen Zähne, der stämmige, untersetzte Körperbau, der ernste Ausdruck morgens im Dienst und die heitere Miene abends beim Kartenspiel oder bei Seiner Erlaucht: all dies trug zu seinen gegenwärtigen und künftigen Erfolgen bei und bestreute den Lebensweg Seiner Exzellenz mit Rosen.
Der General erfreute sich einer blühenden Familie. Allerdings gab es hier für ihn nicht lauter Rosen; aber dafür war so manches da, worauf schon seit längerer Zeit die wichtigsten Hoffnungen und Bestrebungen Seiner Exzellenz in ernster, herzlicher Empfindung gerichtet waren. Und welche Bestrebungen im Leben könnten auch wichtiger und heiliger sein als die elterlichen? Woran soll jemand sein Herz hängen, wenn nicht an die Familie? Die Familie des Generals bestand aus seiner Gattin und drei erwachsenen Töchtern. Der General hatte in sehr jugendlichem Alter geheiratet, als er noch im Range eines Leutnants stand, und zwar ein mit ihm fast gleichaltriges Mädchen, das weder Schönheit noch Bildung besaß und ihm nur fünfzig Seelen mitbrachte, die allerdings als Grundlage für die weitere günstige Entwicklung seiner Vermögensverhältnisse dienten. Aber der General murrte in der Folgezeit nie über seine frühe Heirat, betrachtete sie nie als einen unglücklichen Jugendstreich, und seine Gattin schätzte er so hoch und fürchtete sich vor ihr manchmal so sehr, daß er sie sogar liebte. Die Generalin stammte aus der fürstlichen Familie Myschkin, einer zwar nicht glänzenden, aber sehr alten Familie, und war auf ihre Herkunft sehr stolz. Eine damals einflußreiche Persönlichkeit, einer jener Gönner, denen die Gönnerschaft nichts kostet, hatte die Freundlichkeit, sich für die Ehe der jungen Prinzessin zu interessieren. Er öffnete dem jungen Offizier die Pforte zur Karriere und gab ihm einen Stoß nach vorwärts; der aber hätte gar nicht einmal eines Stoßes, sondern nur eines einzigen Gnadenblickes bedurft, er wäre nicht zugrunde gegangen. Mit wenigen Ausnahmen verlebten die Gatten die ganze Zeit ihrer langen Ehe in voller Einmütigkeit. Schon in sehr jungen Jahren hatte es die Generalin verstanden, als eine geborene Prinzessin und als die Letzte ihres Geschlechts, vielleicht auch durch ihre persönlichen Eigenschaften einige sehr hochgestellte Gönnerinnen zu finden. In der Folgezeit begann sie bei dem Reichtum und dem bedeutenden Dienstrang ihres Gatten sich in diesem hohen Kreise sogar einigermaßen einzubürgern.
In diesen letzten Jahren waren die Generalstöchter alle drei herangewachsen und herangereift: Alexandra, Adelaida und Aglaja. Allerdings trugen sie alle drei nur den Namen Jepantschin; aber mütterlicherseits waren sie doch von fürstlicher Abkunft; sie hatten eine bedeutende Mitgift und einen Vater, der vielleicht Aussicht hatte, später noch eine sehr hohe Stelle zu erhalten, und, was ebenfalls sehr wichtig war, sie waren alle drei recht hübsch, auch die älteste, Alexandra, nicht ausgenommen, die bereits fünfundzwanzig Jahre alt war. Die mittlere war dreiundzwanzig, und die jüngste, Aglaja, war eben erst zwanzig geworden. Diese Jüngste war sogar eine wirkliche Schönheit und begann schon in der Gesellschaft großes Aufsehen zu erregen. Aber auch das war noch nicht alles: alle drei zeichneten sich durch Bildung, Verstand und Talente aus. Es war bekannt, daß sie einander innig liebten und sich gegenseitig in allen Stücken hilfreich waren. Man wußte sogar von gewissen Opfern zu sagen, die die beiden älteren zugunsten der jüngsten, die der Abgott des ganzen Hauses war, gebracht haben sollten. In Gesellschaft neigten sie nicht dazu, sich vorzudrängen, sondern waren sogar allzu bescheiden. Niemand konnte ihnen den Vorwurf der Hoffart oder des Dünkels machen; aber doch wußte man, daß sie ihren Stolz hatten und ihren eigenen Wert kannten. Die älteste war musikalisch, die mittlere eine begabte Malerin; aber davon wußte viele Jahre lang fast niemand, und es war erst in der letzten Zeit und nur zufällig an die Öffentlichkeit gekommen. Kurz, es wurde über sie außerordentlich viel Lobendes gesprochen. Indessen fehlte es auch nicht an Übelwollenden. Mit Schrecken redeten diese davon, wieviele Bücher die jungen Damen gelesen hätten. Mit dem Heiraten hatten sie es nicht eilig; sie legten zwar Wert auf den Verkehr in einem gewissen Gesellschaftskreis, aber alles nur mit Maßen. Das war um so bemerkenswerter, als jedermann die Richtung, den Charakter, die Ziele und die Wünsche ihres Vaters kannte.
Es war schon gegen elf Uhr, als der Fürst an der Wohnung des Generals klingelte. Der General wohnte im zweiten Stockwerk und hatte ein möglichst bescheidenes, wiewohl seinem Rang entsprechendes Quartier inne. Dem Fürsten wurde von einem Diener in Livree geöffnet, und es bedurfte langer Auseinandersetzungen mit diesem Menschen, der ihn und sein Bündelchen gleich von Anfang an mißtrauisch betrachtete. Endlich, nachdem er ihm wiederholt auf das bestimmteste erklärt hatte, daß er wirklich Fürst Myschkin sei und unbedingt den General in einer notwendigen Angelegenheit sprechen müsse, führte ihn der erstaunte Diener in ein kleines Vorzimmer vor dem eigentlich beim Arbeitszimmer gelegenen Wartezimmer, und übergab ihn dort einem andern Diener, der vormittags in diesem Vorzimmer den Dienst versah und dem General die Besucher anzumelden hatte. Dieser zweite Diener trug einen Frack, war über vierzig Jahre alt und hatte eine ernste, wichtige Miene; er stand Seiner Exzellenz zur speziellen Verfügung, wenn derselbe sich im Arbeitszimmer befand, und war sich infolgedessen seines Wertes bewußt.
»Warten Sie im Wartezimmer und lassen Sie Ihr Bündelchen hier!« sagte er, indem er sich langsam und würdevoll in seinen Lehnstuhl setzte und mit einem strengen, erstaunten Blick den Fürsten ansah, der sich ebendort neben ihm auf einen Stuhl niederließ und sein Bündelchen in der Hand behielt.
»Wenn Sie erlauben«, sagte der Fürst, »so möchte ich lieber hier bei Ihnen warten; was soll ich dort so ganz allein?«
»Im Vorzimmer können Sie nicht bleiben, da Sie ein Besucher, das heißt ein Gast, sind. Wollen Sie zum General selbst?«
Der Diener konnte sich offenbar nicht mit dem Gedanken befreunden, daß er einen solchen Besucher einlassen solle, und hielt daher für gut, ihn noch einmal zu fragen.
»Ja, ich habe ein Anliegen …«, begann der Fürst.
»Ich frage Sie nicht, von welcher Art Ihr Anliegen ist; meines Amtes ist nur, Sie zu melden. Aber ohne Mitwirkung des Sekretärs kann ich nicht hingehen und Sie melden.«
Das Mißtrauen dieses Mannes schien immer mehr zu wachsen: der Fürst war doch auch dem Typus der täglichen Besucher gar zu unähnlich. Zwar kam es ziemlich oft, fast täglich, zu bestimmter Stunde vor, daß der General, namentlich in Geschäftsangelegenheiten, Gäste empfing, die manchmal sehr verschiedenartig aussahen; aber trotz dieser Gewohnheit und der recht weitherzigen Instruktion war der Kammerdiener in großem Zweifel; die Vermittlung des Sekretärs schien ihm für die Anmeldung doch unumgänglich notwendig.
»Sind Sie wirklich … aus dem Ausland gekommen?« fragte er schließlich fast unwillkürlich und wurde dabei verlegen.
Er wollte vielleicht fragen: »Sind Sie wirklich Fürst Myschkin?«