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England, 1811: Auf Bitten von Lady Henrietta Murray reist die 21-jährige Lily Thomson nach London. Dort soll sie der vereinsamten Dame helfen, ihrem trostlosen Dasein mehr Freude und Abwechslung einzuhauchen. Tatsächlich gelingt es Lily, Henrietta in die Gesellschaft des britischen Hochadels zurückzuführen - wobei die beiden Frauen dort für allerhand Wirbel sorgen. Nicht nur, weil Lily mit ihrer offenen, direkten Art gelegentlich aneckt, sondern auch, weil Henrietta und sie ihr Herz für die verarmten Kinder bei den Docks an der Themse entdecken. In ihrem Wunsch, den benachteiligten Familien zu helfen, entscheidet sich Lily für eine eher unkonventionelle Methode: Sie nimmt von den Reichen und gibt den Armen. Allerdings bleibt das nicht lange unentdeckt … Und dann wäre da auch noch der charmante und recht eigensinnige Marvin Carter, Earl of Kantley. Auch er bedeutet für Lily eine echte Herausforderung.
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Seitenzahl: 580
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Über die Autorin
Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum.www.elisabeth-buechle.de
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© 2024 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH,
Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar
Erschienen im Juni 2024
ISBN 978-3-96122-620-7
Umschlaggestaltung: Hanni Plato
Umschlagfoto: unter Verwendung bildgebender Generatoren
Lektorat: Carolin Kilian
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
www.gerth.de
Für Josua
Gott verspricht eine sichere Landung, aber keine ruhige Reise.Aus England
Nobility:
Haus Cummingham
Marvin Carter: Earl of Kantley und zukünftiger Duke of Cummingham
Madeleine Carter: Duchess of Cummingham, Marvins Mutter
Edward Carter: Duke of Cummingham, Marvins Vater
Haus Forsley
Valerie Knight: jüngere Tochter von Robert und Mary Knight
Vivianne Knight: ältere Tochter von Robert und Mary Knight
Robert Knight: zweiter Sohn des verstorbenen Duke of Forsley
Mary Knight: Mutter von Valerie und Vivianne
Ford Knight: Duke of Forsley, Viviannes und Valeries Onkel
Phoebe Knight: Duchess of Forsley, Ehefrau von Ford
Raimond Knight: Sohn von Ford und Phoebe, Earl of Winningham und zukünftiger Duke of Forsley
Haus Graham
Amber Graham: 30-jährige unverheiratete Tochter von Baron Graham
Regina Graham: 16-jährige Tochter von Baron Graham
Haus Landox
Edith Landox: Tochter von Baroness und Baron Landox
Margaret Landox: Baroness Landox, Mutter von Edith
Caspar Landox: Baron Landox, Vater von Edith
Haus Melton
Halston Murray: Marquess of Melton, Henriettas jüngerer Bruder und Erbe des Titels
Henrietta Murray: ältere Schwester von Halston
Angestellte der Murrays:
Archie Cammeron: Butler
Darla: Kammerzofe von Henrietta
Kate: Kammerzofe von Lily
Oscar Watson: Kutscher
Rose: Dienstmädchen
Familien an den Docks:
Billings: Eltern Benjamin (kriegsversehrt) und Sara, Tochter Sophie
Seymour: Witwe Alice, Tochter Pinny und weitere Kinder
Weitere Personen:
Carl Morgan: einer der Jungen aus dem Hafenviertel
Molly Morgan: Cousine von Carl, Kammerzofe
Theodore Longfellow: Kindheitsfreund von Lily
Gregory Spratter: Pfandleiher im Londoner East End
Die edle Brosche in der Form eines Ahornblatts leuchtete golden auf ihrem dunkelgrünen, ihr bis zum Ellenbogen reichenden Handschuh. Im Lichtschein des Feuers wirkten die eingelassenen Rubine, als wollten sie mit der Glut im Kamin um die Wette funkeln.
Ohne jegliche Hast raffte die Frau den Stoff ihres grünen Seidenkleides mit der hoch sitzenden Taille, die mit einem cremefarbenen Stoffband verziert war. An ihrem Oberschenkel befand sich ein dem Strumpfband darunter recht ähnliches zweites Band, das dazu diente, einen kleinen Beutel an seinem Platz zu halten. Dorthinein steckte sie das Schmuckstück. Unter einem vernehmlichen Rascheln ließ sie den fließenden Stoff wieder über ihre Beine und die flachen Wildlederschuhe gleiten.
Zufrieden sah sie sich um. Sie war weiterhin allein im Raum, und auch der benachbarte Flur lag still und verlassen da. Also ging sie zum nächstgelegenen Fenster und öffnete vorsichtig den Riegel. Ein leises Schaben ertönte, dann ein zweites, als sie das leicht verzogene Fenster öffnete. Ein kühler Windstoß wehte herein und verleitete die Gardinen zu einem munteren Tänzchen.
Sie wartete einen Moment lang ab, was ihr mehr Geduld abverlangte, als sie gemeinhin hatte. Doch ihr Lehrmeister hatte ihr eingeschärft, dass Ungeduld ihren sicheren Tod bedeuten könnte.
In diesem Teil des Gebäudes war es bisher beinahe unheimlich still gewesen, doch nun drangen Musik und Gelächter durch das offene Fenster. Der Ball im angrenzenden Gebäudeflügel war in vollem Gange, im Bereich der Dienstboten und der Küche herrschte routinierte Geschäftigkeit.
Niemand sah sie, niemand hörte sie, niemand vermisste sie. Sie war wie ein Phantom, das es meisterlich verstand, heimlich zu verschwinden, unbeobachtet zu agieren und wie aus dem Nichts wiederaufzutauchen. Dies war ihr zur Passion geworden – in vielerlei Hinsicht.
Prüfend ließ sie den Blick an den Fenstern des benachbarten Herrenhauses entlanggleiten. Nirgendwo brannte Licht. Nichts deutete darauf hin, dass der Hausherr und seine Familie derzeit in der Stadt weilten, und die wenigen Bediensteten, die das Haus während ihrer Abwesenheit in Schuss hielten, waren zu dieser späten Stunde längst zu Bett gegangen. Also setzte sie sich auf die breite Fensterbank, schwang sich mit der ihr eigenen Eleganz herum, sodass ihre Beine über den äußeren Sims hinausragten, und glitt durch das Fenster ins Freie. Sie drehte sich auf den Bauch, rutschte tiefer und suchte mit ihren Wildlederschuhen Halt an einem der weit hervorragenden Fassadenelemente. Wie erwartet fand sie einen Absatz, gleich darauf einen zweiten. Ihre Hände umgriffen die Stuckornamente, dann verharrte sie für einen Augenblick. Atmete bewusst ruhig. Lauschte.
Bis auf das Brausen des Windes in den Bäumen, ein paar weit entfernte Hufschläge und die verhaltenen Geräusche vom Ball war nichts zu hören.
Entschlossen setzte sie ihren Weg fort. Flink wie ein Eichhörnchen kletterte sie an der Hauswand hinab und stand wenig später auf der ordentlich getrimmten Rasenfläche. Sie ergriff die dunkelgrüne Pelisse[1], die sie hier platziert hatte, und streifte sie sich über. Eher nachlässig schnürte sie das Stoffband über ihrer Brust, dann zog sie sich die ausladende Kapuze über die sorgsam aufgesteckte Frisur und so tief in die Stirn, dass niemand sie erkennen konnte. So angetan eilte sie über die Rasenfläche davon.
Ihre Schritte brachten das Gras zum Rascheln, woraufhin etwas, vermutlich eine Maus, davonhuschte. Schließlich erreichte sie den schmalen Durchgang zwischen den beiden herrschaftlichen Gebäuden und tauchte unter den Zweigen zweier Linden hindurch. Die Blätter über ihr schienen zu flüstern, als wollten sie sie vor einer Gefahr warnen. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken, hielt sie aber nicht auf. Stattdessen presste sie sich gegen die Hauswand und wartete gerade so lange ab, bis sich ihre Augen an das schummrige Licht der Straßenlaternen gewöhnt hatten. Sie spähte um die Ecke. Auf beiden Seiten der Straße, deren nasses Kopfsteinpflaster im Schein jener Lampen wie ein Mosaik aus orangefarbenen und schwarzen Quadraten wirkte, reihte sich eine große Anzahl an Kutschen verschiedener Couleur auf. In kleinen Gruppen standen die Fuhrknechte beisammen und unterhielten sich, manche von ihnen traten auf der Stelle, um sich die Füße zu wärmen.
Mit einer flinken Bewegung tauchte sie in die tiefschwarzen Schatten ein, die die kräftigen Zugpferde und opulenten Kutschwagen auf den Boden warfen, und huschte – selbst zum Schatten geworden – an den Männern vorbei. Leise näherte sie sich dem Landauer, mit dem sie hergekommen war. Dort würde sie ihre Beute in einem bereitgelegten Ridikül verstecken und anschließend unbemerkt zu der Gesellschaft zurückkehren. Sie musste nur zusehen, dass sie mit ihren feuchten Schuhsohlen keine Spuren hinterließ. Aber auch das war ihr längst zur Routine geworden.
Sie schmunzelte, als sie von einem Kutschbock her ein lautes Schnarchen vernahm, nur um im nächsten Moment erschrocken zurückzuzucken. Zwischen einem Landauer und zwei vor eine Kalesche gespannten Pferden trat jemand auf ihre Seite der Kutsche. Instinktiv ging sie in die Hocke und rutschte Stück für Stück näher an eines der eisenbeschlagenen Räder heran. Der Geruch von feuchter Erde und Wagenschmiere umwehte sie. Sie hielt den Atem an und sah sich ängstlich nach einem möglichen Fluchtweg um.
Wenn der Mann sie hier sah …
London Daily Life
5. Februar 1811
Gemäß des Regency Acts übernimmt Seine Königliche Hoheit Prinzregent George, Prince of Wales, ab heute die Regierungsgeschäfte
Kämpfe auf der Iberischen Halbinsel halten an
Es wird noch einmal höflichst darauf hingewiesen: Das Galoppieren im Hyde Park ist nicht gestattet!
Ein beschauliches Hafenstädtchen in East Sussex, 1811
Lily rutschte auf den steil abwärtsführenden Holzbohlen aus, taumelte und landete gut einen Meter tiefer – mitten in einem Misthaufen. Schmeißfliegen stoben auf und suchten summend das Weite.
„Das ist wahrlich ekelhaft“, murmelte Lily halblaut vor sich hin. Sie raffte den hellbraunen Musselinstoff ihres Rockes und stemmte sich auf die Beine. Angewidert zupfte sie an ihrer Schürze herum und begutachtete den Schaden. Zum Glück war sie an jener Stelle des Haufens gelandet, an der kurz zuvor frischer Mist abgeladen worden war, und nicht dort, wo bereits eine stinkende braune Brühe zwischen den unebenen Pflastersteinen entlangfloss.
Notdürftig klopfte sie sich das Kleid mit dem moosgrünen Unterbrustband und dem ebenfalls grün bestickten Saum ab, wodurch ihr der säuerliche Geruch des Gemenges aus Pferdeäpfeln, Stroh und Küchenabfällen umso mehr in die zierliche Nase stieg. Letztere ließ sie ein wenig kindlich wirken, was Lily allerdings nicht ungelegen kam, denn trotz ihrer einundzwanzig Jahre war sie immer noch ohne Verehrer. Weniger wohlmeinende Zeitgenossen behaupteten gar, der freche Aufwärtsschwung ihrer Nase würde ihren neugierigen und ungebändigten Charakter widerspiegeln.
Lily rümpfte ebenjene Nase, bückte sich und hob das kleine ledergebundene Buch auf, in dem sie gelesen hatte. Leider auch, als sie die Abkürzung über die Holzbohlen genommen hatte, anstatt wie jeder andere Mensch – es sei denn, er war Gärtner oder Stallknecht – die Steinstufen hinunterzugehen, um vom höhergelegenen Teil der Pfarrei in den Ortskern zu gelangen. Sorgfältig wischte sie den Bucheinband an einer sauberen Stelle ihrer Schütze ab.
„Lady Lily!“
Die spöttische Männerstimme ließ sie herumwirbeln, sodass sich ihr fließender Rock um ihre langen Beine wickelte. Lily wusste, dass diese in den Augen vieler ein weiterer Makel an ihr waren, denn als Frau sollte sie keinesfalls den Großteil der Männer überragen. Oder wie sie selbst gern sagte: mit einem einzigen Blick überprüfen können, wer von den ehrenwerten Herren frühzeitig schütteres Haar bekam.
„Mr Longfellow, welch eine Freude!“, grüßte sie kaum weniger spöttisch zurück. Ihre frühere Haushälterin hatte einst versucht, ihr diesen Tonfall abzugewöhnen. Mit mäßigem Erfolg, was Lily der armen Frau nachsah. Allerdings verdiente Theodore Longfellow nichts anderes als Spott, denn der Apothekersohn zog sie auf, seit er sprechen konnte.
„Die Freude meinerseits ist getrübt durch einen wirklich abnorm aufdringlichen Duft.“ Der Endzwanziger wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht. Über seinem weißen Hemd trug er lediglich eine Weste, die jedoch perfekt zu seinen senfgelben Beinkleidern und den hochschaftigen schwarzen Stiefeln passte. Bis auf den fehlenden Gehrock war er mustergültig gekleidet, einschließlich des kunstvoll geknoteten Halstuchs. Seine dunklen Locken waren zu sanften Wellen gebändigt, das Gesicht war bis auf die breiten Koteletten glatt rasiert.
Lily hingegen hatte ihr hellblondes Haar nur nachlässig hochgeschlungen, sodass sich bereits einige Strähnen aus ihrer Frisur gelöst hatten. Ihre übrige Garderobe war zwar nicht flüchtig gewählt, aber dennoch schlicht, da sie im Pfarrgarten hatte arbeiten wollen. Leider war ihr auf dem Weg dorthin besagtes Buch in die Hände gefallen. Und dann war sie gefallen …
Nun blitzten ihre braunen Augen auf, und ihr Gesicht, das bereits die ersten Sonnenstrahlen des Jahres abbekommen hatte und deshalb von einigen frechen Sommersprossen geschmückt war, wurde von einer leichten Röte überzogen.
„Lady Lily, verströmst du etwa diesen … exotischen Duft? Ein neues Parfüm vielleicht?“
„Erstens, Longfellow, bin ich zwar eine Lady, doch die Anrede als solche steht mir nicht zu, wie du sehr genau weißt. Zweitens ist der Duft nicht exotisch, sondern stammt aus dem Sterculinum und, ja, somit vielleicht sogar tatsächlich aus eurer Apotheke.“ Zwar wusste Lily nicht sicher, ob sie das richtige lateinische Wort für „Dünger“ oder „Misthaufen“ getroffen hatte, aber die Küchenabfälle der Apothekerfamilie landeten ebenfalls an dem Ort ihres unfreiwilligen Bades.
Auf der Stirn ihres Gesprächspartners bildeten sich tiefe Querfalten, die Lily als Irritation deutete. Gleichzeitig meinte sie, ein verhaltenes weibliches Kichern zu hören. Da sich niemand in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, verdrängte sie den Gedanken sogleich wieder. Sicher hatte nur irgendjemand ein quietschendes Fenster geöffnet.
Longfellow erwiderte nichts, was Lily ein wissendes Lächeln auf die Lippen trieb. Als angehender Apotheker kam der junge Mann um Latein nicht herum, allerdings war sie in jenem Schulfach stets besser gewesen als er. Ihr Wettstreit um die besten Beurteilungen hatte mit Longfellows Wechsel an das renommierte Eton College jedoch ein jähes Ende gefunden. Gleichzeitig war Lilys Unterricht bei dem Privatlehrer, den der Apotheker und seine Gattin für ihren einzigen Sohn engagiert hatten, beendet gewesen. Daraufhin hatte ihr Vater, ein Geistlicher, sie unterrichtet. Doch wie es schien, war die beste Partie dieses beschaulichen Hafenstädtchens gerade zurückgekehrt.
Einen Moment lang spielte Lily mit dem Gedanken, dass Longfellows Rückkehr ihre Chancen auf einen ansprechenden und gebildeten Ehemann erhöhen könnte. Doch mit einem prüfenden Blick auf ihn – er war tatsächlich noch ein wenig gewachsen und vielleicht drei Zentimeter größer als sie – schüttelte es sie innerlich. Der Apothekersohn war für sie vielmehr wie ein Bruder, und zwar einer der stets bevormundenden, nervigen Sorte.
„Der Dorftratsch hat mir zugetragen, dass du noch immer ungebunden bist. Was mich nicht wundert bei deinem widerborstigen Charakter und deiner, sagen wir mal, extraordinären Duftwasservorliebe.“
„Würdest du Mrs Hughes, gern auch mal Mrs Dorftratsch genannt, bitte ausrichten, sie habe dir zwei wesentliche Aspekte bezüglich meiner Heiratsaussichten unterschlagen: meine Körpergröße sowie die Tatsache, dass mein Onkel, Sir Donald, nach wie vor den Wunsch hegt, mich … klug und standesgemäß zu verheiraten – wobei sich außer ihm niemandem der Sinn dahinter erschließt, warum ich unbedeutendes Pflänzchen mit einer herausragenden Persönlichkeit vermählt werden sollte.“
Longfellow lachte schallend auf, und Lily meinte darin sein ungezwungenes Wesen vergangener Tage zu hören, als er noch barfuß zum Unterricht erschienen war, weil er zuvor Steine über die See hatte springen lassen. Bei dieser Erinnerung wurde sie sich des absichtlichen Fehlens ihrer eigenen Schuhe bewusst. Ob Longfellow die Unschicklichkeit ihrerseits bereits bemerkt hatte? Schnell verlagerte sie das Gewicht, sodass der Stoff ihres Kleides weiter nach vorn glitt und ihre nur mit Schmutz bekleideten Zehen vor seinem Blick verbarg.
„Klug ist ein dehnbarer Begriff, meine Liebe. Und du bist eine Meisterin darin, diese Dehnbarkeit zu deinen Gunsten auszunutzen.“
„Das ändert nichts an der Tatsache, dass meine Möglichkeiten in diesem Teil des Landes begrenzt sind. Sieh dich doch bitte einmal um, mein Lieber: Vermutlich stellst du die weitaus beste Partie im Umkreis von fünfzig Meilen dar.“
„Dann erwähle mich!“ Longfellow schlug sich mit beiden Händen vor die Brust, konnte ein Grinsen aber nicht unterdrücken.
„Sir Donald sprach von einer klug gewählten Ehe, nicht von einer, die in Mord und Totschlag enden wird.“
Wieder quietschte irgendwo ein Fensterrahmen. Oder war es doch ein Kichern?
Während Longfellow erneut lauthals auflachte, drehte Lily sich einmal um die eigene Achse, doch mehr als den zu ihrem Leidwesen von ihr selbst ausgehenden stechenden Geruch konnte sie nicht ausmachen.
Der Brunnen plätscherte leise vor sich hin, die Fenster der gegenüberliegenden Häuser, die sich wie fürsorglich aneinanderschmiegten, leuchteten im Schein der Morgensonne mit den strahlend weißen Balkonbrüstungen um die Wette. Die Blätter an den Bäumen entlang der Straße rauschten in dem vom Meer herbeiwehenden Wind. Federwolken schmückten den blauen Himmel, an dem die Möwen in wilden Flugbahnen entlangglitten und sich beim Anblick der Menschen unter ihnen köstlich zu amüsieren schienen. Zumindest hörte sich ihr kicherndes Kreischen so an.
Das Geräusch, das Lily gehört hatte, war jedoch feiner und melodiöser gewesen. Ein singender Fensterrahmen? Sie vertrieb eine Fliege, die sie umschwirrte.
„Da du deine Aufmerksamkeit nun offenbar anderen streitlustigen Geschöpfen widmest, Lady Lily“, brachte Longfellow sich in Erinnerung und deutete auf die Möwen über ihren Köpfen, „möchte ich mich höflichst empfehlen. Und dir empfehle ich ein Ba–“
„Wage ja nicht, es auszusprechen!“ Lily war nicht gänzlich überzeugt davon, dass Longfellow Gentleman genug war, um die Röte, die ihr ins Gesicht stieg, als Verärgerung statt Scham zu interpretieren. Wobei bedauerlicherweise Letzteres zutraf.
Sein Schmunzeln ließ jedenfalls nichts Gutes erahnen.
Ein vornehmer schwarzer Landauer, gezogen von zwei wunderschönen Rappen, kam über das Kopfsteinpflaster herbeigefahren und hielt nicht unweit von ihnen zwischen dem Brunnen und einem Wohnhaus an. Lily sah aus dem Augenwinkel, wie Longfellow sich vor ihr verbeugte, eine Höflichkeitsbekundung, die er während seiner Zeit in der Ferne perfektioniert hatte. Also schenkte sie ihm ein verhaltenes Lächeln und neigte dann würdevoll das Haupt, wie sie es gelernt hatte. Mehr konnte er nicht erwarten, immerhin war sie die Enkelin eines Baronets.
Longfellow wandte sich um und eilte davon, wobei er Lily im Unklaren darüber ließ, ob er es wirklich eilig hatte oder ob seine Geruchsnerven ihm zur Flucht rieten.
„Noch nie habe ich eine unerquickliche Wartezeit so unterhaltsam erlebt wie heute.“
Lily wirbelte herum und sah sich einer älteren, feingliedrigen Dame in trister Garderobe gegenüber. Das züchtig hochgeschlossene graue Kleid aus schimmernder Seide war zwar hier und da mit weißer Spitze verziert, ansonsten jedoch schmucklos. Das schwarze Haar der Frau war von silbernen Strähnen durchzogen, und ein grauer Schutenhut schützte das ebenmäßige Gesicht, das bis zu diesem Tag vermutlich kaum mehr als drei Sonnenstrahlen abbekommen hatte.
Die Dame trat nun vollständig hinter dem breiten Baumstamm hervor, wo sie wohl Schatten, zugleich aber auch ein Versteck vor Lily und Longfellow gefunden hatte.
Da Lily annahm, dass die Unbekannte vom nahe gelegenen Murray Manor herübergekommen war, dem Landsitz eines Marquess, knickste sie mit geradem Rücken und wich dann einen großen Schritt zurück. Ihre Aufmachung war vermutlich eine Beleidigung für die zwar farblose, aber gepflegte Erscheinung, ihr Geruch für deren verwöhnte Nase eine Zumutung.
„Mir war nicht bewusst, dass wir eine Zuhörerin haben“, gab Lily zu, dann straffte sie die Schultern. „Kann ich Ihnen auf die eine oder andere Weise zu Diensten sein?“
Die Fremde musterte sie eingehend, dabei schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Wie Sie sehen, ist meine Kutsche mittlerweile eingetroffen. Also: nein, danke.“ Sie wartete, bis Lily einen weiteren Knicks vollführt hatte, den sie mit einem hoheitsvollen Nicken würdigte, ehe sie sich umwandte und davonschritt.
Auf halbem Weg zur Kutsche drehte sie sich erstaunlich schwungvoll um und fragte: „Verraten Sie mir Ihren vollständigen Namen, Lady Lily?“
Diesmal war es an Lily, ein leises, rollendes Lachen hören zu lassen, was der Dame ein weiteres Schmunzeln entlockte. „Lily Thomson.“ Sie beließ es dabei, vor allem da sie den Eindruck hatte, dass die Frau kein zweites devotes „zu Diensten“ von ihr erwartete.
„Einfach nur Miss Lily Thomson? Oder zieren Sie sich mit Bescheidenheit?“
„Mein Vater ist der hiesige Pastor, dritter Sohn von Mortimer Thomson, dem Baronet of Witless. Demnach ja, nur ein schlichtes, aber deshalb nicht als gering zu erachtendes Miss Lily Thomson.“
„Ah, eine von diesen Thomsons …“ Die Dame wandte sich wieder zum Gehen um, dennoch hörte Lily, wie sie halblaut hinzufügte: „Amüsant. Wirklich sehr amüsant. Und überaus inspirierend. Ich danke Ihnen vielmals für das Angebot, mir zu Diensten sein zu wollen, Miss Thomson.“
Trotz der beschwerlichen Rückreise vom Sommerhaus an der Küste nach London stieg Henrietta schwungvoll die Stufen zur Eingangstür hinauf. Schließlich schwebte ihr eine große Veränderung vor Augen, die es sogleich anzugehen galt. Mit dem heutigen Tag würde ihr neues Leben beginnen. Oder besser: Ihr Leben würde überhaupt erst beginnen – nach vierundfünfzig bereits gelebten Jahren gerade noch rechtzeitig!
Sie nickte ihrem Butler Archie Cammeron zu, als er ihr – vorschriftsgemäß in blauer Livree gekleidet – die Tür öffnete, und betrat das hauptsächlich in Weiß und Schwarz gehaltene Foyer von Meltonplace, dem Familienstadthaus in unmittelbarer Nähe des Hyde Parks. Die einzigen Farbkleckse in diesem bemitleidenswerten Teil des Gebäudes waren die goldgerahmten Ahnengemälde beim Treppenaufgang.
Aus dem Augenwinkel sah Henrietta, dass der Butler irritiert die Augenbrauen hob. Archie hatte die Stelle drei Jahre zuvor von seinem Vater übernommen, obwohl er wenig von dessen korrekter und ehrerbietender, ja nahezu versnobter Art geerbt hatte. Anfangs hatte sich Henrietta daran gestört, inzwischen fand sie Archie irgendwie … erfrischend. Allerdings weigerte sich in ihrem Bekanntenkreis so gut wie jeder, sich diesbezüglich ihrer Meinung anzuschließen.
Gut so! Beschwingt von diesem eigensinnigen Gedanken ignorierte sie jene innere Stimme, die ihr zuflüsterte, dass ein Butler nun mal respektvoll und zurückhaltend auftreten musste. Vor allem aber, so schärfte Henrietta sich ein, musste sie heute uncharakteristisch auftreten, denn nur so würde sich ihr die Tür zu ihrem neuen Dasein öffnen. Und in diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die neue Version ihrer selbst aus der Taufe zu heben. Viel zu lange war das echte Leben schlichtweg an ihr vorübergezogen und hatte das ihre zu einer Qual gemacht; deprimierend farblos, sterbenslangweilig und zutiefst einsam.
Ihre zunehmend zögerlichen Schritte hallten in dem hohen Raum wider. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ob sie ihre pelzverbrämte Pelisse nicht besser Archie überlassen hätte? Doch nun befand sie sich bereits vor der Kontortür ihres jüngeren Bruders Halston. Jetzt noch einmal umzukehren, würde sich wie ein Rückzug anfühlen, und der kam nicht infrage. Stattdessen löste Henrietta zumindest die Schnürung, die den Mantel schloss.
Sie straffte die Schultern, wie sie es bei Lily gesehen hatte, und ballte, ebenfalls dem Beispiel der unkonventionellen jungen Frau folgend, ihre zierlichen, äußerst gepflegten Hände zu Fäusten. Doch anstatt energisch gegen das Türblatt zu hämmern, klopfte sie nur schicklich mit den Fingerknöcheln an.
Du bist zu … zögerlich, flüsterte ihr eine rebellische innere Stimme zu. Die Folge war, dass Henrietta die Tür unaufgefordert öffnete und eintrat. Immerhin war das ihr Haus. Ihr einziges Erbe – neben dem Landgut am Meer –, da das Familienvermögen, der Sitz im Oberhaus und alle übrigen Besitztümer stets an den männlichen Nachkommen gingen. Henrietta empfand eine tiefe Dankbarkeit gegenüber ihrem Vater, der so weitsichtig gewesen war, ihr dennoch zwei Liegenschaften sowie eine lebenslange Apanage[2] zu vermachen.
Im Arbeitszimmer ihres Bruders roch es nach kaltem Zigarrenrauch, die dunklen Möbel wirkten erdrückend und Respekt einflößend. Auch hier gab es keinerlei Dekoration, bis auf die bodentiefen weinroten Vorhänge an den beiden Kassettenfenstern und das übergroße, goldgerahmte Gemälde ihrer Eltern, die beide äußerst unglücklich dreinblickten. Der Künstler hatte nur sparsam Farben verwendet, was dem Bild eine erschreckende Tristesse verlieh.
Ihr eigenes Porträt, wenn Henrietta denn eines in Auftrag geben würde, wäre wohl einzig in Grautönen gehalten. Und eines von ihrem Bruder? Vermutlich ebenfalls, wenngleich Halston doch all die Möglichkeiten hatte, die ihr verwehrt blieben. Henrietta konnte immer noch nicht nachvollziehen, warum er sich, obwohl er inzwischen Anfang vierzig war, keine Braut suchte. Dann wäre eine Frau im Haus, mit der sie sich unterhalten könnte – oder streiten. Was allemal besser wäre als diese bereits seit vielen Jahren andauernde Einsamkeit.
„Henrietta, meine Liebe, was kann ich für dich tun?“ Ihr Bruder erhob sich zuvorkommend, wenngleich unübersehbar unwillig. „Ist Archie mal wieder nicht dort, wo er sein sollte?“ Er deutete zuerst auf ihre Pelisse, dann auf ihren Kopfputz.
„Doch, doch, er hat mir geöffnet, allerdings –“, erwiderte Henrietta, wurde aber sofort von Halston unterbrochen.
„Ich hoffe, du hattest eine angenehme Rückreise und eine erquickende Zeit in Murray Manor?“
„Ja, gewiss doch …“ Sie winkte ab und beschloss, sofort auf den Punkt zu kommen, denn das, was sie Halston zu sagen hatte, brannte ihr förmlich unter den Nägeln. Oder im Herzen?
Ihr Blick wanderte zur offenen Tür zurück. Nein, das wirst du nicht tun, Henrietta Murray! Bleib standhaft und kämpfe. Sei mutig und selbstsicher. Genau wie … Lily Thomson. „Ich wünsche eine neue Gesellschafterin“, platzte es aus ihr heraus, als wäre sie nicht jenseits der fünfzig, sondern gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Du machst dich, Henrietta, lobte sie sich selbst.
„Was gibt es an Miss Morwenna Owen auszusetzen?“
„Nichts. Sie ist reizend.“ Und noch langweiliger als ich. Während ich seit meinem einundzwanzigsten Geburtstag mit einem Bein im Grab stehe, liegt die bedauernswerte Morwenna in ihrem bereits drin.
Henrietta und Morwenna waren gleichaltrig und beide unverheiratet, was sie vordergründig zusammengeschweißt hatte. Allerdings hatten sie sich für Henriettas Empfinden gegenseitig in Richtung ebenjener bereits ausgehobenen Grube gezogen. Bis heute. Genau genommen bis zum Vortag. Dabei plante Henrietta schon seit Jahren, ihr eintöniges Dasein zu beenden – nun würde sie dieses Vorhaben endlich in die Tat umsetzen. Sie wollte sein wie Lady Lily, die ihr so herrlich frei und lebendig vorgekommen war!
„Während meines Aufenthalts an der Küste habe ich eine reizende junge Dame kennengelernt. Da ich meine Gesellschafterin deutlich häufiger als bisher um mich haben möchte, will ich sie gern hierher einladen. Morwennas Tage sind bisweilen mit zu vielen Verpflichtungen gefüllt.“ Das war die Übertreibung des Jahres – oder vielmehr des Jahrhunderts –, doch Halston sah sie weiterhin nur gelangweilt an. Henriettas Alltag und wie sie diesen gestaltete, interessierte ihn nicht weiter. Und genau darauf setzte sie, was ihr Vorhaben anbelangte.
Ihr deutlich jüngerer Bruder hatte sich in der Zwischenzeit wieder hinter dem Schreibtisch niedergelassen und die Schreibfeder ergriffen, legte diese nun aber zurück in die mit Tintenflecken übersäte schmale Holzschale. „Kannst du dir eine im Haus lebende Gesellschafterin denn finanziell leisten?“
Entgegen ihrer wirklich vortrefflichen Erziehung ballte Henrietta erneut die Hände zu Fäusten und zählte innerlich bis neun. Bereits bei dieser Ziffer abzubrechen, war eine ihrer kleinen Rebellionen, die vor wenigen Jahren ihren Anfang genommen hatten. Immerhin brachten die Gouvernanten ihren jungen Schützlingen bei, langsam bis zehn zu zählen, um sich zu beruhigen und gebührlich zu antworten, anstatt das Erstbeste von sich zu geben, das ihnen in den Sinn kam.
Enttäuscht über sich selbst schüttelte Henrietta den Kopf. War dies wirklich ihre erbittertste Auflehnung gegen ihr vergeudetes, biederes Dasein? Gegen die in Stein gemeißelte, erdrückende und zeitweilig törichte Etikette ihrer Gesellschaftsschicht? Meine Güte! Die Gefahr, dafür verhaftet und vor Gericht gestellt zu werden, ist vermutlich verschwindend gering.
„Das lass mal meine Sorge sein, lieber Bruder.“
Sofort ärgerte sich Henrietta darüber, dass sie nicht „lieber kleiner Bruder“ gesagt hatte, wie es ihr durch den Kopf gegangen war. Die Benimmregeln, die man sie gelehrt hatte, und eine beachtliche Anzahl an vergeudeten Lebensjahren im Schatten der Gesellschaft, geprägt von aufgesetzter Höflichkeit und dem nahezu unermüdlichen Bemühen, ja nicht negativ aufzufallen, ließen sich nicht so leicht abstreifen wie eine Pelisse. Zumindest Letztere legte Henrietta nun endlich ab, da sie in dem warmen Raum zu zerfließen drohte. Der einzige Skandal, für den sie je gesorgt hatte, war der, dass sich nie ein Mann für sie interessiert hatte.
Ihre neueste Blamage war wohl die, ihren Bruder überhaupt gefragt zu haben. Benötigte sie denn seine Einwilligung? Immerhin war das ihr Haus! Und dass sie die Ausgaben für die Gesellschafterin von ihrer zugegebenermaßen nicht gerade üppigen Apanage bestreiten musste, war ihr von vornherein bewusst gewesen.
„Gut, dann wäre das abgemacht.“ So ist es richtig, Henrietta! Sei weiterhin entschlossen wie Miss Thomson. Setz dich durch. Schaffe unverbrüchliche Tatsachen. „Ich schreibe der Dame sogleich, damit sie genug Zeit zum Packen hat, und weise den Kutscher an, sie abzuholen.“
Halston runzelte die Stirn, dabei trafen sich seine buschigen Augenbrauen über der Nasenwurzel. Er wirkte allerdings weniger befremdet von Henriettas ungewohntem Auftreten als vielmehr entnervt von der Sache an sich. Durchschaute er, dass Lily Thomson noch gar nicht ihre Zustimmung gegeben hatte, nach London zu kommen, um die Gesellschafterin einer langweiligen alten Jungfer – Halte ein, Henrietta!–, einer aufstrebenden Rebellin zu werden? Fest stand: Sie und die junge Dame hatten sich kaum mehr als ein paar Minuten unterhalten. Aber der Unterhaltungswert der unnachahmlichen Lily Thomson war nicht anhand einer Zeitspanne zu bemessen, resümierte Henrietta.
„Verehrte Henrietta, bitte verzeih mir, aber ich habe anspruchsvolle Korrespondenz zu erledigen. Vielleicht können wir die Angelegenheit –“
„Ad acta legen? Selbstredend, mein Lieber! Ich muss ja ebenfalls dringend einen Brief schreiben.“ Henrietta drehte sich um und schritt entschlossen in Richtung Tür, wappnete sich aber gegen Halstons Widerspruch, der nun unweigerlich folgen musste. Und damit gegen die Tatsache, dass sie einmal mehr klein beigeben würde.
Erst als das Dienstmädchen die Tür hinter ihr ins Schloss zog, wurde Henrietta bewusst, dass nichts davon eingetroffen war. Sie hatte Erfolg gehabt! Lily würde schon in Kürze ihre neue Gesellschafterin sein und frischen Wind in dieses ehrwürdige, aber sterbenslangweilige Gemäuer in der Curzon Street bringen. Ihr unbekümmertes, übersprudelndes Naturell würde auf Henrietta abfärben und ihre Tage endlich wieder lebenswert machen. Ja, sie, Henrietta Murray, Tochter des Marquess of Melton, plante, endgültig den Friedhof zu verlassen, auf dem sie seit vielen Jahren herumgeisterte. Fortan würde sich ihr Lebenswandel … zumindest ein wenig abwechslungsreicher gestalten.
Etwas Bedeutsameres erwartete sie gar nicht …
Lily blickte von dem edlen Briefumschlag in ihren Händen zu dem dürren, graubärtigen Mann auf, dessen Aufgabe es war, im Pfarrgarten und auf dem Friedhof den Rasen und die Hecken zu schneiden.
„Nun schauen Sie mich doch nicht so hilflos an, kleine Miss! Ich habe den Brief nur überbracht, nicht geschrieben.“ Kopfschüttelnd hinkte der Gärtner davon und ließ Lily mit dem befremdlichen Schreiben allein zurück.
Selbstverständlich hatte Lily zur Kenntnis genommen, von wem der Brief stammte. Jeder hier wusste, dass Lady Henrietta Murray, die als Absender auf dem Umschlag stand, die Schwester des Marquess of Melton war. Ihr gehörte das prächtige Landgut – eines von dreien der Murrays – mit den wunderschönen Pferden, das sich unweit von Lilys Zuhause befand. Die meisten Bauern der Gegend arbeiteten als Pächter auf den Feldern der Adelsfamilie. Gerüchte besagten, das Geschwisterpaar Murray sei über die sprichwörtlichen sieben Ecken mit dem Königshaus verwandt. Lily gab nichts darauf, dennoch nahm sie an, dass ein Körnchen Wahrheit darin steckte.
Die wenigsten Bewohner des Dorfes und der umliegenden Siedlungen konnten sich damit rühmen, die Eigentümer von Murray Manor je zu Gesicht bekommen zu haben. Lily gehörte nun zum Kreis der Auserwählten, obwohl ihr bis gerade eben nicht bewusst gewesen war, um wen es sich bei der kichernden Dame hinter dem Baum gehandelt hatte. Sie hatte die Frau für einen Gast der Familie Murray gehalten.
Weshalb also wurde ihr die Ehre zuteil, Post von einem Mitglied des britischen Hochadels zu erhalten? Wissensdurstig, wie sie nun mal war, trug sie den Brief nicht zuerst ins Haus, sondern brach das Siegel an Ort und Stelle.
Während sich über ihrem Kopf eine Handvoll Sturmmöwen lautstark stritten und der kalte Seewind Lilys offene Pelisse zum Flattern brachte, faltete sie das Blatt Papier mit dem eingelassenen Wasserzeichen auseinander. In einer Handschrift, der es an jedwedem Schnörkel fehlte, ja in beinahe trostlos wirkenden Buchstaben erklärte Lady Henrietta, dass sie Lily als ihre Gesellschafterin ausersehen habe. Sie solle bitte umgehend packen, da sie in den nächsten Tagen von einer Kutsche abgeholt werde – der Start in ein aufregendes neues Leben in der pulsierenden Hauptstadt des Landes.
Lily blinzelte ungläubig und las den Brief ein zweites Mal, in der lächerlichen Hoffnung, der Inhalte könnte sich auf wundersame Weise verändert haben. Doch Lady Henriettas Zeilen weigerten sich vehement, Lilys Wunschdenken nachzukommen. Allerdings las sie den Brief diesmal zu Ende und stieß dabei auf die eindringliche Bitte, dem Anliegen von Lady Henrietta unbedingt zu entsprechen. Die Unterzeichnende, so hieß es weiter, sehne sich nicht nur nach frischem Wind in ihrem Leben, sondern sei zudem davon überzeugt, dass sich für Lily in London vorteilhafte Wege auftun könnten.
„Vorteilhafte Wege!“ Lily verdrehte die Augen – etwas, was sie meisterhaft beherrschte – und schob den Brief in die Pattentasche ihrer Schürze, wo er sich zu Gartenschere und Bindfaden gesellte. „Sie meint, in London ergibt sich sogar für mich die Gelegenheit, noch einen Ehemann abzubekommen.“
Energisch drehte sie sich um und stapfte über die ins Gras eingelassenen Steinplatten hinweg zu den Astern, um die vertrockneten Blüten aus dem Vorjahr zu entfernen. „Geht die vornehme Dame etwa davon aus, dass hier direkt hinter dem Bretterzaun die Welt endet?“, brummte sie den verdorrten Blüten zu.
Lily stockte, richtete sich auf und presste die Lippen zusammen. Gut, mit mehr als den wenigen jungen Männern, die sie von Kindesbeinen an kannte, konnte die Gegend tatsächlich nicht aufwarten. Galane wie Longfellow oder die Söhne des Fleischers, der Fischer, der …
Mit Nachdruck schnitt sie eine verblühte Aster knapp über dem Boden ab, als wolle sie damit auch ihre Überlegungen zum Schweigen bringen. Dessen ungeachtet drehte sich das Gedankenkarussell in ihrem Kopf beharrlich weiter. Jetzt rede ich schon mit den Blumen!
War die Aussicht, zumindest eine Zeit lang in London zu leben, denn wirklich ohne jeden Reiz? Lily war zwar in einer kleinen Pfarrei an der Küste aufgewachsen, stammte aber von einem Baronet ab. Ihr Onkel Donald hatte den Titel von seinem Vater geerbt, weshalb sie, die Tochter des dritten Sohnes, keinen Anspruch auf einen Adelstitel hatte. Doch für ein Mädchen hatte sie eine hervorragende Schulbildung genossen. Beim Tanzen war sie kein bisschen linkisch, und sie beherrschte, so sie denn wollte, die in der gehobenen Gesellschaft unabdingbare Etikette, sodass sie, ohne negativ aufzufallen, selbst Königin Charlotte vorgestellt werden könnte – was natürlich niemals geschehen würde! Außerdem war sie jung genug und mit hinlänglich Kühnheit ausgestattet, um ein solches Abenteuer zu wagen. Und nach einem Abenteuer schien die seltsame Bitte auf dem parfümierten Briefpapier doch förmlich zu riechen!
Im selben Moment trug eine kräftige Windbö den fauligen Geruch des Komposthaufens herbei. Lily lachte unbekümmert auf. Wenn das mal keine Warnung war! Womöglich sollte sie lieber die Finger – und auch den Rest ihres langen Körpers – von derartigen Experimenten lassen …
London Daily Life
9. Februar 1811
Gesucht: untadeliger Butler mit makellosem Empfehlungsschreiben
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Aufgebracht, weil er fünf Dinge auf einmal erledigen sollte, öffnete Archie die schwere Kassettentür aus Eichenholz. Vor ihm stand eine schlanke Frau, die man aufgrund ihrer unseligen Körpergröße unmöglich als grazil bezeichnen konnte. Sie trug ein adrettes, schmal geschnittenes Reisekostüm, während ihr Gesicht einen auffällig gesunden Farbton aufwies – etwas, was man in London nicht häufig sah, vorrangig weil es der gängigen Mode entsprach, möglichst blass und morbid auszusehen.
Die Fremde schenkte ihm, dem Butler, ein erstaunlich unbekümmertes Lächeln. Archie interessierte sich allerdings mehr für die beiden Reisetruhen links und rechts von ihr. Plante die unbekannte Erscheinung etwa, die Nacht hier zu verbringen?
„Guten Abend, ich bin Miss Lily Thomson.“
Das Lächeln der Frau vertiefte sich und löste in Archie ein Gefühl aus, das er nur schwer benennen konnte. Er zählte erst neununddreißig Lenze und meinte irritierenderweise dennoch, so etwas wie Vatergefühle für dieses Wesen zu hegen.
Er verbeugte sich nachlässig und fragte: „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“ Wie so oft klang er dabei nicht sonderlich devot, aber trotzdem höflich. Selbst dieser Fremden gegenüber, die hier garantiert von niemandem erwartet wurde, denn davon wüsste er …
„Lady Henrietta Murray erwartet mich.“
Sie sagte es so selbstgewiss, dass Archie geneigt war, ihr zu glauben. „Sind Sie sicher?“, fragte er dennoch entgeistert und fügte ebenso knapp hinzu: „Ich wurde nicht über Ihren Besuch informiert.“
Die Fremde musterte ihn unverhohlen. Offenbar war ihr bewusst, wie ungalant er gerade war und dass er aus der Rolle fiel – etwas, was der Marquess ihm gelegentlich zum Vorwurf machte. Doch Archie war nicht wie sein Vater, der zu seiner Zeit dem alten Lord Melton treu ergeben gewesen war. Jene Loyalität hatte Aldwyn Cammeron später auch dessen Sohn Halston entgegengebracht, sobald dieser das Zepter aus den Händen seines verstorbenen Vaters übernommen hatte.
Archie hingegen war der Überzeugung, dass auch einem Butler Respekt zustand. Den seinen mussten sich der junge Lord Melton und Lady Henrietta erst einmal verdienen.
„Ich bin die neue Gesellschafterin von Lady Henrietta Murray“, erklärte die junge Frau ihre Anwesenheit.
Archie machte sich nicht einmal die Mühe, sein Schmunzeln zu verbergen. Henrietta hatte ohne viel Federlesens eine zweite Gesellschafterin eingestellt? Dazu noch eine auffallend junge Frau, die zwar annehmbar gekleidet war und sich augenscheinlich zu benehmen wusste, der man aber anmerkte, dass sie irgendwie … anders war? Lily Thomson kam unüberhörbar aus einer ländlichen Gegend und gehörte, so spekulierte er, lediglich der Gentry[3] an.
Nun doch neugierig geworden, musterte er die Erscheinung vor sich. Das herausfordernde Funkeln in ihren wachen braunen Augen ließ auf ein großes Selbstvertrauen schließen. Zudem meinte Archie, der sich gern einmal damit rühmte, sein Gegenüber in Windeseile zu durchschauen, auch etwas Verschmitztes darin zu sehen. Diesem Gemäuer und Henrietta konnte vermutlich nichts Besseres passieren als eine Gesellschafterin wie Lily Thomson, die beides akribisch von der dicken Staubschicht befreien würde.
Auch der Dienerschaft käme eine derartige Veränderung gelegen, denn in diesem Haushalt gab es kein Leben. Bis dato hatten sie es nicht ein einziges Mal mit einem handfesten Skandal oder auch nur einem laut geführten Wortgefecht zu tun gehabt. In ihrem Aufenthaltsraum konnten sie sich über nichts anderes auslassen als über die Schlagzeilen der Zeitungsartikel, die Archie beim Bügeln der Seiten überflog. Hinter den dicken Mauern von Meltonplace gab es kein Kichern hinter verschlossenen Türen, kein Mitfiebern, Mithoffen, Mitfühlen …
„Muss ich etwa ein persönliches Empfehlungsschreiben des Prinzregenten vorweisen, damit Sie mich einlassen? Oder – was für mich weit schwerer wäre – alle meine Waffen ablegen?“
Diesmal gelang es Archie, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Wenn er wollte, konnte er einen ebenso gleichmütigen Gesichtsausdruck aufsetzen wie sein Vater. Und ja, er würde dieser Person zweifelsohne Einlass gewähren, selbst wenn sie auf der Flucht vor einem Bow Street Runner[4] sein sollte …
Er trat einen Schritt beiseite, hievte das Gepäck über die Schwelle und führte Lily in den Grünen Salon, der ebenso spärlich möbliert und ausgestattet war wie nahezu jedes Zimmer in Meltonplace. Dort angekommen, bat er sie, sich einen Augenblick zu gedulden. Er schickte Henriettas Kammerzofe Darla los, um die Dame des Hauses über die Ankunft der neuen Gesellschafterin zu informieren. Die Sechzigjährige, wie immer züchtig in Schwarz gekleidet, verriet durch ihren erstaunten Gesichtsausdruck, dass auch sie nichts von der im Grünen Salon wartenden Veränderung gewusst hatte.
Für Archie hieß es nun, eiligst zwei Dienstmädchen herbeizurufen und sie mit der Bereitstellung eines Zimmers für den Neuankömmling zu beauftragen. Nur, welches? Die Mansarde wäre für eine Gesellschafterin wohl kaum angemessen, und ein Gästezimmer erschien ihm auf Dauer zu unpersönlich. Gegebenenfalls kämen die beiden Räume infrage, die Henriettas und Halstons Mutter einst bewohnt hatte …
Archie beschloss, dass diese Entscheidung seine Kompetenzen überschritt, fragte sich aber, ob Henrietta, der man zeitlebens die meisten Entscheidungen abgenommen hatte, überhaupt an so praktische Details wie eine Unterkunft für Lily gedacht hatte.
Wie schon bei ihrer Rückkehr einige Tage zuvor kam Henrietta auch diesmal erstaunlich energiegeladen herbeigeeilt. Auf der geschwungenen weißen Steintreppe hielt sie sich noch nicht einmal an dem gedrechselten schwarzen Handlauf fest, den Rock ihres dunkelvioletten Morgenkostüms raffte sie unschicklich weit hoch.
Archie bemühte sich um Beherrschung, um nicht vor lauter Begeisterung in die Hände zu klatschen. Endlich versprach der Alltag im Hause Murray aufregender zu werden! Derzeit glich das Gebäude nämlich vielmehr einem Mausoleum; einem gediegenen, schmucken Grabmonument, das eine Menge lebendiger Leichen beherbergte.
„Meine Liebe! So früh habe ich Sie gar nicht erwartet.“ Henrietta klang atemlos, als sie in den Salon trat.
„Mylady …“ Die junge Frau knickste formvollendet, fügte aber vollkommen unförmlich hinzu: „Ihr Schreiben hat mich kaum weniger überrascht, da ich mich nie dahin gehend geäußert habe, Ihre Gesellschafterin werden zu wollen.“
„Sie irren sich“, widersprach Henrietta, und ein Schmunzeln unterstrich, dass ihr die Widerworte nichts ausmachten. „Sie stellten mir die Frage, ob Sie mir auf die eine oder andere Weise zu Diensten sein können.“
„Das war lediglich eine Floskel, keine Bitte um eine Anstellung.“
Lily wirkte irritiert, was Archie ihr nicht verdenken konnte. Die Mitglieder des Ton[5] hatten eine Art zu kommunizieren, die nicht jedermann verstand und bei der es galt, zwischen den Zeilen zu lesen.
„Nun, und dennoch sind Sie hier“, meinte Henrietta und wollte wohl gelassen wirken, aber die roten Flecken auf ihren Wangen verrieten ihre Aufregung. Entsprechend weniger forsch fügte sie hinzu: „Ich habe allerdings auf ein Antwortschreiben Ihrerseits gewartet, ehe ich die Kutsche losschicken – du meine Güte, wie sind Sie überhaupt hergekommen? Sie sind doch nicht etwa allein –?“
Henrietta klang eher fasziniert als vorwurfsvoll, obwohl Archie Letzteres durchaus hätte nachvollziehen können. Langsam – sehr langsam – zog er sich zurück. Dabei entgingen ihm weder das amüsierte Aufblitzen in Lilys Augen und die sich vertiefende Röte auf Henriettas Wangen, die sie um mindestens zehn Jahre jünger aussehen ließ, noch die Anwesenheit der beiden Dienstmädchen sowie Halstons Kammerdiener, die sich allesamt in Nischen drückten oder hinter Türzargen versteckten, um dem Schauspiel heimlich beizuwohnen.
Archie konnte es ihnen nicht verdenken. Was auch immer Henrietta zu tun gedachte – es versprach, unterhaltsam zu werden.
London Daily Life
16. Februar 1811
Lady Henrietta Murray, die Schwester des Marquess of Melton, ist zurück in London
Eine neue Gesellschafterin soll sie begleitet haben.
Ein Ball beim Duke of Cummingham zur Eröffnung der Saison
Ist der künftige Duke Marvin Carter, Earl of Kantley, auf Brautschau?
Selbstverständlich war Lily mit Matineen, Galadinners, Liederabenden und Bällen vertraut. Sie war in den vergangenen vier Jahren in einigen durchaus ansehnlichen Landsitzen zu Gast gewesen, hatte ungleich geistreiche Unterhaltungen geführt und zuweilen auch getanzt. Als sie nun aber das palastähnliche Gebäude der Familie Carter in der Upper Grosvenor Street betrat, konnte sie nur mit Mühe verhindern, dass ihr vor Staunen der Mund offen stand. Als Duke und Duchess standen die Gastgeber auf der höchsten Stufe der Peerage[6] und somit noch höher als Henriettas Familie. Dass sich die Wohnverhältnisse allerdings dermaßen unterschieden, damit hatte Lily nicht gerechnet.
Die Landsitze, die sie bisher besucht hatte, waren naturgemäß unterschiedlich ausgestattet gewesen. Doch wie Lily jetzt feststellen musste, schien den Eigentümern stets vor Augen zu stehen, dass jene Anwesen zu den selten genutzten Landgütern gehörten. Die Herrschaften suchten sie nur für wenige Wochen im Jahr auf, den Rest der Zeit verbrachten sie in ihrem Hauptwohnsitz oder in London, weshalb sich ein Luxus, wie er sich hier beim Duke of Cummingham offenbarte, dort nicht schickte. Vielleicht aber, so überlegte sie weiter, praktizierte der Adel auf den Landsitzen gezielt ein genügsameres Dasein? Bei diesem Gedanken schmunzelte sie. Genügsamkeit war stets Definitionssache.
Staunend blickte sie zu der weißen Zimmerdecke hinauf, wo, umgeben von einer Stuckrosette von mindestens drei Metern Durchmesser, ein mit Kristallprismen geschmückter Kronleuchter hing, dessen obere Ebene nahezu den gleichen Durchmesser aufwies wie die Rosette. Die vier nachfolgenden Ebenen, allesamt mit flackernden Kerzen bestückt, verjüngten sich jeweils.
Mit ihren Seidenschuhen glitt Lily förmlich über den Parkettboden aus verschiedenfarbigem Holz, während sie staunend den Ballsaal begutachtete.
Die bodentiefen Fenster waren von kirschroten Samtvorhängen eingerahmt, die perfekt mit den dezenten roten Ornamenten auf der goldfarbenen Tapete harmonierten. Auf der den Fenstern gegenüberliegenden Seite ging die Decke in eine geschwungene Arkade über, die von quadratischen weißen Säulen getragen wurde. Darunter gruppierten sich rot gepolsterte Chaiselongues, Sessel und Stühle aus edlem Nussbaumholz um kleine runde Tische. Auf diesen entdeckte Lily silberne Tabletts mit benutzten Gläsern, die gerade von einigen Bediensteten mit weißen Perücken und in grauer Livree gegen leere Tabletts ausgetauscht wurden.
Lily gegenüber, geschätzte fünfzig Meter entfernt, befand sich ein großer Kamin zwischen zwei geschlossenen weißen Flügeltüren, die mit goldfarbenen Ranken verziert waren. Hinter dem gusseisernen Schutzgitter flackerten orangerote Flammen, obwohl sich das Wetter für Mitte Februar erfreulich mild zeigte.
Die Pracht und die Opulenz des Raumes drohten Lily zu erdrücken, und sie flehte Gott im Stillen darum an, dass sie mit ihrer überstürzten, abenteuerlustigen Entscheidung, als Gesellschafterin nach London zu gehen, keinen Fehler begangen hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie es wieder einmal versäumt hatte, diese einschneidende und lebensverändernde Entscheidung im Gebet vor Gott zu bringen. Wie oft hatte ihr Vater ihr schon nahezubringen versucht, dass sie nicht erwarten konnte, Gottes Segen für etwas zu erwirken, wenn sie diesen zuvor nicht nach seinem Plan für ihr Leben fragte? In Gedanken gelobte Lily Besserung.
Ehe sie die Gäste einer ersten Musterung unterziehen konnte, sprach Henrietta sie an, sodass sie sich zu ihr umwandte.
„Sitzt meine Frisur? Und mein Kleid?“ Nervös strich die Frau mit den in lindgrünen Handschuhen steckenden Händen über den Stoff des festlichen mokkafarbenen Kleides mit der gesäumten Borte, dem verzierten Halsausschnitt und den weit geschnittenen Ärmeln, die an den Ellenbogen endeten.
Lily betrachtete Henrietta, deren Haar streng hochgesteckt war, ging um sie herum und zupfte unauffällig die Schleife des schmalen, ebenfalls lindgrünen Unterbrustbandes zurecht, ehe sie ihr aufmunternd zulächelte und nickte.
„Es ist gewiss albern, vor allem in meinem Alter …“ Henrietta winkte mit einer grazilen Handbewegung ab, als wolle sie ihrem Äußeren nun doch keine allzu große Bedeutung mehr beimessen.
Nach einer Woche im Hause Murray dämmerte Lily, weshalb Henrietta jählings auf die unkonventionelle Idee verfallen war, eine wildfremde Frau als Gesellschafterin zu engagieren. Es hatte sicher etwas mit dem zu tun, was Lily vor Jahren von einer mütterlichen Freundin über Frauen um die fünfzig anvertraut worden war: dass Letztere gern einmal ein Resümee über ihr bisheriges Leben zogen und mit dem Ergebnis nicht selten unglücklich waren. Dies hatte Henrietta wohl zu der Anstellung einer neuen Gesellschafterin animiert, die zudem deutlich jünger war als sie.
Ausschlaggebend war aber sicher auch der Umstand gewesen, dass Lily die Londoner Gesellschaft nicht kannte und somit völlig unwissend war, was die Dynamik innerhalb dieser nahezu verschworenen Gemeinschaft anbelangte, die sich – so hatte Darla ihr zugeflüstert – zugleich mit einer gehörigen Portion Eifersucht und gegenseitiger Rivalität belauerte. Überdies, und das mochte Henriettas stärkster Antrieb gewesen sein, hatte sie das Gespräch zwischen ihr und Longfellow belauscht und wusste somit um Lilys forschen, mitunter eigenwilligen Charakter.
Lily hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass sich Henrietta in ihrem eigenen Haus eingesperrt fühlte. Als unverheiratete Frau fristete sie in der Nobility[7] ein Schattendasein. Von den meisten anderen Damen ihres Ranges wurde sie ausgegrenzt – das Schicksal derer, die keinen Ehemann gefunden hatten. Henriettas Leben verlief seit Jahrzehnten in einem immerzu gleichförmigen Rhythmus, ohne jegliche Abwechslung. Und dabei sehnte sie sich nach mehr. Doch für Henrietta barg es Gefahren, sollte sie versuchen, aus dem vorgezeichneten Lebensgefüge auszubrechen. Denn dann würde ihr nicht mehr nur der Makel der alten Jungfer anhaften, sondern auch der, als eine Aufrührerin zu gelten. Oder als verschroben. Also sollte nun Lily frischen Wind in Henriettas Alltag bringen.
Anfangs hatte Lily befürchtet, Henrietta könnte die damit einhergehenden Aufregungen auf sie abwälzen. Diesen Verdacht hatte sie mittlerweile verworfen. Henrietta war eine echte Dame, die Großmut, Anstand und Feingefühl in sich vereinte. Sie würde Lily niemals auf schimpfliche Weise ausnutzen. Da sie beide derzeit noch nicht wussten, wie sie ihre neuen Rollen ausfüllen sollten, hatte Lily für sich beschlossen, schlicht sie selbst zu sein. Henrietta stand es dann frei, zu wählen, ob und wie lange sie die neue Gesellschafterin an ihrer Seite haben wollte.
„Sie haben eine bewundernswerte Figur“, flüsterte sie Henrietta zu.
„Ich bin etwas dürr“, gab diese ebenso leise zurück, vor allem da sich ihnen eine Frau in einem sandfarbenen Kleid näherte. „Als die Krinolinen und Tournüren verschwanden und diese schmal geschnittenen Chemisenkleider in Mode kamen, hatte ich anfangs das Gefühl, in einem Unterkleid – was die Chemise ja einmal war – oder vielmehr in meinem Nachthemd das Haus zu verlassen. Inzwischen mag ich den geraden Schnitt.“ Die zart gebaute Lady drückte kurz Lilys Arm.
Lily wusste, wovon Henrietta sprach. Die frei fallenden, nicht taillierten Kleider standen vor allem zierlichen Frauen ohne große Rundungen. Bei fülligeren Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts offenbarten sie hingegen, was zuvor ausgestellte Röcke, üppige Volants, Rüschen, lange Ärmel und Spitzenverzierungen verborgen hatten.
Die Dame in dem sandfarbenen Kleid mit den kleinen, durch Lochstickerei aufgewerteten Puffärmeln und weißen Unterärmeln, die ihr bis über die Handgelenke reichten, gesellte sich zu ihnen. Da Henrietta einen Knicks machte, tat Lily es ihr gleich, wobei ihrer deutlich tiefer und damit respektvoller ausfiel.
Die Gastgeberin war jünger als Henrietta, aber rundlicher, und ihr Gesicht wies einige tiefe Linien auf, die auf Lebenskummer schließen ließen. Gleichwohl zeugte ihr offenes Lächeln, das gerade weiße Zähne offenbarte, von der aufrichtigen Freude über Henriettas Anwesenheit.
„Wie entzückend, Lady Henrietta, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Wir haben Sie in den vergangenen Jahren sehr vermisst!“
Obwohl es Lily immer noch schwerfiel, die zwischen den Zeilen verborgenen Botschaften zu verstehen, hörte sie diesmal die versteckte Frage heraus, weshalb Henrietta zuletzt an keiner Gesellschaft mehr teilgenommen hatte. Dass ihre Gönnerin sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, war zwischen ihnen noch nicht zur Sprache gekommen. Offenbar wusste Lily nach einer Woche Umgang mit Henrietta längst nicht alles über die Frau.
„Nun …“, begann Henrietta, und Lily hoffte inständig, dass sie sich nicht gedrängt fühlte, den Grund für ihre Weltabgeschiedenheit nennen zu müssen. Wenn die Duchess echtes Interesse an Henriettas Verbleib gehabt hätte, hätte sie sie doch besuchen können.
Lilys Blick glitt über die anwesenden Damen und Herren hinweg, deren Gelächter und Gespräche den Raum erfüllten. Erlesene Schmuckstücke funkelten im Kerzenlicht, der Stoff edler Kleidungsstücke schimmerte, Gläser stießen klirrend aneinander. All das ergab ein Bild vollkommener Harmonie und wohlmeinender Gemeinschaft. Hat sich denn nie jemand nach Henriettas Ergehen erkundigt?
Lily wäre Henrietta wirklich gern mit einer Antwort zu Hilfe gekommen, doch da sie noch nicht vorgestellt worden war, musste sie schweigen.
„Ihrer Einladung bin ich ja nun gefolgt. Und ich möchte mich herzlich für die Ehre bedanken.“ Henrietta wandte sich halb zu Lily um. „Darf ich Ihnen meine entzückende Begleiterin vorstellen? Miss Lily Thomson von den Suffolk-Thomsons. Ihr Großvater ist Sir Mortimer Thomson, Baronet of Witless.“
Lily senkte schmunzelnd den Kopf, denn Henrietta umging überaus geschickt die Tatsache, dass sie nur die Tochter des dritten und damit reichlich unbedeutenden Sohnes ebenjenes Baronets war.
„Meine Liebe, das ist Lady Madeleine Carter, die ehrenwerte Gemahlin des Duke of Cummingham. Her Grace ist –“ Henrietta brach ab, als die Gastgeberin ihr eine Hand auf den Arm legte.
„Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Miss Thomson.“
Lily, die einen leichten französischen Akzent herauszuhören glaubte, knickste erneut. „Die Freude ist ganz meinerseits, Your Grace.“
Madeleine winkte lächelnd ab. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht so förmlich ansprechen. Da Sie nun Lady Henriettas Begleiterin sind, hoffe ich auf viele Begegnungen, bei denen wir uns sicher gut unterhalten werden.“
Madeleines Worte waren selbst für Lily unmissverständlich. Die Frau wünschte sich, dass Henrietta – mit Lilys Unterstützung – wieder mehr am gesellschaftlichen Leben Londons teilnahm. Lily schenkte der Duchess ein strahlendes Lächeln. Offenbar lag ihr doch etwas an der vereinsamten Henrietta.
„Gern, Mylady.“
„Bitte, Miss Thomson, für Sie Lady Madeleine. Erlauben Sie mir die Frage, wie Sie zu dem Vergnügen gekommen sind, die verehrte Lady Henrietta zu begleiten? Wie lange planen Sie, London mit Ihrer Anwesenheit zu beehren?“
Lily wartete auf ein aufforderndes Nicken von Madeleine, ehe sie antwortete: „Lady Henrietta war so großherzig, mich einzuladen, als ihre Gesellschafterin in ihrem Londoner Stadthaus zu wohnen. Dieser Einladung bin ich gern nachgekommen.“
Sie sah, wie Madeleine, sicher ein wenig erstaunt über das unkonventionelle Arrangement, die wohlgeformten Augenbrauen hochzog. Lily quittierte dies mit einem weiteren Lächeln, und Henriettas blaue Augen funkelten wie Saphire im Sonnenlicht.
Madeleines Blick wanderte von Lilys aufwendiger Hochsteckfrisur – die sie Henriettas tüchtiger Zofe verdankte – zu ihrem Gesicht mit den vereinzelten Sommersprossen auf Nase und Wangen und weiter zu dem rechteckigen, weiß bestickten Ausschnitt ihres blassblauen Kleides mit dem deutlich dunkleren Unterbrustband. Danach musterte sie Lilys schlanke Statur bis hinunter zum Saum des Kleides mit der kleinen Schleppe, die von einem dunkelblauen Satinband eingefasst war. Weiße Schuhspitzen blickten darunter hervor, wobei das Kleid verbarg, dass es sich hierbei um flache Schuhe handelte, da Lily auch ohne Absätze alle der hier anwesenden Damen überragte.
Lily war durchaus bewusst, dass sie nach diesem Abend von der namenlosen Landpomeranze zu einem wichtigen Gesprächsthema in den Londoner Salons emporsteigen würde. Die Frage, weshalb Lady Henrietta Murray eine einfache junge Frau vom Lande zu ihrer Gesellschafterin erkoren hatte, würde für reichlich Spekulationen sorgen. Zumal ebenjene Gesellschafterin nur die Enkelin eines in London unbekannten Baronets war und damit ohne Anrecht auf einen Titel. Lilys Körpergröße und der Umstand, dass sie unverheiratet war, würden die Mutmaßungen nur zusätzlich befeuern, ebenso wie ihre für einen Ball viel zu schlichte Garderobe – Lilys mondänstes Kleid –, da die von Henrietta in Auftrag gegebene Frühlingskollektion noch nicht im Hause Murray eingetroffen war. Lily konnte sich ab sofort also einer besonderen Berühmtheit gewiss sein.
Mit einem Schmunzeln überlegte sie, ob Henrietta ebenjene Schneiderarbeiten gleich morgen früh wieder stornieren oder ihre Garderobe zumindest deutlich weniger opulent gestalten lassen würde. Immerhin wäre auch das ein Akt der Rebellion, die Henrietta offenbar anstrebte. Doch weshalb das alles? Weil sie das Gefühl hatte, in Adelskreisen unsichtbar zu sein? Vielleicht entsprach das nur ihrer eigenen, getrübten Wahrnehmung, denn die Duchess of Cummingham war ihr sichtlich zugetan.
Lily ließ Madeleines Musterung stoisch über sich ergehen, nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst eine faszinierende Erscheinung entdeckt hatte. Keine zwanzig Meter von ihr entfernt stand ein Mann von etwa dreißig Jahren mit einer beeindruckenden Statur – nicht nur, was seinen breiten Brustkorb anbelangte, sondern auch seine ungewöhnliche Körpergröße. Um ihm ins Gesicht sehen zu können, würde sogar Lily aufschauen müssen.
Der Mann lehnte mit der Schulter an einer der quadratischen Säulen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Haltung und den Gesichtsausdruck gelangweilt zu nennen, wäre noch höflich gewesen. Wie die übrigen Anwesenden trug auch er einen edlen Zwirn, allerdings war er vorrangig in helles Grau und dunkles Blau gekleidet. Was an den meisten Männern unauffällig ausgesehen hätte, sicherte ihm die Aufmerksamkeit der Gäste. Zumindest die von Lily. Dennoch wirkte er für den Anlass sträflich leger gekleidet.
Lily meinte zu durchschauen, dass er sich beim Ankleiden wenig Mühe gegeben hatte. Die meisten jüngeren Herren trugen das Haar nach der gängigen Windstoßmethode frisiert – „Cheveux à la Titus“. Die schwarzen Locken des Mannes, der Lilys Interesse auf sich gezogen hatte, wirkten darüber hinaus auch ungewöhnlich … wild.
Sie senkte rasch den Blick, als er den Kopf in ihre Richtung drehte. Wäre Henrietta jünger, würde Lilys vorrangiges Ziel darin bestehen, jenes ansprechende Exemplar mit ihr zu verkuppeln. Damit hätte Henrietta ganz sicher das gefunden, wonach sie wohl suchte: Aufregung.
„… Lady Vivianne Knight.“
Lily wandte ihre Aufmerksamkeit der rotblonden jungen Frau zu, mit der sie gerade bekannt gemacht wurde. Diese knickste leicht, was ihr mit Perlen besticktes blassgelbes Musselinkleid zum Rascheln brachte. Lily erwiderte die Höflichkeitsbekundung. Wenn sie es richtig mitbekommen hatte, handelte es sich bei der drallen Person mit dem hübschen rundlichen Gesicht und den bezaubernden Wangengrübchen um die achtzehnjährige Enkelin eines Dukes.
Sie tauschte ein paar Höflichkeiten mit dem zurückhaltenden, leise sprechenden Mädchen aus, und schon bald näherten sich weitere Frauen, die es kennenzulernen galt. Nach unzähligen Ehefrauen und Töchtern anwesender Barone, Viscounts, Earls und einem Duke gab Lily den Versuch auf, sich all die Namen und dazugehörenden Titel zu merken. Stattdessen knickste und lächelte sie höflich, erwiderte Nettigkeiten und sorgte dafür, dass sie stets in Henriettas Nähe blieb, denn so wurde auch die Ältere in die Gespräche miteinbezogen.
Erst nach geraumer Zeit gestattete man ihr, endlich einmal durchzuatmen – was Lily auch ausgiebig tat. Dabei hob das Unterbrustband ihre Brüste an, zumal sie zusätzlich den Rücken durchbog, um ihre Wirbelsäule vom vielen Stehen zu entlasten. Was ihr im Vorfeld wie ein aufregendes Vergnügen vorgekommen war, artete nun in eine geistige Ausdauerübung aus. Zudem verspürte sie einen großen Durst.
Gerade als sie Henrietta vorschlagen wollte, eine der Sitzgelegenheiten unter der Arkade aufzusuchen, strebte eine Gruppe junger Männer in ihre Richtung. Madeleine klatschte eifrig in die Hände. „Sehen Sie nur, Miss Thomson! Sie haben die Aufmerksamkeit unserer Junggesellen geweckt. Ich stelle mich gern zur Verfügung, sie Ihnen vorzustellen.“
Lilys Lächeln fiel gequält aus. Bereits der erste junge Mann, der Sohn eines Viscounts, dessen Name ihr bekannt vorkam, stellte sich auf die Zehenspitzen und reichte ihr dennoch nur bis zur Nasenspitze. Er trug auffällig viele kunstvoll geknotete Halstücher übereinander, sodass Lilys vorrangiges Interesse der Frage galt, ob er so überhaupt atmen konnte. Sein Name verriet ihr, dass sie zwei Jahre zuvor auf einem Sommerfest im Landsitz seiner Eltern zu Gast gewesen war. Offenbar hatte sie damals keinen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen, denn er erinnerte sich nicht an sie.
Madeleine wollte ihr gerade den nächsten Junggesellen vorstellen, als sich eine große Gestalt vor diesen schob und Lily dadurch unziemlich nahe kam. Allerdings hielt der Hüne ein Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in der gebräunten Hand, das er Lily sogleich anbot. Dankbar nahm sie es entgegen.
Dass sie den Kopf heben musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können, empfand sie als pure Freude; der Blick in seine meerblauen Augen wühlte sie regelrecht auf. Jetzt durchschaute Lily auch, weshalb dieser Mann, der ihr zuvor bereits aufgefallen war, obwohl korrekt gekleidet, so faszinierend lässig wirkte. Er trug keines jener modischen Halstücher, sodass sie seinen Hals und seinen Adamsapfel sehen konnte. War dies ein wenig versteckter Angriff auf die Eitelkeit seinesgleichen? Sein Gesicht war sonnengebräunt und der Bartschatten dunkel, was in Lily die Vermutung aufkommen ließ, dass er sich an diesem Morgen nicht rasiert hatte.
„Sie sind mein Retter“, sagte sie halblaut und fügte noch leiser hinzu: „In mehrfacher Hinsicht.“
„Ich konnte von dort drüben aus beobachten, wie Sie in Ihrem Kopf all die Namen und Titel durcheinandergeworfen haben.“
Seine Bassstimme brachte ihr Inneres zum Vibrieren, als hätte er die tiefste Saite eines Zupfinstruments in Schwingung versetzt.
„Ich wage Ihrer wenig charmanten Einschätzung über mein Erinnerungsvermögen nicht zu widersprechen. Fortan werde ich wohl die eine oder andere fantasievolle Namens- und Titelkombination von mir geben und die Gesellschaft damit düpieren.“
Lily sah, dass sich seine Augen weiteten, dann schenkte er ihr ein anerkennendes Lächeln. Womit hatte sie ihn überrascht? Damit, dass sie nicht abstritt, überfordert zu sein? Dass sie nicht kokettierend um seinen Beistand bat, was zukünftige gesellschaftliche Ereignisse betraf? Weshalb sollte sie eine Schwäche abstreiten, die sie nun einmal hatte?
Lily zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: „Ich frage in all der mir möglichen Demut so lange nach, bis ich mir die Namen und Titel eingeprägt habe. Einer Fremden gegenüber lassen die Damen und Herren sicher geduldige Nachsicht walten.“
„Sie erwarten vielmehr, dass Ihnen ausgerechnet ihr Gesicht und ihr Name in Erinnerung bleibt, während Sie die der anderen getrost vergessen dürfen.“
„Nun, dann werde ich die Hoffnungen der Herrschaften wohl oder übel enttäuschen.“
„Enttäuschen Sie sie unbemerkt“, riet er ihr und trat einen Schritt nach links, um dem jungen Mann, der ihr offenbar unbedingt vorgestellt werden wollte, erneut die Sicht zu versperren.
„Weshalb sollte ich zu einer Täuschung greifen?“, hakte Lily nach, amüsiert und erfreut zugleich über diesen direkten und ungekünstelten Gesprächspartner, der sie ein wenig an Longfellow erinnerte. „Wenn ich einen Gast in unserem Hafenstädtchen am Meer begrüße und ihm innerhalb einer Stunde rund fünfzig Personen vorstelle, verlangt niemand, dass ebenjener am nächsten Tag allen Gesichtern den richtigen Namen und Beruf zuordnen kann.“
„Aber würde nicht zum Beispiel der … Geistliche der Stadt erwarten, dass dem Besucher gerade sein Name im Gedächtnis bleibt?“
Lily ließ ihr ansteckendes, rollendes Lachen hören, ehe sie ihm versicherte: „Damit haben Sie tatsächlich recht. Genau das würde der Geistliche von einem Gast erwarten, den ich in meinem Zuhause beherberge.“ Damit wandte sich die Pastorentochter von dem sichtlich verwirrten Mann ab und nahm erleichtert einen Schluck des mit Minze aromatisierten Wassers.
Er nutzte die Gelegenheit, indem er sich betont nachlässig – was Lily erheiterte – verbeugte und den Weg für den ungeduldig wartenden Gentleman hinter sich freigab.
„Meinen Sohn Marvin Carter, Earl of Kantley, haben Sie nun ja ebenfalls kennenlernen dürfen.“ Madeleines Lächeln wirkte eine Spur verlegen. „Zugegeben, ich bin ein wenig erstaunt über sein Engagement, denn für gewöhnlich hält sich Marvin im Hintergrund.“
Lily sah dem davonschlendernden Mann hinterher. Der angehende Duke grüßte in alle Richtungen, allerdings so knapp, dass es gerade noch als schicklich – statt desinteressiert – bezeichnet werden konnte, und verließ den Raum durch die Tür rechts neben dem Kamin.
Weshalb fand seine Mutter es erwähnenswert, dass er einen Gast in seinem Zuhause begrüßte? Wobei … Lily drehte nachdenklich das Glas in ihren Händen. Er hatte sich ihr nicht vorstellen lassen, sondern hatte sie unverfroren angesprochen – und sich dabei vor die wartenden Männer gedrängt. Dies war ein Bruch mit der Etikette, weit mehr noch als die legere Kleidung. Dass Marvin den Ball verlassen hatte, noch ehe alle Gäste eingetroffen waren, erschien Lily ebenfalls unkultiviert. Gehörte er womöglich zu den wenig zuvorkommenden, ja sogar voreingenommenen Exemplaren seines Geschlechts? Sie nahm einen weiteren Schluck des wohltuenden Getränks, das er ihr gereicht hatte, und verzieh ihm sogleich alle seine Vergehen – zumal sich kein einziges davon gegen sie gerichtet hatte.
Eines jedenfalls hatte Marvin Carter erreicht: Auch wenn sie garantiert alle Namen und Titel der Personen durcheinanderwerfen würde, denen sie heute vorgestellt worden war: seiner hatte sich unwiderruflich in Lilys Gedächtnis gebrannt.
London Daily Life
21. Februar 1811
Schwerer Raubüberfall im Convent Garden Market
Das Komitee zur Errichtung einer Bronzestatue für den verstorbenen Generalgouverneur von Indien, Seine Exzellenz Lord Blasberry, erbittet dringend Unterstützung!
Bei Interesse kontaktieren Sie die Vorsitzende, die Witwe von Lord Blasberry.
Gewiefter Bankier bringt Geschäftsleute aller Art, inzwischen sogar Herren aus dem Ton, zum Schwärmen
Hinter vorgehaltener Hand lobt man sein untrügliches Gespür für lukrative Investitionen.