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Eine große Liebesgeschichte auf der Titanic.
1912: Der junge Freiburger Klavierbauer Richard Martin wird als Übersetzer für die Nichte seines Chefs eingesetzt. Nur widerwillig nimmt er sich der jungen Irin Norah an, die sein Leben gehörig durcheinanderwirbelt und ihm den Kopf verdreht. Ein gutes Jahr später darf er einen lukrativen Auftrag ausführen: Er soll für die Firma Welte & Söhne ein selbstspielendes Piano auf dem Luxusliner Titanic einbauen.
In Irland trifft er Norah wieder. Er lernt ihre Familie kennen und erfährt mehr über ihr Leben und ihren Einsatz für ihre Freundinnen, die in ärmlichen Verhältnissen im Belfaster Arbeiterviertel leben. Dabei kommen Richard und Norah sich näher. Als Stewardess wird auch sie bei der Jungfernfahrt des Ozeanriesen mit dabei sein. Zum Glück, denn bei einer gewagten Rettungsaktion im irischen Hafenviertel hat sie sich mächtige Feinde gemacht. Und so läuft die Titanic aus Southampton aus, und Richard und Norah blicken in eine ungewisse Zukunft ...
Der historische Roman der Bestsellerautorin Elisabeth Büchle erzählt eine mitreißende Geschichte von Aufbruch, Mut und der großen Liebe.
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Seitenzahl: 649
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Historische Einführung
Der Hintergrund dieses Romans
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil 2
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Historische Personen
Anmerkungen
Skizzen
Dank
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Leseprobe
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Freiburg, 1912: Der junge Klavierbauer Richard Martin wird als Übersetzer für die Nichte seines Chefs eingesetzt. Nur widerwillig nimmt er sich der jungen Irin Norah an, die sein Leben gehörig durcheinanderwirbelt und ihm den Kopf verdreht. Ein gutes Jahr später darf er einen lukrativen Auftrag ausführen: Er soll für die Firma Welte & Söhne ein selbstspielendes Piano auf dem Luxusliner Titanic einbauen.
In Irland trifft er Norah wieder. Er lernt ihre Familie kennen und erfährt mehr über ihr Leben und ihren Einsatz für ihre Freundinnen, die in ärmlichen Verhältnissen im Belfaster Arbeiterviertel leben. Dabei kommen Richard und Norah sich näher. Als Stewardess wird auch sie bei der Jungfernfahrt des Ozeanriesen mit dabei sein. Zum Glück, denn bei einer gewagten Rettungsaktion im irischen Hafenviertel hat sie sich mächtige Feinde gemacht. Und so läuft die Titanic aus Southampton aus, und Richard und Norah blicken in eine ungewisse Zukunft …
Der historische Roman der Bestsellerautorin Elisabeth Büchle erzählt eine mitreißende Geschichte von Aufbruch, Mut und der großen Liebe.
ELISABETH BÜCHLE
Der Klangdes Pianos
Für Barbara Schäffer
Die Firma M. Welte & Söhne, Freiburg im Breisgau, wurde 1832 mit einer Werkstatt für Spieluhren in Vöhrenbach gegründet. 1872 zog die Firma nach Freiburg in das neu erschlossene Gewerbegebiet beim Hauptbahnhof im Stadtteil Stühlinger um. Sie stellte bis 1932 konkurrenzlos hochwertige selbstspielende mechanische Musikinstrumente her.
Maßgeblich für den Erfolg der Welte-Instrumente war die Entwicklung der Steuerung dieser selbstspielenden Instrumente durch Notenrollen – Lochstreifen aus Papier, die die empfindlichen Stiftwalzen ersetzten. 1883 wurde das Verfahren patentiert, und Welte war damit endgültig Marktführer auf diesem Sektor geworden.
Die Instrumente spielten auf Rollschuhbahnen und Eislaufflächen in den USA, in europäischen Königshäusern, auf Luxusdampfschiffen oder im Sultanspalast von Sumatra.
1905 kamen unter dem Namen »Mignon« Welte-Mignon-Reproduktionsklavier) Instrumente auf den Markt, die als Tonträger wiederum die sogenannten Noten- oder Klavierrollen benutzten. Diese waren eine Gemeinschaftsentwicklung von Edwin Welte (1876-1958) und dessen Schwager Karl Bokisch (1874-1952), der mit Edwin Weltes Schwester Frieda (1874-1930) verheiratet war. Damit war es möglich, das einmal eingespielte Musikstück eines Pianisten inklusive seiner Anschlagsdynamik originalgetreu wiederzugeben.
Der Erste Weltkrieg und die Einführung neuer Technologien wie Rundfunk, Schallplattenspieler und ähnliches trafen das Werk schwer. Der Schwerpunkt der Arbeit änderte sich zwangsläufig mehrmals.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Arbeit des Werkes blockiert, da Edwin Welte mit der Jüdin Betty Dreyfuß (1873-1955) verheiratet war. (Ihr Bruder Bernhard war unter dem Namen Barney Dreyfuss in den USA ein berühmter Baseballspieler.)
1944 wurde der Firmenkomplex durch Bomben vollständig zerstört.
1911, als bei der Werft Harland & Wolff und bei der Reederei White Star darüber nachgedacht wurde, wie die Titanic noch ein wenig luxuriöser ausgestattet werden konnte, beschloss man, bei der Firma Welte & Söhne eine pneumatische Orgel zu bestellen.
Aufgrund fehlender Aufzeichnungen kann über den geplanten Standort der Orgel nur spekuliert werden. Das kunstvoll gearbeitete Orgelgehäuse hätte zu der Wandvertäfelung des Restaurants der ersten Klasse gepasst, oder aber, wie auf dem Schwesterschiff Britannic geplant, in das Treppenhaus der ersten Klasse. Angeblich haben Überlebende von einer Orgel im Treppenhaus der Titanic berichtet. (Fotos vom Inneren der Titanic existieren kaum. Die meisten Bilder stammen von der fast identischen Schwester Olympic.)
Karl Bokisch begleitete damals die Orgelteile nach England/Irland, um den Aufbau und die Inbetriebnahme an Bord persönlich zu beaufsichtigen. Gerüchten zufolge existiert eine Fotografie von ihm vor der mächtigen Orgel im Treppenhaus des Dampfers, das vermutlich von einem seiner Angestellten an Bord aufgenommen worden war.
Man hatte gerade mit dem Einbau des Orgelwerks begonnen, als eines von Karl Bokischs Kindern lebensgefährlich erkrankte und er sofort nach Deutschland zurückkehrte. Es wird vermutet, dass die Orgelteile daraufhin eingelagert wurden, um sie nach der Jungfernfahrt in die Titanic einzubauen.
Die Orgel für das Schwesterschiff Britannic wurde im Frühjahr 1914 eingebaut, aber schon im Sommer 1914 nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder entfernt, da der Luxusliner zu einem Hospitalschiff umfunktioniert wurde. Es sank 1916 vor Griechenland. Die Orgel wurde daraufhin vermutlich zurückgeschickt und weiterverkauft. Vor einiger Zeit wurde sie bei ihrer Restauration im Seewener Musikautomaten-Museum in der Schweiz »wiederentdeckt«: Ein Orgelbauer reinigte einige ansonsten unzugängliche Stellen der zwischen 1912 und 1914 erbauten Welte-Philharmonie-Orgel und entdeckte dabei gleich dreimal den eingestanzten Namen Britanik (die falsche Schreibweise kann möglicherweise durch mangelnde Englischkenntnisse der Orgelbauer in der Fa. Welte erklärt werden).
*
Als ich 2008 diesen Roman über die Titanic zu schreiben begann, der sich in der Hauptsache um die wenig beachteten Hafenarbeiter rund um die Werft Harland & Wolff und die Schiffsmannschaft dreht, aber auch um die Passagiere der zweiten Klasse, stieß ich auf diese Geschichte. So entstand dieser Roman »unter Beteiligung« der Firma Welte. Allerdings habe ich für den Inhalt des Romans ein paar Details der teilweise bestätigten Britannic-Orgel) und vermuteten Hintergründe (Titanic) verändert.
Einen Roman über eine Katastrophe zu schreiben führt zwangsläufig dazu, dass man sich ganz neu Gedanken über wichtige Dinge im Leben macht. Vielleicht geht es Ihnen beim Lesen nicht anders.
Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf dem bereits stark geneigten Deck der Titanic. Es herrscht klirrende Kälte, und um Sie her ertönen die verzweifelten Rufe der auf dem sinkenden Schiff Zurückgebliebenen. An Ihrer Seite befinden sich Ihre Lieben, die ebenso wie Sie auf die wenigen Rettungsboote schauen, die sich immer weiter vom Schiff entfernen. Im unangenehmen Gegensatz dazu kommen die eiskalten Wellen des Atlantiks Ihnen immer näher, und Sie wissen: Noch ein paar Minuten, und ich werde in diesem endlosen Eismeer schwimmen und über kurz oder lang erfrieren. Das ist mein Ende.
Wäre das der Augenblick, in dem Sie sich das erste Mal Gedanken darüber machen, was in Ihrem Leben wirklich zählt? Ansehen, Reichtum, Macht, Träume, nicht erreichbare Ziele? Was hatte in Ihrem Leben Priorität, wofür verwenden Sie am meisten Energie und Zeit? Für Ihre liebsten Menschen auf Erden, die Familie, die Freunde? Oder doch eher für Ihr persönliches Freizeitvergnügen, Ihre Arbeit, Ihr Vorankommen in der Firma, Ihr Aussehen oder die makellose Sauberkeit Ihrer Wohnung?
Träume und Ziele, fleißiges Arbeiten und der damit verbundene Erfolg sind nichts Negatives. Vielleicht aber verschiebt sich im Laufe der Jahre der richtige Maßstab, und Zeit und Aufmerksamkeit denjenigen oder der Sache gegenüber, die Ihnen wichtig sein sollten, werden weniger – was Sie nun, mit dem Blick auf die tödlichen Fluten, bedauern würden …
Wäre das der Augenblick, in dem Sie sich Gedanken machen würden über den Tod, der unausweichlich am Ende jedes Lebens steht, ganz gleich, ob es viele Jahre währt oder wenige? Und das, was vielleicht danach sein wird?
Mit der Titanic ging nicht nur ein schwimmender Luxuspalast unter, sondern auch die Träume von der Besiegbarkeit der Natur, der Technik- und Fortschritts»glaube« der damaligen Zeit, der fast an Größenwahn und maßlose Überheblichkeit grenzte. Und mit ihm wohl so manches Leben, das – hätten die Passagiere gewusst, was geschehen würde – anders verlaufen wäre.
Worauf bauen Sie und ich unser Leben? Was ist unser Ziel?
1911
Glücksmomentesind die Momente,die dich unerwartet treffen.Die dein Herz höherschlagen lassen unddich zum Leben erwecken.Die das Leben einzigartigund wertvoll machen.Die an einem grauen Regentageinen wunderschönen Regenbogenan den Himmel zaubern.Die Sterne am nächtlichen Himmel.
Glücksmomentesind die Überraschungen,von denen das Leben lebt.Sie definierendie Magie des Kunstwerks: Leben.Sie sind wie strahlendeKinderaugen, wie Sterne,die dann am schönstenfunkeln, wenn dieNacht am dunkelsten ist.
(Aus: Wüstenfarben, von Hanna Dengler)
Seine Schritte hallten laut durch den langen, düsteren Flur mit den großen, verstaubten Fenstern. Deshalb wunderte es ihn auch nicht, dass die Frauen im Büroraum bereits erwartungsvoll die Köpfe gehoben hatten, als er eintrat.
Die Finger der Bürodamen ruhten auf den schwarzen, runden Tasten der Schreibmaschinen, bereit, jede Sekunde wieder mit ihrem schnellen Stakkato fortzufahren.
»Guten Morgen, Herr Martin«, begrüßte ihn die Bürovorsteherin mit einem freundlichen Lächeln. »Herr Welte ist gerade am Telefon. Wenn Sie bitte noch einen Moment Platz nehmen wollen?«
Richard nickte und setzte sich auf die harte, unbequeme Holzbank vor der Tür, die zu Herrn Welte führte, dem Teilhaber und Geschäftsführer von M. Welte & Söhne, Freiburg i. B.
Die Frauen fuhren in ihrer Arbeit fort, und der Raum füllte sich mit dem ungleichmäßigen Klappern der Schreibmaschinen.
Der Firma Welte ging es finanziell ausgesprochen gut. Sie hatte eine weltweit führende Marktposition inne, was mechanische Musikinstrumente betraf, und der junge Instrumentenbauer war stolz, in diesem Werk arbeiten zu dürfen. Allerdings fragte er sich in diesem Augenblick, weshalb Edwin Welte ihn zu sich bestellt hatte. War etwas Gravierendes vorgefallen? War eines der von ihm entworfenen und angefertigten Klaviere nicht in Ordnung gewesen?
Voll innerer Unruhe hob er den Kopf und begegnete dem Blick von Frau Meisner. Diese lächelte ihn freundlich an und zog in einer knappen Bewegung die Schultern in die Höhe, um ihm zu signalisieren, dass sie ebenfalls nicht wusste, weshalb er herbeordert worden war. Richard lächelte zaghaft zurück und strich sich dabei mit beiden Händen sein Hemd glatt.
In diesem Moment wurde die Tür schwungvoll geöffnet und Herr Welte betrat den Vorraum. »Ah, Sie sind schon hier. Pünktlich wie ein Schwarzwälder Uhrwerk, nicht wahr?« Er bedeutete Richard mit einer knappen Handbewegung, ihm zu folgen.
Kurz darauf saß Richard auf einem Stuhl vor dem gewaltigen, aus dunklem Eichenholz gezimmerten Schreibtisch seines Vorgesetzten. Ganz im Gegensatz dazu, wie souverän er sich sonst seinen Angestellten gegenüber gab, wirkte Herr Welte heute beunruhigend unentschlossen.
Richard richtete sich ein wenig mehr auf. Er war kein junger, unerfahrener Instrumentenbauer mehr. Mit Fleiß und Ausdauer hatte er sich hochgearbeitet, und mit seinen mittlerweile 27 Jahren wusste er inzwischen sehr genau, was er wollte. Einen Teil seiner hochgesteckten Pläne hatte er bereits erreicht, nachdem er von Edwin Welte und seinem Schwager, Karl Bokisch, eingestellt worden war.
»Herr Martin, Sie sind ein überaus begabter und gut ausgebildeter Instrumentenbauer«, begann Welte. »Das ist allerdings nicht der Grund, weshalb ich Sie heute zu mir gebeten habe.« Er verstummte und schob unruhig einen Bleistift auf der Tischplatte hin und her. »Mir wurde gesagt, Sie beherrschen die englische Sprache?«
Richard stutzte. Hatte Welte etwa vor, ihn nach New York zu schicken? In der dortigen Niederlassung ging ein jahrelang geführter Patentrechtsstreit allmählich dem Ende entgegen, und Richard hatte von Plänen gehört, die Tochtergesellschaft in den Staaten in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Er wog blitzschnell die Möglichkeiten ab, die sich ihm dadurch bieten würden. Wo würde er eines seiner Ziele – nämlich, in die gehobene Gesellschaft aufgenommen zu werden – leichter erreichen können, im heimatlichen Deutschland oder in den Vereinigten Staaten?
Mit gerunzelter Stirn betrachtete er seinen Gesprächspartner, nur um festzustellen, dass dieser immer nervöser wurde. Musste er sich auf eine unangenehme Nachricht gefasst machen? Richard hatte in seinem Leben bereits einige Tiefschläge erlebt. Allerdings hatte er in den letzten beiden Jahren zu hoffen begonnen, dass es in seiner beruflichen Karriere und damit automatisch auch in seinem Leben nun endlich bergauf ging. Zerschlug diese Hoffnung sich heute, hier, in diesem überfüllten, aber dennoch ordentlich wirkenden Kontor Weltes?
Seine Unruhe nahm zu und breitete sich mit einem unangenehmen Kribbeln in seinem Inneren aus, das sich anfühlte, als habe er Tausende von Ameisen aufgeschreckt.
»Es ist so: Die Tochter einer Großtante von mir ist in jungen Jahren nach Hamburg gezogen. Sie hatte damals eine enttäuschende Liebesgeschichte hinter sich …« Der Mann unterbrach sich selbst und machte eine abweisende Handbewegung.
Richard rieb sich mit der rechten Hand über das Gesicht, um ein belustigtes Lächeln zu verbergen. An der Familiengeschichte der Weltes war er nur begrenzt interessiert, und er war sich sicher, dass es auch nicht im Sinne Edwin Weltes lag, diese vor ihm auszubreiten.
»Jedenfalls hat das Mädchen damals als Stewardess auf einem Schiff der HAPAG angeheuert. Sie hat ein paar Mal den Atlantik überquert und eines Tages einen Engländer geheiratet. Oder war er ein Ire? Wahrscheinlich Letzteres.«
Richard begann sich zu fragen, wann Welte wohl zum Grund seines Hierseins kommen würde, zumal die lange Vorrede seine düsteren Vorahnungen steigerte. War es nicht immer so gewesen, dass die Leute lange um den heißen Brei herumgeredet hatten, ehe sie mit ihren schlechten Nachrichten herausgerückt waren? Wie damals, beim frühen Tod seines Vaters? Zuerst hatte man Richard lang und breit erklärt, dass er inzwischen alt genug sei, um Verantwortung zu übernehmen und vernünftig zu sein. Ihm war gesagt worden, dass der Ernst des Lebens nun für ihn beginnen würde. Trotz seiner damals erst 10 Jahre hatte er unterschwellig gespürt, dass all diese Appelle an seine Vernunft letztendlich auf eine böse Nachricht hinauslaufen würden, und tatsächlich hatte der Tod seines Vaters sein Leben grundlegend verändert. Zum Schlechteren.
Wurde er im Augenblick erneut auf schlechte Neuigkeiten vorbereitet? Richard versuchte vergeblich, die trüben Gedanken, verbunden mit diesem grässlichen, einengenden Gefühl in seiner Brust, zu verscheuchen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Er lehnte sich auf dem Stuhl weiter zurück und schob seine langen Beine unter den Tisch. Äußerlich mochte er dadurch den Eindruck erwecken, er wolle es sich für einen längeren Aufenthalt in Weltes Kontor bequemer machen. In Wirklichkeit suchte er aber Halt, um sich auf eine Kündigung und damit ein erneutes abruptes Ende seines Traums von einem besseren Leben einzustellen.
»Das Paar hat zwei Kinder, die mittlerweile wiederum selbst Kinder haben. Kurz und gut: Eine der Enkelinnen wird uns in den nächsten Tagen besuchen kommen.«
Edwin Welte sah Richard an, und der nickte fragend. Was sollte er auch sonst tun – schließlich wusste er noch immer nicht, worauf sein Arbeitgeber hinauswollte und was das alles mit ihm zu tun hatte. Welte lächelte daraufhin breit, als habe Richard durch sein Nicken bereits seine Zustimmung zu irgendetwas erteilt, dessen Sinn sich ihm noch nicht erschloss.
»Die Dame arbeitet, wie ihre Großmutter früher, als Stewardess auf Nordatlantikschiffen. Nun möchte sie hier ihre deutschen Wurzeln kennenlernen und ihre Sprachkenntnisse erweitern.«
Richard wagte nicht, noch einmal zu nicken.
Herr Welte erhob sich und trat an eines der Fenster. Er trug Arbeitskleidung und wirkte mit seinem leicht zerzausten Haarschopf eher wie einer seiner eigenen Angestellten. »Ich möchte Sie bitten, sich der jungen Dame ein wenig anzunehmen, Herr Martin.«
Richard schaute seinen Arbeitgeber irritiert an. Er sollte lediglich den Besuch der Weltes betreuen? Es gab keine Kündigung, nicht einmal eine Abmahnung aufgrund einer Unachtsamkeit bei der Arbeit? Eigentlich hätte ihn das auch gewundert, immerhin arbeitete er so sorgfältig wie kein anderer in dieser Firma. Aber seine Erfahrungen waren bisher leider nur die, dass der Gegenwind, der ihm kalt und unnachgiebig ins Gesicht blies, meist unverhofft kam und dabei böse Konsequenzen mit sich führte, so wie eine Windböe oftmals feine Steine mit sich trug, die einem Spaziergänger schmerzhaft ins Gesicht schlugen. Glück – das erlebte man doch nur selten einmal, und niemals bekam man es geschenkt. Es wollte erarbeitet und erkämpft sein.
Deshalb blieb Richard bei dieser ungewöhnlichen Bitte an ihn auch weiterhin misstrauisch, aber immerhin schnürte ihm die Enge um seine Brust nicht länger die Luft ab, erschwerte aber noch immer seine Atmung. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Welte. Aber Herr Bokisch hat mir einige Verbesserungsarbeiten an dem neuen Reproduktionsklavier aufgetragen.«
»Ich habe meinem Schwager den Vorschlag bereits unterbreitet. Er ist einverstanden, dass ich Sie für diese Aufgabe ein paar Tage abziehe. Die junge Dame würde gerne Freiburg und den Schwarzwald kennenlernen und, wie gesagt, ihre Sprachkenntnisse verbessern. Deshalb halte ich es für sinnvoll, ihr einen Englisch sprechenden Begleiter an die Seite zu stellen. Und damit meinte ich nicht mich. Ich bin in der Firma und mit meiner Familie genug eingespannt, Herr Martin.« Herr Welte drehte sich zu ihm um. »Außerdem sind Sie ein vertrauenswürdiger junger Mann. Bei Ihnen weiß ich meine Verwandte gut aufgehoben.«
Richard erhob sich nur zögernd. Er war von der Vorstellung, für eine Verwandte der Weltes den Aufpasser spielen zu müssen, nicht gerade begeistert. Immerhin hatte er einen wichtigen Auftrag übertragen bekommen, den er gewissenhaft auszuführen gedachte. Mit diesem Werkstück konnte er der Geschäftsführung beweisen, dass er fähig war, mehr Verantwortung bei der Firma Welte zu übernehmen, und würde damit die Karriereleiter womöglich ein großes Stück nach oben klettern. Diese Chance wollte er sich ungern entgehen lassen.
»Ich möchte Sie zudem bitten, die Dame bei den anstehenden Veranstaltungen, Einladungen und Festen zu begleiten. Sicher wird sie auch bei den gesellschaftlichen Anlässen einen Dolmetscher brauchen. Für dieses Mehr an Arbeitszeit werden Sie selbstverständlich entsprechend entlohnt.«
Richard runzelte nachdenklich die Stirn. Welte lieferte seine Instrumente in Europas Königs- und Fürstenhäuser und sogar in den Sultanspalast von Sumatra. Die Begleitung dieser Stewardess konnte Richard vielleicht die Möglichkeit bieten, einmal in diese Kreise hineinzuschnuppern und eventuell sogar einige lohnenswerte Kontakte zu knüpfen. Er arbeitete gern in seinem Beruf, doch die Aussicht, ein paar Tage eine Verwandte der Weltes zu begleiten, erschien ihm nun gar nicht mehr so unerfreulich. Vermutlich würde sie nach der langen Reise ohnehin erst einmal einen Tag Erholung benötigen, und anschließend konnten sie einen oder zwei Ausflüge und eine Kutschfahrt durch Freiburg unternehmen. Damit die Dame sich nicht zu sehr verausgabte, war jeweils ein Ruhetag dazwischen angebracht. An diesen beschaulicheren Tagen konnten sie dann die gesellschaftlichen Termine wahrnehmen und …
Richard brachte seine Überlegung nicht zu Ende und erklärte sich bereit, während des Aufenthalts von Herrn Weltes Verwandter im Breisgau den Fremdenführer zu spielen.
Edwin Welte und seine Frau Betty standen nebeneinander auf den Stufen, die zur Tür ihres großen Hauses führten, und beobachteten die Ankunft der Kutsche. Richard, den ein Bote von der Ankunft der Dame aus Irland informiert hatte, trat hinzu und begrüßte das Ehepaar formvollendet. Betty Welte lächelte ihm, erfreut über seinen Charme, freundlich zu. Der Kutscher öffnete die Tür und half einer Dame im hochgeschlossenen braunen Reisekostüm heraus.
Richard musterte die schlanke Frau, deren Gesicht im ersten Moment unter dem wagenradgroßen Hut kaum zu sehen war. Mit ihren roten Locken und den unzähligen Sommersprossen sah sie genau so aus, wie er sich eine Irin vorstellte. Allerdings war sie weitaus älter, als er angenommen hatte. Mit Sicherheit hatte sie die 40 bereits seit ein paar Jahren überschritten. Leicht gebeugt, um sich nicht den kecken Hut vom Kopf zu stoßen, tauchte hinter ihr nun ein junges Mädchen auf, das mit einem Satz aus der Kutsche auf die Auffahrt hinuntersprang und sich neugierig umsah.
Richard kniff missbilligend die Augen zusammen. Es war nie die Rede davon gewesen, dass er auch die Tochter der Verwandten von Welte betreuen sollte. Zwar war das Mädchen kein kleines Kind mehr, doch vermutlich gerade deshalb anspruchsvoll und vielleicht auch schwierig, wie junge Mädchen in dem Alter es nun einmal waren. Er kannte das von seinen beiden jüngeren Schwestern.
Das Ehepaar Welte stieg die Stufen hinunter und begrüßte die beiden Gäste. Währenddessen lud der Kutscher einen Koffer aus, der ihm von einem der Hausbediensteten abgenommen wurde. Zu seinem Erstaunen sah Richard, wie sich die reifere Dame von dem Mädchen verabschiedete und sich wieder in das Gefährt helfen ließ.
Sollte das etwa heißen, dieses Mädchen war diejenige, die er in den nächsten Tagen zu betreuen hatte? Was sollte er denn mit einem so jungen Hüpfer anfangen? Mit einem so jungen Hüpfer anfangen? Waren diese jungen Leute nicht immerzu auf Unterhaltung und Abwechslung aus, möglichst in diesen neumodischen Clubs, in denen es laut und in Richards Augen reichlich unzivilisiert zuging? Womöglich war sie eine derjenigen, die sich mit Begeisterung jeder politischen Demonstration gegen den Kaiser und seine adelige Führungsschicht anschließen würden. Oder sie wollte Versammlungen besuchen, in denen es um das Frauenwahlrecht und erweiterte Arbeitsrechtsbestimmungen ging, was in diesen Tagen ja als ausgesprochen modern galt.
Richard hatte für so etwas keine Zeit und würde sich vermutlich dementsprechend unwohl fühlen, sollte dieses Mädchen ihn dorthin schleppen. Er spürte einen zunehmenden Widerwillen in sich aufsteigen und fragte sich, ob er diese Aufgabe nicht zugunsten eines anderen Mitarbeiters abgeben sollte. Allerdings pflegte er zu seinem Wort zu stehen, und es würde vermutlich negativ aufgenommen werden, sollte er sich jetzt doch noch sträuben, den übernommenen Auftrag auszuführen.
Herr Welte winkte ihn mit einer knappen Handbewegung zu sich und wandte sich an seine Nichte: »Norah, das ist Richard Martin. Er wird dir während deines Aufenthaltes in Freiburg als Begleiter und Dolmetscher zur Verfügung stehen. Herr Martin – Norah Casey.«
Richard begrüßte das Mädchen, das ihm fröhlich lachend die Hand reichte, und überlegte dabei, ob er die junge Dame einfach duzen sollte. Mit einem Blick in ihre dunklen, fast schwarzen Augen entschied er sich jedoch dagegen. In ihnen meinte er eine Tiefe und Lebenserfahrung zu sehen, die nicht recht zu ihrem jugendlichen Erscheinungsbild passen wollte.
»Jetzt lasst Norah doch erst einmal richtig ankommen. Bitte, Edwin, sorge dafür, dass sie ihr Zimmer gezeigt bekommt, damit sie sich frisch machen kann. In etwa einer Stunde werden wir die Abendmahlzeit einnehmen.«
Herr Welte übersetzte die auf Deutsch gesprochen Worte seiner Frau, und währenddessen grinste das Mädchen vor sich hin – eindeutig frecher, als Richard es jemals bei einer weiblichen Person gesehen hatte. Dieses Lächeln irritierte ihn zutiefst, zumal sich dabei in ihren Wangen zwei tiefe Grübchen bildeten, die den Eindruck aufmüpfiger Heiterkeit noch verstärkten.
Richard folgte den dreien in die Eingangshalle des Hauses. Er war schon des Öfteren bei den Weltes zu Gast gewesen, doch an diesem Tag erschien ihm das Gebäude größer und die Einrichtung noch exklusiver als zuvor. Vielleicht lag es an den eigens für den Gast auf Hochglanz polierten Möbeln oder daran, dass dieses Mädchen mit seinem einfachen Reisekleid und der abgeschabten Reisetasche in der Hand einen starken Kontrast zu der edlen Ausstattung darstellte.
Richard zog sich etwas verlegen seine Anzugjacke glatt und blieb im Eingangsbereich stehen, während die anderen auf die große, geschwungene Treppe zusteuerten. Eigentlich wurde er jetzt nicht mehr gebraucht.
Frau Welte hatte offensichtlich denselben Gedanken, denn sie drehte sich zu ihm um. »Danke, Herr Martin, dass Sie so kurzfristig herübergekommen sind, um Norah zu begrüßen. Im Moment brauchen wir Sie hier nicht mehr. Sie können sich wieder Ihrer Arbeit widmen.«
Richard sah über die Schulter von Frau Welte hinweg, wie Norah stehen blieb und sich flink nach ihm umdrehte. Sie musterte ihn einen Moment, wandte sich anschließend an ihren Onkel und sagte, sie habe nicht das Bedürfnis, sich auszuruhen, sondern würde gern noch heute seine Fabrik und das umliegende Gelände besichtigen.
Herr Welte sah etwas hilflos drein, als er sich an seine Frau wandte, aber Norah ließ dem Ehepaar nicht die Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Sie stellte die Tasche an den Fuß der nach oben führenden Treppe und eilte mit weit ausholenden Schritten zu Richard hinüber.
»Am liebsten möchte ich jetzt gleich alles sehen«, verkündete sie mit ihrem gälischen Akzent und stürmte an Richard vorbei, als wolle sie die Flucht ergreifen.
Frau Welte blickte der jungen Frau mit hochgezogenen Augenbrauen nach, während ihrem Mann tatsächlich der Mund offen stand. Richard hingegen zuckte hilflos mit den Schultern und drehte sich um, wobei er ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken konnte.
Als er auf die breite Außentreppe trat, war Norah schon in Richtung der benachbarten Fabrikgebäude unterwegs, und er musste zügig laufen, um sie einzuholen. Das Mädchen quittierte seine Anwesenheit mit einem Lächeln, ohne ihre Geschwindigkeit zu verlangsamen.
»Wie werden diese Musikrollen für die pneumatischen Instrumente hergestellt? Von wem wurden sie bespielt? Wie viele Arbeiter sind hier beschäftigt, und wohnen sie auch auf dem Gelände oder in der Umgebung? Wohin werden die Instrumente geliefert? Werden sie hier vor Ort zusammengebaut oder erst an ihrem Ankunftsort?«, bestürmte sie ihn – in gutem, wenn auch nicht akzentfreiem Deutsch, und brachte ihn damit erneut zum Staunen.
Jemand, der in solch schneller Abfolge so viele deutsche Fragen aneinanderreihen konnte, würde wohl kaum seine Deutschkenntnisse auffrischen müssen oder einen Dolmetscher benötigen. Aus welchem Grund also war er von seiner wichtigen Arbeit abgezogen worden, um das Mädchen zu betreuen? Versuchte man ihm auf diese Weise die Entwicklung eines neuen Welte-Pianos abzunehmen, sie womöglich einem anderen Instrumentenbauer zu übertragen, ohne dies offen kundzutun?
Richard atmete tief durch und versuchte, gegen dieses ewige Misstrauen anzukämpfen. Er durfte nicht immerzu nur das Negativste annehmen. Das hatte ihm seine Mutter schon vor Jahren empfohlen, obwohl auch sie kräftig vom Schicksal gebeutelt worden war. Er verkniff sich einen Kommentar und ging voran, um Norah höflich die Tür zur Werkshalle zu öffnen.
Schnell huschte sie in den vom Lärm der Arbeiten erfüllten Raum. »Nun kommen Sie schon, Herr Martin. Sie müssen mir unbedingt alles erklären. Was geschieht in diesem Bereich?«
Der junge Mann trat näher zu ihr, damit er nicht gegen den Fabriklärm anschreien musste, und erklärte ihr die Arbeitsabläufe. Norah hörte ihm eine geraume Zeit aufmerksam zu, ließ ihn dann ohne Vorwarnung einfach stehen und trat zu einem Arbeiter hinüber, der gerade eine kleine Pause einlegte und sich mit einem schmutzigen Tuch den Schweiß vom Gesicht wischte.
Richard verharrte verblüfft im Mittelgang und beobachtete sie.
Die junge Frau sprach den Arbeiter an, streckte dem verdutzten Mann ihre kleine, schmale Hand hin und wechselte nach der Begrüßung ein paar Worte mit ihm. Als sie sich abwandte, lag auf dem rundlichen, mit Bartstoppeln überzogenen Gesicht des Arbeiters ein zufriedenes Lächeln.
Inzwischen eilte Norah weiter den mit Holzplatten ausgelegten Gang entlang, ohne Richard zu beachten. Dieser betrachtete noch immer interessiert das Gesicht des Mannes, mit dem die Irin gerade gesprochen hatte. Täuschte er sich, oder lächelte er noch immer? Arbeiteten seine Hände flinker als zuvor?
Richard schüttelte über seine eigenen Gedankengänge den Kopf und folgte dem Mädchen schnellstmöglich.
*
Der feuchtkalte Nebel waberte in dichten, milchig weißen Schwaden zwischen den grauen, verkommenen Häuserfronten des Belfaster Viertels hindurch. Unter dem weißen Licht des Halbmondes schienen sich die einfachen kleinen Häuser, die sich wie stützend aneinanderlehnten, dem nassen, schadhaften Kopfsteinpflaster der engen Gasse entgegenzuneigen.
Zwischen den Lamellen eines schief in den Angeln hängenden Fensterladens schimmerten ein paar schmale Lichtstreifen hindurch, die ein bizarres Muster auf den schmutzigen, mit Unrat übersäten Boden malten.
Eine graue Katze huschte eilig davon, als die festen Schritte zweier Männer zwischen den Häusern widerhallten. Ihre finsteren Gesichtszüge wurden vom blassen Mondlicht beschienen.
»Was soll das heißen: ›Sie ist weg‹?«, zischte Connor, der Größere der beiden, und ballte bei diesen Worten wütend die Hände zu Fäusten.
»Weg eben.«
»Spar dir deine Frechheiten«, knurrte der Große und drohte Callum mit der Faust.
Der reagierte auf diese Drohgebärden schon gar nicht mehr, sondern schob nur seine Hände tief in die Taschen seiner ausgebeulten Stoffhose und zuckte dabei gleichgültig mit den Schultern. »Hab sie ein paar Tage nicht gesehen. Diese Norah ist weg.«
»Wo soll sie denn sein? Du solltest sie doch im Auge behalten! Wenn das unser Auftraggeber merkt!«, zischte der andere, dieses Mal lauter, und erneut floh die Katze aus ihrem Versteck, jagte über die Pflastersteine und verschwand in der schmalen Lücke zwischen zwei Häusern.
»Was weiß ich.«
»Hast du eine von ihren Nachbarinnen befragt? Diese Weiber wissen doch meist alles von den anderen.«
»Klar. Sie haben mir ja eben gesagt, sie sei weg.«
Connor packte seinen Begleiter grob am Hemd und drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht gegen eine Hauswand. Loser Putz bröckelte ab und fiel zu Boden.
»Wohin weg? Wann? Hat sie ihre Sachen mitgenommen? Ist sie mit einem Schiff fort? Mit dem Zug?« Seine Worte stürmten förmlich auf den Bedrängten ein und hüllten ihn in eine Wolke aus Alkohol.
»Weiß ich noch nicht«, keuchte Callum und versuchte, sich aus dem erbarmungslosen Griff zu winden.
»Dann finde es heraus. Und zwar schnell, bevor sie womöglich über den Ozean nach Amerika fährt. Hast du mich verstanden?«
»Ja.« Mehr zu sagen war er nicht mehr in der Lage, denn ein heftiger Fausthieb traf ihn in den Magen. Gleichzeitig wurde er losgelassen, und so sackte er zusammen und rutschte schließlich an der Hauswand entlang zu Boden. Als er wieder zu Atem gekommen war und aufsah, war sein Kumpan in der Dunkelheit verschwunden.
»Verdammt!«, fluchte Callum halblaut und rappelte sich mühsam auf. Leicht gebeugt ging er den Weg zurück, den er gerade gekommen war, und schließlich verschwand er in einer Nebenstraße, die ihn direkt bis zu den Docks hinunterführen würde.
*
Die Flut von Norahs Fragen über das Werk schien kein Ende zu nehmen, und zwischen Richards Erklärungsversuchen sprach sie mit dem einen oder anderen Arbeiter. Auf diese Weise besichtigten sie im Eiltempo das gesamte Firmengelände.
Zuletzt betraten sie den Büroraum. Wie auf Kommando endete das Schreibmaschinengeklapper und mehrere neugierige Augenpaare musterten die Irin.
Richard wollte die Verwandte seines Arbeitgebers gerade vorstellen, als diese auch schon forsch auf Frau Meisner zuging, ihre Hand über den breiten, mit Papieren vollgehäuften Schreibtisch hinwegstreckte und sich vorstellte: »Einen schönen guten Tag, ich bin Norah Casey. Vermutlich ist mein Besuch schon angekündigt worden.«
Sie wandte sich blitzschnell zu einer der jüngeren Frauen um und begrüßte auch diese mit Handschlag. »Eine von Ihnen hat vermutlich den Antwortbrief an mich geschrieben, nicht wahr?«
»Das war ich«, bestätigte die Frau direkt vor ihr. »Mein Name ist Martha Schleicher.«
»Hallo, Fräulein Schleicher. Wie schön, Sie persönlich kennenzulernen.«
Norah war schon bei der nächsten jungen Frau angelangt und entlockte auch dieser ihren Namen. »Meine Güte, Fräulein Leible! Was für wunderschöne Augen Sie haben. Blau wie der Ozean!«
»Oh, wirklich?« Jutta Leible errötete.
Richard trat neugierig geworden näher. So genau wie Norah hatte er sich die Damen in diesem Raum noch nie angesehen. Aber die Irin hatte recht: Unter den dunkelbraunen Haaren, die sich in die Stirn der jungen Frau kringelten, leuchtete das intensive Blau ihrer Augen deutlich hervor.
Wieder erschienen auf Norahs Wangen diese tiefen Grübchen, ehe sie sich zu Fräulein Leible hinunterbeugte und ihr etwas zuraunte. Deren Gesichtsfarbe wurde eine Nuance dunkler, doch als sie den Raum verließen, lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Richard, der annahm, dass seine Führung nun beendet war, atmete auf; doch er hatte sich zu früh gefreut.
»Fein«, sagte Norah. »Jetzt würde ich gern noch die von Ihnen erwähnte Sammlung der Lochrollen sehen. Wo geht es entlang?« Ohne eine Antwort abzuwarten marschierte Norah voraus, als wüsste sie genau, in welche Richtung sie gehen musste.
Richard sah ihr halb fassungslos, halb fasziniert nach. Niemals zuvor hatte er einen Menschen kennengelernt, der so viel Energie ausstrahlte wie dieses zierliche Mädchen. Unaufhörlich war sie in Bewegung, sprach schnell, wobei sie ihre Worte nicht nur mit den Händen, sondern förmlich mit dem ganzen Körper zu unterstützen schien, und war in der Lage, innerhalb von Sekundenbruchteilen Entscheidungen zu treffen und sich auf neue Personen und Gegebenheiten einzustellen.
Gegen sie kam sich Richard, der gern alles genau beobachtete und gut durchdachte, bevor er eine Entscheidung traf, wie eine lahme Schnecke neben einem flink agierenden Eichhörnchen vor. Sie schien selbst an die Menschen, mit denen sie sich unterhielt, eine gehörige Portion ihrer Energie abzugeben, denn diese wirkten nach einer Begegnung mit der Irin auf seltsame Weise beschwingt und zufrieden.
Nur bei ihm blieb diese Wirkung aus. Er empfand das Mädchen als außergewöhnlich anstrengend und den Umgang mit ihr als kräfteraubend. Womöglich lag dies daran, dass sie beide vom Wesen her wohl kaum unterschiedlicher hätten sein können.
Richard folgte ihr halb rennend und überholte sie unter einigen Mühen, damit er ihr die Türen aufhalten konnte, wie es sich gehörte. Letztendlich erreichten sie den klimatisierten Raum, in dem sich einige der Klaviere und die bereits bespielten Klavierrollen befanden.
»Haben Sie die Pianisten kennengelernt, die diese Rollen bespielt haben? Können wir etwas hören? Oh, und zeigen Sie mir doch bitte mal am Instrument, wie das genau funktioniert!«
Richard nickte ergeben. »Wir haben hier Stücke, die von Carl Reinecke, Teodor Leszetycki, Ignacy Jan Paderewski und Ferruccio Busoni bespielt wurden. Es waren auch einige Pianisten zur Aufnahme hier, die ihre eigenen Werke spielten, so zum Beispiel Claude Debussy, Max Reger, Edvard Grieg oder Gustav Mahler, um nur einige zu nennen.«
»Haben Sie diese Leute wirklich getroffen?«
»Die Musiker, die hier in Freiburg die Rollen bespielten, habe ich persönlich kennengelernt, Fräulein Casey. Zwischen 1905 und 1909 gab es ein zweites Aufnahmestudio in Leipzig. Dort war ich selbstverständlich nicht vor Ort.«
»Interessant! Und wie geht das nun?«, drängte das Mädchen und trat nahe an eines der Klaviere.
»Nach der Aufnahme auf die sogenannte T 100, einen 329 Millimeter breiten Lochstreifen mit 100 Steuerungslöchern, können die Stücke originalgetreu, also mit der entsprechenden Anschlagsdynamik des Pianisten, unendlich oft wiedergegeben werden.«
Richard legte wahllos eine Notenrolle in das Klavier ein und startete die Mechanik. Das Instrument begann zu spielen, und fröhliche Klaviermusik füllte den Raum mit Leben. Er verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und betrachtete die rote Rolle, bis eine schnelle Bewegung neben ihm ihn ablenkte.
Norah tanzte, einen imaginären Partner im Arm, durch den Raum, lachte dann offenbar über sich selbst und gesellte sich wieder zu ihm. »Musik ist etwas Wunderbares! Sie macht einen leicht wie einen Schmetterling. Finden Sie nicht auch?«
Der junge Mann nickte lediglich. Für ihn bedeutete die Musik schon lange nur noch ein Geschäft, das ihm sein regelmäßiges Einkommen sicherte. Und eines Tages würde sie ihm das Tor zu einem einfacheren, besseren Leben öffnen, verbunden mit einem angenehmen Lebensstandard und einem gewissen Ansehen. Aus diesem Grund verbot er sich auch spontane Handlungen, die vielleicht auf manche Leute peinlich wirken konnten. Ganz im Gegensatz zu Norah offensichtlich, die mit funkelnden Augen und einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht durch den Raum tanzte, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob er sie deswegen vielleicht lächerlich finden würde.
Während die Musik fröhlich weiterspielte, wanderten Richards Gedanken zurück in seine Kindheit. Nach dem frühen Tod seines Vaters war es mit der Familie Martin schnell bergab gegangen. Seine Mutter hatte zwar versucht, sich selbst, den damals zehnjährigen Richard, die beiden jüngeren Töchter und ihre Schwiegermutter durch Näharbeiten über Wasser zu halten, doch bereits nach wenigen Monaten ohne das geregelte Einkommen des Hausvorstands hatten sie zum ersten Mal erleben müssen, wie kalt ein Winter auf der Baar ohne ausreichendes Brennholz werden konnte.
Anschließend war der Hunger dazugekommen. Über Jahre hinweg hatte Richard sich niemals satt essen können, war morgens mit knurrendem Magen aufgestanden und abends nicht minder hungrig wieder zu Bett gegangen. In der Schule wurde er wegen seiner abgetragenen, oftmals von älteren Brüdern seiner Klassenkameraden abgegebenen Kleidung aufgezogen und zweimal des Diebstahls von Vesperbroten bezichtigt, obwohl er sich trotz seines immerfort knurrenden Magens beim Anblick der essenden Kameraden niemals dazu hatte hinreißen lassen, sich fremdes Eigentum anzueignen.
Die traurigen Verhältnisse, die er vier lange Jahre lang ertragen musste, wandelten sich zum Besseren, als seine Mutter einen kürzlich verwitweten Industriellen namens Friedhelm Birk heiratete. Daraufhin änderte sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen. Plötzlich war er der Junge mit der modernsten Kleidung, genoss den Luxus perfekt passender Schuhe, geheizter Räume und einer ausgezeichneten Küche. Und obwohl nun genug Geld vorhanden war, ging Richard sehr sorgsam mit seinen Sachen um, hegte und pflegte sie, als befürchte er, er müsse jedes einzelne Stück sein Leben lang nutzen. Zudem entwickelte er in der Schule einen ausgeprägten Ehrgeiz. Er gehörte bald schon zu den besten Schülern und konnte dank des nun vorhandenen Schulgeldes ohne Schwierigkeiten auf das Gymnasium wechseln.
Ein Jahr vor seinem Abschluss verstarb auch sein Stiefvater. Bis zu Richards Abitur änderte sich an der Lebensweise der Familie wenig, doch dann begannen sich erste finanzielle Engpässe abzuzeichnen, und anstatt nach seinem Militärpflichtjahr ein Studium zu beginnen, ging Richard bei einem ortsansässigen Instrumentenhersteller in die Lehre.
Doch sein Entschluss stand fest: Nie wieder würde er Hunger leiden oder im Winter vor Kälte zitternd nicht schlafen können. Er würde hart für seinen Erfolg arbeiten und sein Ziel erreichen, ein mindestens ebenso angenehmes Leben wie damals im Haus des Industriellen Birk zu führen.
Die Automatik schaltete sich ab, die Musik endete und sanft verklangen die letzten Töne.
Norah musterte Richard, wobei sie ein Auge zusammenkniff. Ob sie auch die Fähigkeit besaß, ihm seine trüben Gedanken am Gesicht abzulesen? Jedenfalls schien sie selbst niemals nachdenklich oder gar traurig zu sein, denn schon wieder zeigte sie dieses schelmische Grinsen und wandte sich der Tür zu.
»Jetzt waren wir aber lange hier im Werksgebäude unterwegs, nicht wahr, Herr Martin? Am besten gehen wir auch einmal nach draußen, damit ich mir die Anlage und die Umgebung genauer ansehen kann.«
Richard, der damit beschäftigt war, die Mechanik zu stoppen, die Rolle wieder ordnungsgemäß aufzuräumen und das Instrument sorgfältig abzudecken, zog die Augenbrauen in die Höhe. Als hinter ihm die Tür ins Schloss fiel, seufzte er frustriert auf. Das Mädchen hatte den Raum schon wieder verlassen!
»Meine Zeit, was für ein Wirbelwind«, murmelte er und beeilte sich, seine Aufräumarbeiten zu beenden. Wenig später trat er in den Flur hinaus und fand Norah in ein Gespräch mit der rundlichen kleinen Frau vertieft, die jeden Abend die Büroräume und Flure putzte.
In diesem Augenblick lachte die Reinigungsfrau glockenhell auf. Norah schmunzelte und setzte die Unterhaltung fort. »Sie haben recht, ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, also so alt wie ihre jüngste Tochter.«
Verblüfft atmete Richard tief ein. Das konnte doch nicht möglich sein! Dieses frech grinsende, lebenslustige Kind sollte fast so alt sein wie er selbst?
Die Frau sprach erneut auf Norah ein und diese hing förmlich an ihren Lippen. Der breite badische Dialekt, gemischt mit Ausdrücken, die typisch für diese Region waren und nur 30 oder 40 Kilometer entfernt schon nicht mehr benutzt wurden, machte die Verständigung zwischen der Irin und der rundlichen Frau schwierig.
Allerdings verleitete dieser Umstand Norah zu einem vergnügten Lachen, während sie die verdutzte Putzfrau einfach umarmte. Diese begriff, vor welchem Problem die Fremde stand, und gab sich fortan deutlich mehr Mühe, zumindest langsamer zu sprechen. Doch die schriftdeutschen Worte mochten ihr einfach nicht gelingen. Die beiden Frauen lachten herzhaft, und schließlich winkte Norah Richard herbei.
Belustigt übersetzte er nicht von Deutsch in Englisch, sondern von Badisch in Schriftdeutsch. Nebenbei musterte er die Putzfrau. Bestimmt war er schon etliche Male an ihr vorbeigegangen, doch auf der Straße hätte er sie mit Sicherheit nicht erkannt. Er achtete nicht auf die Leute, die eine in seinen Augen geringere Arbeit ausführten als er, schließlich wollte er sich nach oben orientieren.
»Vielen Dank, Frau Meisner. Alle hier Arbeitenden sind Ihnen bestimmt dankbar, dass Sie jeden Tag so wunderbar sauber machen. Da fühlen sich alle doch sofort wohler und arbeiten noch ein bisschen lieber, nicht wahr?«
Während er wieder einmal der jungen Frau hinterherlief, überlegte Richard, ob die Putzfrau vielleicht eine Verwandte der gleichnamigen Bürovorsteherin sein könnte. Er wusste es nicht. Und eigentlich musste es ihn ja auch nicht interessieren.
*
Im Eiltempo umrundeten sie das gesamte Werksgelände, und danach bat Norah ihren schweigsamen Begleiter, sie auch noch durch die nähere Umgebung zu führen. Somit marschierten sie wenig später durch Stühlinger, einen recht jungen Stadtteil Freiburgs, in dem sich in den letzten Jahrzehnten mehrere Betriebe angesiedelt hatten.
Die Junisonne schien angenehm warm vom beinahe wolkenlosen Himmel herab und zwischen den Häusern, Bäumen und Mauern regte sich kein Windhauch. Norah mäßigte ihre Schritte, da ihr inzwischen recht warm geworden war. Immerhin war sie die etwas raueren klimatischen Bedingungen Irlands gewohnt, wo stetig mal sanfte, dann aber auch wieder kräftige Windböen vom Meer her durch die Straßen und Gassen ihrer Heimatstadt bliesen. Irgendwann blieb sie stehen und zog die Nadeln aus dem kleinen, mit einem bunten Band geschmückten Strohhut, um diesen abzunehmen.
Dabei fiel ihr Blick auf ihren Begleiter. Richard war ebenfalls stehen geblieben und wartete höflich auf sie, wobei er sehr aufrecht, beinahe steif dastand und die Hände hinter seinem Rücken verschränkt hielt. In dieser Haltung wirkte er sehr beherrscht und aufgeräumt. Allerdings konnte sie deutlich die beiden Längsfalten auf seiner Stirn sehen, die sich dort in der vergangenen Stunde zunehmend tiefer eingegraben hatten. Ob sie die als ein Zeichen von Missstimmung deuten musste?
Sie wusste, dass sie von Menschen, die sie nicht näher kannten, häufig als eine ausgesprochen unternehmungslustige, anstrengende, vielleicht sogar aufgedrehte Person empfunden wurde. Ihr Lehrer in der weiterführenden Schule hatte bereits seine Schwierigkeiten damit gehabt, dass sie während der Schreib- und Rechenübungen mehr neben ihrem Stuhl stand als auf diesem saß oder die Augen überall hatte, nur nicht an der Tafel.
Erstaunlicherweise war es ein älterer Lehrer gewesen, der kurz vor seiner Pensionierung stand, der ihre innere Unruhe in nutzbare Energie umgewandelt hatte. Er hatte sie dazu ermuntert, den etwas schwächeren Schülern bei ihren Aufgaben zur Seite zu stehen. Dadurch war ihr eine sinnvolle Aufgabe übertragen worden. Norah hatte den Unterrichtsstoff gelernt, indem sie ihn an andere Schüler weitergab, und war für die große Schulklasse kein Störfaktor mehr gewesen. Diesem Lehrer, der einen ungewöhnlichen Weg beschritten hatte, verdankte sie es auch, dass sie die Schule überhaupt hatte beenden dürfen, da bereits einige besser betuchte Eltern darum gebeten hatten, dass dieses immerzu zappelnde Mädchen aus dem Klassenzimmer ihrer Sprösslinge entfernt würde.
Norah nahm ein Taschentuch und wischte sich damit über ihre von kleinen Schweißperlen bedeckte Stirn. Währenddessen musterte sie Richard intensiver. Sein Anzug saß überaus korrekt, und auch ihm schien es sehr warm zu sein. Warum er sein Jackett wohl nicht wenigstens öffnete? Oder zumindest die Krawatte um seinen Hals abnahm?
Die junge Frau wandte sich ab, damit er ihr Lächeln nicht sehen konnte. Granny Lora hatte ihr von dem steifen Ernst und der Korrektheit der Deutschen erzählt. Eigentlich hatte die alte Dame kaum noch Kontakt zu ihren Landsleuten gepflegt, seit sie damals einen Iren geheiratet hatte, weshalb Norah ihre fast wie eine Warnung klingenden Beschreibungen über ihre Landsleute für übertrieben gehalten hatte. Aber wenn sie diesen streng blickenden jungen Mann so beobachtete …
»Meinen Sie nicht, wir sollten allmählich umkehren, Fräulein Casey?«, fragte er jetzt vorsichtig.
»Aber weshalb denn? Ich sehe dort vorne schon wieder den Bahnhof. Wir können unseren kleinen Rundgang doch in diese Richtung beenden. Und morgen zeigen Sie mir dann noch mehr von der Stadt. Und ich würde gern einmal richtig in den Schwarzwald hineinlaufen. Außerdem möchte ich zu den Seen, von denen meine Großmutter geschwärmt hat – und natürlich nach Vöhrenbach. Dort ist sie geboren und dort begann ja auch die Geschichte der Firma Welte.«
»Sicher, Fräulein Casey«, antwortete ihr Begleiter knapp.
Norah gewann den Eindruck, dass er von ihren Plänen nicht sehr begeistert war, doch sie beschloss, sich nicht weiter darum zu kümmern. Ihr Onkel hatte Richard als Begleiter an ihre Seite gestellt, und sie würde die Chance, so viel wie möglich von dieser Gegend zu sehen, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Schließlich kam sie ja nicht alle Jahre hierher ins Breisgau.
Außerdem konnte es Richard nicht schaden, mal etwas auszuspannen. Vermutlich hatte er seit Jahren keinen Tag mehr freigenommen, und sein ernstes Gesicht verriet ihr, dass er selten einmal lachte und die Fähigkeit, sich an kleinen Begebenheiten zu erfreuen, völlig verloren zu haben schien. Er hatte eine schöne, tiefe, fast melodiöse Stimme, und sie nahm sich vor, ihn zumindest einmal zum Lachen zu bringen, bevor sie wieder abreiste.
Entschlossen nahm sie ihr forsches Tempo wieder auf und marschierte an den schön gepflegten Vorgärten der Häuser und den aufgeräumten Höfen der Firmen entlang. Sie wunderte und freute sich gleichermaßen über die sauberen und ordentlich angelegten Straßen und Gehwege. Beim Anblick dieser akkuraten Ordnung überkam sie das angenehme Gefühl, sich während ihres Aufenthaltes hier in Sicherheit wähnen zu dürfen.
Die vergangenen Wochen – immer unter der Anspannung, wann es den nächsten Übergriff auf sie geben würde – hatten doch mehr an ihren Nerven gezehrt, als sie gedacht hatte. Hier im Breisgau durfte sie sich endlich einmal wieder frei bewegen, ohne die zuvor immerzu präsente Angst um ihr Leben im Nacken zu spüren.
*
Nach ihrem flotten Spaziergang erreichten sie wieder das Anwesen von Norahs Verwandten, und Richard begleitete Norah höflich bis an die breite Treppe.
Lächelnd streckte sie ihm ihre Hand entgegen, und er drückte sie, trat aber sofort wieder einen Schritt zurück. »Vielen Dank für die Führung und den kleinen Spaziergang, Herr Martin. Es war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
»Gern geschehen, Fräulein Casey«, erwiderte er und verbeugte sich leicht.
Norah bemühte sich darum, ihre Erheiterung, verbunden mit einer Spur von Spott, nicht zu deutlich zu zeigen, obwohl ihre vorwitzigen Grübchen sie einem aufmerksamen Beobachter dennoch verraten hätten. Vermutlich gab es in ganz Freiburg, im ganzen Breisgau, ja vielleicht sogar im gesamten Großherzogtum Baden keinen vertrauenswürdigeren, ernsteren, korrekteren und damit wohl auch langweiligeren Mann als Richard Martin. Er war nett und höflich und mit Sicherheit sehr zuverlässig, doch der junge Mann hatte offenbar noch nicht realisiert, dass er nur ein Leben zur Verfügung hatte und dass dieses aus mehr bestand als nur aus Arbeit und dem Streben nach Wohlstand und Ansehen.
»Wann darf ich mich morgen bei der jungen Dame anmelden lassen?«, erkundigte er sich bei ihr.
Bei der umständlichen Formulierung seiner Frage gelang es Norah nur mühsam, ein Lachen zu unterdrücken. »Ich wäre gern um sechs Uhr in der Innenstadt.«
Norah bemerkte, wie seine Augen sich für den Bruchteil einer Sekunde verwundert weiteten, und auf seiner Stirn erschienen erneut die beiden ihr nun schon bekannten Querfalten. Bevor er etwas einwenden konnte, erklärte sie: »Ich mag es, durch die noch ruhigen und leeren Straßen und Gassen einer Stadt zu spazieren und dabei zu beobachten, wie sie langsam zum Leben erwacht.«
Als Richard noch immer nichts erwiderte, zog sie kurz die Schultern in die Höhe. »Oder müssen Sie morgen erst einmal zur Arbeit? Ich dachte, mein Onkel hätte Sie für die Zeit meines Aufenthaltes freigestellt?«
Es war offenbar nicht einfach, den Mann zu einer Entscheidung zu bewegen. Anscheinend wog er immer erst sehr sorgfältig jedes Für und Wider ab. Norah, die eigentlich immer aus dem Bauch heraus handelte und sich dabei bemühte, jeden Atemzug als ein Geschenk zu sehen und zu genießen, legte den Kopf leicht zur Seite und wartete ungeduldig auf eine Antwort.
Ihr älterer Bruder, Adam, war ebenfalls ein eher ruhiger, bedacht agierender Mann, doch die übervorsichtige Konzentriertheit ihres Gesprächspartners empfand sie beinahe als anstrengend. Es würde eine Herausforderung darstellen, diesem gut aussehenden jungen Mann ein wenig neues Leben einzuhauchen. Ob es ihr in der kurzen Zeit gelingen würde? Jedenfalls hatte sie für die zwei Wochen ihres Aufenthaltes in Freiburg eine herausfordernde Aufgabe gefunden.
»Das hat er, natürlich«, erwiderte Richard endlich und verschränkte seine Hände erneut hinter dem Rücken. »Ich werde also um kurz vor sechs hier sein, Fräulein Casey.«
»Danke!«, jubelte sie, wirbelte herum und lief die Stufen hinauf bis zur Tür, die ihr von einer der Hausangestellten bereits aufgehalten wurde.
In der Halle traf Norah auf Betty Welte. Die Dame des Hauses hatte sich bereits für die Abendmahlzeit umgezogen und trug ein langes Kleid, dessen tiefes Weinrot durch das schräg einfallende Licht der Abendsonne in den unterschiedlichsten Schattierungen aufleuchtete.
»Ich wollte schon jemanden auf die Suche nach dir losschicken, Kind. In zehn Minuten gibt es Essen«, sagte sie sehr langsam und in korrektem Schriftdeutsch, damit sie von Norah verstanden wurde.
»Ich bin gleich fertig, Betty«, entgegnete diese schnell auf Englisch und warf einen weiteren, kritischen Blick auf das rote Kleid, denn so eine exquisite Garderobe hatte sie nicht vorzuweisen.
»Hättest du dich nicht lieber ein wenig ausgeruht?«, wollte Betty wissen, und diesmal hatte Norah Mühe, sie zu verstehen, da ihre Gastgeberin in ihren Dialekt verfallen war. Diese bemerkte wohl Norahs Irritation, denn sie wiederholte ihre Frage ein wenig langsamer und deutlicher.
Norah antwortete ebenso langsam, dass es ihr gut gehe, und folgte der noch immer wartenden Hausangestellten zu ihrem Zimmer im ersten Stock. Vielleicht sollte sie tatsächlich vorsichtig sein, was das Offenlegen ihrer Sprachkenntnisse anbelangte. Wenn ihre Verwandten herausfanden, dass sie keinen Dolmetscher benötigte, könnten sie am Ende noch auf den Gedanken kommen, ihr aus Schicklichkeitsgründen eine Frau als Begleitung zur Seite zu stellen. Aber Richard hatte trotz seiner steifen Korrektheit durchaus auch seine Vorzüge. Immerhin war er ein Mann und konnte vielleicht sogar ein Automobil fahren. Mit einem motorisierten Wagen würden sich ihre Aussichten, möglichst viel von der hiesigen Gegend zu sehen, erheblich vergrößern. Außerdem reizte es sie, den immer so gebremst wirkenden Instrumentenbauer ein wenig herauszufordern.
Norah blieb im Türrahmen stehen und bestaunte ihr Gästezimmer mit den schweren beigen Vorhängen, der zierlichen Kommode aus edlem Kirschholz und der gemusterten Stofftapete. Das Bett, das ebenfalls aus Kirschholz gefertigt war und auf schlanken Beinen stand, war mit einem Überwurf abgedeckt, der dieselbe Farbe aufwies wie die Tapete und die Vorhänge. Seine langen Fransen an den Seiten berührten beinahe den dunklen Teppichboden. Gerahmte Bilder, eine zerbrechlich wirkende Lampe und zarte Glas- und Porzellanfiguren auf einer Anrichte vervollständigten das Bild eines ausgesprochen vornehmen Raumes. Dieses Zimmer überstieg bei Weitem das Maß an Komfort, das Norah gewohnt war.
Jemand hatte es während ihrer Abwesenheit übernommen, ihren Koffer auszupacken. Ein Nachthemd lag griffbereit auf dem Hocker neben dem Bett, ihre Waschutensilien standen neben der Emailleschüssel und dem Wasserkrug und ihr zweites Paar Schuhe befand sich frisch geputzt in einer kleinen Nische neben der Tür.
»Fräulein Casey, die Herrschaften erwarten Sie zur Abendmahlzeit. Herr Bokisch und seine Familie sind ebenfalls anwesend«, erklärte die Bedienstete und machte Norah damit diskret darauf aufmerksam, dass sie ihre Zeit nicht vertrödeln sollte. Dabei sprach auch sie sehr langsam und überdeutlich.
Norah betrat endlich den Raum, der für die nächsten zwei Wochen ihr Zuhause sein würde. »Kann ich Ihnen noch bei etwas behilflich sein?«, fragte die ältere Frau und Norah drehte sich nach ihr um.
»Wie heißen Sie?«
»Margarete.«
»Vielen Dank, Margarete, ich komme schon zurecht.«
Noch einmal betrachtete sie die vornehme Ausstattung des Raumes, bevor sie den Schrank öffnete, in dem ihre wenigen mitgebrachten Kleidungsstücke seltsam verloren wirkten. Ohne lange zu überlegen, zog sie ihr Sonntagskleid hervor und wusste doch, es würde – gemessen an der Robe, die Betty getragen hatte – bei Weitem nicht den Ansprüchen der Familie Welte gerecht werden. »Da werde ich wohl etwas aus dem Rahmen fallen«, murmelte sie. Niemand, der ihre Worte gehört hätte, hätte sie für das gehalten, was sie waren: ein Stoßgebet um Gelassenheit.
Richard nahm die letzten knarrenden Stufen zu seiner kleinen Wohnung ausgesprochen langsam in Angriff. Im Grunde war er nicht empfindlich, doch diese knappe Stunde mit dem irischen Mädchen hatte ihn erschöpft. Woran das lag, wusste er nicht. Vielleicht an dem Tempo, mit dem sie ihre Fragen abschoss und von einer Aktivität zur nächsten wechselte, wobei sie ihm immer einen Schritt voraus gewesen war? Oder hatte es mit der Tatsache zu tun, dass er sich gelegentlich über sie geärgert hatte, sich das aber nicht hatte anmerken lassen dürfen? Jedenfalls war er sich sicher, noch nie zuvor ein vergleichbares Energiebündel kennengelernt zu haben – mit Ausnahme vielleicht von der Gans seiner Großmutter, die ihn immer quer über den ganzen Hof verfolgt hatte.
Ein Grinsen legte sich auf Richards Gesicht. Dieser Vergleich war für Norah nicht gerade schmeichelhaft. Bevor er die Wohnungstür öffnete, zog er seine Schuhe aus und stellte sie ordentlich in das neben dem Treppenabsatz stehende Schuhregal.
Er angelte den großen Wohnungstürschlüssel aus der Tasche seines Jacketts und schloss auf. Wie immer, wenn er die Tür öffnete, ertönte ein lautes Knarren, das durch das schmale, dunkle Treppenhaus hallte, und wie immer ging fast zeitgleich die Wohnungstür ein Stockwerk tiefer auf.
»Guten Abend, Herr Martin!«, rief die Stimme einer älteren Dame zu ihm hinauf.
»Guten Abend, Frau Schnee«, erwiderte er, obwohl er seine Nachbarin nicht sehen konnte.
»Hatten Sie einen guten Tag?«, hallte es nach oben.
»Danke, ja. Und Sie?«
»Meine Knie … Sie wissen ja.«
»Das tut mir leid, Frau Schnee. Ich hoffe, morgen sind die Schmerzen erträglicher.«
Richard formte mit den Lippen tonlos die nächsten Worte mit: »Ja, bestimmt. Vielen Dank. Einen guten Abend wünsche ich Ihnen.«
»Ihnen auch, gute Nacht.«
Richard wartete, bis sich die Tür unten schloss, bevor auch er in seine Wohnung trat und seine Tür geräuschvoll hinter sich zuschob. Er schlüpfte aus seinem Jackett und schüttelte es einmal kräftig aus. Prüfend betrachtete er es, und als er feststellte, dass es noch sauber und kaum zerknittert war, hängte er es sorgfältig auf einen Bügel in seiner kleinen Garderobe. Auf Strümpfen betrat er seine winzige Küche, die eine so starke Dachschräge aufwies, dass er nur direkt an der Tür aufrecht stehen konnte. Er goss Wasser in einen Kessel, entzündete den Gasherd und ging dann hinüber in das Wohn- und Schlafzimmer. Mit einem tiefen Seufzen ließ er sich auf die Couch fallen und streckte seine Beine weit von sich. »Was für ein Tag!«, murmelte er leise und schloss für ein paar Minuten die Augen.
Von seiner täglichen und von ihm sehr geschätzten Routine würde er sich für die nächsten Tage wohl verabschieden müssen. Diese Norah ließ sich in kein Schema pressen, das hatte er bereits festgestellt. Vermutlich würde sie morgen früh um 6:00 Uhr noch nicht einmal auf sein, wenn er an der Tür klingelte. Oder aber sie war tatsächlich ausgehbereit, wollte am übernächsten Tag dafür aber bis 10:00 Uhr morgens im Bett liegen bleiben, um sich dann den Rest des Tages von einer Aktivität in die nächste zu stürzen. Wer sollte das bei diesem unberechenbaren Geschöpf schon im Voraus einschätzen können?
Und dabei hatte er vor ihrem Eintreffen bereits einen Plan aufgestellt gehabt, wann er den Welte-Gast wo herumführen und zu abendlichen Einladungen begleiten würde. Richard öffnete die Augen. Eines würde ihm in diesen Tagen vermutlich nicht werden: langweilig. Und dabei konnte er Norah nicht einmal böse sein, denn auf ihre spezielle Art war sie durchaus reizend.
Als der Wasserkessel durchdringend zu pfeifen begann, sprang er auf, eilte hinüber und bereitete sich einen Tee zu. Mit der Tasse in der Hand stapfte er gerade zurück zum Wohnzimmer, als es kräftig an der Wohnungstür klopfte.
Richard blickte verwundert auf, stellte die Tasse auf den Tisch und ging zur Tür. Er schob den graublauen Vorhang vor der Glasscheibe beiseite, aber im Dämmerlicht des dunklen Flurs konnte er nicht mehr als einen schmalen Umriss ausmachen. Da er niemals Besuch bekam – schließlich hatte er keine Zeit, um Freundschaften zu pflegen –, öffnete er zögernd die Tür einen Spaltbreit.
Einer der Angestellten der Weltes, ein älterer Mann mit weißem Vollbart, stand auf dem obersten Treppenabsatz. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Martin. Das ist für Sie.« Er reichte ihm, verbunden mit einer knappen Verbeugung, eine zusammengefaltete Nachricht.
Richard nahm das weiche, blütenweiße Papier entgegen und dankte dem Boten, der jedoch zögernd auf dem oberen Treppenabsatz verharrte.
Irritiert musterte er ihn einen Augenblick, ehe er sich bei ihm erkundigte: »Warten Sie auf eine Antwort?«
»Nein, ich denke nicht.«
»Ach so, natürlich«, murmelte Richard, der in diesem Augenblick sein Versäumnis erkannte. »Entschuldigen Sie bitte. Einen Moment.« Peinlich berührt wandte er sich zur Garderobe um, holte seine Geldbörse aus dem Jackett und reichte dem Mann eine Münze.
»Danke, Herr Martin. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen.«
»Ja«, lautete Richards unaufmerksame Antwort.
Während das Poltern eiliger Schritte durch den engen Flur hallte, schloss Richard die Tür. Sein Blick ruhte auf dem Blatt Papier in seiner Hand, und er faltete es mit bedächtigen Bewegungen auseinander.
Die Nachricht stammte von Edwin Welte. Sein Vorgesetzter entschuldigte sich für die späte Störung, doch er und seine Frau hätten Gäste, und es sei die Anwesenheit eines Dolmetschers erforderlich.
Richard warf einen sehnsüchtigen Blick auf die dampfende Teetasse in seiner Stube. Warum übersetzte Herr Welte nicht selbst? Bereitete ihm der irische Akzent seiner Verwandten erhebliche Probleme? Nach Richards Kenntnisstand sprach und verstand Norah die deutsche Sprache ausgezeichnet, und es war anzunehmen, dass die anwesenden Gäste aus einer Gesellschaftsschicht stammten, die kaum Schwierigkeiten damit haben würde, den badischen Dialekt zumindest zu unterdrücken.
Andererseits … was war das für eine Chance! Ein Abend bei den Weltes, die sicher wichtigen, gesellschaftlich hochgestellten Besuch hatten!
Richard warf die Nachricht auf die Ablage und stürmte an seinen Kleiderschrank. Innerhalb kürzester Zeit hatte er seinen besten Anzug angezogen und seine ohnehin penibel sauberen Schuhe poliert, um daraufhin in freudiger Erregung seine Wohnung zu verlassen.
Richard begrüßte den Seniorchef, Berthold Welte, anschließend Karl Bokisch und seine Frau Frieda – die Schwester von Edwin Welte –, einige Ehepaare sowie ein paar jüngere Damen, die wohl eigens zu Norahs Gesellschaft eingeladen worden waren. Außerdem befand sich unter den Gästen ein Vertreter des Flügelherstellers Steinway & Sons aus deren Hamburger Niederlassung.
Richard fiel an der Garderobenwahl der Herren wieder einmal die zunehmende Militarisierung innerhalb des Deutschen Reichs auf. Immer mehr Männer aus gutem Hause griffen bei offiziellen Anlässen zu ihren Uniformen anstatt zu einem Frack. Damit wiesen sie sich als Reserveoffiziere verschiedenster Armeeeinheiten aus. Der Anblick von Uniformen, Schulterstücken und sogar an der Seite getragenen Säbeln weckte in Richard ungute Erinnerungen.
In seiner einjährigen Militärzeit war es doch tatsächlich jemandem eingefallen, ihn nach Deutsch-Südwestafrika zu schicken. Zwar hatte er, da nahe an der britischen Enklave Walvis Bay eingesetzt, den Kontakt mit den Engländern genutzt, um sein Englisch zu verbessern, doch er hatte unter den dreisten Angriffen seines direkten Vorgesetzten gegen ihn gelitten. Der Leutnant stammte – wie im Grunde alle Offiziere – aus adeligem Hause und war ein überheblicher, menschenverachtender Bursche gewesen. Seine Führungsqualitäten hatten sich in Grenzen gehalten, was er durch übertriebene Härte wettzumachen versuchte.
Bevorzugt pickte der Leutnant kleine Unachtsamkeiten seiner Soldaten heraus, um sie schikanieren zu können. Ein paar winzige Erdkrümel in den Schuhsohlen hatten ihm genügt, um Richard erst einem fast unmenschlichem Drill zu unterziehen und ihn anschließend tagelang die einfachen, schlecht sauber zu haltenden Baracken schrubben zu lassen.
Auf dieses demütigende Erlebnis hin war Richard mit seinem Eigentum noch sorgfältiger und ordentlicher umgegangen als zuvor schon. Enttäuscht von den Kameraden, die ihm nicht zur Seite gestanden hatten, hatte er sich in sich selbst zurückgezogen, und sein Wunsch, eines Tages ein besseres Leben zu führen, war in den damaligen Wochen zu einem regelrechten inneren Schwur geworden. Nicht noch einmal sollte ihn jemand auf diese Weise herumkommandieren! Richard wollte über sein Leben selbst bestimmen; er wollte Macht und Geld genug besitzen, um niemals wieder einer solchen Situation ausgesetzt zu sein.
Richard sah auf, als er von einer freundlichen Frau Welte an den Tisch gebeten wurde. Die Familie und ihre Gäste hatten bereits mit der Mahlzeit begonnen, weshalb Richard sofort den Hauptgang serviert bekam.
Norah beugte sich zu ihm hinüber, legte ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte: »Ich habe Sie doch nicht von etwas Wichtigem abgehalten, Mr Martin? Margarete versicherte mir, Sie seien alleinstehend.«
Richard nickte und überlegte, wer denn wohl Margarete sein könnte.
»Und Franz sagte zu Onkel Edwin, er wisse, wo Sie wohnen. Man müsse also nicht erst hinüber ins Büro und in den Unterlagen nachsehen.«