Der K.A.I.N.-Widerstand - Bettina Petrik - E-Book

Der K.A.I.N.-Widerstand E-Book

Bettina Petrik

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Beschreibung

Innsbruck, 2050: Seitdem die Wissenschaft das Klonen von Menschen perfektioniert hat, dienen seelenlose Hüllen als Forschungsobjekte und Organspender. Besorgt um das Leben ihrer todkranken Schwester, hat Samantha sich nie viel mit den zahlreichen Protesten gegen das Klonen befasst. Ohne schlechtes Gewissen tritt sie darum ihre neue Stelle in einem der renommiertesten Genetik-Labore der Welt an. Als sie jedoch den energischen Klon-Gegner Sevy kennenlernt und beginnt, erste Fragen zu stellen, kommt Samantha Geheimnissen auf die Spur, die ihr Leben in höchste Gefahr bringen.

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Das Buch

Innsbruck, 2050: Seitdem die Wissenschaft das Klonen von Menschen perfektioniert hat, dienen seelenlose Hüllen als Forschungsobjekte und Organspender. Besorgt um das Leben ihrer todkranken Schwester, hat Samantha sich nie viel mit den zahlreichen Protesten gegen das Klonen befasst. Ohne schlechtes Gewissen tritt sie darum ihre neue Stelle in einem der renommiertesten Genetik-Labore der Welt an. Als sie jedoch den energischen Klon-Gegner Sevy kennenlernt und beginnt, erste Fragen zu stellen, kommt Samantha Geheimnissen auf die Spur, die ihr Leben in höchste Gefahr bringen.

Die Autorin

Die Schreibmaschine ihrer Eltern war vor Bettina Petrik nie sicher, seit die 1982 in Innsbruck geborene Redakteurin eines Kleinverlags Buchstaben in eine sinnvolle Reihenfolge bringen konnte. Die Liebhaberin klassischer Science-Fiction-Plots ist Stammgast bei der San Diego Comic-Con

Bettina Petrik

DERK.A.I.N.-WIDERSTAND

Originalveröffentlichung

© 2015 Verlag in Farbe und Bunt

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

Cover-Gestaltung: Eileen Steinbach

E-Book-Satz: Winfried Brand

verantwortlicher Redakteur: Bettina Petrik

Lektorat: Katrin Hemmerling

Korrektorat: Nadine Sönnichsen

Herstellung und Verlag:

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100

45145 Essen

www.ifub-verlag.de

ISBN Taschenbuch: 978-3-941864-43-6

WIDMUNG

Für Alexandra, ohne die es dieses Buch nicht geben würde.

Für Mike, der immer für Engergydrink-Nachschub sorgt.

Für Hestia, meinen ganz persönlichen Link.

PrologInnsbruck, im Jahr 2050

Irgendwann einmal im Leben erreichte anscheinend jeder den Tiefpunkt: Hätte ich bloß auf meine Eltern gehört.

Kind, merk dir das, das Allerwichtigste im Leben ist finanzielle Sicherheit. Wenn du dir nicht gerade einen reichen Ehemann angeln kannst, such dir deinen Job ja gut aus. Um Himmels Willen nur nichts Gefährliches oder Brotloses! Wirklich, mit deinen Talenten, deiner Intelligenz, du kannst doch alles werden, wenn du dich nur ein bisschen anstrengst! Wie wäre es mit Ärztin oder Anwältin? Vielleicht lernst du dabei sogar jemand Interessantes kennen.

Naturgemäß machte Sam um jeden einzelnen dieser guten Ratschläge einen großen Bogen. Weder Popsängerin noch Rettungsschwimmerin war allerdings ein sonderlich realistischer Kindheitstraum, und die Anmeldung für die Polizeischule war mit dem diskreten Hinweis auf ihre Körpergröße von der Registrierungs-Datenbank zurückgekommen. Da waren ihr irgendwann die Ideen ausgegangen. Seitdem Larissa krank war, hatte es sowieso an Geld im Haushalt Strasser gemangelt. Und Sams Angehörigen an Geduld. Vor allem ihre Mutter hatte zu Lebzeiten immer an ihren strengen erzieherischen Grundsätzen festgehalten, gegen die nicht einmal ihr Mann hatte aufbegehren dürfen. Vermutlich hatte sich dieser deshalb irgendwann aus dem Staub gemacht.

Inzwischen hatte sie wenigstens einen ganz ordentlichen Abschluss an der Sekretärinnen-Schule in der Tasche. Also kein Anlass mehr für Nörgeleien des letzten noch verbliebenen Familienmitglieds. Eigentlich. Dass Sam sich ausgerechnet im hoch umstrittenen K.A.I.N.-Genetik-Forschungslabor bewerben und auch noch prompt zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden würde, damit hatte wohl niemand gerechnet. Sie selbst am wenigsten.

Erst als sie am Tag des Interviews nach über einer Stunde des Wartens immer noch in einem stickigen, verlassenen Vorzimmer saß, wünschte sie sich, sie hätte wenigstens ein einziges Mal einen guten Rat aus Kindertagen angenommen. Warum wollte sie überhaupt ausgerechnet hier anheuern? Nur wegen des fürstlichen Gehalts? Oder weil Genforschung so boomte, dass der Arbeitsplatz narrensicher war?

Mach dir nichts vor, Sam. Du willst das doch.

Nicht mehr die Stimme ihrer Mutter in ihrer Erinnerung, sondern die ihrer großen Schwester, vorhin im Pflegeheim. Natürlich hatte Larissa ihre gespielte Gleichgültigkeit durchschaut. Schon früher hatte sie auf einen Blick sagen können, wann Sam einen besonders schlimmen Schultag erlebt hatte und eine Umarmung brauchte. Und sie munterte Sam selbst dann mit einem gutmütigen Zwinkern auf, wenn sie sich in völlig Utopisches verrannte. Egal, ob es der zweiundzwanzigste Fehlgriff bei der Jobsuche oder der letzte spektakuläre Reinfall namens Mr. Lovebig aus dem Single-Chat war.

Du hast immer schon größere Ansprüche als wir alle gehabt, Kleines. Geh hin, sonst ärgerst du dich hinterher nur.

Larissa hatte ja auch nicht wissen können, dass man hier nach dem eigentlich noch sehr freundlichen Empfang ohne jede Information sitzen gelassen wurde, obwohl man pünktlich gewesen war. Überpünktlich sogar. Zugegebenermaßen sonst nicht Sams größte Stärke.

Als sie gerade einfach gehen wollte – es gab noch andere Stellenangebote im Netzwerk, vielen Dank – glitt die milchig-weiße Tür auf, hinter der man sie angeblich erwartete. Die gereizte Miene der aus dem Büro stürmenden Rothaarigen verhieß nichts Gutes. Die Frau war noch dabei, den Rock ihres Kostüms dorthin zu zerren, wo er hingehörte. »Sie sollen gleich rein gehen«, keifte sie Sam an. »Viel Glück.«

So ein pikanter Auftritt allein wäre Grund genug gewesen, auf dem Absatz umzudrehen. Die Tür stand jedoch weit auf, sodass Sam ihrem Schicksal zumindest nicht ohne eine Verabschiedung entkommen konnte. Sie straffte sich und strich sich zum zigsten Mal heute ihren Pony aus dem Gesicht.

Das Bild ihrer übertrieben zurechtgemachten Konkurrentin tauchte unweigerlich in ihrem Kopf auf. Hektisch fischte Sam Haarspangen aus ihrer Hosentasche, steckte die widerspenstigen Strähnen zurück und flocht sich einen festen Zopf, schloss auch noch die oberen zwei Knöpfe ihrer Bluse. Was in der Welt der Reichen und Mächtigen auch für ein Niveau herrschen mochte, sie würde sich nicht darauf herablassen.

Noch im Türrahmen stoppte sie abrupt. Der Raum war vollkommen leer.

Auch mehrmaliges Blinzeln änderte nichts an dieser Feststellung. Nein, ihre Augen mussten sich nicht erst an die abstrakte Umgebung gewöhnen. Sam war allein mit einem wuchtigen ovalen Tisch und einem eierschalenförmigen Drehstuhl. Keine Schränke, völlig leere Wände, Neonstrahler, dicker Berberteppich … Das war alles, und alles war einheitlich in Schwarz gehalten.

Nur ein Flimmern an der Oberfläche des Tisches ließ darauf schließen, dass in diesem Zimmer von Zeit zu Zeit wohl doch jemand arbeiten musste. Die Bewegung kam vom Standby-Bild eines Monitors, dunkelgraue Längsstreifen, die in variierendem Tempo von oben nach unten glitten, wie Regentropfen an einem Fenster. Vielleicht als Ersatz dafür, dass so eines hier drin genauso wie auf dem Flur fehlte.

Die vielen künstlich beleuchteten Räumlichkeiten bei K.A.I.N.-Genetik hatten Sams Zeitgefühl vollkommen durcheinandergebracht. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es draußen bereits dämmern musste. Lange genug gewartet. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab. Wenn sie sich beeilte, kam sie noch rechtzeitig nach Hause, um ihre Lieblings-Netzwerk-Soap zu sehen.

Erschrocken fuhr sie zusammen, als ihr Blick die einzige freie Ecke des Raums streifte und dort ein länglicher Fleck auftauchte, der sich als Silhouette eines groß gewachsenen Manns entpuppte.

Jetzt hörte sie auch endlich das Rauschen eines Wasserhahns, nahm mehr Details ihrer Umgebung wahr. Ein in die Wand eingefasstes Waschbecken, der winzige Spiegel darüber. Wirklich alles hier erfüllte einen nüchternen Zweck. Keine Zimmerpflanzen oder Fotos, nicht das kleinste Anzeichen einer Persönlichkeit. Wer um Himmels Willen arbeitete freiwillig in einem schwarz eingerichteten Büro? Einem derart unpersönlichen Büro? Diesem Raum hätte sogar ein Kaktus Charme verliehen.

Nun, das war nicht ihr Problem und würde es hoffentlich auch nie werden. Sam zwang sich, ihre Inquisition auf später zu verschieben. »Samantha Strasser. Wir haben einen Termin.«

»Vor einer Stunde, ja, tut mir leid.« Der Mann knöpfte seelenruhig weiter sein Hemd zu, rückte seine Krawatte und das weiße Jackett zurecht, bevor er sich zu seinem Schreibtisch bequemte. »Bitte.« Er zeigte auf einen ungepolsterten Plastikstuhl davor. »Ich war kurz … abgelenkt. Ihre Konkurrentin hat es vorgezogen, mit unmoralischen Mitteln für ihre neue Anstellung zu kämpfen.«

Sam stand schon wieder halb auf, bevor er den Satz beendet hatte, und das nicht nur, weil das der unbequemste Sessel war, auf dem sie je Platz genommen hatte. Die schräg nach hinten gegossene Lehne drückte schmerzhaft in die Schulterblätter, die Sitzfläche gab zu stark nach, sodass sie regelrecht darin versank. Und als sie endlich eine einigermaßen würdevolle Haltung gefunden hatte und peinlich berührt aufsah, ihrem Gegenüber zum ersten Mal ins Gesicht … Da erlitt sie auch noch einen akuten Anfall von Hitzewallungen.

Unter einem Personalchef hatte sie sich keinen schnittigen Typen Anfang dreißig vorgestellt, mit Augen wie Haselnüssen – genauso braun und genauso verführerisch – und pechschwarzen Haaren. Eine durchwegs anziehende Kombination, die einen das etwas zu lange Gesicht übersehen ließ. Ganz abgesehen von einem Lächeln, das ihre Wut in Sekunden zu schmelzen drohte. An irgendjemanden erinnerte der Kerl sie zudem …

Außerdem sollte sie schnell ihre Augen in die Höhlen zurück kurbeln, bevor man noch glaubte, sie würde sich ebenfalls für einen Job ausziehen. »Falls das die Voraussetzung für ein Gespräch mit Ihnen ist, bin ich hier falsch.«

Ihr Gegenüber lachte auf, völlig unbeeindruckt von ihrer Biestigkeit. »Ich schlage keine guten Angebote aus, das ist alles. Das werden Sie rasch merken, wenn Sie bei uns anfangen sollten.« Er machte keine Anstalten, ihr die Hand zu geben, stellte sich aber zumindest endlich vor. »Niklas Moore, ich bin der Leiter dieses bescheidenen Anwesens. Ich stelle meine Leute lieber selbst ein. Unsere beiden Personalchefs kommen erst ins Spiel, wenn es interne Probleme gibt. Aber das ist selten der Fall. Wir sind wie eine große Familie.«

Nach einem schamlos ausführlichen Blick auf Sams Körper tippte er auf die Tischfläche. Der obligatorische Fingerabdruck-Scan ersetzte das Standby-Bild mit einer puristisch aufgeräumten Ordneransicht und mit Sams Bewerbungsdaten. »Verzeihen Sie meine Indiskretion. Sie hatten kein Foto mitgeschickt. Weswegen ich Sie übrigens fast gar nicht eingeladen hätte. In meinem Geschäft zählt leider nicht nur die Leistung.«

»Und? Ist der optischen Ansprüche Genüge getan?« Sam wollte sofort hier raus. Wenn sie ihre große Klappe noch ein wenig weiter aufriss, ging das doch sicher am schnellsten.

Zu ihrem Erstaunen sah Niklas nur mit mildem Spott in den Augen auf. »Sie sind nicht auf den Mund gefallen, gut. In unserer Forschungsabteilung arbeiten fast nur Männer. Sie müssen sich durchsetzen können. Ihr formelles, gepflegtes Auftreten stimmt mich ebenfalls positiv. Ich kann weder mit Anziehpüppchen arbeiten, noch mit jemandem, der mehr Zeit mit internen Liebschaften als seinen Aufgaben verbringt.«

»Ich trenne Berufliches und Privates.« Wenigstens nahm das Gespräch jetzt eine vernünftige Wendung. »Außerdem habe ich bereits in Branchen gearbeitet, die als Männerdomänen gelten, wie Sie feststellen werden, wenn Sie meine Datei über die erste Seite hinaus lesen.«

»Sie haben aber noch nie hier gearbeitet.« Jetzt begann auch Niklas, gereizt zu klingen. »Unsere Wissenschaftler haben jahrelang sehr hart studiert, um zu dieser Anlage gehören zu dürfen. Viele dieser Leute haben ihre Heimat und ihre Familie für K.A.I.N. aufgegeben. Diese Leute stehen fest im Leben, wissen genau was sie wollen und erwarten von ihren Helfern und Helferinnen nicht weniger als präziseste Arbeit und vollen Einsatz.« Unvermittelt wechselte er in die englische Sprache. »Sehen Sie sich dieser Herausforderung gewachsen?«

»Sonst wäre ich nicht hergekommen«, erwiderte Sam, ebenfalls auf Englisch. In ihrer Familie war es üblich, bilingual aufzuwachsen, um dem wachsenden Druck auf dem Arbeitsmarkt nicht völlig hilflos gegenüber zu stehen. Nicht erst mit K.A.I.N. und seiner ausländischen Geschäftsführung war die weite Welt in ihre kleine österreichische Stadt eingezogen. Eigentlich hatte Sam diese Falle schon früher vermutet, obwohl dieser Niklas die deutsche Sprache nicht nur perfekt, sondern auch noch fast akzentfrei beherrschte. Seine Mutter war Deutsche, erinnerte sie sich von ihren Recherchen. Er schien diesen Teil der Welt wirklich zu mögen.

Das unprofessionelle Verhalten von vorhin machte das nicht vergessen. Vermutlich waren nur diese verflixt hübschen Augen, mit denen ihr Gegenüber sie fixierte, der Grund, dass sie noch nicht geflüchtet war. Ihre Mutter hätte bei diesem Gedanken ein verzücktes Lächeln zur Schau gestellt, hätte sie es noch erleben dürfen. Nach Niklas’ Einleitung über Beruf und Sex hätte Sam sie auch in dieser Hinsicht enttäuschen müssen: Dass sie sich ihren Chef angeln konnte, war so unwahrscheinlich wie nie. Ganz abgesehen davon, dass sie diesen sexistischen Schnösel nicht mal mit einer Hydro-Zange angefasst hätte.

»Mister Moore, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Sie kennen meine Qualifikationen. Ihre Ausschreibung war zudem sehr präzise. Wir wissen also beide, woran wir sind. Ich möchte Ihnen nicht Ihre Zeit stehlen.«

»Sie denken in effizienten Parametern.« Niklas widmete sich einem weiteren Datensatz aus Sams Unterlagen auf seinem Monitor und beugte sich dabei tiefer darüber, gerade so viel, dass sie ihn nicht mehr direkt ansehen konnte. »Was wissen Sie über uns?«

»K.A.I.N. produziert menschliche Klone.« Nur gut, dass Sam den Netzwerk-Eintrag über die Anlage so genau studiert hatte. »Sie leiten das erste Klon-Forschungszentrum in Österreich, eins der ersten weltweit. Klone werden zur Erforschung von Krankheiten und zur Bereitstellung von Organen hergestellt.«

»Sie scheinen das gelassen zu sehen. Menschliches Leben, das nur zu Forschungszwecken produziert wird, der Tod eines Lebewesens, wenn man es nicht mehr benötigt …«

»Leben beginnt mit einem Bewusstsein«, gab Sam so ruhig wie möglich zurück, auch wenn der plötzlich fehlende Blickkontakt sie unruhig machte. Tatsächlich hatte sie nie wirklich über die Problematik nachgedacht. Als die weltweiten Eugenik-Abkommen in Wien unterzeichnet worden waren, hatte sie gerade erst ihren 13. Geburtstag gefeiert. Larissas Erkrankung, Zukunftsangst … Sie hatte einfach immer andere Sorgen gehabt. »Klone werden im Koma gezeugt und gehalten. Sie denken und fühlen nicht, entwickeln keine Seele, keinen Geist. Es wundert mich, dass Sie sich darüber Gedanken machen. Sind diese Produkte nicht Ihr Job?«

»Sehr richtig.« Zum ersten Mal, seit Sam das Büro betreten hatte, bekam sie ein ehrliches Lächeln geschenkt. »Deshalb brauche ich Leute, die an diese delikate Problematik keine Gedanken verschwenden. Die diesen Job hier lassen können, wenn sie abends die Bürotür hinter sich zumachen. Sie fangen am ersten August an.«

Sam brauchte einen Moment, um den letzten Satz nach Niklas’ kühlen Ausführungen richtig zu verstehen. »Sie stellen mich ein?« In ihrer Verblüffung wechselte sie ganz automatisch zurück in die deutsche Sprache.

Moore schien es nicht zu stören. »Als Runner in der Chefetage. Kopieren, Daten übertragen und korrigieren, Akten anlegen und archivieren. Ich möchte Sie beobachten. Sie und zwei weitere Kandidatinnen kommen als meine persönliche Sekretärin in Frage.« Sowohl Niklas’ Tonfall als auch seine Miene wirkten sofort wieder distanziert. »Ohne Sie nervös machen zu wollen: Sie haben gute Aussichten auf den Posten. Wenn die Wahl nicht auf Sie fällt, finden wir auch eine Lösung, die Ihren Fähigkeiten entspricht. Besorgen Sie sich weiße Kleidung und einen Arbeitskittel. Die Rechnung geht an uns. Guten Tag.«

»Ihnen auch.« Völlig perplex, auf zittrigen Knien hielt Sam auf die Tür zu. Widerwillig blieb sie davor stehen, als der Bewegungssensor nicht reagierte. Sollte in einem solchen Hightech-Gebäude eine derart simple Technik nicht einwandfrei funktionieren?

Erst nach Sekunden wurde ihr klar, dass Niklas die Tür absichtlich geschlossen hielt. »Ist noch etwas?« Erstaunt sah sie zurück und senkte sofort den Blick. Sie hatte diesen Mann schon öfters in den Netzwerk-Nachrichten gesehen, deswegen war er ihr vorhin gleich bekannt vorgekommen. Doch nie war ihr aufgefallen, dass er mit seiner Jugendlichkeit und seinem selbstbewussten Auftreten so viel Attraktivität ausstrahlte. Wenn sie tatsächlich in diesem Haus arbeiten wollte, musste sie das ganz schnell vergessen, sonst war die Probezeit jetzt schon vorbei.

»Ich schlafe mit keinen Job-Anwärterinnen. Die Dame, die Sie vorhin getroffen haben, ist Ihre Vorgängerin.«

»Warum …?« Sam stockte, schüttelte den Kopf über ihre eigene Naivität. »Sie wollten mich testen.«

»Wie ich bereits sagte: Ich prüfe meine Mitarbeiter genau. Wenn Sie Erfolg haben wollen, streichen Sie ganz schnell diesen Schmollmund aus Ihrer Mimik. Es kommt hier mehr auf Sie zu als ungewöhnliche Einstellungstests.« Endlich ließ der Kerl die Tür aufgleiten. »Oh, und nennen Sie mich Niklas.«

»Ich nenne Sie Niklas, sobald ich Ihre persönliche Sekretärin bin, Mister Moore. Guten Tag.« Überstürzt flüchtete Sam durch das Vorzimmer in den Lift. Sie musste auf der Stelle an die frische Luft.

1

Wie weit sie mit gesenktem Kopf die Promenade entlanggelaufen war, merkte Sam erst, als das Rauschen des Flusses leiser wurde. Verwirrt bemerkte sie, dass sie statt wie geplant einen kleinen Spaziergang zu machen, die halbe Stadt durchquert hatte, bis hin zu jenem privaten Wohnheim für schwer erkrankte Menschen, das sie heute schon mal von innen gesehen hatte. Wunderbar. Den gleichen Weg zurückgehen? Bis sie ankam, würde es dunkel sein. Geld für ein Busticket wollte sie eigentlich nicht ausgeben.

»Pass doch auf, Blondie!«

Ein harscher Ruf ließ sie erschrocken beiseite springen. In ihrer Gedankenversunkenheit hatte sie die silbern-reflektierende Linie zwischen Fußgänger- und dem Mobilweg überschritten, auf dem alles unterwegs war, was Räder hatte. Die Steuerauflagen für den Autoverkehr konnte sich kaum jemand leisten, Studenten erklärten die Promenade daher zu ihrem Privatrevier. Ein Kapitalverbrechen, als Fußgänger einem Solarroller im Weg zu stehen.

Wo sie schon einmal hier war … Aus dem gemütlichen Netzwerk-Abend würde ohnehin nichts werden, dafür war es zu spät geworden. Diesmal sah Sam ganz vorbildlich nach links und rechts, bevor sie durch die beginnende Dunkelheit auf das Wohnheim zuhielt. Keine Gegend, in der sie sich zu dieser Stunde aufhalten sollte, aber jetzt war sie ungeduldig, ihre Neuigkeiten loszuwerden. Flau im Magen war ihr trotzdem. Die Zeiten, als man Schüler ohne Begleitung in die Schule schicken konnte, kannte sie nur aus Erzählungen. In Grünanlagen wie dieser, in denen wenigstens tagsüber unter Aufsicht noch Kinder spielen konnten, traf sich spätestens wenn die Sonne unterging alles, das Tageslicht aus gutem Grund scheute.

Heute gelang es Sam, sich unauffällig an den vielen Leuten vorbei zu stehlen, die sich um die einzelnen Bänke versammelt hatten und sich gegenseitig mit der Lautstärke der Musik aus ihren Medias zu übertrumpfen versuchten. Trinkend, rauchend oder ungeniert mit irgendwelchen Ampullen handelnd. Auf den Wiesen zwischen den Gehwegen rauften sich zwei große Hunde so brutal, dass Blut floss, während ihre Besitzer Wetten auf den Gewinner abschlossen.

Bei so viel Trubel war eine untersetzte Frau in biederer Kleidung, die ganz in ihrer Traumwelt gefangen schien, keinen Seitenblick wert. Diesmal jedenfalls. Wieso tat Sam sich das immer wieder an? Unflätige Sprüche und aggressive Übergriffe ließen sich leicht mit einem kleinen Umweg über die nächste Querstraße umgehen. Ihre Mutter hätte nicht sehen dürfen, wie sie sich in solche Gefahr begab.

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