Der Junge im Fluss - Nestor T. Kolee - E-Book
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Der Junge im Fluss E-Book

Nestor T. Kolee

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Eine Geschichte vom Wunsch, die Zeit einzufangen Ben lebt auf einer Insel weit draußen im Meer und will sein Leben bewahren, wie es ist. Doch als nach Jahren sein Bruder zurückkehrt, erfährt er von einer alten Geschichte, die ihn zum Aufbruch bewegt. Gleich zu Beginn muss Ben einen Schicksalsschlag verkraften und er begreift, dass erst ein solches Ereignis echte Veränderungen ermöglicht. Ben begibt sich auf die Suche nach Damai, einen Ort ohne Zeit. Auf seinem Weg begleitet ihn ein Kolibri. Er trifft auf wohlwollende Menschen, die zu Freunden werden, und intrigante Gestalten, die ihm übel mitspielen. Ihm begegnen Macht und Gier, aber auch Milde und Güte. Am Ende seiner Reise muss er ein großes Rätsel lösen, um zu verstehen, warum Verändern und Bewahren keine Gegensätze sind. "Dieses Buch ist ein wahrer Schatz. Am Ende war ich sprachlos und verzaubert" - Nina "Es ist ein spannendes und anregendes Buch." - Carlo "Ein berührende Geschichte voller Weisheiten"  - Anna Magareta

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Seitenzahl: 204

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Nestor T. Kolee

Der Junge im Fluss

Über die Suche nach dem eigenen Ich

Mit Illustrationen von Katharina Netolitzky

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Meinen Söhnen.

Mögen sie bewahren und verändern,

was sie für richtig halten.

Prolog

Es waren die Vögel, die den Frühling ankündigten. Nach einem dunklen Winter begannen sie schon in aller Früh zu singen. Ihr lautes Zwitschern hatte den Jungen geweckt. Lange hatte er wach gelegen und ihren Stimmen gelauscht, bis schließlich die Sonne in sein Zimmer schien. Das Blau des Himmels war kräftiger als an all den trüben Wintertagen zuvor. Aufbruch lag in der Luft. Ein neues Leben stand bevor, das nach den ewigen Tagen der Kälte und Finsternis gelebt werden wollte.

Der Junge sprang aus dem Bett. Es steckte plötzlich so viel Energie in ihm. Voller Tatendrang lief er aus dem Haus in Richtung des Flusses. Das Plätschern war schon von Weitem zu hören. Es war noch nicht so laut wie im Sommer, aber auch nicht mehr so still wie im Winter. Auch dieses Plätschern verkündete einen Neuanfang.

Der Junge liebte diese Zeit. Das lange Warten war vergessen, und das Neue gab es im Übermaß. Es konnte verschwendet werden. Wenn einmal etwas misslang, wenn es regnete oder sich ein Tagewerk nicht so wie gewünscht vollenden ließ, war das nicht schlimm, denn es lag noch alles vor ihm. Es waren Tage, die ohne Zutun immer heller wurden. In ihnen lag die Vorfreude auf warme und sonnige Zeiten, ohne dass schon die Last der Hitze zu spüren war. Sie ließen den Jungen träumen. Vor allem spürte er ein unendlich schönes Gefühl grenzenloser Freiheit.

Beschwingt erreichte der Junge den Fluss. Er blickte auf das vorbeifließende Wasser und hielt einen Moment inne. Dann stieg er in das kühle Nass, watete die wenigen Schritte bis in die Mitte und wusch sich das Gesicht. Reglos stand der Junge da und sah an sich hinab. Das war sein Ritual. Für diese Begrüßungszeremonie war er hierhergekommen. Er fühlte das Wasser an sich vorbeifließen und stellte sich vor, dass dieser Fluss die unendlichen Tage des vor ihm liegenden Sommers mit sich brachte. Sie trieben an ihm vorbei. Zu schnell, um sie zu zählen. Bei diesem Anblick fühlte sich der Junge wie berauscht. Dieses Schauspiel aus vorbeifließenden Tagen war noch schöner als jeder einzelne Sommertag. Der Fluss hörte nicht auf zu fließen.

Die Frau bemerkte der Junge erst nach einer Weile, als er sich bereits mit dem Lauf des Flusses verbunden hatte. Er war sich nicht sicher, aber ihr Gesichtsausdruck schien zu verraten, dass sie schon länger dort stand. Sie hatte ihn wohl von dem kleinen Hügel am Ufer aus beobachtet. Als sie sah, dass er sie entdeckt hatte, lächelte sie. »Ich bin Rea«, sagte sie freundlich. Es klang mehr wie der Grund für ihre Anwesenheit als nach einem Namen. Zumindest empfand es der Junge so.

Fragend schaute er die Alte an. Sie betrachtete ihn ruhig, in ihrem Blick lag etwas Sanftes. Es verging eine Weile. Es schien, als wolle sie Stück für Stück erfassen, was sie sah. Dann sagte sie plötzlich: »Wir müssen manchmal die Dinge erst hinter uns lassen, damit wir das, was vor uns liegt, wirklich erleben können.«

Der Junge wandte sich um und sah dem Wasser nach, das vorbeigeströmt war. Dann richtete er den Blick wieder nach vorn. »Ich stehe jedes Jahr am ersten Frühlingsmorgen hier«, sagte er verwundert. Seine Kinderseele verstand nicht recht, was die Frau ihm sagen wollte. Dann sprach er aus, was er bis dahin für seine Wahrheit hielt. »Alles ist immer gleich.« Und sein Herz freute sich, als es die Unveränderlichkeit spürte, die in diesen Worten lag.

Die Alte schaute ihn lange an. Der Junge konnte nicht sagen, ob er Traurigkeit, Freude oder von allem etwas in ihren Augen sah. Oder war da ein Ausdruck des Zögerns, der über ihr Gesicht glitt? Hatte sie Bedenken, ihm das zu sagen, was an universeller Erkenntnis in ihr war? Wollte sie es doch dem Leben selbst überlassen, ihn aus der Unbeschwertheit seiner Kindheit zu reißen?

»Nichts ist immer gleich, denn alles fließt«, sagte sie schließlich. Es schien dem Jungen, als offenbarten sich ihm unbekannte Worte einer alten Sprache. Panta rhei – alles fließt. Sie hallten in seinem Kopf nach. Ihm war, als hätte er einen Zauberspruch gehört, der nach der Zeit griff.

Dann betrachtete der Junge wieder den Fluss und bemerkte eine Veränderung. Nun sah er nur noch die Vergänglichkeit, die dem Neuen weichen musste. Es war kein gewöhnlicher Fluss mehr, auf den er blickte, sondern ein Strom aus Zeit. Das Bild versetzte seinem Herzen einen Stich, sein ganzer Körper schauderte. Aber es war ein wohliger Schmerz, der sich wie eine Welle der Erkenntnis langsam in ihm ausbreitete. Der Junge spürte, dass er sich veränderte.

Als er im nächsten Frühling wieder in den Fluss stieg, gab es den Jungen, der er einst gewesen war, nicht mehr. Er war sich selbst entglitten. Fortgespült in der Strömung des Flusses, verschwunden hinter dem Horizont. So wie die Alte, die er seit jenem Morgen nicht mehr gesehen hatte. In diesem Fluss stand nun ein anderer. Es war ein Junge, der die Tage des Sommers nie wieder so unbedarft an sich vorbeirauschen sah wie in den Jahren zuvor. Er versuchte, sie mit aller Kraft festzuhalten. Denn diese Tage waren zu etwas Kostbarem geworden. Er liebte ihre Einzigartigkeit und wünschte sich fortan aus tiefstem Herzen, er könne die Zeit einfangen.

Kapitel 1

Es stürmte. Das Meer war in Bewegung. Der Wind peitschte über die See und ließ die Wellen an den Klippen zerschellen. Gischt spritzte auf und zerstob. Die Natur entfesselte ihre gewaltige Kraft. Ben konnte sie regelrecht spüren. Er stand ganz oben an der Steilküste und blickte hinab auf die tosende See. So aufgewühlt wie das Meer war auch er. Die Emotionen tobten in ihm. Ein Schauer erfasste seine Arme und Beine und breitete sich bis in die verborgensten Winkel seines Körpers aus. Ben verstand nicht, woher dieses Gefühl kam. Von Weitem hörte er ein Rufen. Die See schrie nach ihm. Fast konnte er fühlen, wie das Wasser sich nach ihm ausstreckte. Die Wellen öffneten ihr gewaltiges Maul. Bald würden sie ihn verschlingen. Das Meer nahm sich alles.

»Bist du eigentlich jemals von dieser Insel heruntergekommen?« Eine Stimme riss Ben aus seinen Gedanken. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, von wem sie kam. Auch wenn er sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Die Person, die sich seit ihrer Rückkehr bis zu diesem Moment in Schweigen gehüllt hatte, stand nun direkt hinter ihm. Den Blick noch immer aufs Meer gerichtet, antwortete Ben: »Ist es da draußen nicht auch nur wie auf einer Insel?« Der junge Mann, der hinter ihm aufgetaucht war, musste bei dieser Antwort lächeln. »Lass es uns herausfinden«, gab er zurück. Auch Ben lächelte. Als er sich endlich umdrehte, sah er seinem Bruder fest in die Augen: »Hast du es denn nicht schon längst herausgefunden?«

Schweigend gingen sie den schmalen Weg zum Strand hinunter. Der Wind drang zu ihnen nicht durch, und das tosende Meer verstummte zwischen den Hügeln, durch die sie liefen. Hier gab es keine See, die nach ihm rief. Das Wasser reichte nicht bis an diesen Ort. Er war auf festem Grund. Ben fühlte sich wieder sicher.

Sein ganzes Leben hatte er auf dieser Insel verbracht. Die Felsenfestung, wie sein Bruder diesen Flecken Erde gerne nannte, war Bens Heimat. Er hatte sie nie verlassen. Genau genommen hatte er keinen Grund gesehen, von hier wegzugehen. Ganz anders als sein Bruder. Früh hatte diesen die Abenteuerlust gepackt. Kaum war er volljährig gewesen, hatte es ihn in die Welt hinausgezogen. Ben hatte das nie verstanden. An Mitkommen war für ihn nicht zu denken, und so hatten sich ihre Wege früh getrennt. Die Jahre waren vergangen. Nur zwei Mal war sein Bruder in dieser Zeit zurückgekehrt. Beide Male hatte der Tod ihn gerufen. Erst der Abschied vom Vater, dann von der Mutter. Sein rascher Aufbruch danach wirkte auf Ben jedes Mal wie eine Flucht. Als könne sein Bruder den Stillstand, den Ben hier geschaffen hatte, nicht lange ertragen. Als hätten die Jahre des Umherziehens seinen Bruder so sehr geprägt, dass er nun an diese Unstetigkeit gebunden war.

Ben blieb in dem Haus seiner Eltern, das er fortan alleine bewohnte. Nach ihrem Tod hatte er sein Leben mehr und mehr gegen Veränderung zu schützen gewusst. Er war gut darin gewesen, Routinen zu etablieren. Feste Abläufe halfen ihm bei dem Bewahren seines immer gleichen Daseins. So redete Ben sich lange Zeit ein, ein Leben zu führen, das frei war von jeglichem Wandel. Und er konnte wahrlich nicht erkennen, was daran schlecht sein sollte. Er hätte vermutlich sein ganzes Leben so verbracht. Am Ende hätte er vielleicht nicht gewusst, warum er es überhaupt geführt hatte. Aber mit dieser Ungewissheit hätte er getrost sterben können. Dann aber kehrte sein Bruder zurück.

»Es ist doch niemand gestorben.« Als sie durch die Dünen liefen, dachte Ben an diese Worte zurück, mit denen er seinen Bruder empfangen hatte, als dieser nach Jahren plötzlich wieder vor der Tür stand. Sein Bruder hatte ihn nur angesehen und nichts gesagt. Sein Schweigen brach er erst, als er Ben bis an den Hang der Steilküste gefolgt war und unter ihnen das Meer tobte. Bist du eigentlich jemals von dieser Insel heruntergekommen?

Den ersten Moment ihres Wiedersehens hatte Ben als sehr seltsam empfunden. Er hatte das Bild ganz deutlich vor Augen: wie sein Bruder einfach so dastand und schwieg. Wie kein Wort über seine Lippen kam. Das Schweigen seines Bruders schien aus der Vergangenheit zu kommen und eine alte Wahrheit in sich zu tragen. Als hätte der Strom der Zeit seinen Bruder bis zu dieser Insel getragen und ihn hier an Land gespült, um Ben an etwas zu erinnern. Aber so wie er bisher die meisten Dinge, die seinem Leben eine neue Richtung hätten geben können, zu ignorieren gewusst hatte, so wehrte er sich auch erfolgreich gegen diesen Gedanken.

Je näher sie dem Strand kamen, desto mehr ließ der Schutz der Dünen nach, der Wind nahm wieder etwas zu. Es stürmte nicht so bedrohlich wie oben auf der Klippe, aber doch wirkte das Meer wie eine unausgesprochene Warnung. Sie gingen an dem alten Fischer vorbei, der in seinem Boot saß und schon lange nichts mehr gefangen hatte. Vor ihnen lag der weiße Sand und kämpfte mit dem Meer.

»Weißt du noch, wie wir früher als Kinder immer hierhergekommen sind?«, brach sein Bruder erneut das Schweigen und hielt inne. Ben sah, wie die Wellen auf den Strand spülten und mitnahmen, was das Land nicht zu halten vermochte. »Ja, das weiß ich noch.«

Ben erinnerte sich. Stunden hatten sie hier zugebracht und neue Welten entstehen lassen. Türme, Mauern, Häuser, in seiner Erinnerung waren es ganze Städte aus Sand, die sie hier geschaffen hatten. Schon damals war Ben es, der versuchte, alles gegen die Fluten zu schützen. Wieder und wieder kämpfte er den verzweifelten Kampf gegen die Gezeiten, wenn sich das Meer Stück für Stück ihren Bauten näherte. Das Meer nahm sich alles. Wieder durchzuckte ein Schauer seinen Körper. Dann schaute er zu seinem Bruder hinüber. Für jenen war das damals immer der große Moment. Wenn das Wasser bei ihren Träumen aus Sand ankam. Wenn die Wellen die Bauwerke umspülten und das Meer nichts hinterließ außer dem flachen Sand, aus dem sie alles erschaffen hatten. Wenn am Ende alles verschwunden war.

Ben sah wieder zu seinem Bruder. »Warum bist du zurückgekehrt?« Doch auch dieses Mal antwortete sein Bruder nur mit einem langen Schweigen. Es war ein machtvolles Schweigen, das sich über den gesamten Strand legte. In Bens Gedanken ließ es die Mauern und Türme aus Sand einstürzen, erfasste das alte Fischerboot, kletterte die Steilküste hoch, glitt über die Wiesen bis zu seinem Haus und fand schließlich auch den Weg in Bens Herz. Als er in die Augen seines Bruders blickte, sah er nur noch das ewige Meer. Es drohte ihm alles zu nehmen, was er bislang so sorgsam bewahrt hatte.

Kapitel 2

Tief im Himalaya, verborgen an einem steilen Felshang, liegt ein altes Kloster, das das Wort Frieden im Namen führt. Nebelwolken verhüllen den prachtvollen Bau, und der Legende nach kann es nur erreichen, wer mit reinem Herzen zu ihm vordringt.

Arjuna war in Eile. Der Mönch, der sich erst vor wenigen Jahren in die Obhut des Klosterordens begeben hatte, ging eiligen Schrittes zur großen Halle, um sie zu treffen. Eigentlich sollte er durch ihre Unterweisungen längst von jeder Art der Aufregung befreit sein. Aber die Nachricht, die er für seine Meisterin mit sich führte, ließ sein Herz schneller schlagen. Er durfte keine Zeit verlieren. Würde sie die Botschaft ebenfalls in Unruhe versetzen?

Zu seinem Erstaunen schien die Priesterin bereits auf ihn zu warten. »Was hat dich aufgehalten?«, hörte er ihre freundlichen Worte in dem riesigen Saal widerhallen. Arjuna meinte gar ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu erkennen, als er den langen Gang entlang ehrfürchtig auf sie zuschritt. Wie immer schien sie bereits alles zu wissen, bevor es geschah. Doch das war natürlich eine Täuschung. Es war ihre Gelassenheit, die diesen Eindruck hervorrief. Ihr Gleichmut erzeugte bei jenen, die sie nicht gut genug kannten, den Anschein, ihr sei jede Nachricht vertraut. Tatsächlich aber befand sich ihr Geist in einer tiefen, andauernden Ruhe, die sie die Dinge, die das Leben an sie herantrug, einfach annehmen ließ. Sie erschienen ihr wie Wolken, die am Himmel vorbeizogen, ohne mit ihr in Berührung zu kommen. Arjuna bewunderte sie für diese beständige Ausgeglichenheit, die für sie so mühelos schien. Auch ihm war es in letzter Zeit immer häufiger gelungen, sich auf sein inneres Gleichgewicht zu konzentrieren. Allerdings musste er zugeben, dass das Erreichen dieses Zustandes für ihn nicht frei von Anstrengung war. Bisweilen begann er sich zu fragen, ob die Mühe, die er jedes Mal bei seiner Meditation aufwenden musste, nicht bereits ein Zeichen für den Irrweg war, auf dem er sich befand. Ständige Zweifel zerfraßen seine Konzentration. Würde er jemals innere Erleuchtung erlangen?

»Das wichtigste Ziel, nach dem du für deinen Seelenfrieden streben musst, ist es, ihn nicht zu wollen.« Solcherlei Sätze waren es, die er von seiner Meisterin hörte, wenn seine Zweifel zu groß wurden. An Tagen, an denen sie besonders streng war, fügte sie meist noch hinzu: »In dieses Nichtwollen musst du deine ganze Kraft legen.« Arjuna fragte sich bisweilen, ob diese widersprüchliche Anweisung bereits die eigentliche Prüfung war, die es zu bestehen galt. Doch er hatte den Gedanken immer rasch wieder verworfen und sich weiterhin in der Meditation geübt.

»Er ist auf dem Weg hierher«, platzte es aus ihm heraus, als er schließlich vor ihr stand. Die Priesterin hob eine Augenbraue. Hatte seine Nachricht doch eine Regung bei ihr hervorgerufen? »Natürlich ist er auf dem Weg hierher«, sagte sie knapp, und Arjunas kurze Freude über die Veränderung in ihrer Mimik fiel unmittelbar in sich zusammen. »Die Frage, die sich dabei stellt, ist: Wird er auch hier ankommen?«

»Aber das hat er doch schon so oft geschafft. Warum sollte es ihm diesmal nicht gelingen?«, wunderte sich Arjuna. Die Frage löste nur ein weiteres Lächeln bei ihr aus. Mit geradezu heiterer Gelassenheit sah sie ihn an, ehe sie antwortete: »Das ist richtig. Aber dieses Mal kommt er nicht allein.«

Arjuna war verblüfft. Wie konnte sie das wissen? Er hatte sich diesen Teil der Nachricht für den Fall aufsparen wollen, dass sie die Rückkehr des jungen Mannes, den sie beide nur zu gut kannten, nicht wirklich bewegen würde. Verfügte sie möglicherweise über so etwas wie den siebten Sinn? Oder war sie aufgrund ihrer inneren Ruhe und Ausgeglichenheit einfach nur konzentrierter? Hatte sie schlicht bemerkt, dass es nicht die Nachricht der Rückkehr des jungen Mannes allein sein konnte, die Arjuna so aufgebracht hatte zu ihr eilen lassen? War ihr vielleicht schon bei seiner letzten Abreise klar gewesen, dass er das nächste Mal, wenn er den Versuch unternehmen würde, hierher zurückzukehren, jemanden mitbringen würde? Hatte er es ihr vielleicht sogar angekündigt? Arjuna war ratlos. Er durchschaute das Wesen ihrer Weisheit nicht und folgerte für sich, dass er noch viel zu lernen hatte.

»Ich sehe seiner Ankunft freudig entgegen«, sagte die Priesterin vollkommen gelassen und fügte hinzu: »Hoffen wir, dass er den weiten Weg bis hierher zurückzulegen vermag.« Arjuna war erstaunt. Er hatte seine Meisterin wieder einmal unterschätzt. Oder wusste sie nicht, wen der junge Mann gedachte hierher an diesen heiligen Ort zu führen? Die darin liegende Gefahr musste sie doch erkennen. Wieder wurde Arjuna eines Besseren belehrt. Denn er hörte sie noch sagen: »Sein Bruder soll so ganz anders sein als er selbst.«

Kapitel 3

Die Insel war in einem längst vergangenen Jahrhundert von Seefahrern entdeckt worden. Jedenfalls erzählten sich das die Alten im Dorf. Sie lag fernab aller vertrauten Gewässer und ihre unsteten Wetterlagen hatten eine dichte Besiedlung stets erschwert. Gerade eine Handvoll Menschen lebte hier sehr zurückgezogen. In den letzten Jahren waren es immer weniger geworden. Ben war einer von denen, die geblieben waren. Schon zum Zeitpunkt seiner Geburt begann sich abzuzeichnen, dass dieser Ort ihm nicht sein ganzes Leben lang eine Heimat bieten würde. Die Insel zerfiel. Stürme nahmen immer mehr von ihr und trugen sie ins Meer. Eigentlich war es schon immer so gewesen. Nur hatte es anfangs niemand bemerkt. Erst in den zurückliegenden Jahrzehnten hatte der Schaden eine kritische Größe angenommen und zwang die verbliebenen Bewohner, sich dem Zerfall der Insel zu stellen. Nur einer hatte sich bislang der Einsicht verwehrt, dass auch er bald etwas unternehmen musste.

»Nicht mehr lange, und alles hier wird verschwunden sein.« Bens Bruder betrachtete die Risse in der Wand des weiß getünchten Reetdachhauses. Sie waren vom Strand direkt zurück zu ihrem Elternhaus gegangen. Nun saßen sie an dem großen Tisch in der Küche und aßen zu Abend. Noch unten am Meer hatte Ben endlich ausgesprochen, warum sein Bruder zurückgekehrt war. Damit diesmal niemand stirbt. Sein Bruder hatte nur stumm dazu genickt. Es war nicht einfach für ihn gewesen, Ben zu dem Eingeständnis zu bewegen, dass seine Heimat unterging. Die Macht des Schweigens hatte es schließlich vermocht. Auf seinen langen Reisen hatte Bens Bruder gelernt, diese Kraft der Stille zu beherrschen. Ben gegenüber war sie sein einzig wirksames Mittel. Andernfalls hätte er den Zerfall der Insel bis zu ihrem Untergang geleugnet.

Ben war im Laufe der Jahre ein Meister darin geworden, Veränderungen einfach auszublenden. Diese Eigenschaft half ihm dabei, das Leben zu bewahren. Selbst wenn sich die Realität schon lange geändert hatte, in Bens Kopf existierte noch das Vergangene. Sein Bruder kannte diese Eigenschaft von ihm nur zu gut. Er erinnerte sich, wie Ben einmal als Kind behauptet hatte, er könne allein durch die Macht seiner Gedanken allen, die er liebte, ein endlos langes Leben bescheren. Mit der Kraft der Liebe ließe sich die Zeit anhalten. Davon war Ben überzeugt. Sein Bruder hatte daraufhin Bens Lieblingsholzspielzeug genommen und vor seinen Augen in den Kamin geworfen. Ben schrie und tobte. Gegen Feuer sei sein Zauber machtlos, hatte er unter Tränen gebrüllt. Aber erst, als er eingestanden hatte, dass auch die Liebe gegen den Wandel der Zeit nichts auszurichten vermochte, ließ sein Bruder ihn das angesengte Spielzeug aus dem Feuer holen. Nichts bleibt. Das hatte sein Bruder ihm damals eingeschärft. Wenn Ben wieder einmal so tat, als könne er das Leben für immer bewahren, brauchte sein Bruder nur auf das angebrannte Holztier zu schauen. Wie eine Mahnung hatte er es über dem Kamin platziert.

»Nichts bleibt«, sagte Ben plötzlich, als wäre er in Gedanken seinem Bruder ganz nah gewesen. Während diese Worte im Kopf seines Bruders nachhallten, betrachtete er die Risse in den Wänden. Jeder einzelne erinnerte ihn an etwas, das sich hier über die Jahre zugetragen hatte. Er folgte den Brüchen im Gestein von der Küche in den Wohnraum, zu dem Kerzenkronleuchter an der Decke, den sein Vater von ihrem Großvater geerbt und fluchend dort oben angebracht hatte. Ins Kaminzimmer, wo seine Mutter oft vor dem Feuer gesessen und gestrickt hatte, und zu dem Bücherregal, in dem Ben seit jeher alles wohl sortiert hielt und einmal den Verlust eines Bandes sofort bemerkt und beklagt hatte.

»Aber ich werde bleiben.« Ben klang eher müde als kraftvoll. Er konnte die Wahrheit nicht länger verleugnen. Das Meer nahm sich alles. Diese Einsicht breitete sich nun mehr und mehr in ihm aus. Sie rief Erinnerungen wach, die Ben bislang sorgsam vor sich selbst verborgen hatte. Sie führten ihn weit zurück in seine Kindheit. Wie hatte er das alles nur so viele Jahre verdrängen können? Die Tatsache, dass die Insel dem Untergang geweiht war, war so ziemlich die erste Erkenntnis, an die Ben zurückdenken konnte. Er sah den Moment vor sich, wie er als Kind davon erfahren hatte. Sein Bruder und er waren gerade vom Strand zurückgekommen. Es war einer der schönsten Sommertage des Jahres gewesen. In wohliger Erschöpfung saß Ben mit seinem Bruder beim Abendessen und erzählte seinen Eltern ausgelassen, was sie an diesem Tag alles erlebt hatten. Welche Burgen sie gebaut hatten. Dass es ihm beinahe gelungen wäre, die Flut zu bezwingen. Er berichtete von ihrem Spiel im Wasser und davon, welche Schätze am Strand zu finden waren. Er sprach von Krebsen, die sich im Sand vergruben, weil sie das Ende der Insel im Boden finden wollten, und davon, wie sehr er das alles liebte.

Als er in seinem Überschwang sagte, er würde für immer an diesem Ort bleiben, tauschten seine Eltern sorgenvolle Blicke aus. Ben bemerkte es und hielt inne. Sein Bruder war es, der die Stille brach und sagte: »So lange lebt die Insel aber nicht mehr.« Ben war kurz verunsichert und wurde dann wütend. Er war sich sicher, dass sein Bruder die Unwahrheit sprach. Doch dann sah er erneut die Blicke seiner Eltern. Von diesem Tag an versuchte Ben, nicht nur die Bauten im Sand vor dem Wasser zu retten, sondern auch alles andere, was ihm in seiner Heimat lieb und teuer war. Aber tief im Inneren wusste er, dass seine Kraft gegen die See machtlos sein würde. Das Meer nahm sich alles.

»Es gibt einen Ort, gegen den das Meer nichts ausrichten kann«, sagte sein Bruder unvermittelt. Ben schaute ihn fragend an. Verstand sein Bruder noch immer nicht, worum es ging? »Ich habe geschworen, alles zu bewahren, was unsere Familie auf dieser Insel aufgebaut hat. Unsere Eltern und ihre Eltern und die davor. Schon vor langer Zeit kamen unsere Vorväter hierher und haben den Grundstein für all das gelegt. Unsere Familie hätte gewollt, dass wir hierbleiben«, sagte er matt. Es war ein kraftloser Appell.

Sein Bruder hatte sich alles schweigend angehört. Still saß er am Tisch. Dann erhob er sich und ging hinüber zu der Wand mit den Bildern. Eine Ahnengalerie, kam es ihm in den Sinn. Er hatte sich nie viel aus dieser Ansammlung seiner Vorfahren gemacht. Doch nun suchte er etwas. Bild für Bild sah er sich an, bis er schließlich vor einem der Porträts innehielt. Es war eines der ältesten Bilder an der Wand. Er beugte sich vor, um die vergilbte Fotografie besser betrachten zu können.

Ben beobachtete ihn dabei. Keines der Bilder kannte er wirklich. Er hatte die Familienporträts zwar all die Jahre erhalten, aber interessiert hatte er sich nie für sie. Ihm kam der Gedanke, dass sein Wunsch nach Bewahren um ein Vielfaches größer war als sein Interesse an dem, das er bewahrte. Vielleicht ist das ja die Voraussetzung für das Erhalten der Dinge, dachte er. Wenn wir die Dinge nicht hinterfragen, können wir uns ganz auf das Bestehende konzentrieren. Dann sind wir nicht abgelenkt vom Leben und den Veränderungen, die es mit sich bringt.

Diese Gedanken waren für Ben völlig neu. Fast erschrak er darüber, so wie ihn stets alles Neue ein wenig zusammenzucken ließ. Er sah unwillkürlich seinen Bruder an. Noch immer stand er vor dem alten Bild an der Wand. Aufmerksam musterte er die Person auf der Fotografie. »Schon unser Urgroßvater«, sagte er plötzlich, »hat gewusst, dass die Insel untergehen wird. Auch er hat versucht, alles zu bewahren. Aber sein Weg war ein anderer. Er war ein Abenteurer, und eines Tages hörte er von dem Ort, von dem ich gerade sprach. Er verbrachte sein Leben damit, nach ihm zu suchen.« Ben stutzte. Aber ehe er noch eine Frage stellen konnte, ergänzte sein Bruder: »Sein Name war Maximilian Benjamin.« Er sah, wie Ben versuchte, sich bei diesem Namen nichts anmerken zu lassen, und fuhr fort: »Er hat Jahre mit dieser Suche verbracht und bereiste fast die gesamte damals bekannte Welt. Wenn du also etwas erhalten willst, dann solltest du vielleicht eher auf seinen Spuren wandeln, anstatt dein Herz an diesen zerbröselnden Felsen zu hängen.«