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Bessarabien, 1939: Elisa Steiger kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihre geliebte Heimat jemals zu verlassen. Doch die politischen Entwicklungen in der russischen Provinz und der Kriegsbeginn lassen ihr schließlich keine Wahl. Sie muss gemeinsam mit ihrer Familie Bessarabien verlassen. Die Flucht und die darauffolgenden Schicksalsschläge bringen Elisa an das Ende ihrer Kräfte. Und dann scheint sie noch ihre heimliche Liebe, den jungen Arzt Samuel Bader, für immer verloren zu haben ...
Eine mitreißende Geschichte über Flucht und die Frage, wie viele Entbehrungen und Schicksalsschläge eine junge Liebe aushalten kann.
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Seitenzahl: 502
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Prolog
Teil 1
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Teil 2
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Teil 3
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Teil 4
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Epilog
Hintergrundinformation
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Bessarabien, 1939: Elisa Steiger kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihre geliebte Heimat jemals zu verlassen. Doch die politischen Entwicklungen in der russischen Provinz und der Kriegsbeginn lassen ihr schließlich keine Wahl. Sie muss gemeinsam mit ihrer Familie Bessarabien verlassen. Die Flucht und die darauffolgenden Schicksalsschläge bringen Elisa an das Ende ihrer Kräfte. Und dann scheint sie noch ihre heimliche Liebe, den jungen Arzt Samuel Bader, für immer verloren zu haben …
Eine mitreißende Geschichte über Flucht und die Frage, wie viele Entbehrungen und Schicksalsschläge eine junge Liebe aushalten kann.
ELISABETH BÜCHLE
Sehnsuchtnach der fernenHeimat
Für Natalie
Die erste Generation hat den Tod,die zweite die Notund die dritte erst das Brot.
Kolonisten-Sprichwort
Elisa Steiger ließ das Führseil des dunklen Pferdes los und beschattete mit beiden Händen ihre Augen. Die Sonne brannte heiß hernieder. Das mannshohe Steppengras duckte sich unter dem warmen Wind, der von Süden her über die grünen Hügel strich. Ein strahlend blauer Himmel spannte sich wie ein Zelt über die von Menschen unberührte Gegend und nur vereinzelt zeigte sich eine zarte, weiße Wolke.
Das war also Bessarabien, das kleinste der russischen Gouvernements im Zarenreich. Dies war das Land, das die Anwerber ihrem Mann so sehr angepriesen hatten, dass dieser beschlossen hatte, der Einladung des Zaren zu folgen und ein Stück davon in Anspruch zu nehmen. Die Russen hatten auf dem Land zwischen den beiden Flüssen Pruth und Dnjestr die Tataren vertrieben. Der Zar wollte das Gebiet, das nun brachlag, neu besiedeln, und so wurden Siedler aus dem Ausland angeworben, denen die Aussicht auf eigenes, fruchtbares Land sehr willkommen war.
Elisa seufzte leise. Sie erinnerte sich gut an den Tag vor etwas mehr als einem halben Jahr, als Josef mit hochrotem Kopf und glänzenden Augen in ihre Küche gerannt gekommen war, nachdem er von dieser großen Chance gehört hatte. Begeistert hatte er von diesem Bessarabien erzählt. In einem für Josef ungewöhnlichen Redeschwall hatte er ihr die Vorzüge für einen Umzug in das weit entfernte russische Zarenreich schmackhaft zu machen versucht. Immerhin würden ihnen dort 65 Hektar Land gehören. Dabei mussten sie zehn Jahre lang keine Steuern zahlen, bekamen einen zinslosen Kredit, die Männer wurden vom Militärdienst befreit und sie durften sich selbst verwalten. Außerdem würden sie in Religionsfreiheit leben können – anders als in Deutschland, wo die Gängelung der liberal gewordenen Staatskirche für viele Gläubige schwer zu ertragen war. Josef war nicht mehr davon abzubringen gewesen, ihr württembergisches Zuhause zu verlassen, um dort sein Glück zu finden.
Hinter Elisa wurde es unruhig. Ein paar Familien zogen an ihr vorbei, um sich weiter auf den Weg in das lang gezogene Tal zu machen, das ihnen von der Ansiedlungsbehörde zugeteilt worden war. Dort würden sie ihre kleine, eigene Stadt aufbauen. Allerdings war von den versprochenen Kronhäuschen, die für sie zum Einzug bereitstehen sollten, nichts zu sehen. Elisa zog die Stirn kraus. Ob es mit den anderen Zusagen, mit denen sie und weitere Familien hierher in die Fremde gelockt worden waren, ebenso aussah?
»Mama, gehen wir auch weiter?«, hörte sie ihren älteren Sohn vom Pferd herab fragen.
»Sicher. Ja«, flüsterte sie und brachte die Stute wieder in Bewegung. Langsam stiegen sie den kleinen Hügel hinab und folgten den Spuren der Vorangegangenen durch das niedergetretene Gras. Neugierig betrachtete die junge Frau die von den Hufen der Tiere aufgeworfene Erde. Sie war dunkel, beinahe schwarz und duftete herrlich. Josef hätte daran sicher seine Freude gehabt.
Tränen schossen Elisa in die Augen. Erneut überfiel sie die in ihr schlummernde Verzweiflung. Wie sollte sie hier mit ihren beiden kleinen Jungen leben und überleben können? Wie sollte sie allein ein Haus errichten und die ihr zustehenden Ländereien bebauen und bewirtschaften?
Während sie einen Fuß vor den anderen setzte, wanderten ihre Gedanken in die gar nicht so ferne Vergangenheit zurück. Sie hatte sich nicht gegen Josefs Wunsch, der drückenden Enge auf dem elterlichen Hof zu entfliehen, zur Wehr gesetzt. Die Pässe der deutschen Behörden waren schnell ausgestellt worden, und so hatten sie sich in einer größeren Gruppe Schwaben wiedergefunden, die den etwa zweitausend Kilometer langen Weg gemeinsam bewältigen wollten. Voller Hoffnung hatten sie sich mit ihren wenigen Habseligkeiten zunächst auf den Weg nach Ulm gemacht. Dort waren sie auf Einweg-Booten, die spöttisch und liebevoll zugleich Ulmer Schachteln genannt wurden, die Donau entlanggeschippert. Sie hatten Wien, Budapest und Belgrad passiert, ehe sie im Donaudelta das Schiff wieder verlassen hatten.
Auf der Schifffahrt hatten verschiedene Infektionskrankheiten unzählige Todesopfer gefordert. Die Steigers waren eine der wenigen Auswanderer-Familien gewesen, die, ohne einen Todesfall beklagen zu müssen, im Donaudelta angekommen waren. Dort waren sie jedoch auf einer Flussinsel vor der Stadt Ismail* unter Quarantäne gestellt worden. Wochenlang hatten sie auf der sumpfigen Insel, umspült vom brodelnden Wasser der schnell fließenden Donau, unter freiem Himmel ausgeharrt. Es hatte weitere Tote gegeben – unter ihnen auch Josef Steiger.
Elisa stieß mit dem linken Fuß gegen einen kleinen Erdhügel, den sie in dem hohen Steppengras nicht gesehen hatte. Sie stolperte und fiel auf die Knie. Die Stute schnaubte, da ihr Kopf durch das Führseil, das Elisa in der Hand hielt, nach unten gezerrt wurde. Sie tänzelte auf der Stelle, und die beiden Jungen auf ihrem Rücken hatten Mühe, sich oben zu halten. Sie blieb einen Moment lang erschöpft hocken und hielt ihren Blick auf den Boden gerichtet. Dann griff sie in die schwarze Erde, nahm einen Klumpen in die Hand und zerrieb ihn zwischen ihren Fingern. Ob es irgendwo fruchtbarere Erde gab als diese? Josef hatte recht gehabt. Hier in Bessarabien bestand Hoffnung auf ein gutes Leben. Doch galt das auch für eine Witwe mit zwei halbwüchsigen Söhnen? Wie sollte sie sich hier durchschlagen?
»Elisa!«, rief eine aufgeregte Stimme hinter ihr. Langsam stand sie auf und drehte sich um. Emma Bader kam mit fliegenden Zöpfen den Hügel heruntergerannt. Keuchend blieb sie vor ihr stehen. Elisa lächelte, auch wenn es wehtat. Emma war ihr auf der langen Reise eine gute Freundin geworden. Ihre Anteilnahme und Hilfe nach Josefs plötzlichem Tod hatten gutgetan. Doch nun war der Zeitpunkt des Abschieds gekommen, denn Emma und ihre Familie würden das Land weiter im Norden in Anspruch nehmen, das ihnen zugeteilt worden war.
»Ich muss mich jetzt von dir und den Jungen verabschieden.« Die junge Frau nahm Elisa in die Arme und drückte sie fest an sich. Elisa erwiderte die Umarmung. Eine Welle der Enttäuschung überrollte sie. Sie hätte Emma als Freundin und ihre Eltern als Unterstützung gebrauchen können.
»Gottes Segen dir und den beiden Kindern, Elisa. Ich werde jeden Abend, bevor ich mich schlafen lege, für euch beten. Du wirst es schaffen!«
Elisa nickte tapfer und flüsterte: »Auch ich werde jeden Abend für dich und deine Familie beten.«
»Das ist schön. Lass uns an diesem Versprechen festhalten. So können wir trotz der Entfernung immer miteinander verbunden bleiben.« Noch ehe Elisa reagieren konnte, wirbelte die Achtzehnjährige wieder den Hügel hinauf. Es blieb keine Zeit, ihr lange nachzusehen. Die nachfolgenden Familien drängten an ihr vorbei, und so trieb auch sie das Pferd an, um endlich die Ebene zwischen den weit auseinanderliegenden, baumlosen Hügeln zu erreichen.
Eine Stunde später stand sie an der Stelle, an welcher der Marktplatz des Straßendorfes angelegt werden sollte. Ein Deutsch sprechender Russe, der sie hierhergeführt hatte, empfahl ihnen, erst einmal Erdhütten zu graben.
Josef und Adam drückten sich gegen ihre Beine, während Elisa das Papier in der Hand hielt, auf dem das für sie vorgesehene Land eingezeichnet war. Dann wurde auch der Familie Steiger das Grundstück für ihr zukünftiges Wohnhaus zugewiesen.
Hilflos und verloren stand sie mit ihren beiden Kindern an der Hand da, der Stute im Rücken und dem bisschen Gepäck, das sie ihr Eigen nannte. Das war ihr Grund und Boden. Um sie herum gab es nichts als das hohe, raschelnde Steppengras und das Zirpen der Grillen.
Alle eure Sorge werft auf ihn;denn er sorgt für euch.
1. Petrus 5,7 (L)
Die Frühlingssonne löste die letzten Schneefelder an den Nordseiten der Hügel auf. Obwohl es noch kalt war, sprangen die Jungen in ihren kurzen Hosen durch die matschige Straße des Dorfes, als Elisa Steiger die Stufe vor dem Kolonistenhaus verließ. Ein paar Hühner flatterten laut gackernd davon. Elisa ging an den angebauten Ställen und dem Wagenschuppen vorbei und hastete über den Dreschplatz hinüber zum Gemüsegarten, wo ihre Mutter, ihre jüngere Schwester Friederike und ihr kleiner Bruder Anton damit beschäftigt waren, den nach dem Winter brachliegenden, kalten Boden umzugraben.
Hanna Steiger hob den Kopf und strich sich mit dem Handrücken eine Strähne ihres schwarzen Haares aus dem rundlichen Gesicht. »Bist du fertig?«, fragte sie ihre sechzehnjährige Tochter.
Elisa bejahte und fügte hinzu: »Alles abgestaubt, die Bilder und Stickereien hängen wieder an den Wänden, die Tischdecke ist ausgewechselt und die Häkeldecke auf der Kommode ebenfalls.«
»Gut. Dann kannst du die Wäsche plätten.«
Elisa nickte und eilte zurück ins Haus. Sie zog, zumindest zu dieser Jahreszeit, das Plätten mit dem schweren, durch Kohlen geheizten Bügeleisen der Gartenarbeit vor.
Von der Wohnstube trat sie in die angrenzende Küche und füllte die heiße Kohle in das Eisen. Aus einer Kommode holte sie ein Baumwolltuch, das sie als Unterlage auf dem Tisch ausbreitete, und zog den Weidenkorb mit der Bügelwäsche zu sich.
Gerade als sie das Kleid ihrer Schwester ergriff, vernahm sie von der Eingangstür her die fröhlichen Stimmen ihrer Freundinnen. »Lisa? Bist du da?«, rief ihre selbstbewusste Cousine Vera.
»In der Küche!«, antwortete Elisa. Sie hörte die Mädchen durch das Wohnzimmer gehen. Kurz darauf standen sie alle bei ihr in der inzwischen gut aufgewärmten Küche.
»Musst du noch lange arbeiten?«, wollte Anne wissen und ließ sich auf einem der dunklen Holzstühle nieder.
»Der ganze Korb Wäsche muss geplättet werden«, erklärte Elisa und setzte das Bügeleisen auf das Kinderkleid.
»Ich verstehe einfach nicht, warum du nicht nach Sarata auf die Werner-Schule zur Lehrerinnerausbildung oder aufs Mädchenlyzeum nach Tarutino gegangen bist.« Vera schüttelte ihren hübschen Kopf mit den blonden Locken, die heute jedoch brav in zwei geflochtene Zöpfe eingebunden waren. »Dann müsstest du hier nicht versauern und Kinderkleider plätten.«
»Das können wir alle nicht verstehen, Vera«, lachte die bereits achtzehnjährige Christina Weber.
Elisa hob nicht einmal den Kopf. »Was soll ich denn da?«, fragte sie leise.
»Du hattest nur die allerbesten Noten – in allen Fächern. Du könntest studieren«, schlug Vera vor. »Vielleicht im Deutschen Reich.«
Allein bei dem Gedanken daran, ihre Heimat zu verlassen, wurde es Elisa mulmig im Bauch. Sie fühlte sich hier, in ihrer eigenen kleinen Welt, umgeben von den Menschen, die sie von Kindesbeinen an kannte, sicher und geborgen. Niemals würde sie in eine fremde Stadt gehen können – vor allem nicht allein. Und schon gar nicht nach Deutschland. Das war viel zu weit weg. Elisa presste bei dieser Vorstellung das Plätteisen noch ein wenig fester auf den Stoff.
Sie sprach zwar, wie alle anderen deutschstämmigen Bessarabier, noch Schwäbisch, wenngleich sich in ihren Dialekt auch verschiedene russische und rumänische Begriffe eingeschlichen hatten, doch ansonsten hatte sie keinen Bezug zu dem Land ihrer Vorfahren. Elisa kannte nichts anderes als diesen Landstrich, der mittlerweile – anders als zu der Zeit, als ihre Ururgroßmutter Elisa hergekommen war – zu Rumänien gehörte.
»Sag jetzt bitte nicht schon wieder: ›Was soll ich denn da?‹«, spottete Vera und nahm das Kinderkleid vom Bügelbrett, um es ordentlich zusammenzulegen.
Anne reichte Elisa ein Hemd von Anton. Während diese sich daran zu schaffen machte, herrschte für einige Zeit nachdenkliche Stille. Schließlich meinte Vera: »Also, wenn ich deine Noten hätte, wäre ich schon längst auf dem Weg ins Reich. Stellt euch das einmal vor: allein in der Fremde. Vielleicht in Berlin. An einer Universität und –«
Anne unterbrach Vera, indem sie ihr das inzwischen glatte Hemd zum Zusammenlegen reichte. »Elisa ist nicht du, Vera.«
»Ich weiß. Unser stilles, schüchternes, kleines Mäuschen.« Vera legte das Hemd auf das Kleid und neigte den Kopf lächelnd zur Seite.
»Vor allem hattest du nicht ihre Noten, nicht wahr?«, meinte Christina.
Das aufgeweckte Mädchen zog eine Grimasse und lachte dann unbekümmert auf. »So ist das leider. Aber, wie ich schon mal sagte, sobald der nächste junge Mann –«
» … durch unsere kleine Stadt reist, wirst du ihn davon überzeugen, dass er dich heiraten und mit sich mitnehmen muss«, vervollständigten Elisa, Christina und Anne gemeinsam Veras Satz und brachen dann in Gelächter aus.
»Woher wisst ihr das?«, fragte Vera mit gespielter Empörung.
»Wir haben diesen Satz in den letzten Monaten mindestens hundert Mal aus deinem Mund gehört«, kicherte Anne und reichte der Freundin das nächste Kleidungsstück.
Gemeinsam erledigten sie die Wäsche, und als sie endlich fertig waren, lief Vera nach hinten und erklärte ihrer Tante Hanna, dass sie Elisa mit sich nehmen würden, ohne überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass diese vielleicht einen Einwand erheben könnte.
So liefen die vier Mädchen durch die letzten, abendlichen Sonnenstrahlen über die brachliegenden Felder davon. Auf der Kuppe eines Hügels setzten sie sich auf eine Holzbank unter einem jungen, schlanken Baum. Dort redeten sie wie so oft in den vergangenen Jahren über ihre Familien, über ihre Träume, Hoffnungen und Wünsche und vergaßen dabei ganz die Zeit. Vor allem, als Christina ihnen von Carol Alexandru zu erzählen begann. Der Rumäne aus einem der Nachbardörfer machte schon länger Geschäfte mit ihrem Vater. Für die Freundinnen war es offensichtlich, dass Christina ihn überaus nett fand.
Irgendwann stellte Christina erschrocken fest: »Mädchen, es ist fast dunkel!« Sie stand hastig auf. »Wir müssen nach Hause.«
Elisa, Vera und Anne erhoben sich ebenfalls. Neben- und hintereinander liefen sie, die Röcke weit hochgerafft, den Hügel hinunter und auf die Weidewiesen zu, da der direkte Weg über die Weiden kürzer und der Trampelpfad ohnehin ganz matschig war. Sie kletterten zwischen den Holzverstrebungen der Zäune hindurch und eilten über das alte, braune Steppengras auf die Lichter ihres Heimatstädtchens zu.
Plötzlich hörten die Mädchen vor sich ein tiefes Brüllen. Laut und unheimlich drang es durch die Dunkelheit. Es folgte ein wütendes Schnauben. Erschrocken blieben die Freundinnen stehen.
Elisa meinte, die Umrisse einer massigen schwarzen Gestalt zu erkennen. »Ist das die Weide von den Kerlers?«, fragte sie die anderen flüsternd. Sie spürte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Die Kerlers besaßen einen Zuchtbullen, der den ganzen Winter über im Stall gestanden hatte. Vermutlich war er erst seit heute wieder auf der Weide. Wenn dem so war, war das Tier mit Sicherheit leicht reizbar.
»Wir müssen hier weg!«, hauchte Christina, klammerte sich jedoch an Elisa fest, sodass diese keinen Schritt vorwärtsgehen konnte.
Der Bulle schnaubte erneut und setzte sich dann langsam in Bewegung.
»Was sollen wir denn jetzt tun?«, stieß Vera verzweifelt hervor.
Das massige Tier kam auf sie zu und wurde dabei immer schneller.
»Wir trennen uns. Jeder läuft in eine andere Richtung«, schlug Anne vor.
Sofort stoben die vier auseinander und versuchten – jede an einer anderen Stelle –, den rettenden Zaun zu erreichen.
Elisa sah sich nicht einmal um. Ihre Beine bewegten sich schnell und ihr Herz klopfte heftig. Panische Angst trieb sie vorwärts. Endlich konnte sie im Dämmerlicht die quer verlaufenden Balken des Holzzaunes erkennen. Mit der Kraft der Verzweiflung warf sie sich nach vorne und rollte sich unter den Stangen hindurch in Sicherheit.
Keuchend blieb sie einen Augenblick im nassen Gras liegen. Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie hatte es geschafft!
Langsam zog sie sich an den Balken in die Höhe. Gerade als sie aufrecht stand, konnte sie Annes lauten, lang gezogenen Schmerzensschrei hören.
~~~
Nächtliche Dunkelheit lag über der Landschaft. Unzählige Sterne blinkten vom Himmel, doch ihr spärliches Licht reichte nur aus, um die zwar befestigte, aber mit Löchern und Fahrrillen übersäte Straße erkennen zu können. Samuel Bader nahm sein Bündel in die andere Hand und schwang es auf den Rücken. Seine Füße schmerzten von dem langen Marsch, den er, seit er den Zug in Beresina verlassen hatte, bereits hinter sich gebracht hatte. Mit weit ausholenden Schritten versuchte er, sich halbwegs warm zu halten. Obwohl jetzt, Mitte März, der Schnee auch aus den Nordhängen verschwunden war, war es nachts noch immer unangenehm kalt.
Der junge Mann wagte es, den Blick von der Straße zu nehmen, um zum Himmel hinaufzublicken. Es war schon spät und demnach Zeit, für die Familie Steiger zu beten, wie die Baders es seit mehreren Generationen täglich taten.
Seit seine Urahnin Emma Bader und eine Vorfahrin der Steigers sich auf ihrer Reise nach Bessarabien kennengelernt hatten, waren beide Familien miteinander verbunden. Allerdings waren die unregelmäßigen Besuche der wechselnden Generationen immer von der Seite der unternehmungslustigeren Baders ausgegangen. Er selbst hatte die Steigers zuletzt vor vier Jahren besucht, als er auf dem Weg nach Deutschland, wo er sein Studium angetreten hatte, durch ihr Dorf gekommen war. Morgen wollte er wieder einmal den Steigers einen Besuch abstatten, bevor er weiter in den Norden zu seiner Familie reisen würde. Er hoffte, noch vor Mitternacht sein Ziel zu erreichen. Immerhin hatte er auf der unruhigen Zugfahrt von Berlin bis Beresina nicht viel Schlaf gehabt.
~~~
»Anne!«, schrie Elisa. Sie stieg auf die unterste Querstange des Weidezaunes, wobei sie sich weit vorlehnte, um etwas erkennen zu können, was bei der Dunkelheit jedoch vergeblich war.
»Anne!«, drang auch Christinas Ruf zu ihr herüber. Er klang ebenso ängstlich wie ihrer.
»Ich sehe nichts! Wo ist Anne?«, rief Vera. Ihre Stimme überschlug sich geradezu vor Panik. Vorsichtig stieg Elisa über den Zaun. Es half nichts; sie musste nachsehen, was mit Anne war. Als sie auf der anderen Seite heruntersprang, hörte sie ihren Rock reißen. Das war ihr im Moment jedoch gleichgültig. Mit langsamen, tastenden Schritten ging sie über die nasse Wiese. Sie vernahm das Brechen des bereits vom Frost überzogenen Grases unter ihren Schuhen und das Schmatzen des feuchten Untergrundes. Alle ihre Sinne waren darauf ausgerichtet, irgendetwas aufzunehmen.
Wo war Anne? Und wo befand sich der gereizte Stier? Elisa traute sich nicht, noch einmal nach ihrer Freundin zu rufen, aus Angst, der Stier könne auf sie aufmerksam werden.
Plötzlich hörte sie ein Scharren. Nicht weit von ihr entfernt bewegte sich etwas. Ein dunkler Schatten, massig und bedrohlich. Der Stier. Doch wo war ihre Freundin? »Anne?«, fragte sie zaghaft.
Sofort drehte das Tier den Kopf. Es schnaubte, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
»Anne, wo bist du?«, flüsterte Elisa. Sie spürte den Schweiß über ihren Rücken laufen.
»Hier, Lisa«, drang die kaum wahrnehmbare Antwort zu ihr herüber.
Die Stimme klang verzerrt. Elisa hörte Schmerz und Angst aus ihr heraus. »Ich kann dich nicht sehen.«
»Ich liege vor den Füßen des Stiers.«
Elisa hielt inne. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte unmöglich zu Anne gelangen. Konnte ihre Freundin nicht einfach wegkriechen? Elisa erinnerte sich an den markerschütternden Schrei von zuvor. Vermutlich war Anne von dem Stier verletzt worden.
Plötzlich hörte Elisa Vera fragen: »Lisa? Wo bist du?« Ihre Stimme klang erstaunlich nah. Offensichtlich war sie um den Weidezaun herumgegangen.
»Hier, bei Anne und dem Vieh.«
»Wie wär’s, wenn ich Lärm mache und den Stier so in meine Richtung locke? Mir kann er hier hinter dem Zaun nichts tun.«
Elisa überlegte fieberhaft. Was, wenn das Tier über Anne hinweglief?
»Mach, Vera. Bitte«, wimmerte Anne. Das Mädchen wollte, dass der Stier endlich aus ihrer Nähe verschwand.
Vera begann, mit irgendetwas kräftig gegen die Holzlatten des Zaunes zu klopfen. Der Kopf mit den gebogenen Hörnern fuhr hoch. Ein tiefes, brodelndes Geräusch aus der Kehle des Stieres war zu hören, dem ein Schnauben folgte. Gleich darauf donnerten die gewaltigen Hufe über den Boden.
Elisa lief los und warf sich neben ihre Freundin auf die Erde. »Wir müssen so schnell wie möglich aus dem Gatter raus, Anne.«
»Ich kann nicht gehen. Mein Bein …«, klagte das Mädchen. Trotz der Dunkelheit konnte Elisa erkennen, dass Annes Rock zerrissen war und eine dunkle Flüssigkeit den Stoff durchtränkte. Anne blutete. »Wir müssen raus! Ich helfe dir«, zischte Elisa und griff Anne unter die Arme.
Nur langsam kam die Verletzte auf die Beine, und Elisa musste sie kräftig stützen, damit sie vorankamen. Gemeinsam schleppten die beiden sich über die Wiese. Noch immer drang der Lärm, den Vera veranstaltete, durch die Dunkelheit. Der Stier brüllte wütend und rammte seinen Kopf immer wieder gegen den fest im Erdboden verankerten Zaun.
Als sie das Gatter erreicht hatten, kroch Elisa zwischen zwei Balken hindurch und zog anschließend die geschwächte Anne einfach über den Boden nach draußen. Heftig keuchend ließ sie sich neben ihre Freundin ins gefrorene Gras fallen, und während Anne ihren Tränen freien Lauf ließ, schloss Elisa dankbar die Augen.
Es dauerte nicht lange, bis Vera und Christina bei ihnen waren.
Die schweren Schritte des Stieres waren in der Dunkelheit zu hören, doch außerhalb des Gatters konnte er ihnen nichts mehr anhaben. Vielleicht hatte er sich abreagiert, denn er wandte sich einer anderen Ecke der Weide zu.
Vera schob Annes Rock und Unterrock nach oben und legte eine gewaltige Oberschenkelwunde frei. Christina sog hörbar Luft ein, während Vera einen zischenden Laut ausstieß.
»Ich hole Herrn Kessler«, erklärte Elisa und sprang auf die Beine. Der Feldscher war der Einzige, der jetzt helfen konnte.
»Ihn und noch ein paar andere Männer. Sie müssen Anne den Berg hinuntertragen!«, rief Vera ihr nach, als sie bereits losgelaufen war.
Elisa rannte über die schwarze Erde. Immer wieder knickte sie mit dem Fuß um, wenn sie in eine Vertiefung trat. Sie strauchelte, fing sich jedoch mit den Händen auf dem Boden ab, richtete sich auf und lief weiter. Endlich erreichte sie das Dorf. Sie stieß das hölzerne Gartentor auf, sprang über die zur Einsaat vorbereiteten Gemüsebeete und hastete an den Nebengebäuden vorbei, um zwischen den beiden Lehmmauern hinaus auf die gut 50 Meter breite Straße zu gelangen.
Ihr Atem ging keuchend und ein stechender Schmerz zog bereits durch ihre Lunge. Einen kurzen Moment gestattete sie es sich, stehen zu bleiben und sich mit den Händen gegen die geweißte Mauer des Grundstückes zu stützen, um wieder neu zu Kräften zu kommen. Dann stieß sie sich heftig ab und lief die Straße weiter hinunter, überquerte den Marktplatz und betrat das Grundstück des Feldschers Friedhelm Kessler.
Vor der schweren, hölzernen Eingangstür blieb sie keuchend stehen. Elisa legte die Hand an den Klopfer, doch dann zögerte sie. Sie hatte einen gewaltigen Respekt vor dem großen, oft etwas herrischen Mann, und es war schon so schrecklich spät. Das Mädchen kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Gleich darauf ließ es den Klopfer fest gegen das dunkle Holz fallen.
Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufgerissen wurde. Herr Kessler – bereits im Nachthemd und in eine Decke gewickelt – baute sich im Türrahmen auf. »Die kleine Steiger. Was gibt es denn?«, donnerte er unfreundlich.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Kessler«, begann Elisa atemlos. »Anne ist von dem Kerler-Stier auf die Hörner genommen worden. Sie liegt oben auf der Weide.«
Der Mann schaute sie einen Augenblick lang regungslos an. Dann rief er über seine Schulter hinweg in den Wohnraum: »Frau, eine Lampe und Verbandszeug!« Er wandte sich wieder an Elisa. »Hol deinen Vater und deinen Onkel.«
~~~
Die Tür schloss sich vor den drei durchnässten Mädchen. Elisa schlang die Arme um ihren Körper, so sehr zitterte sie vor Furcht, aber auch vor Kälte. Ihre nasse Kleidung klebte an ihr, und der leichte Wind, der durch die Straße wehte, verstärkte ihr Unbehagen. Dennoch blieb sie stehen, den Blick starr auf die geschlossene Tür gerichtet.
Vera regte sich als Erste wieder. »Habt ihr gehört? Herr Kessler hat gesagt, er glaubt nicht, dass sie das überlebt. Der Oberschenkelknochen ist gebrochen. Und die Wunde ist so verdreckt –«
»Halt den Mund, Vera!«, fuhr Christina, ganz entgegen ihrer sonst so ruhigen, freundlichen Art, die Freundin an. »Wir haben es selbst gehört«, fügte sie weniger aggressiv hinzu und vergrub ihr Gesicht in ihren schmutzigen Händen.
»Ich muss nach Hause«, murmelte Vera und sah betreten zu Boden. Ohne ein Abschiedswort wandte sie sich ab und ging.
»Ich komme mit.« Christina, die ein Stück weit den gleichen Weg hatte, drückte Elisa zum Abschied kurz an sich und lief dann schnell Vera hinterher.
Innerhalb von Sekunden waren die beiden in der Dunkelheit verschwunden.
Elisa blieb allein zurück. Unschlüssig sah sie auf die Tür. Ihr Vater war noch dort drin. Ob sie auf ihn warten sollte? Aber es war schon so spät, und sie fror erbärmlich. Außerdem hatte sie ihre abendlichen Aufgaben nicht erledigt.
Trotz des Wunsches, bei Anne zu bleiben, wandte sie sich schließlich um und verließ das Grundstück der Alders. Auf der Straße erfasste sie mit voller Wucht der kalte Märzwind, der zwischen den Häusern hindurchpfiff. Elisas Zähne klapperten. Sie begann zu laufen und innerhalb weniger Minuten hatte sie das Haus ihrer Eltern erreicht. Mit ihrem ganzen Gewicht stemmte sie sich gegen die Holztür und trat in den Wohnraum, der von zwei Petroleumlampen erhellt wurde.
Ihre Mutter, die im Schaukelstuhl saß, legte sofort ihre Stickarbeit beiseite. »Elisa! Bist du unverletzt? Geht es dir gut?«, wollte sie wissen und stand auf.
»Mir ist nichts passiert, Mama. Aber Anne …«, Elisa brach in Tränen aus.
Hanna nahm ihre Tochter in den Arm. In diesem Moment war es völlig gleichgültig, dass diese durchnässt und dreckig war. Erleichtert legte Elisa ihren Kopf an den Hals ihrer Mutter. Zitternd vor Angst um die Freundin drückte sie sich fest an sie.
Lange Zeit standen die beiden so da. Schließlich löste sich Elisa von ihrer Mutter. »Es tut mir leid, dass wir so spät waren. Ich werde meine Aufgaben jetzt noch erledigen, Mama.«
»Ich habe das bereits getan, Kind. Zieh dich aus und wasch dich.«
»Es tut mir so leid. Du bist schwanger und machst schon so viel!« Erneut schossen ihr Tränen in die Augen. Elisa fühlte sich elend.
»Wir sind froh, dass du unverletzt bist, Lisa. Und jetzt sieh zu, dass du ins Bett kommst. Morgen früh werde ich dir deine Aufgaben nicht abnehmen. Und ich nehme an, dein Vater wird noch ein paar deutliche Worte mit dir wechseln wollen.«
Elisa nickte und verschwand wortlos in der Küche. Dort entkleidete und wusch sie sich, ehe sie leise den Schlafraum betrat, in dem ihre jüngeren Geschwister fest schliefen. Wie sie feststellte, war auch das Bett ihrer Eltern nicht mehr ordentlich. Elisa nahm an, dass ihre Mutter bereits geschlafen hatte, als sie vor einer Stunde hereingeplatzt war, um ihren Vater zu holen.
Leise schlüpfte sie neben ihre Schwester Friederike, mit der sie sich das Bett teilte, und kuschelte sich dicht an sie, um sich zu wärmen. Lange Zeit lag sie da, betete und hoffte, dass Anne ihre schwere Verletzung überleben würde. Doch auch sie wusste, wie hoch die Sterblichkeit in Bessarabien war.
~~~
Samuel wurde von einem Geräusch an der Scheunentür geweckt. Er blinzelte müde, den Blick auf den größer werdenden Lichtstrahl gerichtet, der von der Tür her hereinfiel und in dem der Heustaub tanzte. Er hörte etwas klappern, dann näherten sich leise Schritte seinem Schlafplatz im Heu. Es hatte keinen Sinn mehr, sich Hose und Hemd überzuziehen, geschweige denn in Strümpfe und Schuhe zu schlüpfen. So zog er einfach die raue, nach Erde und Pferd riechende Decke ein wenig enger um sich und richtete sich halb auf.
Eine langstielige Heugabel erschien in seinem Blickfeld, gefolgt von einem Mädchen mit grauem Rock, umgebundener Arbeitsschürze und einem hellen Kopftuch auf den schwarzen Haaren, die zu zwei dicken, festen Zöpfen geflochten waren.
Als das Mädchen ihn entdeckte, fuhr es erschrocken zurück und ließ die Heugabel fallen. Mit großen, braunen Augen starrte es ihn einen Moment lang an. Dann bückte es sich hastig, um das Arbeitsgerät aufzuheben, wich jedoch – kaum, dass sie es ergriffen hatte – langsam, zurück, bis es wieder hinter der Trennwand zwischen dem Heulager und den Feldgeräten verschwunden war.
»Warte!«, rief er. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Samuel Bader. Du musst eine der Steiger-Töchter sein.« Gerne wäre er aufgestanden, doch nur mit seiner Unterwäsche bekleidet, wagte er das nicht.
Das Mädchen tauchte wieder hinter der Trennwand auf. Neugierig wurde er gemustert, bis endlich ein kleines, schüchternes Lächeln über das junge Gesicht huschte. »Samuel Bader? Sie sind doch in Berlin.«
Samuel grinste schief. »Im Moment nicht. Das hier sieht mir mehr nach einem Heuschober aus.«
Wieder lächelte das Mädchen. Unschlüssig stand es da, ehe es sich ruckartig abwandte und erklärte: »Ich muss an meine Arbeit.«
Samuel hätte die Steiger-Tochter gern zurückgerufen, doch er erinnerte sich nicht an ihren Namen. Als er das letzte Mal hier gewesen war, konnte sie kaum älter als zehn oder elf Jahre gewesen sein. Damals hatte er nicht mehr als ein paar wenige Worte mit ihr gewechselt. Also ließ er sie gehen. Schnell spritzte er sich Wasser ins Gesicht, das er sich nachts noch mit einem Eimer aus dem Brunnen geholt hatte.
Gerade als er sich das Hemd zuknöpfte, kam die Steiger-Tochter zurück. Sie machte plötzlich einen sehr aufgeregten Eindruck auf ihn, so als sei ihr etwas Wichtiges eingefallen. Sie blickte ihn mit großen Augen erwartungsvoll an, und ihre Wangen zeigten eine deutliche Rötung. »Herr Bader, Sie studieren in Berlin doch Medizin?«, fragte sie ihn.
»Richtig«, erwiderte er ruhig und schloss den obersten Kragenknopf.
»Sie müssen schnell mitkommen … zu Anne!«, drängte sie ihn.
»Wer ist Anne?«
»Meine Freundin. Sie wurde gestern Abend von einem Stier auf die Hörner genommen«, erklärte das Mädchen ungeduldig.
Samuel hob die Augenbrauen. »Wo ist deine Freundin denn?«, wollte er wissen und griff bereits nach seinem Gepäck, bei dem sich seine Arzttasche befand.
»Sie kommen also mit?«, fragte sie.
Er nickte. »Na komm, zeig mir, wo deine Freundin wohnt.« Er trat noch vor ihr aus der Scheune hinaus auf den Wirtschaftshof.
»Nur vier Häuser weiter!«, rief sie und lief mit schnellen Schritten an ihm vorbei.
Aus dem Hühnerstall kam ihnen Hanna entgegen. »Samuel?«, rief sie überrascht. »Sind Sie das?«
Samuel blieb stehen. »Guten Morgen, Frau Steiger. Ich habe mich heute Nacht zu meinem Schlafplatz geschlichen.«
»Schön, dass wieder einmal ein Bader bei uns vorbeischaut«, freute sich die Frau und streckte ihm ihre Rechte zur Begrüßung entgegen.
Ihre Tochter fiel ihr jedoch in den Arm. »Mama, Herr Bader ist doch Arzt. Ich will ihn zu Anne bringen.«
Hanna musterte ihn einen Moment, dann nickte sie zustimmend. »Das ist ein guter Gedanke, Elisa. Aber du kommst sofort zurück, ja? Ich brauche dich hier.«
»Ja, Mama!«, rief das Mädchen und lief wieder los.
Samuel begann ebenfalls zu laufen und hatte sie schnell eingeholt. Elisa hieß sie also. Sie war nach der ersten Steiger-Frau benannt worden, die bessarabischen Boden betreten hatte.
Als sie um die Lehmmauer bogen, die um das Grundstück herum verlief, stießen sie mit einem anderen Mädchen zusammen, das hier offenbar gewartet hatte.
»Meine Güte, Lisa. Was ist denn mit dir los?«, fragte diese entgeistert, bevor es Samuel wahrnahm. Ihre blauen Augen musterten ihn neugierig, und schließlich legte sich ein Lächeln auf das hübsche Gesicht. »Samuel, nicht? Samuel Bader.«
An den Namen von Elisas Cousine erinnerte Samuel sich sofort. Sie war schon als kleines Mädchen ausgesprochen selbstbewusst und vorlaut gewesen. »Guten Morgen, Vera«, grüßte er.
»Wir haben jetzt einen richtigen Arzt für Anne«, flüsterte Elisa ihrer Cousine zu.
Veras Lächeln wurde breiter. »Das ist wunderbar. Ich wollte gerade zu ihr.«
Eine blasse Frau mit rot umrandeten Augen und wirrem Haar öffnete die Tür. Vera erklärte ihr, wer der Unbekannte war. Johanna Alder öffnete den Mund, sagte aber nichts. Doch sie trat eilig beiseite und ließ Samuel ein. Noch bevor Elisa und Vera ihm ins Haus folgen konnten, schloss sich die Tür vor ihnen. Verdutzt blieb Elisa stehen und wandte sich enttäuscht zu ihrer Cousine um. Sie hätte gern nach Anne gesehen. »Wenigstens hat sie jetzt mit Herrn Bader einen richtigen Arzt, der sich um sie kümmert«, bemerkte sie.
Vera sah sie mit leicht geneigtem Kopf nachdenklich an, ehe ein belustigtes Lächeln über ihr Gesicht huschte. »Du nennst ihn Herr Bader?«, fragte sie.
Elisa legte die Stirn in Falten. »Du hast recht. Er ist ja Arzt. Ich müsste Dr. Bader zu ihm sagen.«
Vera lachte kurz auf und drückte ihre Cousine an sich. »Du bist einfach herrlich, Lisa. Vermutlich ist er nicht mit seinem Studium fertig. Dann hat er noch gar keinen Doktortitel. Ich dachte nur, da er ein Bekannter unserer Familie ist und wahrscheinlich höchstens fünf oder sechs Jahre älter als wir, könntest du ihn ruhig duzen.«
Elisa blickte sie mit großen Augen erstaunt an. »Er ist ein erwachsener Mann. Ein Student. Und unsere Familien haben nur alle paar Jahre sporadisch Kontakt. Das kann ich mir nicht erlauben.«
Vera ließ sich auf die Bank vor dem Haus fallen und zog Elisa neben sich. »Du bist beinahe eine erwachsene Frau. Und hast du es bemerkt? Er hat sich nicht beschwert, als ich ihn geduzt habe.«
»Vielleicht weil er dich als ungezogenes Gör in Erinnerung hat. Außerdem wollte er schnell zu seiner Patientin und sich nicht mit dir über eine korrekte Anrede streiten.«
Vera zuckte unbekümmert mit den Schultern. Elisa sah sie einen Moment lang prüfend an, dann erhob sie sich. »Ich muss zurück. Meine Mutter hat gestern schon alle meine Aufgaben übernommen. Ich darf sie heute nicht schon wieder im Stich lassen – vor allem nicht in ihrem Zustand.«
»Ich habe gestern von meinem Vater eine ordentliche Abreibung bekommen«, murmelte Vera für ihre Verhältnisse erstaunlich betroffen.
»Das steht mir noch bevor. Papa ist heute sehr früh aufgestanden. Ich habe ihn gar nicht gesehen.«
»Vielleicht wird die Anwesenheit eures Gastes ihn ein wenig in seiner Wut zügeln. Am besten, ich nutze seinen Besuch und lade ihn gleich heute zu uns zum Abendessen ein.« Ein heiteres Lächeln legte sich auf Veras Gesicht.
Acht Tage hielt sich Samuel nun schon bei den Steigers auf. Das war viel länger, als er geplant hatte. Aber da ihm der Zustand von Anne Sorgen bereitet hatte, war er noch geblieben. An diesem Morgen jedoch verließ er das Haus von Annes Eltern mit einem Lächeln auf den Lippen. Das Mädchen war über dem Berg. Anne würde überleben und das Bein behalten, obwohl sie es vermutlich ihr Leben lang nachziehen würde.
Gemächlich schlenderte er die Straße hinunter und betrachtete die blühende Farbenvielfalt um sich herum. Der Frühling hatte mit einer betörenden Fülle an Gerüchen und Farben den Winter vertrieben, und er hatte es gar nicht bemerkt. Zu sehr war er mit Anne beschäftigt gewesen. Darüber hinaus hatte er Roman Steiger auf dem Hof geholfen – bei Reparaturen an den Stallungen ebenso wie beim Pflügen und Aussäen.
Zufrieden und mit dem drängenden Wunsch im Herzen, endlich zu seiner Familie weiterzureisen, betrat er das Grundstück seiner Gastfamilie. Zwei helle Araberpferde standen dort angebunden. Er zog die Stirn kraus, erkannte er doch die Tiere seines Vaters. War zu Hause etwas passiert? Er hatte seine Familie darüber informiert, dass er auf dem Heimweg einen kleinen Umweg machen wollte, um den Steigers einen Besuch abzustatten, doch mit einem so langen Aufenthalt hatte keiner von ihnen gerechnet.
Als er die Eingangstür aufstieß, hörte er fröhliches Gelächter. Die helle Stimme gehörte eindeutig Vera, auch Elisas Lachen meinte er herauszuhören. Aber wem gehörte der männliche Bass? War das etwa …?
Samuel betrat den Wohnraum. Tatsächlich saß dort Moritz Steinfurt, sein bester Freund aus Berlin. »He, Samuel! Du bist ja schwerer zu finden als Churchills Zigarre. Deine Eltern haben sich Sorgen darüber gemacht, wo du bleibst.«
»Du hier? Und die Pferde draußen bedeuten, dass du bei meinen Eltern warst?«
»Ja, ich wollte endlich mal deiner Einladung Folge leisten. Die Wegbeschreibung, die du mir vor Ewigkeiten gegeben hast, war perfekt. Und du hast recht. Dieses Land ist endlos, aber auch endlos schön.« Der schmächtige, semmelblonde junge Mann erhob.
Wieder lachte Vera hell auf, während über Elisas Gesicht eine feine Röte huschte. Sie knetete ihre Hände. Offensichtlich brannte ihr eine Frage auf dem Herzen, sich und reichte seinem Freund die Hand. »Ich kann verstehen, dass du dich gern hier hast aufhalten lassen«, grinste er und zwinkerte ihm zu. doch sie traute sich nicht, die Begrüßung der beiden Männer zu stören.
Als Samuel ihre Unruhe registrierte, wandte er sich an sie und erklärte: »Anne geht es besser. Das Fieber ist deutlich gesunken, und der Wundbrand ist ausgeblieben. Sie wird ihr Bein behalten.«
Vera stieß einen lauten Jubelruf aus und stürmte auf ihn zu, um ihm zum Dank für seine Hilfe heftig die Hand zu schütteln. Elisa hingegen verbarg ihr Gesicht in ihren Händen und senkte den Kopf, sodass ihre dicken schwarzen Zöpfe über ihre Schultern nach vorne rutschten.
»Deine Eltern und deine Schwester warten sehnsüchtig auf dich, Samuel. Wann kannst du hier weg?«
»Ich denke, ich kann mein Lager hier abbrechen. Der Feldscher ist ein fähiger Mann. Er wird das verletzte Fräulein weiterversorgen. Am besten, ich packe gleich meine Sachen.« Samuel lächelte die beiden jungen Frauen an, wandte sich zum Gehen um und verließ, gefolgt von seinem Freund, das Haus. Gemeinsam traten sie in den angenehm warmen Sonnenschein hinaus. Ein paar Spatzen, die auf dem Hof nach Körnern gesucht hatten, flogen verschreckt auf und ein getigerter Kater verschwand um die Hausecke.
Moritz folgte Samuel schweigend und betrat hinter ihm den Stall. Die beiden Männer wurden von dem Schnauben eines Pferdes begrüßt. Samuel drehte sich zu seinem Freund um. »Schön, dass du dein Versprechen, meine Familie und mich einmal zu besuchen, endlich wahr machst. Entschuldige bitte, dass ich nicht zu Hause war, als du ankamst. Aber ich konnte das Mädchen mit dem verletzten Bein nicht unversorgt lassen.«
»Mach dir deshalb keine Vorwürfe. Deine Familie war allerdings besorgt, als du nicht kamst. Deswegen hatte ich angeboten, dir entgegenzureiten.«
»Ich muss meine Sachen zusammenpacken und mich verabschieden. Das kann noch eine Weile dauern. Außerdem möchte ich, bevor wir reiten, ein letztes Mal bei Fräulein Anne vorbeisehen.«
»Das ist schon in Ordnung. Wenn du nichts dagegen hast, begleite ich dich. Wir können von dort aus losreiten. Aber bis du hier fertig bist, lege ich mich noch ein bisschen ins Heu. Ich bin die ganze Nacht durchgeritten«, erwiderte Moritz und zog seine Jacke aus. Unter dieser trug er ein braunes Hemd und an seinem linken Oberarm befand sich die rot-weiße Armbinde mit dem schwarzen Hakenkreuz.
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Noch am selben Abend hatte Elisa sich auf den Weg zu Anne gemacht. Dort saß sie lange neben der Couch, auf der die dösende Verletzte lag. Elisa faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und legte sie auf den Tisch. Sie strich sich eine schwarze Locke aus dem Gesicht, die sich aus der Frisur gelöst hatte.
»Du machst dir Sorgen, Lisa, nicht wahr?«, fragte Anne. Ihre Stimme klang noch immer sehr schwach.
»Sorgen? Seit bekannt wurde, dass Hitler Böhmen-Mähren besetzt hat und der tschechische Staatspräsident Hacha die Tschechoslowakei vertrauensvoll in die Hand des Führers gelegt hat, sind seine Anhänger wieder vermehrt öffentlich auf der Straße unterwegs.«
»Warum hat Hacha das nur getan?«, murmelte Anne, während sie mit zitternder Hand nach dem Wasserglas griff.
Elisa stützte die Freundin, damit sie ein paar Schlucke trinken konnte.
»Vermutlich hatte er keine andere Wahl. Er wurde immerhin nach Berlin geholt, um diese Erklärung abzugeben. Außerdem hat sich weder Frankreich noch England für sein Land eingesetzt – und die Sowjets schon gar nicht.«
»Frankreich und England haben versucht, den Frieden zu erhalten. Was ist daran falsch?«, wollte Anne wissen und schloss für einen Moment die Augen.
»Nichts, wenn man Aussicht auf Erfolg hat«, antwortete Elisa leise und blickte auf ihre nackten Füße.
»Es gibt doch dieses Münchner Abkommen. Du hast mir erklärt, dass damit das Sudentenland an das Deutsche Reich zurückgegeben und der Friede gerettet wurde.«
»Das dachten wohl alle – ausgenommen dieser Hitler vielleicht«, erwiderte Elisa, blickte sich aber, kaum dass sie das gesagt hatte, ängstlich um, um sich zu vergewissern, dass niemand außer Anne sie gehört hatte. Sie hatte am Vorabend Annes älteren Bruder auf der Straße marschieren sehen. Trotz der Entfernung hatte sie die Hakenkreuzbinde an seinem Arm erkannt.
»Und was passiert jetzt mit der Tschechoslowakei?«
»Mit der Tschechoslowakei?«, fragte Elisa und schüttelte dann langsam den Kopf. »Die existiert nicht mehr.« Die jüngsten Entwicklungen machten Elisa Angst. War dieser Hitler nun zufriedengestellt? Hatte er seinem Volk genug Lebensraum geschaffen? Oder wollte er das Deutsche Reich noch weiter ausdehnen? In Richtung Polen, Litauen, Bulgarien, Ungarn und Rumänien? Was, wenn diese Länder dies nicht kampflos hinnehmen würden, wie es jetzt die Tschechoslowakei getan hatte? Und was würde in diesem Fall mit ihnen, den Deutschen in Bessarabien, geschehen? Wie würden sich England und Frankreich verhalten? Wollten sie weiterhin Frieden um jeden Preis? Oder würde es zu einem Krieg kommen?
»Lisa?«
Elisa hob den Kopf und blickte in Annes blaue Augen.
»Ich bin ganz froh, dass ich von alldem nicht so viel verstehe wie du. Ich denke, es würde mir auch Angst machen.«
Elisa runzelte die Stirn, ehe sie ihre Freundin aufmunternd anlächelte. »Werde du erst einmal wieder gesund, bevor ich dir weiter meine Schauergeschichten erzähle. Du kennst mich doch …«
»Das stille, verängstigte Mäuschen«, lachte Anne und verzog dann gequält das Gesicht. Offensichtlich hatte sie noch immer Schmerzen. Dennoch sprach sie weiter: »Dafür kann ich dir eine umso schönere Geschichte erzählen. Vorhin war Christina da. Erinnerst du dich an das, was sie uns oben auf dem Hügel erzählt hat?«
»Bevor die Sache mit dem Stier …?« Elisa beendete die Frage nicht, sondern senkte betroffen den Kopf.
Anne nickte und streckte ihr ihre weiße Hand entgegen. Elisa nahm sie fest in ihre. »Sie hat uns von dem jungen Mann aus dem rumänischen Ort erzählt. Meinst du das?«, fragte Elisa den Blick aus dem Fenster auf die blühenden Akazien gerichtet. Ihr schien es, als läge die Unbeschwertheit, die sie an diesem Abend dort auf der Bank empfunden hatten, schon weit zurück. Die Ereignisse der letzten Tage ließen die Erinnerung daran verblassen.
Anne nickte. »Ja, das meine ich. Stell dir vor, er hat bei ihrem Vater vorgesprochen. Er möchte unsere Christina heiraten. Ist das nicht wunderbar?«
»Tatsächlich? Das ist ja aufregend. Und was hat Christina gesagt?«
»Sie ist ganz glücklich und natürlich fürchterlich aufgeregt. Ihr Vater möchte sich mit der Entscheidung noch ein paar Tage Zeit lassen. Christina sagt, wenn er ihnen seinen Segen gibt, wollen sie im Sommer heiraten.«
Elisa wehrte sich vergeblich gegen die Wehmut, die sich auf ihr Herz legen wollte. Sie würde eine ihrer Freundinnen verlieren. Vermutlich würde Christina in das rumänische Dorf ziehen. Und das ausgerechnet jetzt, wo sie eine Menge andere Veränderungen zu befürchten hatte. Wer konnte schon wissen, wie sich die politische Situation entwickeln würde?
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Die jungen Männer lenkten die Pferde an einer tief abfallenden, bedrohlich wirkenden Schlucht entlang und drangen in einen dicht gewachsenen Wald ein. Traubeneichen und Hainbuchen ragten in den blauen Himmel hinauf und ließen nur wenig Licht bis zum Waldboden durch. Sie hatten die Hochebene im Norden Bessarabiens erreicht, ein Ausläufer der Karpaten, auf der sich auch der Gutshof von Samuels Eltern befand.
Samuel blickte zu seinem schweigsamen Begleiter hinüber. Licht und Schatten fielen in unregelmäßigen Abständen auf seine hellen Haare und seine verkniffenen Gesichtszüge. Seit sie die Familie Steiger verlassen hatten, hatte Moritz kaum gesprochen. Er schien in düstere Grübeleien versunken zu sein.
»Was ist eigentlich los?«, fragte Samuel schließlich und rutschte ein wenig auf dem Sattel hin und her, um sich in eine bequemere Position zu bringen. Er war es nicht mehr gewohnt, mehrere Stunden am Stück auf einem Pferd zu verbringen.
Moritz räusperte sich und fuhr sich mit seiner behandschuhten Rechten durch die kurz geschnittenen Haare. Er schaute zu Samuel hinüber, ehe er den Kopf wieder abwandte und seinen Blick stur geradeaus richtete.
Samuel zuckte mit den Schultern. Er mochte Moritz, aber manchmal verstand er ihn nicht. Er arbeitete als Sekretär für Paul-Otto Schmidt, den Dolmetscher von Hitler, wodurch er ein ausgesprochen gutes Wissen über die Pläne und politischen Ambitionen des Mannes besaß, der Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wieder auf die Beine gebracht hatte. Dennoch äußerte er sich nur selten über Hitler und dessen Politik. Das war seltsam, denn die Menschen, die sich im Umfeld des Führers aufhielten, sprachen üblicherweise mit brennendem Eifer und voller Bewunderung von diesem.
Samuel konnte deshalb schwer einschätzen, wie Moritz zu den aktuellen Entwicklungen stand. Er selbst misstraute Hitler. Schon früh hatte es unter den Studenten Unruhen und auch Widerstand gegen die NSDAP gegeben, allerdings befanden sich unter den Hochschülern ebenso Anhänger der Partei, und es wurde immer schwieriger, die einen von den anderen zu unterscheiden. Aus diesem Grund hatte sich bezüglich der politischen Ansichten ein gefährliches Schweigen über die sonst so kritische junge Intelligenz des Deutschen Reiches gelegt.
»Die Steigers sind gute Bekannte deiner Familie, nicht wahr?«, fragte Moritz unerwartet.
Samuel wandte sich seinem Freund zu. »Seit die ersten Württemberger sich hier angesiedelt haben. Warum fragst du?«
Moritz presste so heftig die Zähne aufeinander, dass die Wangenknochen in seinem schmalen Gesicht hervortraten. Langsam schüttelte er den Kopf, als fiele es ihm schwer, zu sagen, was ihm auf der Seele brannte. Er brachte seine Stute zum Stehen und wandte sich im Sattel zu Samuel um. »Ich wollte mit dir und deiner Familie etwas besprechen«, begann er vorsichtig.
Samuel runzelte besorgt die Stirn. Er hatte Moritz schon seit Jahren eingeladen, aber der gebürtige Berliner hatte sich niemals zu dieser Reise durchringen können. War seine jetzige Anwesenheit also nicht einfach nur ein längst überfälliger Besuch? »Moritz –«
»Nein, lass mich bitte aussprechen. Ich wollte deine Familie bitten, ins Deutsche Reich heimzukehren. Hier könnte es Unruhen geben, und ich möchte nicht, dass ihr in Gefahr seid.«
Samuel musterte seinen Freund, ehe er den Hut vom Kopf nahm und diesen in seinen Händen hin und her drehte. »Was für Unruhen?«, fragte er schließlich nach, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
»Hitler wird sich mit der Tschechoslowakei als einzigem Landgewinn nicht zufriedengeben. Von Anfang an gab es Pläne für eine Expansion in Richtung Osten – über die Tschechoslowakei hinaus.«
»Von Anfang an? Was sollte dann dieses Münchner Abkommen oder die Aussagen Hitlers, dass –«
»Was denkst du, weshalb unsere Truppengattungen schon seit Jahren mit den modernsten Waffen ausgerüstet werden? Schon im November siebenunddreißig hat Hitler gesagt, dass es eine Lösung der deutschen Frage nur über den Weg der Gewalt gebe und dieser niemals risikolos sein werde.«
»Neunzehnhundertsiebenunddreißig?«, fragte Samuel ungläubig und schüttelte den Kopf.
»Kannst du dir nicht denken, weshalb Generaloberst von Fritsch im Jahr achtunddreißig aufgrund einer falschen Beschuldigung entlassen wurde und Hitler später ohne Zögern Becks Rücktrittsgesuch annahm? Die Heeresspitze hatte es gewagt, Hitler zu widersprechen.«
»Da tun sich Abgründe auf«, murmelte Samuel und überlegte, welches Land wohl als nächstes von Hitler verschluckt werden sollte. Er wagte nicht zu fragen.
»Abgründe? Das ist nur ein kleiner Teil …« Moritz beendete den Satz nicht und presste die Lippen fest zusammen.
Vermutlich hatte er schon mehr gesagt, als er es eigentlich hätte tun dürfen.
Moritz hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, als er fortfuhr: »Ich wollte deiner Familie vorschlagen, nach Deutschland zu kommen. Doch jetzt habe ich auch die Steigers und die Alders kennengelernt. Sie sind sehr nett.« Moritz wandte den Kopf und sah ihn direkt an. Seine blauen Augen funkelten. »Aber ich kann doch nicht alle warnen …!«, brach es aus ihm heraus.
Samuel setzte sich den Hut wieder auf und trieb sein Pferd an. Er hörte am Aufsetzen der Hufe, dass die Stute seines Freundes folgte. Schweigend ritten die beiden Männer weiter, bis sie schließlich an den Waldrand kamen. Die Wärme der Sonne ließ den feuchten Boden dampfen, und der Nebel legte sich wie eine sanfte Decke über die gepflügten Felder, die lang gezogenen Weiden und die ersten Frühlingsblumen, die ihre farbenfrohen Köpfe aus der Erde streckten. In einiger Entfernung stand ein weiß gekalktes, von der Sonne freundlich beschienenes Gutshaus, dessen große, dunkle Eingangstür einladend offenstand.
Samuel betrachtete sein Zuhause und wandte sich dann an Moritz, der seine Stute neben ihm auf dem Hügel zum Halten gebracht hatte. »Meine Eltern werden Bessarabien niemals nur aufgrund eines Verdachts verlassen, Moritz. Wir sind alle hier geboren. Dieses Land ist unsere Heimat, selbst wenn wir in Hitlerdeutschland nur als Kolonisten angesehen werden. Es wird schon mehr brauchen, um meine Eltern dazu zu bewegen, hier wegzuziehen.«
Samuel trieb sein Pferd an, um endlich seine Familie in die Arme zu schließen. Dennoch hörte er, wie Moritz leise vor sich hinsagte: »Es wird mehr kommen, mein Freund.«
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Moritz Steinfurt verließ den Verwaltungstrakt der Reichskanzlei und zog sich seine Mütze tief in die Stirn, als wollte er von niemandem gesehen werden und selbst nichts um sich herum wahrnehmen. Langsam und mit hängenden Schultern ging er bei den quadratischen Säulen an den Wachposten der SS-Leibstandarte Adolf Hitlers vorbei und die Stufen hinunter. Drohend blickte der riesige Reichsadler mit dem Hakenkreuz, dessen Relief oberhalb der Säulen aus der Mauer hervortrat, auf ihn herab. Er wusste, dass es gefährlich war, was er tat – doch hatte er eine Wahl? Samuel war sein Freund – der einzige Freund, der ihm geblieben war, seit er seine Anstellung in der unmittelbaren Nähe der deutschen Machtzentrale angetreten hatte.
Wütend schüttelte er den Kopf. Warum nur hatten die Engländer nicht auf Winston Churchill gehört? Hatten sie und die Franzosen tatsächlich angenommen, dass sie mit dem Münchner Abkommen einen Sieg errungen hatten? Churchill hatte den kleinen Mann mit dem schwarzen Oberlippenbart doch auch durchschaut und in seiner Unterhausrede deutlich gemacht, wie sehr er Hitler misstraute und dass er das Münchner Abkommen für eine vollständige Niederlage und ganz gewiss nicht für einen Gewinn des Friedens hielt. Der Weg die Donau hinab, der Weg zum Schwarzen Meer, ist frei …, hatte er ihnen zugerufen und kein Gehör gefunden.
Moritz fluchte leise vor sich hin. Er musste dringend mit Samuel sprechen und ihn davon überzeugen, dass seine Familie sowie die Freunde der Baders zurück ins Deutsche Reich kommen sollten. Samuel hatte damals mit seiner Vermutung recht behalten. Bei seinem Besuch vor fünf Monaten hatten sich dessen Eltern auf keine Diskussion über eine Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren eingelassen.
Zwar würden morgen die Verträge für einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion geschlossen, der für zehn Jahre Gültigkeit haben sollte, doch was bedeutete das schon? Vor allem, dass Hitler sich die Russen vom Hals halten wollte, wenn er weiter in Richtung Osten vorrückte? Was hatte er vor? Sich Polen oder Rumänien einzuverleiben – und somit auch Bessarabien? Was würde in dem Fall mit den deutschen Siedlern dort geschehen?
Als Sekretär von Schmidt hatte er das Vertragswerk zu Gesicht bekommen, und er wusste, dass es ein geheimes Zusatzprotokoll gab, das niemals an die Öffentlichkeit gelangen sollte. Aber er kannte den genauen Inhalt dieses Zusatzprotokolls nicht. Allerdings war ihm das Wort Bessarabien ins Auge gefallen, als er einige Abschriften auf dem Schreibtisch Joachim von Ribbentrops hatte liegen gesehen. Und genau deshalb musste er dringend mit Samuel sprechen.
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Moritz fand seinen Freund auf dem Campus. Der groß gewachsene Medizinstudent saß auf einem Steinquader, hatte die Arme hinter sich aufgestützt und genoss mit geschlossenen Augen den wärmenden Sonnenschein auf seinem Gesicht.
»Hast du nichts zu tun?«, fragte Moritz und beobachtete amüsiert, dass sein Freund vor Schreck zusammenzuckte.
Samuel blinzelte gegen die grellen Sonnenstrahlen an und setzte sich schließlich auf, um mit einer Hand seine Augen zu beschatten. »Ach, du bist es«, gab er träge von sich, ehe er es sich wieder bequem machte.
Moritz ließ sich neben ihn fallen und betrachtete die entspannten Gesichtszüge seines Freundes. »Nach jemandem, der im Prüfungsstress steckt, siehst du aber nicht aus.«
»Dein Terminkalender ist auf einem miserablen Stand, Sekretär. Ich habe heute Morgen um kurz vor zwölf Uhr meine letzte Prüfung hinter mich gebracht.«
Moritz betrachtete ihn nachdenklich, ehe er sagte: »Glückwunsch. Dann hast du jetzt erst einmal frei?«
»Was willst du?«, fragte Samuel zurück, ohne sich zu rühren.
»Fahr zu deiner Familie, Samuel. Du solltest sie zumindest warnen.«
»Fängst du schon wieder damit an?« Samuel schaute seinen Freund an. »Du hast meine Eltern und meine Schwester im März halb verrückt gemacht.«
Moritz atmete tief ein und sah sich dabei prüfend um. Zwar gingen einige Studenten über den Hof, doch sie waren weit genug entfernt, sodass sie ihn nicht hören konnten. »Hör mir gut zu, Samuel. Vor ein paar Tagen ist Ribbentrop nach Moskau gefahren. Er und der sowjetische Kommissar für Äußeres, Wjatscheslaw Molotow, werden im Beisein von Stalin und dem deutschen Botschafter in Moskau, Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg, einen Pakt unterzeichnen.«
»Einen Pakt?«, flüsterte Samuel und grinste gequält.
Moritz kniff die Augen zusammen und zischte: »Es existiert ein geheimes Zusatzprotokoll. Darin geht es, soweit ich es sehen konnte, um die baltischen Staaten.«
»Und weiter?«
»Mehr weiß ich nicht. Aber ich vermute, Hitler und Stalin haben sich darin diese Staaten brüderlich aufgeteilt.«
Samuel musterte seinen Freund. Jetzt konnte Moritz in seinen Augen einen Funken Unruhe und Misstrauen entdecken. »Das könnte heißen, dass sowohl Deutschland als auch Russland in einige baltische Länder einmarschieren wollen?«
»Ich vermute schon. Was denkst du, was mit den Deutschen in Bessarabien geschieht, wenn Russland und Rumänien anfangen, sich um das Gebiet zu streiten?«, fragte Moritz.
»Hitler weiß doch, dass es dort noch Deutsche gibt«, wandte Samuel schließlich leise ein.
Hilflos zog Moritz die Schultern hoch. »Ich sollte von dem ganzen Zusatzprotokoll eigentlich überhaupt nichts wissen. Ich konnte auch nur einige wenige Zeilen lesen, ehe jemand reinkam. Aber was ich gelesen hab, war, dass die Sowjetunion ihr Interesse an Bessarabien bekundet hat, die Reichsregierung jedoch völliges politisches Desinteresse an diesen Gebieten zeigt.«
»Mehr weißt du nicht? Nichts über vertragliche Inhalte?«
»Es tut mir leid. Mehr habe ich nicht.«
Samuel nickte. Er wusste, welche brisanten Informationen er soeben erhalten hatte und dass es Moritz den Kopf kosten konnte, wenn etwas davon an die Öffentlichkeit drang. »Was können wir tun?«, flüsterte er, faltete die Hände, beugte den Oberkörper weit nach vorne und stützte die Ellenbogen auf die Knie.
»Bring die Nachricht deiner Familie und denen, die du sonst noch warnen willst, sofern du ihnen vertrauen kannst, dass sie Stillschweigen bewahren. Sie sollen sehr wachsam sein und sich auf eine Flucht vorbereiten.«
Samuel winkte ab. Er zweifelte nach wie vor daran, dass seine Eltern Bessarabien verlassen wollten. »Und was wirst du mit deinem Wissen tun?«, hakte er nach.
Moritz hob den Blick und beobachtete ein paar Studenten, die an ihnen vorbeigingen und ausgelassen miteinander herumalberten. »Was soll ich tun?« Diese Frage beschäftigte ihn, seit er vor einigen Tagen die Verträge gesehen hatte.
»Du könntest über deine beruflichen Beziehungen versuchen, die baltischen Staaten zu warnen. Oder England eine entsprechende Nachricht zukommen lassen.«
Moritz seufzte. »Du bist gut. Der offizielle Vertragstext gibt nichts Handfestes her. Und was glaubst du, was in unserem Ministerium los ist, wenn bekannt wird, dass etwas über das geheime Zusatzprotokoll nach außen gedrungen ist? Außerdem wäre immer noch die Frage, ob mir jemand Glauben schenken würde. Die Friedenspolitik Englands und Frankreichs war bisher nicht gerade –«
»Diese Länder sind durch die Tschechoslowakei aufgeschreckt worden. Sehr viel mehr werden sie Hitler nicht zugestehen. Immerhin können sie nicht weiter über die Köpfe anderer hinweg Länder verschenken«, unterbrach ihn Samuel hitzig.
»Halt den Mund«, fuhr Moritz ihn an und blickte sich ängstlich um.
Samuel hob entschuldigend seine rechte Hand. Leise fragte er: »Wie weit ist es gekommen, dass wir nicht einmal mehr aussprechen dürfen, was wir denken?«
Moritz nickte, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Sie schrieben das Jahr 1939, und die Zeichen standen auf Sturm, obwohl weder die Militärs noch die deutsche Bevölkerung einen Krieg wollte. Der letzte Weltkrieg und seine schrecklichen Folgen waren allen allzu frisch im Gedächtnis. Allerdings waren die Expansionspläne Hitlers nicht das Einzige, was Moritz Sorge bereitete.
»Gibt es niemanden, der Genaueres über Hitlers Pläne weiß und das Spiel nicht mitspielen möchte? Jemanden von den Militärs, der ohne Weiteres die Möglichkeit hätte, mit England Kontakt aufzunehmen?«
»Niemand würde militärische Pläne verraten, selbst wenn er sie falsch oder irrsinnig fände, Samuel. Das sind Offiziere, eingeschworen auf dieses Land und inzwischen auch auf Hitler selbst.«
»Irgendjemand, Moritz. Überleg doch mal«, drängte Samuel.
Moritz schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. Sein Freund hatte keine Ahnung, was er da von ihm verlangte.
Plötzlich sprang Samuel auf. Er griff nach seiner Tasche, die neben ihm gelegen hatte, und streckte Moritz die rechte Hand entgegen. »Ich sollte mich vielleicht doch auf die Reise machen.«
»Zu deinen Eltern?«
»Ich werde mit ihnen sprechen. Aber ich glaube nicht, dass sich seit März an ihrer Einstellung etwas geändert hat. Spekulationen allein werden sie vermutlich noch immer nicht dazu bringen, ihr Haus und Land aufzugeben.«
Moritz nickte und zog sich an der ausgestreckten Hand seines Freundes hoch. »Das verstehe ich. Es geht mir nur darum, dass deine Familie nicht ganz unvorbereitet ist, falls …« Er führte den Satz nicht zu Ende, verstärkte den Druck um Samuels Hand, ließ diese schließlich los und wandte sich ab.
»Moritz?«
Der Angesprochene drehte sich noch einmal um.
»Gib auf dich acht.«
Elisa jagte mit der Hand eine Fliege von ihrer Wange und blinzelte gegen die heiß vom Himmel herabbrennende Augustsonne an. Wie schnell der Frühling dem Sommer gewichen war. Natürlich waren der Frühling und der Frühsommer eine arbeitsame Zeit und die Tage flogen nur so dahin, doch in diesem Jahr hatte sie das Gefühl, als habe der Kalender einige Wochen übersprungen.
»Träumst du?« Vera stieß sie von ihrer erhöhten Position auf der Leiter mit der Fußspitze an.
Elisa lächelte ihr zu und reichte ihr eine weitere Margeritenblume nach oben.
Ihre Cousine befestigte diese mit einem weißen Band an dem grünen Bogen, der für Christinas Hochzeitsgottesdienst über der Tür des Kirchenportals angebracht worden war, und streckte sogleich die Hand aus, um die nächste entgegenzunehmen.
Elisa reichte sie ihr hinauf.
Anne kam aus dem Inneren des Gotteshauses und betrachtete das Werk. »Das wird wunderschön. Christina wird sich sehr freuen«, erklärte sie und hinkte über den Platz davon.
Elisa sah ihr nachdenklich hinterher. Ihre Freundin war zu Kräften gekommen und ihre Gesichtsfarbe sah wieder deutlich gesünder aus. Allerdings war sie bei Weitem nicht mehr so fröhlich und ausgelassen wie früher. Der Angriff des Stieres hatte nicht nur körperliche Spuren an ihr hinterlassen, und Elisa wusste, was die Freundin quälte. Je näher Christinas großer Tag herbeigerückt war, desto verschlossener war Anne geworden. Sie befürchtete, aufgrund ihrer Behinderung niemals von einem Mann geliebt zu werden. Anne hatte stets schon davon geträumt, eine große Familie zu haben, doch dieser Traum schien in dem Augenblick geplatzt zu sein, als sie das erste Mal ohne Krücken laufen durfte und bemerken musste, dass sie ihr Bein nicht mehr so natürlich bewegen konnte wie früher.
»Lisa!«, herrschte Vera sie an, und Elisa zuckte erschrocken zusammen.
»Entschuldige bitte«, murmelte sie und reichte ihr die letzten Blüten nach oben.
Vera befestigte sie, strich die weißen Bänder glatt, die sofort munter im leichten Wind zu flattern begannen, und stieg eilig von der etwas wackeligen Holzleiter herunter. Sie gesellte sich zu Elisa. »Ich hoffe auf ein wenig Männerbesuch, der nicht aus der Gegend stammt. Immerhin hast du Samuel und seinen ausgesprochen gut aussehenden Besuch im Frühjahr einfach ziehen lassen.«
»Meine Güte, Vera.« Elisa schüttelte den Kopf. »Du wirst schon noch einen Mann abbekommen.«
»Ich möchte aber keinen aus unserem Dorf. Ich habe lange genug hier herumgesessen. Samuel oder sein Freund aus Berlin – das wäre eine gute Partie gewesen.«
Elisa runzelte die Stirn und musterte ihre Cousine wenig begeistert. Sie mochte es nicht, wenn Vera vom Fortgehen sprach. Immerhin würde Christina sie schon verlassen.
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