Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex - Horst Evers - E-Book
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Horst Evers

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Beschreibung

Das Leben ist wunderbar, macht aber verdammt viel Arbeit. Der neue Evers. Wie können wir den mannigfaltigen Tücken des Daseins begegnen? Horst Evers macht den Alltagstest und erzählt Geschichten mitten aus dem Hier und Jetzt: Er verbessert fremde Sprachen derart, dass man sie versteht, ohne sie zu sprechen; entwickelt Sportarten, deren Ausübung man vor dem eigenen Körper geheim halten kann; lässt sich online massieren und findet endlich sinnvolle Kompromisse für die respektvolle Smartphonenutzung während persönlicher Gespräche: «Ein Stirnband mit einer Halterung für das Smartphone des Partners. Sie trägt mein Telefon vor der Stirn, ich trage ihres vor der Stirn, und so können wir gleichzeitig Mails checken und uns trotzdem innig in die Augen schauen. Ist auch für die Körperhaltung besser.» Er schlägt der NSA vor, seine Überwachung von nun an selbst zu übernehmen und regelmäßig Bericht zu erstatten, möchte aber von den eingesparten Kosten profitieren. Auch unterwirft er Kants kategorischen Imperativ und die Lehrsätze anderer großer Denker dem Test und kommt alles in allem zu dem Ergebnis: Das Leben ist wunderbar, macht aber leider häufig auch viel Arbeit. Man sollte es preisen, wie ein Schweizer seine Heimatstadt Thun: «Thun ist schön, aber nichts Thun ist schöner.» Ein wunderbar erzählter Geschichtenband, der zeigt: So komisch war Alltag noch nie!

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Horst Evers

Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex

Über dieses Buch

Das Leben ist wunderbar, macht aber verdammt viel Arbeit. Der neue Evers.

 

Wie können wir den mannigfaltigen Tücken des Daseins begegnen? Horst Evers macht den Alltagstest und erzählt Geschichten mitten aus dem Hier und Jetzt: Er verbessert fremde Sprachen derart, dass man sie versteht, ohne sie zu sprechen; entwickelt Sportarten, deren Ausübung man vor dem eigenen Körper geheim halten kann; lässt sich online massieren und findet endlich sinnvolle Kompromisse für die respektvolle Smartphonenutzung während persönlicher Gespräche: «Ein Stirnband mit einer Halterung für das Smartphone des Partners. Sie trägt mein Telefon vor der Stirn, ich trage ihres vor der Stirn, und so können wir gleichzeitig Mails checken und uns trotzdem innig in die Augen schauen. Ist auch für die Körperhaltung besser.» Er schlägt der NSA vor, seine Überwachung von nun an selbst zu übernehmen und regelmäßig Bericht zu erstatten, möchte aber von den eingesparten Kosten profitieren. Auch unterwirft er Kants kategorischen Imperativ und die Lehrsätze anderer großer Denker dem Test und kommt alles in allem zu dem Ergebnis: Das Leben ist wunderbar, macht aber leider häufig auch viel Arbeit. Man sollte es preisen, wie ein Schweizer seine Heimatstadt Thun: «Thun ist schön, aber nichts Thun ist schöner.»

Ein wunderbar erzählter Geschichtenband, der zeigt: So komisch war Alltag noch nie!

Vita

Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz in Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin und jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post. Er erhielt u.a. den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören. Seine Geschichtenbände, zuletzt «Für Eile fehlt mir die Zeit» (2011) und «Wäre ich du, würde ich mich lieben» (2013), wie auch sein Roman «Alles außer irdisch» (2016) sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.

«Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt.»

Arthur Schopenhauer

Das Handeln

«Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.»

Immanuel Kant

Es ist nicht das, wonach es aussieht

Mittwochnachmittag. Stehe in der Lingerie-Abteilung eines großen Textilkaufhauses und fotografiere Mädchenunterhosen.

Warum? Ich brauche T-Shirts, daher hat mich die Tochter gebeten, auch gleich ein paar Unterhosen für sie zu besorgen. Der riesige Dessous- und Wäschebereich des gewiss eher an einem jugendlichen Publikum ausgerichteten Discounters ist jedoch reichlich unübersichtlich. Da ich mittlerweile weiß, wie schnell man was verkehrt macht, habe ich also die Tochter noch einmal angerufen. Um auf Nummer sicher zu gehen. Die wiederum meinte, ich solle doch einfach schnell die verschiedenen in Frage kommenden Unterhosen fotografieren, ihr die Bilder schicken und dann könne sie auswählen.

Also steht nun in diesem riesigen hippen Modekaufhaus inmitten Hunderter junger Mädchen ein einzelner mittelalter, untersetzter, kahlköpfiger Mann und schwenkt Mädchenunterhosen. In ein irgendwie günstiges Licht. Betrachtet sie. Um sie dann zu fotografieren. Und denkt sich … nichts dabei.

Eine Verkäuferin spricht mich an:

«Entschuldigung, was machen Sie denn da?»

Aus irgendeinem Grund erschrecke ich mich. Habe, warum auch immer, ein schlechtes Gewissen. Versuche mich daher, einem schwachsinnigen Reflex folgend, hinter der purpurfarbenen Mädchenunterhose in meiner Hand zu verstecken. Wer moderne Mädchenunterhosen und die Größe meines Kopfes kennt, wird sich denken können: Das ist ein ambitioniertes Vorhaben. Wie ich schnell bemerke, kann die Verkäuferin mich immer noch sehen. Sie wiederholt ihre Frage:

«Was machen Sie denn da?»

Überlege kurz, ob ich nicht einfach ohnmächtig werden soll. Bin aber leider zu wach und höre mich antworten: «Es ist nicht das, wonach es aussieht.»

«Nein?»

«Nein. Gar nicht.»

«Dann stehen Sie also nicht hier in unserer Lingerie-Abteilung und fotografieren Mädchenunterhosen?»

«Nein. Das heißt doch. Also schon einerseits, aber … weiß nicht.»

«Sie wissen nicht, ob Sie Mädchenunterhosen fotografieren?»

«Doch, das schon, aber es ist nicht das, was Sie denken.»

Sie überlegt. Eine ganze Weile. Sagt schließlich:

«Sie Schwein!»

Wehre ab. «Moment, das ist ungerecht. Ich sagte doch, es ist nicht das, was Sie denken.»

Sie nickt.

«Eben. Ich dachte, wahrscheinlich fotografiert er die Unterhosen, um sie seiner Tochter zu zeigen, damit die ihm sagen kann, welche er kaufen soll. Aber da es ja nicht das ist, was ich denke, sind Sie offensichtlich doch ein Schwein.»

Oh. Die Denkweise von Verkäuferinnen war für mich schon immer ein Mysterium.

Dezember letzten Jahres musste ich für eine Bühnenproduktion eine weiße Hose kaufen. Also ging ich in ein richtiges Erwachsenenmodekaufhaus, wo aufgrund der Winterkollektion jedoch nichts wirklich Helles hing. Also fragte ich nach einer strahlend weißen Hose. Die Verkäuferin, die so etwa in meinem Alter gewesen sein dürfte, zwinkerte mir daraufhin zu, gab mir einen regelrecht anzüglichen kleinen Knuff und flötete süß: «Na, da kann wohl noch jemand den Frühling kaum erwarten, was?»

Angemessen überrumpelt, stotterte ich:

«Nein, nein, ich brauche die quasi eher beruflich.»

Augenblicklich wich sie zurück, nahm Haltung an und antwortete in respektvollstem Ton:

«Oh, Entschuldigung, Herr Doktor.»

Ungefähr eine Minute lang versuchte ich noch erfolglos, das Missverständnis aufzuklären. Bis ich begriff, dass ich schlagartig mehrere Stufen innerhalb der Kundenhierarchie aufgestiegen war. Mein Beruf sprach sich in Sekunden herum. Teilweise kümmerten sich nun drei bis vier Verkäuferinnen gleichzeitig um mich, waren aufmerksam, zuvorkommend und fröhlich. Sie sahen im Lager nach, kramten unverkäufliche Musterhosen hervor, telefonierten mit anderen Filialen. Natürlich schäkerte man auch, und selbstverständlich wurde jede der Verkäuferinnen früher oder später mit dem ein oder anderen Leiden bei mir vorstellig. Erstaunlicherweise konnte ich ihnen allen seriös und fachkundig helfen. Unabhängig von Krankheit und Diagnose empfahl ich zur Linderung stets:

«Viel Gemüse und Obst, wenig Zucker, rotes Fleisch und Weißmehl meiden. Gönnen Sie Ihrem Körper ausreichend Bewegung und Schlaf. Aber lassen Sie auf jeden Fall möglichst bald Ihren Hausarzt noch mal draufgucken. Obwohl der Ihnen wahrscheinlich genau dasselbe sagt. Haha. Doch besser ist das.»

Am Ende hatte ich eine der schönsten Dreiviertelstunden meines Lebens verbracht, eine hervorragend sitzende weiße Hose gefunden und endlich mal wieder eine Strategie für ein besseres Leben entdeckt. Wann immer ich nun in einem Kaufhaus von den Verkäuferinnen zu wenig beachtet werde, frage ich nach einer weißen Hose oder weißen Schuhen mit hellen Sohlen. Kurze Zeit später bin ich «Herr Doktor», und alles geht wie von selbst. Wobei ich höchsten Wert darauf lege, mich niemals selber als Arzt auszugeben. Klar, sonst wäre das ja Scharlatanerie.

Ganz am Ende meiner damaligen Doktorlaufbahn, als ich mit meiner Tüte fast schon draußen war, kam die erste Verkäuferin mir noch einmal nachgelaufen, griff mich am Arm und zischte:

«Sie sind ja gar kein richtiger Arzt.»

Nun war ich verblüfft.

«Wie kommen Sie darauf?»

«Ein richtiger Arzt hätte doch niemals so lange, geduldig, freundlich und fröhlich unsere vielen Fragen beantwortet. Da hätte er doch gar nicht die Zeit für.»

Das genau meine ich mit: Die Denkweise von Verkäuferinnen war für mich schon immer ein Mysterium. So auch jetzt bei den Unterhosen. Die junge Frau lächelt mich auf eine Art und Weise an, bei der ich nun wirklich nicht weiß, ob sie mich tatsächlich für ein Schwein hält oder einfach nur Spaß an meiner Verlegenheit hat.

Ich entschließe mich, meinen höchsten Trumpf zu spielen.

«Ach, und außerdem bräuchte ich dann aber auch noch eine weiße Hose.»

Sie zieht die Augenbraue hoch.

«’ne weiße Hose?»

«Ja. Strahlend weiß. Aus beruflichen Gründen.»

Zack. Das hat gesessen. Sehe, wie es in ihr rattert. Dann erhebt sie die Stimme und ruft, ohne den Blick von mir abzuwenden, sehr laut durch den Laden:

«He, Thomas! Der Maler hier, der die ganze Zeit Mädchenunterhosen fotografiert, braucht wohl ’ne neue weiße Arbeitshose zum Bekleckern. Kümmerst du dich darum?»

Alle jungen Mädchen auf der Etage starren uns an. Also zumindest gefühlt. Dann lacht die Verkäuferin los.

«Ach, ich mach ja nur Quatsch. Ich hab natürlich sofort gesehen, dass Sie Arzt sind.»

«Echt? Woran denn?»

«Jemand, der hauptberuflich mit Farben oder Design zu tun hat, würde doch nie so eine misslungene Farbkombination tragen.»

«Ach so.»

Eine andere Verkäuferin kommt angerannt. «Stimmt es, dass Sie Arzt sind?»

«Na ja …» Lege mir schon meinen Rat hinsichtlich Ernährung und Bewegung zurecht, als sie an meiner Hand zerrt.

«Einer hochschwangeren Kundin in der Umkleidekabine da vorn ist gerade die Fruchtblase geplatzt. Sie müssen sofort …»

In diesem Moment gelingt mir dann doch eine Ohnmacht.

Altersvorsorge

Seit die Tochter irgendwo aufgeschnappt hat, dass die Renten unserer, also meiner Generation wegen der Niedrigzinspolitik gefährdet sind und viele von uns daher wahrscheinlich später unseren Kindern auf der Tasche liegen werden, legt sie mir immer häufiger wie zufällig Angebote für Zusatzrenten, Pflegeversicherungen oder Immobiliensparpläne auf den Schreibtisch. Manchmal verziert mit fröhlichen Herzchen. «Guck mal, Papa, meinst du wirklich, du brauchst unbedingt gleich wieder ein neues Telefon? Für praktisch dasselbe Geld könntest du auch eine attraktive Pflegezusatzversicherung fürs Alter abschließen, hdl.»

«hdl» heißt «hab dich lieb». Das Kind bereichert mein Leben und ihre Nachrichten ständig mit irgendwelchen Abkürzungen, deren Sinn beziehungsweise Übersetzung ich mir dann mühsam ergoogeln muss. So spart sie Zeit beim Schreiben, die ich dafür beim Lesen wieder dreifach investiere. Eine Art Umverteilung von Zeit zwischen den Generationen. Obwohl ich mittlerweile ja schon viele der Kürzel kenne. «cu» für «see you», «hlf» für «have lots of fun» oder «SzosG» für «Schreib zurück oder schreib Geschichte». Manche Sachen lassen sich auch nicht ergoogeln, wie kürzlich: «cVbse» für «coole Verabschiedungsformel bitte selbst einfügen». Das Einzige, was wir früher abgekürzt haben, war vielleicht mal «Hajo» für «Hans-Joachim», oder der Anrufbeantworter wurde zum «AB», und statt Ronald Reagan sagten wir: «Arsch». So Sachen. Ein paar wenige Abkürzungen, die aber auch jeder sofort verstanden hat. Kein Vergleich zu heute.

Beleidigungen kürzen die Kinder natürlich sowieso ab. Beispielsweise: «SEF». Für: «Sein-Essen-Fotografierer». Was wohl aktuell eine der verächtlichsten Schmähungen unter Jugendlichen ist. Ich finde das ja vergleichsweise elegant. Gemessen an dem, wie sich Erwachsene so beschimpfen. Ob Erdogan wohl auch beleidigt gewesen wäre, wenn man ihn «Sein-Essen-Fotografierer» genannt hätte? Ob er es überhaupt verstanden hätte? Ist es nicht auch eine Art des Respekts, Beleidigungen so zu formulieren, dass der Beleidigte sie auch begreifen kann? Ist das am Ende der Grund, weshalb intelligente Satire von der Politik praktisch nie ernst oder auch nur wahrgenommen wird? Egal. Ich glaube, in Erdogans Fall wäre es ohnehin nicht von Belang gewesen. Kann man denn überhaupt irgendwas über ihn sagen, was ihn nicht beleidigt? Also etwas, was nicht gelogen ist wohlgemerkt?

Wenn ich jetzt beispielsweise sagen würde: «Nicht einmal für zehn Millionen Euro wäre ich bereit, Sex mit Erdogan zu haben.» Dann ist das die Wahrheit. Wirklich. Total. Gut, bei zwölf Millionen käme ich natürlich ins Überlegen. Klar. Wer nicht? Aber zehn Millionen? No way. Versprochen.

Zudem wäre die Aussage doch eigentlich auch in seinem Interesse. Ich meine, er ist sicher gleichfalls froh, keinen Sex mit mir haben zu müssen. Im Prinzip also: Win-win! Und trotzdem glaube ich: Bei all seiner Homophobie wäre er vermutlich doch irgendwie beleidigt, dass ich keinen Sex mit ihm haben will. So eitel ist er eben. Schätz ich mal. Wäre bei Putin vermutlich nicht viel anders. Würde ich hingegen sagen, ich will Sex mit Erdogan, wäre er vermutlich auch beleidigt. Sogar wenn ich es für lau machen würde. So wird aus Win-win Loose-loose. Man kann es ihm nicht recht machen, weil: ist eben so.

Manche Abkürzungen der Tochter sind auch verstörend oder irreführend wie «DDR» («Drück Dich Riesig») oder «SAU» («Seid Alle Umarmt»). Eigentlich hübsch, trotzdem ist es eigentümlich, wenn Nachrichten mit SAU unterschrieben sind.

Zudem hat sie mir kürzlich gestanden, seit einiger Zeit schreibe sie auch manchmal nur irgendwelche sinnlosen Buchstabenfolgen hin. Da sie es so lustig findet, wie ich dann verzweifelt versuche herauszufinden, was das bedeuten könnte. Im besten Fall sogar die schwachsinnige Abkürzung selbst übernehme und mich so völlig zum Lappen mache. Das findet sie richtig witzig. Weshalb sie kürzlich «DTFfkaM» unter eine SMS geschrieben hat. Nach stundenlangen Recherchen konnte ich es schließlich als «Donald Trumps Frisur formerly known as Meerschweinchen» übersetzen. Hübsch, aber leider völliger Blödsinn.

Habe mich dann gerächt mit einer selbstgemachten Abkürzung aus meiner Kindheit und ihr geschrieben: «wdlid», wer das liest ist doof. Damit sie mal knobelt, und wenn sie das raushat, dann lache ich.

Doch keine zehn Sekunden später kam die Antwort: «Vielen Dank, Papa. Habe mich echt gefreut. Das ist sehr nett von dir. Wusste gar nicht, dass du diese Abkürzung kennst und benutzt, hdl.»

Seitdem überlege ich verzweifelt, was ich ihr da wohl geschrieben haben könnte. Möglicherweise werde ich es nie erfahren.

Menu à la sanitaire

Der Taxifahrer, der mich von Emmelshausen nach Boppard bringt, ist Maurer. Oder andersrum. Zumindest leitet er, während er die erstaunlich engen Serpentinen des Hunsrück einhändig runterrast, nebenher auch noch eine Baustelle.

«Ja, mach noch mal ein bisschen Wasser in den Mischer und stell auf zwei. Ich bin in zwanzig Minuten da, dann können wir den Beton aufgießen.»

Ist das die Zukunft? Werden wir bald alle zwei Jobs haben und die auch noch parallel ausüben müssen, um über die Runden zu kommen?

Wer weiß, womöglich muss ich mir demnächst bei Auftritten so einen Grillwalker-Grill umhängen und nebenher Bratwürstchen verkaufen. Das stört nicht sehr doll beim Vorlesen und wäre ein attraktiver Zuverdienst. Ich bin zwar kein sonderlich guter Griller, aber wem es nicht schmeckt, dem kann ich ja eine zweite Wurst gratis anbieten.

Anderes Beispiel: Als vor ein paar Wochen in einem Hotel in Binz die Toilette defekt war, stand kurze Zeit später der Koch aus dem Restaurant vor der Tür. In voller Kochmontur. «Wundern Sie sich nicht, ich bin eigentlich Installateur, aber da hab ich nichts gefunden, und jetzt koch ich eben.» Was soll man davon halten? Wird einem demnächst der Chirurg kurz vor der Operation mitteilen: «Wundern Sie sich nicht, ich bin eigentlich Fliesenleger, aber wegen der Knie ging das nicht mehr, und jetzt operier ich eben. Und? Haben Sie sich schon ein Muster für die Narbe ausgesucht? Wäre gut, wenn wir das wüssten, bevor wir sie dann wieder verfugen.» Die Tochter erging sich später in Phantasien, wie sie unten, im Hotelrestaurant der durchaus gehobenen Preisklasse, die Gäste ansprechen würde. «Schmeckt es Ihnen? Sieht lecker aus. Stellen Sie sich vor, vor zwanzig Minuten hat der Koch noch unsere Toilette repariert. Ein Tausendsassa, was? Ich bringe ihm nur seine Löffel. Die hat er bei uns vergessen.» Seitdem gibt es in unserer Familie die stehende Wendung: «Hmmm, das schmeckt ja wie vom Sanitärfachmann zusammengeschraubt.»

Mein Taxifahrer hat sein Baustellengespräch mittlerweile beendet. Telefoniert aber schon wieder. Diesmal berät er offensichtlich jemanden in puncto Riester-Rente. «Mach dir keine Sorgen. Und wenn das mit der Riester-Rente wirklich alles den Bach runtergeht, kannste dann ja immer noch bei uns ein bisschen Taxi fahren. Das geht auch mit achtzig oder neunzig noch.»

Das stimmt. So einen Fahrer hatte ich kürzlich erst. In Koblenz. Näher an den neunzig als an den achtzig, würde ich schätzen. Hat die ganze Zeit vor sich hin gesummt. Wahrscheinlich um zu signalisieren: «Ich sehe zwar nicht so aus und wirke vielleicht auch nicht so, aber ich bin nach wie vor am Leben und kann durchaus noch pfeifende Geräusche machen. Solange Sie das Pfeifen hören, müssen Sie sich nicht sorgen. Außerdem kommt man auch mit knapp zwanzig Stundenkilometern ans Ziel.» Irritierenderweise hat er dann ungefragt an einem Friedhof gehalten und eine Weile in sich versunken nachgedacht. Schließlich ist er aber doch noch mal losgefahren.

Als ich in Boppard aussteige, zolle ich dem Fahrer Anerkennung, wie er so nebenbei noch eine Baustelle leitet. Er guckt komisch. «Wieso Baustelle?» Meint dann lachend: «Ach, wegen des Betons. Denken Sie aber mal nicht, ich würde schwarzarbeiten. Das ist rein privat. Ich bin Pate bei der Hunsrücker Mafia, und wir wollen nur jemanden im See versenken. Deshalb der Beton.» Winkend fährt er davon. Bin beruhigt. Mafia gilt ja meines Wissens nicht als sozialversicherungspflichtiger Beruf.

Polizeikontrolle

Fahre mit dem Fahrrad den Kurfürstendamm runter. Die Fußgängerampel kurz vor dem Breitscheidtplatz zeigt Rot. Halte an, lasse die Fußgänger rüber. Als alles frei ist, fahre ich wieder los. Weit komme ich nicht. Direkt hinter dem parkenden Kleinlaster schießt plötzlich eine Kelle hervor. An der Kelle hängt eine Polizistin. Eine erstaunlich schöne Polizistin. So schön, dass ich mich tatsächlich bei dem äußerst dämlichen, reflexartigen Gedanken ertappe: Cool, die hält mich an! Noch überraschter bin ich, als sie mich sogar anspricht.

«Sie wissen, warum ick Ihnen angehalten habe?»

Kaum zu glauben, aber aus der zarten aristokratischen Gestalt tönt ein tiefes, schnoddriges Berliner Hochdeutsch-Brumm. Im Prinzip redet sie, als hätte sie einen Schnauzbart. Versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

«Ähh, nein. Warum denn?»

«Na, die Ampel war noch tiiiief und entspannt auf Dunkelrot.»

«Auf Rot?»

«Ouhh jaa, rot wie der Bauch eines Engländers am Strand von Mallorca. Na, dit wird nisch billisch.»

Ich sollte mich konzentrieren. Mit Sicherheit kommt es jetzt auf jedes Wort an. Doch ich denke ausschließlich: Ein männlicher Polizist mit Schnauzbart, gefangen im Körper einer wunderschönen Frau – die Welt ist bunt. Sie jedoch knödelt in unbeirrt gelangweilter Routine weiter:

«Sind Se mit ’ner Verwarnung und sechzisch Euro einverstanden?»

Oha. Versuche ein sympathisches Lachen: «Wie, ich krieg da sechzig Euro für? Haha … ha … ha …»

Sie lacht nicht.

«Und da kostet’s ooch schon achtzisch Euro. Einverstanden?»

Schnell durchdenke ich meine Situation. Wenn ich jetzt mit so was anfange wie: Kind krank, Freundin schwanger, Opa liegt im Sterben – das wäre echt würdelos. Andererseits, was ist denn so schlimm an würdelos? Ist ja wohl meine Würde. Kann ich doch mit machen, was ich will, oder? Hm. Das sollte ich mir vielleicht merken, wenn mal wieder diskutiert wird, was sie denn wert ist, die Würde des Menschen. In meinem speziellen Fall beginnt da wohl bei so rund achtzig Euro Verwarnungsgeld der Verhandlungsspielraum. Wobei, eine solch schlichte Ausrede hört sie doch bestimmt alle naselang. Womöglich mache ich es mit so einem Versuch nur noch schlimmer. Aber wahrscheinlich ist es auch keine Lösung, sie weiter, wie jetzt schon eine ganze Weile, schweigend mit offenem Mund anzustarren.

Ihr Kollege tritt dazu. Ein älterer, großer, kräftiger Polizist mit wahrlich standesgemäßem Schnurrbart. Er grinst altväterlich und spricht: «Wollen Sie sich vielleicht doch noch zu der Sache äußern?» Allerdings in glockenheller, sanft melodiöser Sopranlage.

Vermute, das machen die mit Absicht. Oder wurden womöglich versehentlich ihre Stimmen vertauscht, heute früh, als sie beide ihre Dienststimme aus dem Spind genommen haben? Einfach verwechselt! Wer kennt das nicht? Oder sie sind Bauchredner. Beide. Zufällig beide Bauchredner, und nachdem sie ihren eigentlichen Traumjob im Varieté nicht bekommen haben, verwirklichen sie sich jetzt eben so. Bei der Polizei. Indem immer der eine für den jeweils anderen redet. Ja, die meisten Menschen mit ordentlichen Berufen tragen eben doch diese unerfüllte Sehnsucht nach einem Leben in Kleinkunst und Tingeltangel in sich. Sie würden nicht glauben, wie viele Kleinkünstler und Tingeltangler wiederum die tiefe Sehnsucht nach einem ordentlichen Beruf in sich tragen.

Die Polizistin reißt mich aus meinen Gedanken: «Sonst würden wa jetzt nämlisch schon ma die Anzeige uffnehmen. Dauert aber ’n bisschen.»

Einen ganz kurzen Moment denke ich noch: Ich sollte nicht sagen, was ich gleich sage. Aber da sage ich es leider auch schon. Sage also: «Ha, ich hab’s genau gesehen! Als Sie gerade geredet haben, hat sich sein Schnurrbart bewegt!» Stille. Die beiden Polizisten starren mich an. Setze nach: «Erwischt!»

Weitere Sekunden vergehen, bis die Frau die Stille durchbricht: «Und da wär’n wa nu schon bei hundert Euro Verwarnungsgeld. Einverstanden?»

Verdammt. Also gut, mit einfachen Lösungen werde ich hier nicht weiterkommen. Ich muss doch was Besonderes machen. Etwas Brillantes. Unerwartetes. Taktischer Rückzug! Verkünde: «Einverstanden. Ich muss nur noch gerade ganz schnell telefonieren. Es ist wirklich wichtig.» Rufe Peter an, rede sehr laut, als er abnimmt: «Ja, hallo, Peter, ich habe etwas ziemlich Dummes und Schlimmes gemacht. Ich bin bei Rot über eine Ampel gefahren, und nun wird das dauern, weil eine Anzeige aufgenommen wird. Es geschieht mir aber auch recht. Du musst der Frau Schwirrat deshalb sagen, dass ich nicht rechtzeitig mit ihrem Antiallergiemittel da sein werde. Ja. Sie soll sofort einen Krankenwagen rufen, bevor jetzt ein Schock …»

Peter würde vermutlich gern verwirrt schweigen. Da er das jedoch nicht kann, macht er stattdessen sein Verwirrtes-Schweigen-Geräusch, also: «Häh?»

Ich rede einfach weiter. «Ach, sie hat schon einen Schock? Oje, oje. Aber ich kann hier noch nicht los. Ich bin ja nun auch selber schuld.»

Peters Geräusch schwillt an.

«Nein, ich habe den Polizisten nicht gesagt, warum ich so schnell über eine rote Ampel gefahren bin …»

Peters Geräusch implodiert.

«Weil das ja auch gar nicht ihre Aufgabe ist, sich so Zeug anzuhören. Die haben weiß Gott schon genug zu tun …»

Die sehr große Hand des Polizisten kracht plötzlich auf meine Schulter. «Sofort auflegen!», summt er in mein Ohr. «Meine Güte, sagen Sie das doch gleich. Steffi, pack den Block weg, die Sache hat sich erledigt!»

Verkneife mir unter größter Anstrengung ein Grinsen. Taktischer Rückzug und Triumph! Denke, wenn das der alte Feldmarschall Blücher gesehen hätte, hätte ich jetzt einen Adelstitel und weitläufige Ländereien in Ostpreußen bekommen. Denke ich mal. Und eine Prinzessin zur Frau. Mindestens. Egal, mit was für einer Stimme die dann spricht. Versichere mich: «Dann kann ich also fahren?»

Er schüttelt den Kopf. «Nein, nein. Sie schließen das Rad an und fahren dann mit uns. Mit Blaulicht. Und wir kommen mit hoch, zu der Frau Schwirrat. Falls wir gleich weiter in die Klinik müssen. Wenn die Medikamente so spät kommen, ist mit einem allergischen Schock nämlich nicht zu spaßen. Ich kenn mich da aus.»

Vor meinem inneren Auge erscheint Feldmarschall Blücher, wie er befiehlt, Tipp-Ex erfinden zu lassen, damit er meinen Adelstitel wieder streichen kann. Dann schickt er mich nach St. Helena. Wo ich mir mit Napoleon ein Zimmer teilen muss. Er ruft mir noch höhnisch nach: «Na denn viel Spaß! Soll ja schnarchen, der Korse!»

Den Teil, wie ich Peter im Streifenwagen per SMS instruiere, er solle schnellstens der Schwirrat im zweiten Stock klarmachen, dass sie jetzt einen allergischen Schock spielen muss – den ich dann kuriere – mit als Pillen getarnten Tic Tacs – die mir Peter heimlich im Treppenhaus zusteckt – aber erst nachdem Frau Schwirrat während der Behandlung flüsternd hundert Euro und dreimal Fensterputzen als Gegenleistung aus mir herausgehandelt hat –, den Teil überspringe ich jetzt mal komplett.

Immerhin waren die beiden Polizisten zufrieden. Sehr zufrieden sogar. Also spätestens, als sie mich zu meinem Fahrrad zurückgebracht hatten und die wunderschöne Frau sagte: «So, da wäre denn ja jetzt noch die Anzeige, ne.»

Ich starre sie entsetzt an.

Sie aber referiert in geschäftsmäßiger Freundlichkeit: «Also den Täuschungsversuch mit die alte Frau und die Allerjie, den schenken wa Ihnen. Zumal mein Kollege ja ooch gleich zu mir jesagt hat: Ne, lass uns da doch einfach mal hinfahren und kieken, was er macht. Dit wird bestimmt lustig. Und war’s denn ja auch. Aber escht, kann man nich meckern! Können wa noch lange von erzählen! Aber die Fahrten müssen wa Ihnen natürlisch berechnen. Denn sagen wa mal: hundertfuffzisch! Einverstanden?»

Ich nicke, schließe die Augen und höre schon den schnarchenden Korsen.

Als ich einmal fast Tarzan war

Frau Schwirrat, die gut siebzigjährige Mieterin aus dem vierten Stock des Vorderhauses, ist für ein paar Tage bei Verwandten. Sie hat mir ihren Schlüssel gegeben, damit ich einmal täglich ihren Kater füttere. Da sie angeboten hat, dies mit anderthalbmal Fensterputzen zu verrechnen, konnte ich schlecht ablehnen. Dann wären wir endlich quitt. Denn einmal hatte ich tatsächlich ihre Fenster geputzt, und das andere Mal durfte ich mit den Schulden meines Nachbarn Rüdiger verrechnen. Allerdings fand Frau Schwirrat im Nachhinein, dass Rüdigers Arbeit maximal ein halbes Fensterputzen wert war, da dieser nicht nur viel schlechter als ich putze, sondern dabei auch nachlässiger gekleidet war und es ihr überhaupt sehr viel weniger Freude bereite, ihm beim Putzen zuzusehen als mir.

Es war irritierend, feststellen zu müssen, wie sehr ich insgeheim darauf stolz war, nicht nur ein besserer Fensterputzer als Rüdiger zu sein, sondern auch noch eine deutlich attraktivere Figur dabei abzugeben. Das war der Moment, in dem ich anfing, mich heimlich beim Putzen im Spiegel zu beobachten. «Mittelalte Männer, die sich beim Putzen heimlich selbst im Spiegel beobachten und daran erfreuen. Ein gesellschaftliches Tabuthema, das zu Recht totgeschwiegen wird.» Das sollte ich mir merken, falls ich demnächst mal wieder gefragt werde, ob es auch Themen gibt, die ich beim Schreiben meide.

Frau Schwirrats Schlüssel habe ich aber dennoch nur ungern entgegengenommen, da ich schon mehrfach erleben durfte, wie ungehalten Katzen werden können, wenn man ihnen neues Personal zuteilt.

Frau Schwirrat jedoch ist eine weltgewandte Frau und weiß natürlich um das Hierachiegefüge zwischen Mensch und Katze. Daher benennt sie ihre Kater auch schon seit Jahren nach den gerade Regierenden Bürgermeistern. Wobei die Tiere natürlich länger leben, als die Stadtoberen im Amt sind. Das ist auch bei Herrn Wowereit nicht anders. Zudem hat Frau Schwirrat noch eine weitere Idee: «Rufen Sie mich einfach auf dem Handy an, wenn Sie in die Wohnung gehen, und legen Sie Kläuschen dann den Hörer hin. Das beruhigt ihn, freut mich, und Sie können sich in Ruhe um die Pflanzen und das Futter kümmern.»

Während der Ex-Regierende also vor dem Telefon liegt und der sanft aus dem Gerät tönenden Stimme seiner Sekretärin lauscht, erledige ich meine Aufgaben. Dann übernehme ich noch mal kurz das Gespräch.

«Ich hab auch gleich ordentlich gelüftet. Das war echt mal nötig.»

«Oh, da müssen Sie aufpassen. Wenn alle Fenster offen stehen, gibt das gewaltig Durchzug. Das ist nicht gut für Herrn Wowereit.»

Denke: Na ja, das bisschen Wind wird den rüstigen Politrentner schon nicht umbringen. Lüge jedoch sozialkompetent: «Jaja, natürlich, ich hab auch schon wieder zugemacht.»

«Ach, und könnten Sie noch kurz in mein eBay-Konto schauen und mir später eine SMS schreiben, ob ich die Prince-Bootlegs aus Minneapolis gekriegt habe? Da gibt’s einen Zettel mit Usernamen und Passwörtern und so. Der ist …»

Höre gar nicht weiter zu, denn ich sehe ihn schon direkt neben dem Computer liegen. Unfassbar. Ein loses DIN-A4-Blatt mit einer Unmenge sauber aufgelisteter und zugeordneter Benutzernamen, Geheimzahlen, Passwörter, Keycodes, einfach allem. Für jedermann sichtbar neben dem Rechner. Die Schwirrat redet immer noch. Falle ihr ins Wort.

«Ich hab ihn schon gefunden. Aber hören Sie mal, das ist sehr unvorsichtig. Diese ganzen Zugangsdaten alle unverschlüsselt auf einem DIN-A4-Blatt.»

«Ach, was kann mir schon einer wegnehmen? Früher hab ich ständig meine Passwörter vergessen, nicht wiedergefunden, verwechselt. Das hat richtig genervt. Jetzt hab ich dafür einen Zettel, und gut ist.»

«Sie haben diesen Zettel nur einmal?»

«Natürlich.»

«Das ist ja doppelt gefährlich. Stellen Sie sich vor, der kommt weg.»

«Ach, wieso sollte der wegkommen?»»

Ein gewaltiger Durchzug erfasst den Zettel, der durchs Fenster schießt, zwei-, dreimal durch die Luft tänzelt und schließlich in der großen Linde vor dem Haus hängen bleibt.

Sage: «Ja, wieso eigentlich? Äh, ich muss jetzt auflegen. Habe doch noch mehr zu tun, als ich dachte.»

Sie lacht: «Jaja, wahrscheinlich wieder Papierkram, was?»

«Ja. Papierkram trifft es ziemlich gut. Also Zettelkram, genau genommen. Egal. Tschüss!»

Lege auf.

Der Baum ist nicht weit weg. Ich könnte da reinspringen und den Zettel holen. Aber ich würde nie wieder vom Baum runterkommen. Die Feuerwehr? Für einen popeligen Zettel? Die fühlen sich doch veräppelt. Wenn ich jedoch reinspringe, müssten die mich retten. Andererseits wäre das aber auch ziemlich peinlich. Hole die Katze. Die wehrt sich zwar mit Pfoten und Pfoten. Aber hilft ja nichts. Werfe sie in den Baum. Rufe dann die Feuerwehr an. Wenn die kommen und die Katze retten, werde ich sie einfach bitten, den Zettel gleich mitzunehmen. Bin selbst beeindruckt, wie schnell ich einen so einfachen und doch brillanten Plan entwickeln kann. Feuerwehr sagt, sie kommen, aber womöglich nicht sofort. Katze im Baum hat nicht die allerhöchste Priorität. Sage, das versteh ich gut.

Rufe Herrn Wowereit zu, es täte mir ehrlich leid, aber die Feuerwehr schätzt andere Leben höher ein als seins. An seiner Stelle würde ich mich da gar nicht drüber ärgern. Bringt ja nichts. Der Ex-Regierende ignoriert meinen Rat. Faucht mich wütend, feindselig an. Wird wahrscheinlich seinen gesamten noch verbliebenen politischen Einfluss gegen mich geltend machen, wenn er wieder drinnen ist.

Sirenen, die Feuerwehr! Oh, das ging jetzt aber doch schnell. Die Katze erschrickt, macht dann drei Sätze und springt durchs offene Fenster zurück in die Wohnung.

Verdammt, ein zweites Mal lässt die sich jetzt garantiert nicht fangen. Also zumindest nicht von mir. Aber die Feuerwehr wird jede Sekunde hier sein. Wenn außer dem Zettel nichts mehr im Baum ist, fahren die doch sofort wieder. Erkenne, dass ich keine andere Wahl habe. Auch wenn es mir überhaupt nicht gefällt: Ich werde springen müssen und später einfach sagen, das Tier habe mir so leidgetan. Da ich nicht wusste, wann die Feuerwehr eintrifft, hätte mir mein Gewissen befohlen, meinen Platz mit dem Tier zu tauschen. Also selbst in den Baum zu springen und es zu befreien, indem ich es zurück in die Wohnung werfe. Keine schöne, komfortable Lösung, aber so bin ich am Ende immerhin ein Held. Irgendwie auch besser als nix.

Atme tief durch, schließe die Augen und springe. Erreiche gerade so einen kräftigen Ast. Der knackt, hält aber. Dann Schmerz, habe plötzlich den Verdacht, dass das gar nicht der Ast war, der da geknackt hat. Überall Schmerzen, habe mir alle Muskeln gezerrt, sämtliche Steiße geprellt und hunderte Knöchel verknackst. Öffne die Augen. Sehe, dass ich tatsächlich höchst unvorteilhaft in diesem Baum hänge. Dem hohen Baum. Jetzt wird mir auch noch schwindelig. Und schlecht. Unglaublich schlecht. Passiert das eigentlich häufig, dass zu rettende Personen sich auf den Feuerwehrmann, der auf dem Weg hoch zu ihnen ist, übergeben müssen? Hätte nie gedacht, dass ich über so was mal nachdenken würde. Halte das hier keine zwei Minuten mehr aus, will bloß noch gerettet werden, gerettet werden, gerettet …

Höre, wie die Feuerwehr unten vorbeifährt.

Verdammt. Die waren dann wohl doch nicht auf dem Weg hierher. Wahrscheinlich hat irgendein Spinner seine Wohnung in Brand gesteckt. So ein Arsch. Nicht zu fassen, wie unvorsichtig manche Idioten hier in der Stadt sind!

Herr Wowereit sitzt im Fenster und schaut sehr zufrieden zu mir rüber. Ganz so, als wolle er sagen: Und morgen mach ich dich auch noch zum Flughafenchef. Will das Beste aus der Situation machen und wenigstens den Zettel retten. Greife nach ihm, der löst sich und segelt langsam zu Boden. Ein Passant hebt ihn auf.

Rufe: «Hallo, könnten Sie den Zettel bitte einfach in den Briefkasten bei Evers werfen?»

Er antwortet: «Sind das alles Geheimzahlen und Passwörter?»

«Werfen Sie den bitte einfach in den Briefkasten.»

«Hören Sie, das ist aber sehr gefährlich, die alle auf einem Zettel stehen zu haben.»

«Ich weiß. Bei Evers in den Briefkasten.»

«Und da oben in dem Baum rumzuklettern ist auch sehr gefährlich. Stellen Sie sich vor, Sie fallen auf jemanden drauf. Was dem alles passieren kann. Was Sie machen, ist Ihre Privatsache. Meinetwegen können Sie die ganze Nacht da oben in dem Baum sitzen und sich für Tarzan halten. Aber Sie gefährden auch die Menschen hier auf dem Bürgersteig.»

«Ja, auch das ist mir bewusst. Es tut mir sehr leid, dass ich in diesem Baum hänge. Das können Sie mir glauben.»