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South Carolina, 1847: Nach einigen Schicksalsschlägen überredet die 18-jährige Joanna Steinmann ihren älteren Bruder Stewart, sie und ihre vier jüngeren Schwestern auf einen Treck in den Westen mitzunehmen. Auf der langen und beschwerlichen Reise gerät Joanna immer wieder in bedrohliche Situationen. Währenddessen ist ihre Freundin Linda in der Heimat einer Intrige auf der Spur, die auch den Steinmanns gefährlich werden könnte ... Ein romantischer und gleichzeitig spannender Roman aus der Pionierzeit der Vereinigten Staaten von Amerika.
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Seitenzahl: 660
Über die Autorin
Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum. www.elisabeth-buechle.de
Für Marika
Ein herzliches Dankeschön gebührt meinen Eltern, Hanne und Gerhard Ade, die früher mit uns Kindern unzählige kleine Reisen unternommen haben.Sie haben in mir die Neugierde für andere Städte und Landschaften, die dazugehörenden geschichtlichen Ereignisse und die dort lebenden Menschen geweckt. Ich wünsche euch noch viele schöne Entdeckungsreisen mit eurem „modernen Planwagen“.
Eine Episode in diesem Roman handelt von einem Hagelsturm. Ich schrieb sie einige Wochen bevor ein Gewitter mit tennisballgroßen Hagelkörnern meine Heimatstadt verwüstet hat. Noch einmal möchte ich mich an dieser Stelle bei Manfred Neumeyer bedanken, der alles stehen und liegen ließ und früh am nächsten Morgen viele Kilometer herfuhr, um mit viel Energie und Humor unser Dach zu reparieren und die zertrümmerten Dachfenster regensicher zu machen.Danke, Manne!
Im Besonderen danke ich meinem Mann Christoph, der mich immer wieder zum Schreiben ermuntert und mir den nötigen Freiraum dafür schafft.Ich liebe dich!
Hintergrundinformationen
Ab etwa 1720 waren die ersten Weißen, vor allem Fallensteller und Jäger, in den Rocky Mountains.
Im Jahre 1803 verkaufte Napoleon Bonaparte das Land westlich des Mississippi bis Kanada hinauf für nur 15 Millionen Dollar an die USA. (Das gesamte Gebiet nannte sich damals Louisiana, und seine Ausmaße waren nicht bekannt.) Dieses Gebiet sollte erforscht und schließlich auch besiedelt werden.
Die bekannteste Expedition, die vor allem wissenschaftlichen Zwecken diente, war die von Präsident Jefferson finanzierte Lewis-und-Clark-Expedition (1804–1806). Es folgten Trapper, abenteuerlustige Amerikaner und vor allem Missionare, die den Ureinwohnern des weiten, unbekannten Landes das Evangelium bringen wollten.
Der wohl bekannteste Weg in Richtung Westküste ist der sogenannte Oregon-Trail. Auf der über 3.000 Kilometer langen Strecke waren die Pioniere unzähligen Gefahren ausgesetzt. Heute schätzt man, dass auf dem Weg vom Missouri bis nach Oregon bzw. Kalifornien 30.000 Menschen starben. Das würde auf die Wegstrecke umgerechnet etwa alle 70 Meter ein Grab bedeuten.
Noch heute zeigen auf der Grasfläche des South Pass oder im weichen Kalkstein tiefe Spuren und Furchen von den Wagenrädern der schwer beladenen Planwagen, welchen Weg die Emigranten nahmen. Auch die unzähligen in die Kreidefelsen eingeritzten Namen und Nachrichten an nachfolgende Angehörige sind noch deutlich zu erkennen.
Personenregister
South Carolina:
Familie Steinmann von der Plantage Green Crystal:
Die Geschwister Oliver, Stewart, Denise, Joanna, Beckie, Branca, Carole und Ellie
Natasha, Tante der Geschwister
Mary, ältere Sklavin, bleibt bei Denise
Sebastian, Onkel der Geschwister
Kassandra, verstorbene Mutter der Geschwister
Die Nachbarn der Steinmanns:
Arnaud Brook, früherer Verlobter von Denise
Familie Bryant:
Seraphine, Simons Mutter
Simon, Verlobter von Linda
Familie Fowler:
Emanuele, Lindas Mutter
Henry, Lindas Vater
Linda, Simons Verlobte und beste Freundin von Joanna
Ocean, Sklavin, Lindas „Mädchen“
Benno Hausser, möchte einen Teil von Green Crystal kaufen.
Neil Warren, Ehemann von Denise
Scott Carwell, im selben Regiment wie Simon während des Mexikokrieges.
Pacey, Scotts Vater
Weitere Personen in South Carolina:
Dan Cutler, Verwalter von Green Crystal
Familie Laser:
Darius, Lindas Onkel
Verina, Lindas Tante
Traci, Lindas Cousine
Auf dem Oregon-Trail:
Familie Barter:
Aiden, Vater
Lea, Mutter
Andy, ältester Sohn
Luisa, Tochter
und zwei jüngere Brüder
Familie Birk: Der Vater August schlägt sich mit dem Familienoberhaupt der Keiths, drehen um.
Familie Keith: Der Vater Kenneth schlägt sich mit dem Familienoberhaupt der Birks, drehen um.
Das Ehepaar Lewis: Jake und Jasmine, geflohene Sklaven
Familie Raven:
Peter, Vater
Mattie, Mutter
Pete, Sohn
Familie Ritter:
Anton, Vater
Helene, Mutter und ihre Kinder. Die Familie dreht am Laramie Peak um.
Sandra Paltrow und ihre drei Kinder
Das Ehepaar Schlenker: Annette und Josef
Silas Krasko, fünfzehnjähriger Siedler, dessen Eltern am Laramie Peak umdrehen.
Esra Stevens, Treckführer
Familie Thompson:
Die Brüder Alec (Alexander) und Mike
Laurie, Mikes Frau
Josie, Tochter von Laurie und Mike
Familie Turner:
Reginald, Vater
Rainy, Mutter
Ruth, Tochter
Weitere Personen auf dem Oregon-Trail:
Caspar Lewis, sucht die entlaufenen Sklaven Jasmine und Jake.
French Maison, Lewis’ Begleiter
1846
Christen, die nicht weinen und meinen, sie seien besonders glaubensstark, sollten sich nicht täuschen.Gott kann ihnen am Ziel nicht einmal die Tränen abwischen.
Johann Albrecht Bengel
Kapitel 1
Der warme Wind strich über die Wiese und setzte spielerisch die Blütenköpfe der Gänseblümchen, der Veilchen und des Klees in Bewegung. Die Rasenfläche wurde von einem Bach begrenzt, der sich wie ein silbern glänzendes Band durch die Landschaft schlängelte. Sein klares Wasser floss leise murmelnd durch das steinige Bachbett, vorbei an den violett blühenden Magnolienbäumen.
Entlang des Baches waren mehrere mit weißen Tischdecken überzogene Tische aufgestellt. Auf ihnen standen Unmengen von verschiedenen Kuchen, rot schimmernde Beerenbowle, blitzende Kristallgläser und dazwischen mit Orchideenblüten geschmückte Schalen für die Gäste von Natasha Steinmanns Geburtstagsfeier bereit.
An der flachen Uferböschung hatten es sich Joanna Steinmann und ihre Freundin Linda Fowler bequem gemacht. Joanna hatte sich ihrer Schuhe und Strümpfe entledigt und ließ die Füße im Wasser baumeln.
Langsam lauter werdende Stimmen verrieten, dass sich die Gäste, die zunächst im Salon des Hauses empfangen worden waren, den im Schatten der Bäume aufgestellten Köstlichkeiten näherten.
Joanna zog eilig ihre Füße aus dem angenehm kühlen Wasser und versuchte umständlich, die Strümpfe über die feuchten Füße zu ziehen, bevor einer der Gäste sie so sah.
„Beeil dich bitte, Jo. Simon Bryant ist schon fast hier.
Bitte, beeil dich!“, flüsterte Linda aufgeregt.
Joanna presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lachen. Die Siebzehnjährige wusste, wie sehr ihre gleichaltrige Freundin für den Erben der Bryant-Plantage schwärmte. Simon hatte vor Kurzem West Point abgeschlossen und hielt sich für einige Zeit in ihrem Distrikt auf, bevor auch er – wie so viele andere Männer – nach Mexiko in den Krieg ziehen würde.
„Ich bin es doch, die keine Schuhe anhat, also beruhige dich.“
„Aber er könnte annehmen, ich hätte es dir gleichgetan.“
„Das ist unmöglich. Simon weiß sehr wohl, was für eine gesittete und wohlerzogene Dame du im Gegensatz zu mir bist“, spottete Joanna und verschnürte den zweiten Schuh. Eilig zupfte sie die verschiedenen Schichten weißer Unterröcke und schließlich das blaue Organdykleid zurecht.
„Er ist da!“, zischte die aufgeregte Linda, und Joanna wandte sich mit einem fröhlichen Lächeln nach ihrem Nachbarn um. „Guten Abend, Simon Bryant. Haben sie dich aus den ehrwürdigen Mauern von West Point hinausgeworfen?“
„Jo, du weißt sehr genau, dass Mr Bryant einen hervorragenden Abschluss errungen hat!“, begehrte Linda auf. Sie warf der Freundin einen vorwurfsvollen Blick zu, ehe sie ebenfalls, mit tiefrotem Gesicht, zu dem schlanken, uniformierten jungen Mann aufsah.
„Danke für die Ehrenrettung, Miss Fowler. Aber Olivers Schwester hat selten einmal ein freundliches Wort für mich übrig. Seit sie und ihre große Familie auf der Green Crystal-Plantage leben, hatte ich Zeit, mich an ihre spitze Zunge zu gewöhnen.“
Joanna lächelte dem Freund ihres ältesten Bruders Oliver zu und wandte sich dann wieder in Richtung des Bachbettes um. Sie beobachtete scheinbar interessiert ein Libellenpärchen, das sich in wilden Schleifen über das von der Sonne silbern angestrahlte Wasser bewegte, während Simon Linda höflich begrüßte. „Darf ich den Damen ein Glas Bowle bringen?“, fragte er schließlich.
Während Linda mit einem schüchternen Nicken ihre Zustimmung gab, wandte Joanna sich wieder dem Mann zu. Er stand noch immer hinter ihr, weshalb sie weit zu ihm aufsehen musste. „Hast du das auf deiner Militärschule beigebracht bekommen? Ich erinnere mich gut an die Gartenparty vor zwei Jahren. Da wolltest du deiner Schwester Bowle bringen, und die hatte sie letztendlich auf ihrem neuen Musselinkleid.“
„Jo, bitte. Ich erinnere mich ebenfalls an diesen unglücklichen Unfall. Du scheinst vergessen zu haben, dass dein kleiner Schoßhund Mr Bryant vor die Füße gelaufen war.“
Joanna blinzelte Linda zu. „Tatsächlich? Dann hoffen wir einmal, dass Rowdy Simon heute nicht begegnet.“
„Über dein Schoßhündchen kann heute niemand mehr fallen. Das ist inzwischen eher ein Bär als ein Hund“, lachte Simon und wandte sich dem Getränkebüfett zu.
„Warum benimmst du dich so unmöglich, Jo?“
„Damit stelle ich nur deine Freundlichkeit, deine Anmut und deinen Liebreiz in den Vordergrund, liebe Linda.“
„Joanna!“, zischte ihre Freundin.
„Schließlich soll Simon doch merken, was für eine Perle neben seiner unmöglichen Nachbarin sitzt.“
„Joanna!“
„Ich weiß, wie ich heiße, Linda Fowler.“
„Du bist wirklich unmöglich.“
„Ich wollte nur helfen“, erwiderte Joanna ungerührt und lächelte dem zurückkehrenden Mann strahlend entgegen.
Simon reichte ihnen ihre Gläser und setzte sich neben sie ins Gras. „Hast du etwas von deinem Vater und deinem Bruder gehört?“, fragte er an Joanna gerichtet und streckte seine Beine in Richtung Bach.
„Seit ein paar Wochen schon nicht mehr. Zuletzt schrieb Vater“, erwiderte Joanna knapp und wandte ihr Gesicht der glitzernden Wasseroberfläche zu. Sie vermisste ihren Vater und den ältesten Bruder, seit die beiden in den Krieg gezogen waren. „Hat James Polk inzwischen nicht genug Männer in den Krieg geschickt? Vielleicht sind Texas und die anderen Territorien es gar nicht wert, so viele Menschen in diesen blutigen Schlachten sterben zu lassen.“
„Wie sprichst du über unseren Präsidenten?“, flüsterte Linda mit einem entsetzten Blick auf ihre Freundin. Sie hatte, was politische Themen anbetraf, wenig Ahnung und fürchtete wohl, aus der Unterhaltung ausgeschlossen zu werden.
Joanna lächelte ihr beruhigend zu. Kaum ein Mann mochte es, wenn eine Frau sich politisch äußerte, und sie schätzte, dass das bei Simon nicht anders war. Der West Point-Absolvent runzelte sofort die Stirn und schüttelte den Kopf, sodass seine blonden Haare frech in seine Stirn fielen. „Vielleicht überlässt du das Kriegsgeschäft lieber uns.“
„Ach, richtig, ich vergaß. Die Militärakademie. Ich war nicht dort und darf mir deshalb auch kein Urteil erlauben. Aber dass ich Angst um meine Familie habe, das gestattest du mir doch, oder nicht?“, gab Joanna zurück und blitzte den Mann mit ihren grünen Augen herausfordernd an.
„Ist schon gut“, beschwichtigte Simon und sprang auf, als die junge Frau sich erhob.
„Ich gehe mal nach Ellie sehen“, erklärte sie, zwinkerte der erschrockenen Linda ein weiteres Mal zu und schritt dann würdevoll davon, wobei sie in einer Hand ihr noch volles Glas hielt und mit der anderen die vielen Lagen Stoff ihres Kleides ein wenig anhob.
Eigentlich brauchte ihre zwölfjährige Schwester niemanden mehr, der auf sie achtgab, doch es war eine willkommene Entschuldigung, die beiden alleine zu lassen – und eine Gelegenheit, ihre aufwirbelnden Gefühle zu besänftigen. Sie hatte tatsächlich Angst um ihren Vater, der als Infanterist in der Armee diente, und um ihren ältesten Bruder Oliver, der inzwischen Leutnant war.
Joanna nickte grüßend den Nachbarn zu, die sich an diesem frühen Abend auf Green Crystal eingefunden hatten, um den Geburtstag ihrer Tante zu feiern, während auch ihr Mann, Joannas Onkel, in Mexiko als Dragoneroffizier kämpfte.
Das Mädchen ging langsam an den schwarzen Musikern vorbei, die gerade ihre Instrumente aufstellten, und betrat durch die Verandatür den angenehm kühlen Salon. Dort standen kleinere Gruppen von Gästen beieinander und unterhielten sich, doch auch hier blieb Joanna nicht stehen. Langsam verließ sie den Salon in Richtung Foyer. Sie wollte gerade auf die große, geschwungene Treppe zugehen, als ihr ihre Schwestern Beckie und Branca entgegenwirbelten. Die Zwillinge stellten sich vor ihre zwei Jahre ältere Schwester und redeten wild auf sie ein. Joanna winkte lachend mit beiden Händen ab.
Schließlich setzte sich Branca durch. „Hast du ihn gesehen, Joanna? Er ist da! Sieht er nicht hinreißend aus? Groß und männlich ... und diese Uniform!“
„Du meinst Simon Bryant?“
„Wen denn sonst? Branca spricht seit Wochen nur noch von Simon“, lachte Beckie gutmütig und verließ ihre beiden Schwestern, um in den Garten hinauszugehen.
„Ich habe vom Fenster aus gesehen, dass du dich mit ihm unterhalten hast. Was hat er gesagt?“, fragte Branca.
„Simon?“ Joanna runzelte die Stirn, als müsse sie erst überlegen, ob sie den Soldaten überhaupt gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen hatte.
„Bitte, Joanna! Denkst du, ihm wird mein Kleid gefallen?“ Branca drehte sich einmal um die eigene Achse und blitzte ihre Schwester aufgeregt an.
„Meine Güte, Branca. Woher soll ich das denn wissen?“
„Du willst doch nur, dass Simon sich noch länger mit deiner langweiligen Freundin Linda abgibt.“
„Ich halte dich nicht auf“, lachte Joanna gutmütig.
Ihre Schwester presste aufgebracht die Lippen aufeinander. Dann rauschte sie mit erhobenem Kopf an ihr vorbei, wobei ihr durch eine Krinoline weit ausfallendes Kleid mit wippenden Bewegungen über den frisch gebohnerten Holzboden strich.
Erneut wollte Joanna sich der Treppe zuwenden, die hinauf in ihr Zimmer führte, als die tiefe Türglocke erklang. Langsam wandte sich die junge Frau um und beobachtete, wie Mary, eine der Haussklavinnen, die große, schwere Tür aufzog. Sie sprach mit jemandem, den Joanna nicht sehen konnte, schloss die Tür schließlich wieder und drehte sich in das Foyer hinein. Tief in Gedanken versunken, rieb sie sich mit der Hand den Nacken. Irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein.
Joanna raffte ihren Rock und ging auf die ältere Frau zu.
Mary hob den Kopf, senkte jedoch schnell wieder den Blick und sagte, als Joanna bei ihr angekommen war: „Eine Mitteilung vom Kriegsministerium, Missi Joanna. Als die Carwells eine Mitteilung vom Ministerium bekamen, enthielt diese schlechte Nachrichten.“
Joanna nickte und blickte bekümmert auf das Papier, das offenbar ein Bote gebracht hatte. Sie konnte sich gut an den Tag erinnern, an dem bei den Carwells eine Mitteilung des Militärs abgegeben worden war. Sie hatte die schreckliche Nachricht enthalten, dass der älteste Sohn der Familie gefallen war.
Mary streckte ihr das Papier entgegen, und Joanna nahm es mit zitternden Fingern aus der Hand der Schwarzen. Sie betrachtete das unscheinbare Stück Papier in ihren gepflegten Händen und spürte eine bedrohliche Hitze in ihrem Körper aufsteigen. Angst machte sich in ihr breit. Nur mühsam konnte sie sich dazu überwinden, das Kuvert zu öffnen. Sie faltete die Nachricht auseinander und erstarrte, als sie zu lesen begann.
Linda lächelte ihren Gesprächspartner strahlend an. Sie fühlte sich wunderbar leicht und beschwingt. Obwohl Joanna sie vor über zehn Minuten verlassen hatte, saß Simon noch immer neben ihr an der Uferböschung und unterhielt sich mit ihr. Er war ein angenehmer, höflicher Gesellschafter, und sie spürte ihr heftig klopfendes Herz umso mehr, je häufiger er sie mit seinem Lächeln bedachte. Gerade erklärte er ihr, wohin sein Marschbefehl ihn in Mexiko führen würde, als eine fröhliche, glockenhelle Stimme seinen Namen rief.
Simon erhob sich sofort. Er verneigte sich höflich, um Joannas jüngere Schwester mit dem obligatorischen Handkuss zu begrüßen.
Linda vermutete, dass es sich um Branca handelte, denn Beckie war eher zurückhaltend, fast schüchtern und hätte sich vermutlich nicht einfach in ein Gespräch eingemischt. So richtig auseinanderhalten konnte Linda die Zwillinge noch immer nicht, obwohl die Familie nun bereits seit fast zehn Jahren auf Green Crystal lebte.
Joannas Mutter war damals gerade verstorben und Benjamin Steinmann hatte sich nicht um die Kinder und seine Arbeit als Jurist gleichzeitig kümmern können. So war er dem freundlichen Angebot seines Bruders Sebastian gefolgt und mit seiner Schar in das große, herrschaftliche Haus der Plantage gezogen. Sebastian Steinmanns Frau hatte nichts dagegen gehabt, da sie die Kinder mochte und ihr eigene verwehrt geblieben waren.
Linda musterte den West Point-Absolventen aufmerksam. Er wirkte ein wenig unsicher. Ob auch er sich von der bereits ausgesprochen hübschen Fünfzehnjährigen beeindrucken lassen würde – wie so viele andere junge Männer in der Gegend?
„Du bist groß geworden ... und richtig hübsch“, sagte Simon.
Enttäuscht wandte Linda sich ab und blickte in das gemütlich vor sich hin sprudelnde Wasser. Sie war keine dieser atemberaubenden Schönheiten, die der Süden in großer Zahl hervorzubringen schien. Sie empfand sich vielmehr als gewöhnlich. Ihre Hüften waren ein wenig zu breit und einer ihrer oberen Schneidezähne stand deutlich schief. Das hatte sie lange Zeit zu verstecken versucht, indem sie kaum oder nur mit vorgehaltener Hand gelächelt hatte – außer sie befand sich in Gegenwart ihrer Freundin Joanna, die über ihren Makel offenbar großzügig hinwegsehen konnte.
Plötzlich hörte sie ein Räuspern neben sich. Als sie sich umwandte, war Simons Gesicht sehr dicht vor ihrem. Er lächelte sie an und fragte flüsternd: „Würden Sie mir bitte helfen, Miss Fowler? Ist das nun Beckie oder Branca?“
Verwundert blickte die junge Frau zu ihm auf. Diese Nähe zu ihm ließ ihr Herz flattern. Linda atmete tief ein und erklärte dann leise: „Branca. Das müsste Branca sein.“
„Sicher?“
„Die Forsche ist Branca, die Ruhige Beckie.“
Simon bedankte sich leise und wandte sich wieder dem ungeduldig wartenden Mädchen in dem aufwendigen, geblümten Musselinkleid zu.
Linda folgte der oberflächlichen Unterhaltung eine Zeit lang, dann wandte sie sich wieder dem Bach zu. Sie hörte Branca kichern und entzückte Rufe ausstoßen, doch ansonsten bekam sie kaum noch etwas mit, da sie in grüblerische Gedanken versunken war. Dabei entfernte sie sich langsam ein paar Schritte von Simon und Branca.
Linda war mit ihren nahezu achtzehn Jahren noch immer nicht verheiratet. Das lag – wie auch bei den meisten ihrer Nachbarinnen – vor allem daran, dass sich viele der infrage kommenden Männer zurzeit in Mexiko befanden und die Auswahl an Heiratskandidaten somit gering war. Zudem fehlten die Väter, die entsprechende Arrangements treffen konnten. Doch sie war bereits seit zwei Jahren in Simon verliebt. Dieser hatte sich damals einige Wochen auf seiner elterlichen Plantage aufgehalten, ehe er erneut hinter den dicken Mauern der Militärakademie verschwunden war. Ihr Vater hatte ihre Zuneigung zu dem Bryant-Erben gerne gesehen, sie aber gebeten abzuwarten, wo der junge Mann seine Pflichtzeit beim Militär verbringen würde. Nun würde er also nach Mexiko gehen, und sie fragte sich, ob sie tatsächlich noch so lange warten wollte, zumal das Warten unwiderruflich mit Ängsten um den Zukünftigen verbunden sein würde. Zu viele Versehrten- und Todesmeldungen waren bereits in Bamberg und der Umgebung eingetroffen.
Dennoch – sie war sich sicher, dass Simon es wert war, auf ihn zu warten und die Ängste um ihn auszuhalten. Allerdings fragte sie sich, ob der junge Mann nicht eine ihrer Nachbarinnen wesentlich interessanter und reizender finden würde als sie.
Linda hörte, wie sich ihr von hinten leise Schritte näherten, und wandte sich um. Branca unterhielt sich nun mit Simons Mutter, während er erneut neben sie getreten war.
„Darf ich Ihr Glas wieder auffüllen, Miss Fowler?“, fragte der junge Mann.
„Gerne, herzlichen Dank“, murmelte sie und reichte ihm das Kristallglas.
Er nahm es ihr aus der Hand, und für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich ihre Finger.
Linda schreckte zusammen, und eine zarte Röte legte sich auf ihre Wangen.
Der Soldat musterte sie kurz, lächelte und wandte sich dann ab.
Hatte er die Berührung absichtlich herbeigeführt?
Aufgewühlt senkte die junge Frau den Kopf.
Joanna kniete in der Mitte der Eingangshalle und hatte ihr Gesicht in ihren Händen verborgen. Obwohl sie keinen Laut von sich gab, war es einer stillen Beobachterin wie Mary zweifelsohne klar, dass Joanna unsäglich litt. Der Brief mit der schrecklichen Nachricht lag unbeachtet neben ihr auf dem Parkett.
Joanna spürte jeden Herzschlag, der den Schmerz durch ihren ganzen Körper pumpte. Eiskalte Hände schienen nach ihrem Herz zu greifen und es zerreißen zu wollen. Die Heiterkeit und Ausgelassenheit, die sie noch wenige Momente zuvor empfunden hatte, waren von ihr gewichen. Sie spürte nur noch einen unsäglichen Schmerz.
Leise näherten sich ihr Schritte, und das Rascheln des Stoffes machte deutlich, dass es sich um eine Frau in einem der typischen langen, vornehmen Seidenkleider handeln musste.
„Joanna? Was tust du hier? Ist dir nicht gut?“ Die Stimme ihrer älteren Schwester Denise drang schwach durch ihre wild jagenden Gedankengänge zu ihr hindurch.
„Sie sind tot, alle tot!“, murmelte Joanna leise und krümmte sich wie unter heftigen Schmerzen zusammen. Es war schrecklich, die Wahrheit aussprechen zu müssen.
„Von wem sprichst du?“ Denise’ leise Worte klangen ängstlich.
Langsam richtete die junge Frau ihren Oberkörper auf, blieb jedoch auf den Knien. Dann deutete sie mit zitternder Hand auf den Brief.
Denise bückte sich, nahm das Papier in ihre Hände und las, was darauf stand. Mit einem erstickten Schrei ließ sie es wieder fallen, und nach einigen Drehungen durch die Luft landete es auf dem Stoff von Joannas Rock, der sich weit um ihre Beine ausgebreitet hatte. Doch die wischte das Blatt mit der Hand beiseite, als hoffe sie, damit auch die grausame Wirklichkeit fortwischen zu können. Ihre Schwester sank neben ihr zu Boden.
Joanna rutschte näher an sie heran. „Denise! Nicht ohnmächtig werden! Komm wieder zu dir!“, rief Joanna. Sofort kam Mary zu ihnen herübergelaufen. Die Sklavin kniete sich neben die beiden Frauen, holte ein Riechfläschchen aus ihrer Schürzentasche und hielt es unter Denise’ Nase. Nach wenigen Augenblicken zeigte der Inhalt seine Wirkung und Denise kam wieder zu sich. „Pa, Oliver, Onkel Sebastian ...“, murmelte sie und blickte ihre Schwester fragend an.
Joanna nickte nur. Sie wollte das Schreckliche nicht noch einmal aussprechen.
„Missi Joanna?“, flüsterte Mary, ohne sie anzusehen. Draußen setzten die Instrumente ein und begannen, eine fröhliche, ausgelassene Tanzmelodie zu spielen. Gelächter und Beifall begleitete die Musik und wurde durch die offene Tür des Salons bis in das Foyer hineingetragen, in dem doch nur Angst und Kummer herrschten.
„Sie sollen aufhören! Aufhören!“, schrie Denise plötzlich. Sie wollte aufspringen, doch sie trat auf die Krinoline und stürzte nach vorne, in die Arme ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester. Joanna fing sie auf und hielt sie fest. Hilfe suchend blickte sie auf die noch immer neben ihnen knieende Schwarze.
„Missi Joanna?“, wiederholte die Sklavin leise und wagte es, der weißen Frau direkt ins Gesicht zu sehen, was den Sklaven eigentlich strengstens untersagt war.
„Pa und Onkel Sebastian sind tot. Pa starb irgendwo auf dem Schlachtfeld, Onkel Sebastian im Feldlazarett.“
„Und Master Oliver?“, flüsterte Mary. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Joanna schluchzte leise auf. „Er gilt als vermisst.“
„Vermisst?“
„Klammere dich nicht an eine trügerische Hoffnung. Vermisst heißt nichts anderes als irgendwo beim Feind tot liegen geblieben oder so verstümmelt, dass er nicht mehr identifiziert werden konnte und in einem Massengrab in Mexiko beigesetzt wurde.“
„Missi Joanna ...“, hauchte Mary, ehe auch sie ihr Gesicht hinter ihren schlanken schwarzen Fingern verbarg.
Noch immer drang die ausgelassene Musik der Kapelle beinahe höhnisch in die Halle hinein.
„Wir müssen es Missus Steinmann sagen. Missi Joanna, Sie müssen es Missus Steinmann sagen!“
„Ich?“ Joanna riss ihre Augen weit auf und ließ Denise los, die zusammengekauert in ihrem Schoß liegen blieb.
„Jemand muss es der Missus und Ihren Schwestern sagen. Und auch Ihr Bruder, Master Stewart, muss informiert werden.“
Joanna nickte zögernd. Sie war älter als die Zwillinge und auch als Carole und Ellie. Denise hingegen war im Moment nicht in der Lage, den anderen die schlimme Nachricht zu überbringen. Sie würde es ihnen sagen und einen Boten zu Stewart schicken müssen. Auch ihrer Tante durfte sie die tragischen Nachrichten nicht länger verheimlichen – nicht einmal an ihrem Geburtstag.
Denise hob langsam ihren Kopf. „Was soll denn nun aus uns werden?“
„Was meinst du?“
„Sieh dich um, Joanna. Wir sind nur noch eine Handvoll Frauen. Irgendjemand muss die Plantage leiten und den Arbeitern Anweisungen geben. Sonst laufen sie alle fort oder tun nichts mehr.“
„Vielleicht kommt Stewart zurück ...“, versuchte Joanna ihre Schwester – und auch sich selbst – zu beruhigen. Betreten blickte sie sich in der großen, vornehm ausgestatteten Halle um. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Stewart zurückkam, um die Leitung von Green Crystal zu übernehmen. Er mochte die Institution der Sklaverei nicht und hatte deshalb gleich an seinem 21. Geburtstag der Plantage den Rücken gekehrt. Seitdem arbeitete er bei einem Schreiner in Bamberg und war mit seinem Leben dort zufrieden.
Aber Denise hatte recht. Weder sie noch Joanna selbst und schon gar nicht ihre jüngeren Schwestern würden die Plantage führen können. Auch ihre Tante Natasha konnte das nicht. Sie hielt zwar den großen Haushalt am Laufen, mit den Feldern hatte sie jedoch nie etwas zu tun gehabt, ganz zu schweigen von den sonstigen Verwaltungsaufgaben. Was also würde nun mit Green Crystal und vor allem auch mit Joanna und ihren Schwestern geschehen?
Kapitel 2
Die Zweige der Ligustersträucher, die den hinteren Teil des Friedhofes einsäumten, bogen sich heftig in dem immer weiter auffrischenden Wind. Hoch am Himmel zog ein Bussard seine Bahnen und nutzte die starken Winde aus, um sich minutenlang im Gleitflug dahintreiben zu lassen. Zwischen den teilweise sehr alten und verwitterten grauen Grabsteinen hatten sich die Steinmann-Frauen, einige Nachbarn und die Haussklaven versammelt, um den Toten, die endlich von Mexiko überführt worden waren, die letzte Ehre zu erweisen.
Der Pastor sprach von der Hoffnung der Auferstehung. Joanna wollte sich gerne mit diesen Worten über ihren schmerzlichen Verlust trösten lassen, doch seit der Nachricht vom Tod ihres Vaters und ihres Onkels hatte sie eine kalte Mauer aus Trauer und Angst um ihr Herz aufgebaut. Der Sturm ungeklärter Fragen wütete heftiger in ihrem Inneren als der Wind, der an ihrem schwarzen Bombasinkleid und ihren aufgesteckten braunen Locken zerrte. Der Sarg ihres Vaters wurde in die Erde hinabgelassen, und sie versuchte gar nicht erst, gegen ihre Tränen anzukämpfen. Anschließend wurde die Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika vom Sarg ihres Onkels genommen, und auch er verschwand in der Tiefe.
Während Natasha erst an das eine und dann an das andere Grab trat und auch ihre Schwestern und Stewart ein wenig nach vorne rückten, beobachtete Joanna, wie die Schwarzen sich wortlos abwandten und langsam in Richtung Haus oder Nebengebäude gingen. Sebastian war sicherlich kein strenger oder gar grausamer Herr gewesen, dennoch hatte er sie in Unfreiheit gehalten, und die junge Frau wusste nicht zu sagen, ob sie tatsächlich traurig über den Tod des Mannes waren.
Ellie warf einen Strauß aus Wiesenblumen auf das Grab ihres Vaters und wandte sich heftig schluchzend um. Denise nahm sie in den Arm und gemeinsam gingen sie auf das Tor des Familienfriedhofes zu. Carole und Beckie standen noch eine Weile am offenen Grab und wandten sich dann schweigend ab. Branca nahm eine Handvoll Erde und warf sie mit einer schnellen Bewegung auf den Sarg. Mit einem unangenehm lauten Poltern fiel die Erde auf das Holz. Das Mädchen zuckte zusammen und drehte sich um, um ebenfalls zum Haus zurückzugehen.
Stewart blieb reglos stehen, und schließlich trat Joanna neben ihn. Dann nahm auch er eine Handvoll der dunklen Erde auf, presste sie mit seiner großen, schwieligen Hand zusammen und ließ sie hinunter auf den Sarg fallen. Joanna schloss gequält die Augen. Schließlich hob sie die Hand, betrachtete die zartgelbe Rose darin und warf sie ebenfalls auf das helle Holz, das den leblosen Körper ihres Vaters umgab.
„Ich muss mit dir sprechen, Jo“, flüsterte Stewart leise und blickte zu ihr hinüber.
Joanna nickte und wandte sich um. Sie ging ein paar Schritte und ließ dabei den Blick über den Garten schweifen. Der Wind drückte die Blumen nieder und brachte die Zweige der Eichen in Bewegung, sodass deren Schatten unstete Muster auf das Grün warfen.
Stewart folgte seiner Schwester mit großen Schritten. Er verschränkte die Arme vor seiner muskulösen Brust und blickte zum Herrenhaus und den dorthin schlendernden Menschen hinüber. „Wie geht es dir und den Mädchen?“, fragte er leise. Seine tiefe Stimme klang besorgt.
„Ellie ist sehr tapfer. Manchmal höre ich sie nachts weinen, aber wenn ich zu ihr hinübergehe, schickt sie mich immer wieder zu Bett. Carole will mit niemandem über Pas Tod reden. Beckie ist unendlich traurig. Sie liest viel in ihrer Bibel und scheint darin Trost zu finden. Branca ... nun, du weißt, wie sie ist. Sie scheint nie etwas zu nah an sich herankommen zu lassen. Ich denke, sie wird klarkommen. Aber Denise ...“ Joanna runzelte leicht ihre Stirn.
„Was ist mit Denise?“
„Sie hat Angst, Stewart. Arnaud Brook und sie wollten nach Vaters Heimkehr heiraten, doch Arnaud hat sich seit Wochen nicht mehr sehen lassen. Ich glaube, er war, seit die Todesnachricht auf Green Crystal ankam, nicht ein einziges Mal hier. Denise’ Gedanken waren seit Langem auf eine Ehe mit Arnaud ausgerichtet und sie hat ihre Aussteuer komplett. Sie ist fürchterlich durcheinander.“
„Brook ist aber nicht in Mexiko, oder doch?“
„In Mexiko? Ich dachte, er sei hier im Distrikt.“
„Vielleicht möchte er Denise nur Zeit lassen, mit ihrer Trauer klarzukommen.“
„Vielleicht sollte er einmal daran denken, dass sie gerade in ihrer Trauer seinen Trost und seine Unterstützung ganz besonders gebrauchen könnte“, schoss Joanna scharf zurück.
Stewart zog die Augenbrauen in die Höhe. „Und was ist mit dir?“
„Mit mir?“
„Wie kommst du zurecht? Wie geht es dir?“
„Möchtest du das wirklich wissen?“
Stewart nickte.
Joanna ging bis zum Bachufer hinüber und trat mit dem Schuh gegen einen kleinen, flachen Kieselstein, der mit einem leisen Aufklatschen in das vom Wind unruhig aufgepeitschte Wasser fiel. „Es tut so weh, Stewart. Ich habe tausend Fragen, die vielleicht niemals beantwortet werden. Ich möchte sie zurückhaben – Pa, Oliver, Onkel Sebastian –, und ich schimpfe mich eine Närrin aufgrund dieses Wunsches. Ich möchte die Mädchen trösten und brauche doch selbst Trost. Ich möchte trauern und beginne allmählich, meine Tränen zu hassen. Ich wünschte, ich könnte wie Beckie in meinen Glauben flüchten, aber ich habe mich seit Monaten nicht mehr an Gott gewandt, und ich weiß nicht, ob ich einen Gott lieben kann, der scheinbar alle Personen, die ich liebe, aus meinem Leben reißt. Ich ...“ Joanna wandte sich zu ihrem Bruder um, und er zog sie in seine Arme. Ihr Hut rutschte nach hinten und fiel schließlich herunter, um von den unruhigen Wellen des Baches davongetragen zu werden. Ein paar lose Haarsträhnen wehten nach vorne und umspielten ihr Gesicht und das ihres Bruders, das er heftig und mit schmerzlich geschlossenen Augen gegen ihre Wange drückte. Joanna vergrub ihr Gesicht an seinem Hals und fing an zu weinen.
Schließlich ließ Stewart sie wieder los, nahm ihr Gesicht zwischen seine beiden rauen Hände und blickte sie intensiv an. „Hast du jemanden, mit dem du sprechen kannst?“
„Linda. Sie kommt, sooft es ihr möglich ist, hierher. Manchmal versucht sie, mich aufzumuntern und zu trösten, indem sie mir erzählt, was sie gerade in der Bibel gelesen hat.“
„Das ist schön“, sagte Stewart und ließ sich ins Gras fallen. Joanna setzte sich neben ihren Bruder.
„Was ist mit dir, Stewart?“
„Ich bin erwachsen. Der Verlust tut natürlich weh, doch ich habe inzwischen mein eigenes Leben. Außerdem habe ich Pläne.“
„Pläne?“
„Ich werde fortziehen.“
„Wohin?“, fragte Joanna ängstlich. „Weit fort?“
„In den Westen. In ein Territorium, das sie Oregon nennen.“
Joanna warf ihrem Bruder einen entsetzten, ungläubigen Blick zu. „Oregon? An die Pazifikküste? Stewart, was hast du vor? Was willst du dort?“
„Ich werde mir Land suchen und eine eigene Existenz aufbauen“, antwortete er mit in die Ferne schweifendem Blick.
„Das kannst du auch in South Carolina.“
„Ich will weg von hier. Hier gibt es zu viele Sklaven. Ich mag weder die Institution noch die Tatsache, dass die Sklaven den einfachen weißen Männern die Arbeit wegnehmen.“
„Aber uns, deine Schwestern, magst du noch, oder nicht? Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, dass wir auf deine tatkräftige Hilfe angewiesen sein könnten?“
„Ihr seid hier versorgt. Die Plantage ist eine Goldgrube und dank Mr Warrens Empfehlung hat Tante Natasha ja auch einen Verwalter gefunden.“
„Ja. Schön herausgeredet, Mr Stewart Steinmann. Du wirst dich in irgendein Abenteuer stürzen, während wir Mädchen hier weiterhin auf den guten Willen anderer angewiesen sind.“
„Natasha liebt euch, als wärt ihr ihre eigenen Töchter. Mein Entschluss steht fest.“
„Und wann gedenkst du abzureisen?“
„Sobald ich weiß, dass es euch wieder besser geht.“
„Deshalb wolltest du also mit mir sprechen? Ich darf deine Spionin sein, um dir rechtzeitig mitzuteilen, wenn alle deine Schwestern den Schmerz so weit überwunden haben, dass du ohne ein schlechtes Gewissen das Weite suchen kannst?“
„Es ist mein Leben“, begehrte Stewart auf.
„Über das du selbst bestimmen darfst, Stewart, ich weiß“, entgegnete Joanna plötzlich sehr leise. „Aber ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass wir Frauen diese Freiheit nicht haben?“
„Das ist Blödsinn. Ihr habt die Sicherheit einer gut gehenden Plantage, die euch versorgen wird. Denise wird in einen guten Haushalt einheiraten, und der Verwalter wird sich um alles kümmern.“
„Um Beckies Schüchternheit und um Brancas Männergeschichten? Um Carole, die nicht weiß, wo ihr der Kopf steht, und um Ellie auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden?“
„Denkst du, ich habe Lust, mich mit euren Frauengeschichten auseinanderzusetzen?“, gab Stewart zurück.
„Deshalb willst du mehrere Tausend Meilen zwischen dich und uns bringen?“
„Sei nicht unverschämt, Kleine.“
„Ich bin nicht unverschämt. Ich habe dir eine Frage gestellt und erwarte eine ehrliche Antwort von dir.“
„Ich dachte, du würdest dich hier um alles kümmern. Du bist die stärkste von euch Mädchen. Pa und Onkel Sebastian haben das auch immer gesagt.“
„Ich bin eigensinnig und für das ideale Frauenbild hier zu frech. Das ist etwas ganz anderes als Stärke.“
„Fein, dass du es endlich zugibst“, lachte Stewart plötzlich und blickte liebevoll zu ihr hinunter. „Ich möchte mich nicht mit dir streiten, Jo. In einem Jahr bist du wahrscheinlich längst mit einem reichen Plantagensohn verheiratet. Du wirst mir keine Träne nachweinen, glaube mir.“
„Dann umso mehr, Stewart. Ich weiß nicht, ob ein Leben, wie Tante Natasha es führt, für mich das Richtige ist.“
„Dein Freigeist, wie?“ Stewart stöhnte auf. Joanna zog die Schultern in die Höhe.
„Was ist mit diesem Simon Bryant, Olivers Freund? Er ist ein netter, weltoffener junger Mann.“
„Er steckt ebenfalls irgendwo in Mexiko. Außerdem hat er sich vor seiner Abreise mit Linda verlobt.“
„Wie auch immer. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich warte, bis die Zeit günstig ist, und dann werde ich South Carolina verlassen.“ Nach diesen deutlichen Worten stand Stewart auf.
Joanna blickte auf das Wasser und spürte den kühlen, kräftigen Wind in ihrem Gesicht. Der Schmerz über den Verlust ihrer Angehörigen rumorte in ihrem Inneren und nun mischte sich dem noch ein neuer Schmerz bei. Auch der Abschied von Stewart würde wie ein kleiner Tod für sie sein. Langsam erhob sie sich und wandte sich ihrem Bruder zu, der auf die sich heftig im Sturm biegenden Eichenbäume und die wild flatternden grauen Moosschleier blickte. „Ich liebe dich, Stewart, und ich werde dich furchtbar vermissen“, rief sie gegen den Wind an. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir uns alle so weit von dem Schrecken und der Todesnachricht erholt haben, dass du gehen kannst.“
„Du bist ein wunderbares Mädchen, kleine Jo. Hier wird für dich und die Mädchen gesorgt werden, und eines Tages wirst du einen großartigen, liebenswürdigen Mann heiraten, der sich hoffentlich ebenso gerne mit dir streitet wie ich.“
Joanna nickte nur und wandte sich in Richtung des von der Abendsonne golden beschienenen Hauses.
Kapitel 3
Eine schwüle Hitze hing in der Luft, und nicht der leiseste Windhauch brachte Abkühlung. Die Vorhänge an den Fenstern und der Moskitovorhang um Joannas Bett hingen bewegungslos bis zum Boden hinunter, obwohl alle Fenster und selbst die Tür zum Flur geöffnet waren. Ein halbes Jahr war seit der Beerdigung vergangen, und wieder einmal dachte Joanna über das Gespräch nach, das sie damals mit Stewart geführt hatte. Er hatte sie beruhigen wollen, indem er ihr sagte, dass Green Crystal ja jetzt einen Verwalter hätte, der sich um alles kümmern würde. Doch in der Zwischenzeit hatte sie den Mann als sehr gewalttätig und dem Alkohol zugetan kennengelernt.
Erst heute hatte sie mitansehen müssen, wie Dan Cutler, der von ihrem Nachbarn Neil Warren empfohlene Verwalter, zwei Sklaven mit der Peitsche misshandelt hatte. Sie kannte die Feldsklaven nicht. Sie wusste nur, dass sie jeden Tag schwer arbeiten mussten, um auch ihr den luxuriösen, angenehmen und bequemen Lebenswandel ermöglichen zu können, der in diesem Haus herrschte. Auch mit den meisten der Haussklaven hatte sie wenig zu tun. Sie waren einfach da und gehörten doch irgendwie nicht richtig ins Haus. Nur zu Mary, der Vorsteherin der Haussklaven, hatte sie einen engeren Kontakt, und sie mochte sie sehr. Dennoch spürte sie die zunehmende Unruhe im Haus und ahnte, wie es in den kleinen, einfachen Steinhütten der Sklaven aussehen mochte. Ihr Los war schwer, und die harte Hand des Verwalters machte es noch unerträglicher.
Joanna setzte sich auf und brachte damit das Moskitonetz, das über ihrem Bett angebracht war, zum Schaukeln. Sie kämpfte sich durch den Vorhang und trat ans Fenster. Sie misstraute Cutler, und das nicht nur wegen seiner Trinkerei und seiner Unfreundlichkeit den Sklaven gegenüber. Hin und wieder verschwand er für einen ganzen Tag in der nächsten Stadt, und das, ohne jemanden darüber zu unterrichten, was er dort tat. Zudem ließen sein Lebenswandel und seine Kleidung darauf schließen, dass er über viel Geld verfügte.
Sie hatte ihrer Tante schon mehrfach von ihren Vorbehalten Cutler gegenüber erzählt, doch Natasha hatte nie darauf reagiert. Die Witwe trauerte noch immer um ihren Mann und war erleichtert, dass jemand die Führung der Plantage übernommen hatte.
Joanna schaute gedankenverloren aus dem Fenster, vor dem dunkle Schatten tanzten. Ob sich Natashas Gleichgültigkeit dem Mann gegenüber nicht eines Tages bitter rächen würde? Was, wenn die Sklaven gegen ihren Unterdrücker zu rebellieren gedachten? Was, wenn Cutler sich eines Tages auch den Herrschaften gegenüber nicht mehr im Griff hatte?
Joanna wandte sich wieder um. Sie machte sich auch Sorgen um Denise. Arnaud hatte sich nicht mehr gemeldet, und irgendwann hatten sie erfahren, dass er ebenfalls nach Mexiko gegangen war. Nun machte Neil Warren Denise auf überaus charmante Art den Hof. Würde Denise sich entscheiden, den wesentlich älteren Mann zu heiraten, nur um der Unsicherheit und ihrer Angst, alleine zu bleiben, zu entkommen? Natasha riet ihr nicht unbedingt zu, redete ihr diesen Schritt aber auch nicht aus. Joanna jedoch misstraute Neil ebenso wie diesem Cutler. Immerhin war er es gewesen, der Natasha den Aufseher empfohlen und ihn praktisch für sie eingestellt hatte, da die trauernde Frau damals nicht in der Lage gewesen war, selbst Entscheidungen zu treffen.
Vielleicht sollte sie ihn einmal besuchen, um mit ihm über die missliche Lage auf Green Crystal zu sprechen. Wenn, dann musste sie das tun, bevor sie sich endlich dazu durchrang, Stewart einen Brief zu schreiben, um ihm mitzuteilen, dass er seine Reise antreten konnte.
Ein seltsames Rauschen und Knacken drang von draußen zu ihr herein. Joanna schloss nachdenklich die Augen und lauschte. Es war doch absolut windstill, demnach konnten es nicht die großen alten Eichen mit ihren Moosbehängen sein, die dieses immer lauter werdende Geräusch verursachten. Ein wenig unleidlich wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
Plötzlich riss Joanna die Augen weit auf. Sie erinnerte sich an die seltsam zuckenden Schatten auf der Wiese. Hastig fuhr sie herum, riss den schweren Vorhang beiseite und blickte hinaus.
Da waren sie wieder: die tanzenden Schatten auf der Wiese. Das Knistern, Prasseln und Rauschen war plötzlich beängstigend laut. Joanna lehnte sich so weit aus dem Fenster hinaus, wie es ihr möglich war, und schaute nach oben. Erschrocken öffnete sie ihren Mund zu einem lautlosen Schrei. Der Dachstuhl brannte über die gesamte Länge des großen Hauses.
Unfähig, sich zu bewegen, starrte sie in die Flammen. Rot, gelb, orange und blau tanzten sie zwischen Holzbalken und Ziegeln hervor. Gierig züngelnd, leckten sie an den Verstrebungen. Dunkle Rauchwolken drehten sich in den nachtschwarzen Himmel hinein.
Joanna schaffte es schließlich, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Sie lief barfüßig durch ihr Zimmer in den Flur hinaus und begann dort, die Namen ihrer Schwestern und den ihrer Tante zu rufen.
Ellie stürmte aus dem Nachbarzimmer. Vermutlich hatte die feuchte Hitze auch sie am Schlafen gehindert.
„Das Haus brennt! Wecke die Haussklaven, und dann lauft, so schnell es geht, hinaus. Lauf!“
„Das Haus brennt?“
„Stell keine Fragen, Ellie. Lauf!“
„Ist gut.“ Die Zwölfjährige lief in ihrem weißen Nachthemd den Flur entlang und verschwand auf der Treppe.
Joanna öffnete Brancas Zimmertür. Sie lief zum Bett, riss den Vorhang beiseite und rüttelte an den Schultern ihrer Schwester.
Branca fuhr mit einem Schrei aus dem Schlaf hoch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Joanna an. „Bist du verrückt, mich so zu erschrecken?“
„Raus mit dir. Das Haus brennt.“
„Ist das einer deiner dummen Scherze?“
„Ich scherze nicht. Wenn du nicht verbrennen willst, dann lauf raus. Und nimm Beckie mit!“
Branca sprang mit einem Satz aus dem Bett und griff nach ihren Kleidern.
„Lass das! Raus mit dir!“, rief Joanna und hastete in das Zimmer von Denise.
Ihre älteste Schwester schlief noch, war aber leicht zu wecken. Als sie begriff, was Joanna ihr klarzumachen versuchte, begann sie heftig zu zittern. „Oh, Joanna! Was sollen wir nur tun?“
„Carole wecken und gemeinsam mit ihr das Haus verlassen. Lauft raus!“, fauchte Joanna sie an und schob sie bis in den Flur. Dort begann Denise zu laufen, und Joanna wandte sich dem nächsten Zimmer zu. Ihre Tante zu wecken erwies sich als schwierig. Wahrscheinlich hatte sie ein Beruhigungsmittel eingenommen, denn auf dem Nachttisch neben dem Bett stand eine dunkle Medizinflasche. Mehrmals rüttelte Joanna die Frau, bis sie halbwegs wach war und beinahe gemächlich in Richtung Flur tapste. Entnervt schob Joanna sie an. Im Flur konnte sie bereits die ersten Rauchschwaden entdecken, die durch die Decke und über die Treppe in das oberste Stockwerk hereindrangen.
Ohne recht zu wissen weshalb, öffnete sie auch die Tür zum Zimmer ihres Vaters. Dort waren alle Möbel sorgfältig mit weißen Tüchern abgedeckt. Der Raum wirkte kalt und verlassen, obwohl sich auch hier die Hitze staute. Prüfend blickte Joanna sich um. Gab es irgendetwas, was sich zu retten lohnte? Einen Moment lang betrachtete sie das Gemälde ihrer Mutter, das über der kleinen Kommode an der Wand hing. Joanna war sechs Jahre alt gewesen, als Kassandra Steinmann gestorben war. Sie konnte sich nur an ihre Gesichtszüge erinnern, weil es dieses Bild gab. Ob sie es herunternehmen und retten sollte? Eilig trat sie auf das Ölgemälde zu. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die kleine Kommode. Unter dem Tuch, das darübergebreitet war, zeichnete sich ein rechteckiger Gegenstand ab. Joanna wusste sofort, um was es sich handelte. Es war die Bibel, in der ihre Mutter Tag für Tag gelesen hatte. Ihr Vater hatte sie immer unter dem Gemälde liegen gehabt, weil das Buch untrennbar zu ihrer Mutter zu gehören schien.
Ohne zu zögern, riss Joanna das weiße Tuch herunter, griff nach der Bibel und verließ dann mit eiligen Schritten das Zimmer. Der Rauch drang nun immer dichter in den Flur hinein, und es wurde auch für sie Zeit, das Haus zu verlassen. Sie stürmte an den offenen Zimmertüren entlang. Plötzlich bemerkte sie in einem der Räume eine Bewegung. Es war Brancas Zimmer. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um. „Branca! Komm sofort da raus! Was machst du noch hier?“ Ihr Blick fiel auf den breiten Rücken eines Mannes.
Cutler!
Als er sich langsam nach ihr umdrehte, entdeckte Joanna, dass seine Jackentaschen voller Schmuck waren, und auch in seinen Händen hielt er, fest an seinen Oberkörper gepresst, einige wertvolle Ketten.
Mit offenem Mund starrte sie den Verwalter an. Dann wandte sie sich um und begann zu rennen. Sie stürmte den Flur entlang und wirbelte die Treppe hinunter, wobei sie stolperte. Doch bereits nach wenigen Stufen hatte sie sich wieder gefangen. Sie lief durch die Halle, und ohne sich ein weiteres Mal umzusehen, stürzte sie auf den Vorplatz ins Freie hinaus.
Unter einer Baumgruppe drängten sich die anderen Frauen ängstlich aneinander und blickten mit großen, entsetzten Augen auf das lodernde Inferno, das sich immer schneller vom Dachboden auf die anderen Stockwerke auszubreiten schien.
Joanna, erleichtert, den Flammen und dem Verwalter entkommen zu sein, warf sich in die Arme von Mary, die ihr beruhigend über die Locken strich. Über die Schulter der Schwarzen hinweg blickte sie auf die anderen Frauen. Plötzlich schrak sie auf. „Wo ist Beckie?“
„Beckie?“ Mary drehte sich um, betrachtete die kleine Gruppe eng beieinanderstehender Frauen und schüttelte dann den Kopf. „Sie muss noch drinnen sein.“
Joanna riss Branca grob herum und herrschte sie an: „Wo ist Beckie?“
„Beckie? Oh nein, ich habe sie vergessen!“
„Du hast …?“ Joanna blickte auf das Kleiderbündel und die Schmuckschatulle in Brancas Armen und schlug ihr beides aus den Händen. Dann wandte sie sich um und hastete wieder auf die offen stehende große Eingangstür zu.
„Joanna! Du darfst nicht mehr da rein!“, rief Denise ihr mit sich überschlagender Stimme zu.
„Missi Joanna!“, hörte Joanna auch Mary nach ihr rufen, doch sie ließ sich nicht beirren. Sie musste Beckie holen, bevor sie ein Opfer der schnell um sich greifenden Flammen werden würde.
Als sie die Treppe in den ersten Stock hinauflief, fiel ihr Cutler ein. Ob er noch irgendwo im Haus war? Sie hatte ihn nicht herauskommen sehen. Unsicher blickte Joanna auf den ihr entgegenquellenden Rauch. Aber irgendwo hier drin war auch Beckie …
Entsetzt schaute Linda auf das hoch in den Himmel hinaufzüngelnde Flammenmeer und die dichten schwarzen Rauchberge, die sich vom Haus aus in die Höhe wälzten. Der Wagen stoppte, und ihr Vater und zwei seiner höhergestellten Sklaven sprangen augenblicklich ab, um bei den Löscharbeiten zu helfen. Linda hatte von ihrem Zimmer aus das Feuer auf Green Crystal gesehen und sofort ihren Vater alarmiert. Nun stieg sie langsam aus und nahm die Kutschzügel, um die nervösen Pferde an einem dafür vorgesehenen Querbalken anzubinden. Prüfend sah sie zu den Steinmann-Frauen hinüber, die sie unter einer Baumgruppe entdeckt hatte.
Natasha kauerte zusammengesunken auf dem Boden und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, um nicht mitansehen zu müssen, wie ihr herrliches großes Plantagenhaus von den Flammen zerstört wurde.
Denise hielt die zwölfjährige Ellie fest in den Armen, so als suche die Ältere bei der Jüngeren Halt.
Carole stand nahe bei Mary, und die beiden blickten mit großen Augen zu den Flammen hinüber, die ihre Gesichter beleuchteten – das eine tiefschwarz, das andere kreidebleich.
Branca kauerte auf dem Boden, als versuche sie, irgendetwas Wertvolles zu verstecken oder zu beschützen.
Doch wo waren Beckie und Joanna?
Linda sah sich um. Die Haussklavinnen hatten eine lange Kette hinunter zum Bach gebildet, um den Männern vor dem Haus mit allen Gefäßen, die aufzutreiben gewesen waren, Wasser heraufzureichen. Vielleicht befanden sich Joanna und Beckie dort. Doch auch zwischen den im roten Licht des Feuers schemenhaft erkennbaren Gestalten konnte sie weder die eine noch die andere ausmachen.
Sie hob ihren Rock an und eilte auf die Gruppe weißer Frauen zu. Denise schien durch sie hindurchzusehen, und auch Branca beachtete sie nicht. Also wandte die junge Frau sich an Mary. „Wo sind Beckie und Jo?“
„Drinnen“, hauchte die Schwarze.
„Sie sind noch in dem brennenden Haus?!“, stieß Linda aus. Panische Angst drohte ihr den Atem zu rauben. Vom Dach waren nur noch ein paar schwarze, drohend in den dunklen Himmel ragende, rauchende Balken übrig, die wie das Skelett eines verendeten Tieres aussahen, und aus den Fenstern des ersten Stocks schlugen meterweit die Flammen heraus. „Was machen die beiden noch im Haus, Mary? Warum sind sie nicht bei euch?“, rief Linda ungeduldig.
„Missi Beckie kam nicht heraus, da ist Missi Joanna wieder reingelaufen.“
„Oh nein! Wir müssen etwas tun. Bitte, Mary!“, flehte Linda. Ein paar Dachbalken stürzten unter gewaltigem Donnern in sich zusammen. Feuersäulen jagten weit in die Höhe, und ein Funkenregen ergoss sich über die Männer, die dem Haus am nächsten waren. Wie verirrte Glühwürmchen fegten die hellen Feuerpunkte durch die Luft und verschwanden dann in der Dunkelheit. Ebenso schwand Lindas Hoffnung dahin, Joanna und Beckie noch helfen zu können. Die junge Frau sank in die Knie. Ihre Augen waren auf das Inferno gerichtet, und verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Sie presste ihre Hände gegen ihre Brust, und Tränen der Verzweiflung rannen ihr über die Wangen. Linda flehte ihren Gott an, ein Wunder zu tun und die beiden Mädchen zu retten.
Irgendwo gab es eine Explosion, und für einen Moment wurde der Himmel taghell erleuchtet. Erschrocken stoben die Helfer auseinander, um sich möglichst weit vom Haus zu entfernen. Kurz darauf stürzte ein gewaltiger Teil der Außenwand auf die Wiese und begrub die Rosenhecken und einige Magnolienbäume unter sich.
Linda schrie auf und drückte ihre Stirn in die warme, trockene Erde. „Nicht Jo, Herr! Doch nicht Jo.“ Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen.
Das Prasseln und Knacken des widerstrebenden, aber dem Tode geweihten Hauses nahm an Lautstärke zu, und an den nahen Eichen gerieten die dem Haus zugewandten Blätter durch die ungeheure Hitze in Brand. Linda hob erneut den Kopf und schloss gequält die Augen. Gab es wirklich keine Hoffnung mehr für die beiden?
„Joanna! Das Feuer ist schon im vorderen Bereich und auf der Treppe!“, rief Beckie und hustete.
Joanna blickte auf die undurchdringliche Feuerwand, die ihnen den Weg in die Halle hinunter verwehrte. Sie hustete ebenfalls und warf sich verzweifelt herum. Vermutlich würden sie eher ersticken als verbrennen. Joanna hob ihr weißes Nachthemd an und legte sich den Stoff über Nase und Mund. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie den dunklen Flur entlang, der von unzähligen tanzenden Flammenzungen erfüllt war. „Wir müssen zurück!“, rief sie ihrer Schwester zu. Dabei wusste sie im Grunde selbst nicht, was sie jetzt machen sollten. Die Fenster waren so hoch, dass sie kaum hoffen konnten, einen Sprung aus ihnen zu überleben. Wohin also sollten sie flüchten?
„Joanna, denk an das Kreuz. Denk immer an das Kreuz, ja?“
Joanna blickte ihre jüngere Schwester verwirrt an. Sie dachte an Rettung, an Sauerstoff, an Abkühlung und einen Weg aus dieser Falle. Was wollte Beckie denn mit einem Kreuz? „Komm mit!“, fuhr sie die jüngere Schwester an und griff mit ihrer freien Hand nach der von Beckie, um sie hinter sich herzuziehen. Doch wohin? Sie lief an den offen stehenden Türen vorbei.
Ob Cutler sich auch noch im Haus befand? Doch selbst wenn – was sollte er ihnen schon tun? Das Feuer und vor allem der Rauch waren im Moment ihre größten Feinde!
Im hinteren Bereich des Flures brach mit lautem Getöse die Decke ein, und ein heißer Funkenregen ergoss sich über die beiden Mädchen, die sich Schutz suchend und verzweifelt aneinanderklammerten. Joanna zitterte am ganzen Körper. Das Atmen begann in ihren Lungen zu schmerzen und sie erkannte die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen. Verzweifelt blickte sie auf ihre jüngere Schwester, in deren Augen dasselbe Wissen, aber auch ein seltsamer Glanz lag. „Tut mir leid, Beckie. Wir kommen hier nicht mehr heraus.“
„Ich weiß“, hustete die Jüngere und schlang die Arme um Joannas Körper. „Deshalb habe ich dir gesagt, du sollst an das Kreuz denken. Jesus ist für uns gestorben. Wir werden bald bei ihm sein!“
Joanna nickte verwirrt. Früher hatte sie Beckies Glauben geteilt. Aber jetzt – nach allem, was passiert war?
Wieder fielen einige der glühend heißen Holzbohlen von der Decke herunter. Unwillkürlich wichen die beiden in Richtung Treppe zurück, doch auch dort schlug ihnen eine helle, heiße Flammenwand entgegen.
Joannas Blick schweifte unruhig durch die geöffnete Tür des Zimmers ihrer Tante. Und dort sah sie es: das Kreuz!
Es war nur eines der Fensterkreuze, die die kleinen Glasfenster in den Fassungen hielten, doch das war Joanna gleichgültig. Beckie hatte sie an das Kreuz erinnert, an die Hoffnung, die sie in sich trug, und dieses Kreuz hatte sie auf den rettenden Gedanken gebracht. „Beckie!“, rief sie laut und zerrte die Schwester in das Zimmer hinein. Mit einem Fußtritt schloss sie die Tür hinter ihnen und sperrte das brausende Knistern und Bollern der Flammen wenigstens für einen Moment aus. Unbarmherzig zog sie ihre Schwester weiter bis zum Fenster.
„Joanna, was hast du vor?“ In Beckies Stimme schwang ein wenig Hoffnung mit, dem grausigen, frühen Tod doch noch entkommen zu können.
„Onkel Sebastians Kontor grenzt unterhalb von Tante Natashas Fenster bis fast ans Haus. Wir können auf das Dach hinunterspringen und von dort auf den Boden!“
„Springen? Joanna, das sind trotzdem noch etwa zwei Meter!“
„Das schaffen wir. Komm!“, zischte Joanna ungehalten und öffnete das Fenster. Dunkler Rauch schlug ihnen entgegen und ließ die beiden Mädchen heftig husten. Ein Funkenregen zischte von oben herunter und ein bedrohliches Knacken erfüllte den Raum. „Raus hier, Beckie!“, drängte Joanna. „Spring einfach hinüber!“ Sie schob ihre Schwester auf das Fensterbrett zu.
Beckie erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie raffte ihr knöchellanges Nachthemd in die Höhe und kletterte geschickt auf das Sims. Ohne dass Joanna ihr weiter gut zureden musste, sprang sie laut schreiend in die Tiefe.
Joanna atmete einmal tief aus und erstieg ebenfalls das Sims. Sie sah Beckie, die langsam das schräge Dach des Bürohauses mit den Füßen voraus hinunterglitt. Kurze Zeit hing sie mit dem Unterkörper über dem Dachende, ehe sie es wagte, sich hinunter ins Gras fallen zu lassen.
Wieder ächzte und stöhnte das Haus bedrohlich auf. Joanna zögerte nicht länger. Sie stieß sich ab, fiel die gut zwei Meter nach unten und landete auf dem Dach, dessen Ziegel ein lautes Klacken von sich gaben. In diesem Moment brach der Dachstuhl donnernd und Funken speiend in sich zusammen. Die Fensterscheiben des Zimmers, aus dem sie gerade noch hinuntergeschaut hatte, zerbarsten in Millionen von kleinen Scherben, die, von den Flammen golden angeleuchtet, glitzernd an ihr vorbei zu Boden fielen.
Joanna wollte sich dem Schauspiel nicht länger hingeben. Sie ahnte, dass das Haus der in ihm wütenden Kraft schon bald nichts mehr entgegenzusetzen hatte, und folgte ihrer Schwester. Sie landete ein wenig ungeschickt auf der Wiese und verzog das Gesicht, als ein stechender Schmerz durch ihren Knöchel schoss. Dennoch hinkte sie zu Beckie hinüber, die ihr mit Tränen in den Augen entgegenlief.
„Du hast einen Ausweg für uns gefunden!“, jubelte das Mädchen und umarmte seine Schwester so heftig, dass diese beinahe nach hinten gekippt wäre.
Joanna erwiderte die Umarmung. Sie fühlte die Erleichterung, die ihre Verzweiflung und ihre Panik vertrieb, und auch einen unerklärlichen Frieden in sich, obwohl sie gerade erst dem Tode entronnen war. „Nicht ich, kleine Beckie“, sagte sie, „das Kreuz.“
„Das Kreuz?“ Beckie schob sie von sich und blickte sie mit fragendem Gesichtsausdruck an.
„Das Kreuz hat mir den Weg gezeigt.“
„Du hast ein Kreuz gesehen?“
„Das Fensterkreuz.“
„Das finde ich wundervoll, Joanna!“
„Was, dass ich ein Kreuz gesehen habe oder dass wir gerettet wurden?“
„Dass wir im doppelten Sinne durch das Kreuz gerettet sind“, lachte Beckie und nahm sie an der Hand.
Kapitel 4
Stewart lehnte an einer der Eichen, deren Blätter seltsam vertrocknet und teilweise verschrumpelt aussahen. Sie waren dem Feuer zu nahe gewesen. Entsetzt blickte er auf den immer noch heftig qualmenden Trümmerhaufen, der einmal ein stolzes Haus gewesen war, und schüttelte den Kopf. Wieder verspürte er Erleichterung, als er sich die Erzählung vom Brand und der Rettung von Joanna und Beckie durch den Kopf gehen ließ. Allerdings machte sich auch eine Mischung aus Wut, Unsicherheit und Verzweiflung in ihm bemerkbar. Keines der Argumente, die er Joanna gegenüber angeführt hatte, als er ihr erklärte, dass er in Richtung Westen zu ziehen gedachte, hatte noch Gültigkeit.
Stewart wandte sich um und ging in Richtung des sich durch die Wiese schlängelnden Baches, an dessen Uferböschung Joanna stand, den Blick ihm zugewandt. Der Wind spielte mit ihrer Bluse, dem Rock und ihren Haaren. Obwohl sie sehr schlank war, spiegelte ihre ganze Erscheinung an diesem Tag Energie und einen eisernen Willen wider. Mit in die Hüfte gestemmten Händen stand sie vor dem glitzernden Wasser und ließ ihn nicht einen Augenblick aus den Augen. Er kannte seine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie kaum mehr von ihrer Idee abzubringen sein würde.
„Was gibt es da zu überlegen, Stewart Steinmann? Das Haus ist zerstört. Vater und Onkel Sebastian, die es wieder hätten aufbauen können, sind tot. Oliver wird vermisst, und mindestens dreißig Sklaven haben die Nacht genutzt, um zu fliehen. Tante Natasha ist ein nervliches Wrack, und Denise hat heute Morgen dem vehementen Drängen Neil Warrens nachgegeben und in eine Eheschließung mit ihm eingewilligt. Und das aus lauter Angst, ohne ein sicheres Zuhause dazustehen. Du musst hierbleiben oder uns mitnehmen!“
„Ich kann nicht bleiben, Jo. Ich habe bereits meine Stellung aufgegeben und meinen Privatbesitz verkauft. Ich werde in den nächsten Tagen aufbrechen.“
„Dann wird dir nichts anderes übrig bleiben, als uns mitzunehmen.“
„Alle?“
„Eine ganze Horde Frauen, ja. Ellie, Carole, Branca, Beckie, Tante Natasha und mich.“
„Tante Natasha?“ Entgeistert schüttelte der junge Mann den Kopf. Joanna würde doch nicht wirklich verlangen, dass er neben seinen Schwestern auch noch die zerbrechliche, verwöhnte Natasha mit auf die lange, anstrengende Reise nahm, auf der zudem mit unzähligen Gefahren zu rechnen war.
„Wir können sie doch nicht einfach hier zurücklassen.“
„Sie könnte doch mit Denise zu Warren ziehen. Warren hat sich so fürsorglich gezeigt, als er dafür gesorgt hat, dass Green Crystal einen Verwalter bekommt. Da wird er neben seiner Frau auch noch deren Tante aufnehmen können …“
„Fürsorglich gezeigt? Sein Verwalter hat das Feuer genutzt, um unsere Zimmer zu plündern.“
„Cutler?“
„Ja. Ich habe ihn oben in unseren Zimmern gesehen.“
„Weißt du, was du da sagst?“
„Das ist mir durchaus bewusst, Stewart.“
„Ist er entkommen?“
„Ich weiß es nicht. Ich war zu sehr mit meiner eigenen misslichen Lage beschäftigt, als dass ich mich auch noch um Dan Cutler hätte kümmern können.“
„Reg dich bitte nicht auf. Du kannst Warren nicht die Schuld für die Taten des Verwalters zuschieben. Er hat sich höchstens der Unwissenheit und einer schlechten Menschenkenntnis schuldig gemacht.“
„Danke für deine präzise Analyse, Stewart. Sie hilft uns jedoch nicht weiter. Denise lässt sich nicht davon abbringen, den fast doppelt so alten Mann zu heiraten. Außerdem habe ich eine sehr labile Tante und vier jüngere Schwestern, um die ich mich kümmern muss. Ich habe keine Lust, das Anwesen mehr schlecht als recht zu verwalten, zumal ich hier ohnehin nicht den Rest meines Lebens verbringen wollte.“
Stewart brummte vor sich hin und wandte sich abrupt um. Erneut marschierte er auf die rauchende Ruine zu. Bei dem Gedanken daran, sich von fünf Schwestern und seiner Tante begleiten zu lassen, schüttelte er widerwillig den Kopf. Die Mädchen – und vor allem Natasha – waren nicht dafür geschaffen, eine lange und unbequeme Reise zu unternehmen, die Entbehrungen, harte Arbeit und Gefahren mit sich brachte. Ausgenommen vielleicht Joanna, die zwar zart wirkte, jedoch einen ausgesprochen festen Willen besaß und für die Gesellschaft South Carolinas als Frau fast schon zu viel Eigensinn an den Tag legte.
Der junge Schreiner drehte sich erneut um und prallte mit seiner Schwester zusammen, die ihm gefolgt war.
Joanna blickte ihn flehend an. „Bitte, Stewart. Sieh dich um. Hier wird alles verfallen. Was wird mit uns geschehen? Wir können doch nicht alle zu Denise und ihrem zukünftigen Ehemann ziehen.“
„Es wäre doch nur für eine begrenzte Zeit. Du bist im heiratsfähigen Alter, die Zwillinge fast auch und –“
„Und wen sollen wir heiraten? Hast du da eine Idee? Sollen wir es wie Denise machen und uns an irgendwelche älteren Männer klammern? Die jungen sind – wie du weißt – fast alle im Krieg.“
Stewart blickte entsetzt zu Joanna hinunter und wandte sich ab. Denise würde sich in eine Zweckehe mit einem älteren Mann fügen und eines Tages vielleicht sogar Liebe für ihn empfinden können. Das konnte er sich auch bei Beckie vorstellen, kaum jedoch bei der lebenslustigen Branca. Das Mädchen war auf der Suche nach dem Märchenprinzen auf einem schneeweißen Pferd. Bei Joanna war diese Vorstellung völlig unmöglich. Sie würde einen Mann brauchen, der besonders starke Nerven hatte und sie von Herzen liebte.
Nachdenklich fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht und schüttelte dabei den Kopf. Joanna, zu der er schon immer eine besondere Beziehung gehabt hatte, würde er gerne mitnehmen. Doch er konnte den jüngeren Mädchen nicht die starke Schwester rauben, zumal es tatsächlich viel von Warren verlangt wäre, die vier Mädchen und deren Tante mit bei sich aufzunehmen.
Stewart wandte sich Joanna zu. „Ich spreche mit den Mädchen. Ich sage ihnen, was auf sie zukommen wird, und wir nehmen nur die mit, die sich ohne Bedenken für die Reise entscheiden können. Die anderen muss Denise bei sich aufnehmen.“
Mit einem lauten Jubelruf warf sich Joanna in seine Arme und drückte ihn an sich.
1847
Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet.
Römer 12,12
Kapitel 5
Die staubige, unbefestigte Straße von Independence war überfüllt mit vornehmen Equipagen, schmalen Einsitzern, robusten Conestoga-Planwagen und Reitern. Zwischen ihnen liefen Erwachsene, Kinder, Hunde und gelegentlich auch mal ein Huhn hin und her. Der Geräuschpegel zwischen den Häusern war gewaltig. Allerlei Farben und eine Vielfalt an Düften machten das Durcheinander perfekt.