Herbstglühen am Liliensee - Elisabeth Büchle - E-Book
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Herbstglühen am Liliensee E-Book

Elisabeth Büchle

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Beschreibung

Schwarzwald, 1966: Als Bärbel an den Liliensee zurückkehrt, ahnt sie nicht, dass es auch ihre heimliche Jugendliebe Ralf wieder in das Tal verschlagen hat. Es dauert nicht lange, bis ihre verschütteten Gefühle für den Veterinär erneut ans Tageslicht kommen. Doch wird es Bärbel gelingen, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu wagen? Das romantisch-stürmische Finale der Reihe zeigt auf, dass im Scheitern immer auch die Chance auf einen Neuanfang liegt - und dass Gott unsere Fehlerhaftigkeit gebrauchen kann, um etwas Gutes daraus hervorgehen zu lassen.

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Über die Autorin

Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum.

www.elisabeth-buechle.de

Elisabeth Büchle

Herbstglühenam Liliensee

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

© 2024 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Erschienen im August 2024

ISBN 978-3-96122-638-2

Umschlaggestaltung: Hanni Plato

Umschlagfoto: Westend61 / Michael Malorny

Lektorat: Carolin Kilian

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

www.gerth.de

Kapitel 1

1966

Überaus behutsam drückte Bärbel die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und sie schob sie vollends auf. Ein blau gekachelter Flur mit drei massiven Eichenholztüren zeichnete sich im Dämmerlicht ab, weiter hinten führte eine Treppe ins Obergeschoss. Stille umgab sie. Zudem der Geruch von Politur und Reinigungsmitteln, von Leder und abgestandener, trockener Sommerluft, die hier über sechs Wochen hinweg eingesperrt gewesen war.

Bärbel kannte das Schulhaus gut, immerhin hatte sie es vier Jahre lang jede Woche von Montag bis Samstag betreten, die Schulferien natürlich ausgenommen. Sie liebte es, Neues zu lernen, was dazu geführt hatte, dass sie in der weiterführenden Schule zwei Klassen überspringen konnte. Später war sie vorzeitig zum Lehramtsstudium zugelassen worden und hatte jetzt, mit gerade einmal Anfang zwanzig, ihre erste Anstellung erhalten. Dies an der Grundschule von Vierbrücken, jener kleinen, pittoresken Touristenortschaft, die versteckt zwischen bewaldeten Schwarzwaldhügeln lag.

Da Bärbel in dieser Gegend aufgewachsen und zur Schule gegangen war, kannte sie hier praktisch jeder, und inzwischen war sie sich nicht mehr sicher, ob das von Vorteil oder eher von Nachteil für sie war. Mitte September, also bereits nächste Woche, würde das neue Schuljahr beginnen. Es sollte eine Klasse mit Schulanfängern und eine für die drei höheren Jahrgänge geben – beide würde sie unterrichten. Neunzehn Schüler würden es sein, mehr als in den Jahren zuvor. Und genau das machte Bärbel Angst.

Sie trat in das kühle Schulhaus. Die Absätze ihrer Schuhe klapperten laut auf den teils gesprungenen Fliesen. Bärbel ließ die Tür offen, um den herbstlichen Sonnenstrahlen Einlass zu gewähren, und betrat den ersten Raum, ihr zukünftiges Lehrerzimmer. Allein mit dem wuchtigen Pult, einem einzelnen Stuhl und den Regalen an zwei Wänden wirkte es völlig überfüllt. In einem Holzkasten, der in kleine Quadrate unterteilt war und in der Zimmerecke stand, steckten aufgerollte Karten und Schaubilder, hinter der Tür gab es ein winziges Waschbecken mit einem Spiegel darüber.

Bärbel betrachtete ihr Konterfei und drehte leicht den Kopf, sodass sie ihre linke Gesichtshälfte sehen konnte. Dort zog sich von der Stirn bis hinunter zum Kinn eine unansehnliche, wenngleich im Lauf der Jahre verblasste Narbe. Diese machte ihr Gesicht auffällig asymmetrisch, ihr Lächeln schief.

Noch heute hörte sie die langen, schweren Baumstämme des Polters knarren, ja nahezu kreischen, als dieser zusammenbrach und sie, ihren Bruder Bernd und den gemeinsamen Freund unter sich begrub. Sie hörte die Schreie der Jungen, ihr eigenes Aufstöhnen und spürte den Schmerz. Aber wie durch ein Wunder hatten sie alle drei überlebt! Allerdings hatten sie für eine unbarmherzig lange Zeit unter den Stämmen gelegen, ehe sie endlich geborgen werden konnten.

In einem Anflug von Trotz streckte Bärbel ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und wandte sich dem Pult zu. Sie stellte ihren Weidenkorb auf den knarrenden dunklen Holzboden mit den unzähligen Astlöchern, zog ein Staubtuch aus dem Korb und begann, den Raum aus seinem Sommerschlaf der vergangenen Wochen zu wecken. Als sie ein seltsames Scharren hörte, hob sie irritiert den Kopf. Da es im nächsten Moment aber wieder völlig still war, tat sie das Geräusch mit einem Schulterzucken ab und putzte weiter. So ein altes Fachwerkhaus knarrte und knackte eigentlich ständig, das kannte sie von den Gebäuden des Bauernhofs, auf dem sie aufgewachsen war.

Endlich zufrieden mit dem Zustand des Lehrerzimmers, wechselte Bärbel in den kleineren der beiden Klassenräume. Verwundert sah sie sich um. Hier roch es unheimlich streng. Nur, wonach? Kot und Urin? Erneut vernahm sie ein Scharren, dann ein Winseln.

Sie hielt inne, schloss die Augen und lauschte. Da war er wieder, jener Laut, der nicht in ein verwaistes Unterrichtszimmer passte. Irgendetwas Lebendiges war in diesem Raum. Mit in die Seiten gestemmten Händen drehte sie sich einmal im Kreis. Auf einem Hof aufgewachsen, fürchtete sie sich nicht so schnell vor Tieren – wobei sie Ratten nicht sonderlich mochte. Den Geräuschen nach zu urteilen musste das, was sich hier eingenistet hatte, aber mindestens so groß sein wie ein solcher Nager. Dies erklärte auch den strengen Geruch.

„Wo steckst du?“, fragte Bärbel halblaut. Ein erneutes Winseln war die Antwort. Sie riss die Augen auf. Ein Hund? War das, was sich hier hereinverirrt hatte, vielleicht ein Hund? „Und wie bist du hier reingekommen?“, murmelte sie, ging in die Hocke und blickte an den Tisch- und Stuhlbeinen vorbei. Eine Bewegung und ein Rascheln ließen sie den Kopf wenden. Hinter dem Ölofen zwischen den beiden Fenstern hatte sich etwas gerührt. Langsam bewegte sich Bärbel auf das schwarze Eisengestell zu, beugte sich über das Ofenrohr, das für gut einen halben Meter parallel zum Boden verlief, dann senkrecht anstieg und schließlich im gemauerten Kamin verschwand. Dunkelbraune Knopfaugen aus einem zitternden schwarz-goldenen Fellbündel schauten sie an – kaum weniger misstrauisch, als sie selbst dreinblickte.

„Was machst du denn hier? Der Unterricht beginnt erst nächste Woche“, sprach Bärbel das Tier behutsam an. Die flauschigen Hängeohren hoben sich leicht, der Welpe neigte neugierig den Kopf. Bärbel streckte langsam die Hand aus, die Handfläche nach oben gewandt. Der Hund reckte sich ihr vorsichtig entgegen, schnupperte, zuckte zurück, schnupperte nochmals und leckte ihr dann die Fingerspitzen ab.

„Komm doch mal da heraus“, lockte sie ihn leise. Spielerisch bewegte sie die Finger, tippte mit diesen auf die Bodendiele und zog dabei langsam die Hand weg. Der Welpe sprang auf und wollte unübersehbar auf das Spiel eingehen, knickte aber um. Sein Fiepen traf Bärbel mitten ins Herz. Dem Tier ging es nicht gut. Vielleicht, weil der Kleine heimlich ins Schulhaus gehuscht und seitdem hier eingeschlossen war? Wie lange der arme Kerl hier wohl schon festsaß – ohne Wasser und Futter? Bärbel kniete sich hin und ergriff entschlossen den zitternden Hund. Er war noch klein, womöglich gerade erst entwöhnt.

Mit dem Tier auf dem Arm verließ sie das Gebäude, wandte sich nach rechts und eilte die abschüssige Straße hinunter bis zur Hauptstraße von Vierbrücken, deren Verlauf sich am geschwungenen Fluss mit seinen fünf Brücken orientierte. Sie bog nach links ab, passierte Ritas Schönheitssalon und betrat kurz darauf eines der moderneren Schwarzwaldhäuser mit tiefem Walmdach und dunklem Fachwerk, in dem sich – sehr zur Irritation der Touristen – nicht nur die Praxis des Humanmediziners Dr. Schuster befand, sondern auch die Tierarztpraxis des anderen Dr. Schuster. Dessen Ehefrau Liv saß hinter dem Empfangstresen und begrüßte Bärbel mit einem liebevollen Lächeln, das aber schnell verblasste, als sie den verfilzten, ausgemergelten Welpen in ihren Armen entdeckte.

„Meine Güte, Bärbel, wo hast du den denn gefunden?“

„In der Schule.“

„In den Ferien?“

„Er ist noch zu klein, um das Prinzip der Schulferien zu verstehen.“

Liv grinste und deutete in Richtung des angrenzenden Flurs. „Raum zwei.“

„Ist denn niemand vor mir dran?“

„Ich denke, der arme Kerl geht vor.“

„Danke, Liv.“ Bärbel eilte den Flur entlang, öffnete mit dem Ellenbogen die Tür von Raum zwei und prallte, kaum dass sie eingetreten war, gegen einen großen, kräftigen Männerkörper. Als sie aufsah, um sich rasch bei Ben Schuster zu entschuldigen, blickte sie in ein kantiges, deutlich jüngeres Gesicht. Die blaugrünen Augen und der dunkelbraune Lockenkopf waren ihr nur allzu vertraut.

„Oh, guten Morgen, Ralf.“ Instinktiv drehte sie den Kopf so, dass Ralf Vogel, mit seinen siebenundzwanzig Jahren der jüngste der Förster-Söhne, ihre linke Gesichtshälfte nicht sehen konnte. Diese Bewegung war ihr inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen.

„Bärbel? Wie schön, dich zu sehen. Was … hast du denn da?“

„Ich wollte den Klassenraum für die Schulanfänger vorbereiten und habe den Welpen hinter dem Ofen gefunden.“

Ralf trat wieder näher und schälte den Hund aus ihren Armen. Der Mann roch nach Desinfektionsmittel, doch seinem karierten Flanellhemd haftete der Duft von Tieren und Wald an, so wie Bärbel es seit jeher von ihm kannte. Irgendwie fand sie es erfreulich, dass er selbst nach Jahren der Abwesenheit – er hatte Tiermedizin studiert – noch immer so vertraut duftete. Wie es aussah, war nicht nur sie, sondern auch Ralf nach Vierbrücken zurückgekehrt. Arbeitete er nun in Bens Praxis?

„Das ist ein Hovawart“, sagte Ralf halblaut und fügte dann an sie gerichtet hinzu: „Auch Hofwart genannt, weil sie gern als Wachhunde auf Bauernhöfen gehalten werden. Sie sind treue Beschützer. Dieser Welpe hier wirkt völlig ausgehungert und dehydriert. Er muss lange in der Schule eingesperrt gewesen sein.“

„Wäre ich nur früher hingegangen …“, murmelte Bärbel vor sich hin, erschrocken über Ralfs ernsten Tonfall. Sie sah zu, wie er das geschwächte Tier auf den Untersuchungstisch legte.

„Du konntest ja nichts von diesem strebsamen Kerlchen wissen“, sagte Ralf, während er mit der Untersuchung begann. „Ansonsten wirkt er gesund. Er ist grob geschätzt zwölf Wochen alt.“ Ralf hörte den Hund mit dem Stethoskop ab und untersuchte dann eine seiner Pfoten. Dabei entstanden zwei Längsfalten auf seiner Stirn. „Ich denke, der kleine Kerl ist ein Kämpfer. Sieht aus, als hätte er bereits eine Menge durchgemacht. Hältst du ihn bitte mal fest? Ich möchte ihm eine Infusion anlegen.“

Bärbel trat neben Ralf und packte den Hund vorsichtig an Gesäß und Hals. Erst jetzt bemerkte sie die winzigen Äste und eine Vielzahl von Kletten in dem ungepflegten Fell. Schulter an Schulter versorgten Ralf und sie den Welpen, wobei sich Bärbel der Nähe des Mannes – früher war sie einmal ein wenig in ihn verliebt gewesen – sehr bewusst war.

Irgendwann ging die Tür hinter ihnen auf und Ben trat ein. Der Tierarzt stellte sich auf die andere Seite des Tisches und sah ihnen schweigend zu. Schließlich sagte er: „Würde mich nicht wundern, wenn er aus demselben Wurf stammt wie die beiden Welpen, die vor drei Wochen tot in einem Sack am Flussufer gefunden wurden.“

Bärbel hob den Kopf, und Ben nickte ihr zu. „Ja, jemand hat im Fluss Welpen ertränkt. Bereits recht große Tiere, was bedeutet, dass die Hündin ihre Jungen eine Zeit lang versteckt großgezogen hat, ehe man sie entdeckte und entsorgte.“

„Sag ich doch, ein Kämpfer“, murmelte Ralf und entfernte etwas aus ebenjener Pfote, die er zuvor schon kritisch betrachtet hatte.

„Kannst du zur Apfel-Marie rübergehen, sobald du hier fertig bist? Ihre Hühner machen mal wieder Probleme“, sagte Ben an Ralf gewandt.

„Klar, eine Partie Hühnerjagd lasse ich mir nicht entgehen.“

Ben wandte sich zum Gehen, meinte aber mit einem Zwinkern in Bärbels Richtung: „Wichtiger noch ist der Apfelkuchen, den es als Belohnung gibt. Liv meint ja, die Frau lässt die Hühner absichtlich entschlüpfen, damit jemand zum Einfangen kommt, den sie anschließend in ihrer Küche verköstigen kann.“

„So fängt sich auch die Apfel-Marie jemanden ein.“ Bärbel lachte hell auf.

„Lass das mal lieber nicht meine Mutter hören“, meinte Ralf trocken.

Bärbel winkte Ben zum Abschied zu und wandte sich dann an den jüngeren Tierarzt. „Was hat das mit deiner Mutter zu tun?“

„Halt das bitte mal. Danke.“ Ralf drückte ihr Verbandsmull in die Hand. Mit der anderen streichelte Bärbel den inzwischen lethargisch daliegenden Welpen.

„Sie und mein Opa Johann sind seit gut einem Jahr damit beschäftigt, diverse Menschen miteinander zu verkuppeln. Dabei wetteifern sie darum, wer denn nun die größten Erfolge erzielt.“

Bärbel reichte ihm den Mull zurück und hielt das Bein des Patienten hoch, sodass Ralf die Pfote verbinden konnte. „Robert und Lisa, Georg und Marlies und zuletzt eure Cousine Ellen und Cary Grant?“

Ralfs Augenrollen, als sie den Namen des Schauspielers nannte, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem hiesigen neuen Pfarrer aufwies, ließ Bärbel kichern. „Jetzt bin nur noch ich übrig, was mich ein bisschen in Panik versetzt“, gab er zu.

Bärbel nickte nur. Sie hatte keine Ahnung, wie Ralfs Leben während seines Studiums verlaufen war. Gab es bereits eine junge Frau, der sein Herz gehörte? Ihr eigenes machte bei dem Gedanken daran jedenfalls einen seltsamen Sprung, was sie ziemlich irritierte. Und ärgerte. Denn genau vor derlei Gefühlen schottete sie sich seit Jahren ab. Sie durfte sich nicht verlieben, schließlich würde kein Mann sie je heiraten wollen – nicht mit dieser hässlichen Narbe im Gesicht. Oder nach ihrem jüngsten Versagen im Sommer …

Ralf beugte sich zu ihr herunter und raunte nahe an ihrem Ohr: „Das ist auch der Grund, weshalb ich mich gerade möglichst vom Forsthaus fernhalte. Je seltener mich meine Mutter und Opa Johann zu Gesicht bekommen, umso schwieriger dürfte es für sie sein, mir irgendeine Frau aufzuschwatzen.“

„Ich glaube nicht, dass jemand Georg und Robert die Liebe zu den beiden Frauen aufschwatzen konnte. Oder Ellen die Gefühle für Harry.“

Ralf wiegte wie zweifelnd den Kopf, zwinkerte ihr dann aber vergnügt zu. Offenbar war er der gleichen Meinung wie sie, fand das Ganze allerdings eher belustigend.

Bärbel senkte den Blick. Für jemanden wie Ralf war es das bestimmt. Seine Chancen standen ziemlich gut, dass er sich verliebte und ebenjene junge Frau ihm die gleichen tiefen Gefühle entgegenbrachte, sodass sie einer gemeinsamen Zukunft entgegensehen konnten. Immerhin war er ein charmanter, humorvoller, großherziger, gut aussehender und zudem erfolgreicher Mann. Sie hingegen …

Bärbel wich einen Schritt vom Untersuchungstisch zurück. „Ich muss wieder an die Arbeit. Danke, dass du dich um den kleinen Streuner kümmerst. Du kannst mir gern die Rechnung schicken.“

„Sicher nicht. Der Kämpfer gehört ja nicht dir. Was denkst du –“

Bärbel machte auf dem Absatz kehrt, winkte Ralf zum Abschied und verließ eilig den Behandlungsraum. Sie hatte Besseres zu tun, als die Tierarzthelferin zu geben. Oder sich Überlegungen zu Partnerschaften hinzugeben, die für sie nichts als reines Wunschdenken waren.

Als Grundschullehrerin hatte sie den Beruf ergriffen, der perfekt auf sie zugeschnitten war. Sie hatte Umgang mit Kindern – die sie sehr liebte –, wenngleich es natürlich nie ihre eigenen sein würden. Aber sie konnte die Kleinen vier Jahre lang auf ihrem Weg ins Leben begleiten. Das war ein Geschenk, zumal die Kinder in Vierbrücken und von den umliegenden Gehöften sie nur mit dieser Entstellung im Gesicht kannten. Deshalb reagierten sie bei ihrem Anblick nicht angewidert oder erschrocken; für sie gab es Bärbel seit jeher nur mit diesem Mahnmal für unvorsichtiges Verhalten. Das, was Erwachsene zurückschrecken ließ, sahen sie längst nicht mehr. Und obwohl es Lehrerinnen seit rund zehn Jahren erlaubt war, eine Ehe einzugehen, begrüßten es viele Eltern und Entscheidungsträger für schulische Belange – vor allem in abgelegenen Dörfern wie diesem –, wenn die weibliche Lehrkraft ihrer Kinder ungebunden war und blieb.

Genau das hatte Bärbel ihnen zugesagt.

Kapitel 2

Die älteren Schüler stürmten aus der Tür des Schulhauses, was aussah, als flösse sprudelndes Wasser aus einem winzigen Rohr. Die jüngeren Kinder, die in der vergangenen Woche eingeschult worden waren, folgten ihnen deutlich langsamer. Die fünf Abc-Schützen umringten Bärbel und schauten voller Bewunderung zu ihrer Lehrerin auf.

Ralf konnte es ihnen nicht verdenken, denn auch er fand die junge Frau bewundernswert. Sie war eine ähnliche Kämpfernatur wie der inzwischen genesene Welpe, der sich erstaunlich stark und reichlich verspielt gebärdete, weshalb er die Räumlichkeiten der Tierarztpraxis dringend verlassen musste.

Ralf lehnte sich mit dem dösenden Hund im Arm seitlich gegen den Stamm einer Rosskastanie, deren Blätter sich jetzt Anfang Oktober zu verfärben begannen. Die ersten Kastanien guckten aus ihren aufgebrochenen stacheligen Hüllen hervor, einige lagen bereits auf dem Kopfsteinpflaster. Dies allerdings nicht lange, denn die Schüler, die sich endlich von Bärbel losgerissen hatten, klaubten sie auf und liefen, die munter auf und ab hüpfenden Lederschulranzen auf die Rücken geschnallt, mit ihrem neu gefundenen Schatz nach Hause.

Als Ralf sich wieder dem Schulgebäude zuwandte, war die zweiflügelige, oben abgerundete Tür geschlossen. Hatte Bärbel ihn nicht gesehen? Er zuckte mit den Schultern, passierte den glucksenden Steinbrunnen und querte den Marktplatz mit seinem unebenen Katzenkopfpflaster. Nachdem er die Steinstufen hinaufgesprungen war, öffnete er die Schulhaustür. Die blauen Kacheln waren noch dieselben wie damals, als er hier zur Schule gegangen war, der Geruch ebenfalls. Nur die Lehrerin war neu. Sie stand in der Tür zum größeren Klassenraum und wandte sich erstaunt zu ihm um.

„Oh, du bist es.“

Ralf hob die Augenbrauen. Hatte sie jemand anderen erwartet? Er tat den Gedanken als belanglos ab. „Na, wie sind die Schüler in diesem Jahr?“

„Brav wie Engelchen. Manche mit einem B davor.“

„Meine Güte, bin ich froh über den zweiten Satz. Ich hatte schon befürchtet, es gäbe keine echten Jungen mehr in Vierbrücken.“

„Wer sagt, dass sich das B nicht eher auf einige der Mädchen bezieht?“

Ralf musterte Bärbel schmunzelnd. Sie war selbst ein wildes Kind gewesen. Ein Naturkind, das auch die eine oder andere Regel gebrochen hatte. Wie jene, dass man nicht auf Polter kletterte. Seit dieser über ihr zusammengebrochen und sie dadurch verletzt worden war, war sie ruhiger. Vorsichtiger und zurückhaltender.

Die riesigen Baumstämme hatten Bärbel körperlich nicht viel anhaben können, wohl aber ihrem ungebändigten Wesen. Ralf sah, wie sie leicht den Kopf abwandte, ebenfalls eine Folge des Unglücks. Davor hatte sie herausfordernd und selbstsicher in die Welt hinausgeblickt. Sie war etwas jünger als er, hatte sich jedoch damals schon gern mit ihm, seinen Brüdern und ihren Freunden angelegt. Nun wirkte sie vielmehr wie eine ruhige, in die Jahre gekommene Seele.

Der Welpe auf seinem Arm rührte sich. Prompt trat Bärbel näher, streckte vorsichtig die Hand aus und kraulte den Kleinen am Hals. Der Hund gab ein genüssliches Brummeln von sich. Ralf hatte bei beiden auf eine solche Reaktion gehofft. Da er seitens Bärbel Widerstand gegen sein Vorhaben befürchtete, drückte er ihr das Tier einfach in die Arme. Reaktionsschnell presste sie den Welpen an sich. Ralf drehte sich um und ging durch die offene Tür ins Freie. Umschmeichelt von der milden Herbstsonne, sagte er: „Er heißt Joe Frazier.“

„Wie? Das ist doch kein Name für einen Hund.“ Bärbel kam ihm eilig hinterher. Sogar, als er mit großen Schritten über das Kopfsteinpflaster davonschritt. Er hatte gehofft, sie würde im Schulhaus bleiben. Mit dem Hund.

„Wie soll er denn deiner Meinung nach heißen? Beppo? Waldi?“, fragte er über die Schulter hinweg.

„Sei nicht albern. Das ist weder ein Beppo noch ein Waldi“, rief sie und schloss zu ihm auf.

„Richtig, deshalb Joe Frazier.“

„Weshalb … Wer ist das?“

Ralf hatte vermutet, dass ihr der Name nichts sagen würde. Er blieb in der Nähe des weißen Holzpavillons stehen. Über ihnen raschelten die Blätter der Kastanien, Buchen und Eichen. Aus einem offenen Fenster jener Häuser, die den Marktplatz umschlossen, drang Musik, und Ralf erkannte die kehlige Stimme von Elvis Presley.

„Joe Frazier ist ein amerikanischer Schwergewichtsboxer. Er hat bei den Olympischen Spielen 1964 gegen Hans Huber gewonnen – und damit die Goldmedaille.“

„Wenn es einen berühmten deutschen Boxer gibt, warum benennst du den Hund dann nicht nach ihm?“

„Ist das hier vielleicht ein Hans Huber?“ Ralf mochte Bärbels Kichern, das sie nun hören ließ. Es klang melodiös und kein bisschen albern oder affektiert.

„Na gut. Joe Frazier.“ Bärbel streckte die Arme aus und wollte ihm den zappelnden Welpen zurückgeben, doch Ralf wich zwei Schritte zurück. Dabei stieß er mit den Unterschenkeln gegen ein Hindernis, taumelte und setzte sich zielsicher ins Brunnenbecken. Sofort sog sich seine Hose mit Wasser voll.

„Die Strafe folgt auf dem Fuße“, konnte er Bärbel flüstern hören, ehe sie schallend loslachte.

„Strafe?“, gab er gespielt entrüstet zurück, rappelte sich hoch und schaute betreten an sich herab. Das Wasser rann ihm die Beine hinunter und in die Schuhe.

„Na, weil du gemeint hast, mir diesen … deutschen Boxer mit amerikanischem Namen aufdrängen zu müssen.“

„Das ist ein Hovawart, kein Deutscher Boxer“, gab Ralf sich absichtlich begriffsstutzig, indem er ihr die entsprechende Hunderasse nannte.

„Ralf Vogel! Ich nehme den Hund nicht.“

„Du hast ihn gerettet. Er steht auf ewig in deiner Schuld und wird dich sein Leben lang beschützen.“

„Das Leben ist kein Märchen“, murmelte Bärbel halblaut vor sich hin. Sie presste den Hund wieder an sich, vermutlich allerdings nur weil es für sie zu schwer war, das zappelnde Wesen auf Dauer mit ausgestreckten Armen zu halten.

Ralf trat erneut den Rückzug an, diesmal achtete er jedoch darauf, dem Brunnen kein zweites Mal zu nahe zu kommen. Ein kühler Windstoß wehte ihm die nassen Hosenbeine um die Schenkel, seine Schuhe gaben ein seltsames Quietschen von sich. Diesem folgte prompt ein weiteres Kichern von Bärbel. Leider verstummte es schnell.

„Warte mal. Ich habe keine Ahnung von Hunden.“

„Erzähl mir nichts. Ihr hattet immer einen Hofhund.“

„Den versorgen mein Vater und Bernd, nicht ich.“

„Du kannst das!“ Ralf winkte, ohne sich umzudrehen, und setzte seine Flucht fort. Vermutlich würde Bärbel den Hund auf den Hof ihrer Eltern bringen, was für ihn in Ordnung wäre. Hauptsache, der Kleine bekam ein gutes Zuhause.

Einige Meter später blieb er jedoch stehen, drehte sich um und rief quer über den Marktplatz: „Ich helfe dir auch gern mit Joe Frazier.“ Er blinzelte einmal zu viel. Wo war das nun wieder hergekommen? Hatte er nicht genug zu tun? Wie oft hatte er sich in den vergangenen vier Wochen gefragt, wie Ben all die tierischen Patienten hatte versorgen und die teilweise weiten Wege zu ihnen hatte zurücklegen können – ohne ihn als zweiten Tierarzt an seiner Seite.

Bärbel schüttelte den Kopf – als hege sie die gleiche Überlegung wie er –, wandte sich um und ging in Richtung Schulhaus davon.

Als sich Johann im Eingangsbereich die Stiefel von den Füßen zerrte, drangen ihm Stimmengewirr und Gelächter entgegen. Seine wunderbare Schwiegertochter Charlotte und seine ebenfalls bezaubernde Schwiegerenkelin Lisa hatten gern einmal Besuch, doch diesmal klang es, als hätten sie das halbe Dorf eingeladen. Also stellte Johann seine Stiefel leise und ordentlich auf das Regal und huschte durch den Vorraum des Forsthauses zur ins Obergeschoss führenden Treppe. Er war bereits auf der fünften Stufe angekommen, als er es sich anders überlegte und am Waffenschrank vorbei in Richtung Wohnstube ging.

Die schwere Holztür stand offen, was Johann verwunderlich fand. Immerhin war es dieser Tage ziemlich kalt, in höheren Lagen des Mittelgebirges hatte es zwei Nächte zuvor bereits fast einen Meter Schnee gegeben. Charlotte hatte in der Stube sicher den Kaminofen angefeuert, ließ aber die Wärme entweichen.

Die Holzschwelle knarrte, als er – in Strümpfen – in die Tür trat. Die kleine Sonntagsstube beherbergte seit jeher all die guten Möbel und schönen Gegenstände, die Frauen gern um sich hatten oder sammelten. Weiche, geblümte Polstermöbel, Porzellanfiguren und -geschirr, weggesperrt hinter dem geschliffenen Glas einer Vitrine, Sammeltassen, aus denen zu trinken sich nicht lohnte – man würde dennoch verdursten –, der selbst gemachte Gobelinwandbehang einer Urahnin, von dem niemand wusste, was darauf abgebildet war. Johanns Enkel waren sich ungewohnt einig darüber, dass er dieses Forsthaus zeigte. Wohlgemerkt, nachdem es halb abgebrannt war, von unzufriedenen Bauern mit Kuhmist beworfen und mit gelber Farbe bemalt. Dazu gab es eine große und seit Generationen anwachsende Sammlung an ledergebundenen Büchern, die so wertvoll waren, dass sie nur noch als Heimat für unzählige Staubkörner dienten, und überall geklöppelte oder gehäkelte Deckchen, die auch nur um einen Zentimeter zu verschieben selbstverständlich verboten war.

Die Gespräche verstummten, mehrere Köpfe wandten sich zu ihm um. Johann ballte in seinem Rücken die Hände zu Fäusten. Meine verflixte Neugier! Er war Charlotte sehenden Auges in die Falle getappt. Deshalb auch die offene Tür.

Lisa war nicht da, seine Schwiegertochter war mit Abstand die jüngste unter den anwesenden Damen. Offenbar hatte sie tatsächlich vor, ihre Drohung – die Johann eher zufällig mitbekommen hatte – in die Tat umzusetzen: Charlotte wollte ihn mit einer der unverheirateten oder verwitweten Frauen aus Vierbrücken zusammenbringen. Noch immer war sie überzeugt davon, dass sie diejenige war, die ihre beiden älteren Söhne und ihre Nichte Ellen mit deren Partnern zusammengebracht hatte. Über diese verquere Annahme konnte Johann nur müde lächeln.

Gerade allerdings lächelte er vielmehr hilflos in die Runde, und als sich Charlotte vom grün bezogenen Sofa erhob, fiel ihm siedeheiß ein, dass er zumindest einmal grüßen könnte. „Guten Abend, die Damen, guten Abend, meine liebe Lotti.“

Mehrstimmig wurde er in seinem eigenen Forsthaus willkommen geheißen. Die Apfel-Marie, eines der Weiß-Mädchen aus Vierbrücken, die mit ihm zur Schule gegangen war, tastete dabei nach ihrem heute ungewohnt ordentlich aufgesteckten schlohweißen Haar.

Grete Schuster, eine der West-Schusters und seit über fünfzehn Jahren Witwe, schenkte ihm ein derart strahlendes Lächeln, dass ihre obere Gebissprothese auf die unteren Zähne rutschte. Weshalb sie hier war, verstand Johann nicht. Immerhin hatten er und Grete sich seit dem Kleinkindalter ständig gestritten. Ihre Anwesenheit ließ ihn hoffen, dass Charlotte den Damen verschwiegen hatte, welchen Hintergedanken sie mit der Einladung der „oberen siebzig von Vierbrücken“ hegte.

Die mit ihren fünfundsiebzig Jahren vermutlich jüngste Anwärterin auf einen Platz an seiner Seite war Anna Schuster – eine Ost-Schuster. Dass die Nachkommen der einst über Generationen hinweg verfeindeten Schusters heute friedlich in einem Raum saßen, kam einem Wunder gleich. Einem, für das Johann stets dankbar gewesen war. Heute war er sich dahin gehend allerdings nicht mehr ganz so sicher.

„Hier ist noch ein Stück des wirklich hervorragenden Apfelkuchens von Frau Weiß.“ Charlotte deutete einladend auf den krummbeinigen Beistelltisch, immerhin wusste sie genau, womit man ihn ködern konnte. „Setz dich doch zu uns, Johann.“

„Es ist auch noch Tee da“, beeilte sich Grete zu sagen. Sie hob Charlottes gut gehütete Porzellankanne hoch und stieß dabei zwei Tassen um, die zu ihrem Glück beide bereits leer waren und unversehrt blieben. Eine der anderen Damen rutschte auf dem Sofa zur Seite und klopfte einladend auf das Polster neben sich, eine weitere bot ihm sogar die Armlehne ihres Sessels als Sitzplatz an.

So viel dazu, dass die Frauen nicht durchschauen, weshalb Charlotte sie eingeladen hat. Johann blieb eisern im Türrahmen stehen. Seine Schwiegertochter hatte vermutlich nur eine Andeutung gemacht, immerhin war sie eine reizende Frau mit einem fürsorglichen Herzen, doch bei den Vierbrückener Rentnerinnen hatte dies ausgereicht, um sie erahnen zu lassen, was hier vor sich ging.

Johann fand es angebracht, den Rückzug anzutreten, Apfelkuchen hin oder her. Dafür fing er sich einen Blick von Anna ein, den er nicht anders als halb belustigt und halb mitleidsvoll deuten konnte. Offenbar durchschaute sie, dass die treibende Kraft hinter dieser Brautschau Charlotte war und nicht er.

Er nickte zum Abschied in die Runde, sah aber nur Anna an. Diese zeigte plötzlich jenes Grinsen, das sie schon als Zehnjährige meisterhaft beherrscht hatte: unbeschreiblich flegelhaft. Ihre blauen Augen blitzten zwischen einem Kranz aus Lachfältchen hervor, eine graue Haarlocke – Anna war früher schwarzhaarig gewesen – kringelte sich frech auf der gebräunten Stirn. Jetzt erst fiel Johann auf, dass Anna die einzige Dame im Raum war, die Hosen trug. Vielleicht wäre sie …

Er grinste zurück, ehe er sich endlich aus dem Sichtfeld der Frauen verdrückte, die sofort wieder ihre Gespräche aufnahmen. Offenbar hatte er sie mit seinem Erscheinen nicht gänzlich in seinen Bann geschlagen. Erleichtert darüber atmete er tief ein und aus, drehte sich um und entdeckte seinen jüngsten Enkel. Ralf stand weit oben auf der Treppe und zudem an das gedrechselte Holzgeländer gelehnt, sodass er vermutlich einen Teil der guten Stube einsehen konnte. Demnach hatte er wohl mitbekommen, was sich dort drinnen zusammenbraute.

„Du bist an der Reihe!“, schnauzte Johann den grinsenden jungen Mann an. Tatsächlich war er froh darüber, dass Ralf gerade jetzt ins Forsthaus zurückgekehrt war. Denn damit bestand die Hoffnung, dass sich Charlotte in ihrem zweifelhaften Bemühen, ihre ebenfalls zweifelhafte Karriere als Heiratsstifterin fortzusetzen, auf ihren Sohn konzentrierte anstatt auf einen alten, verknöcherten, pensionierten Förster.

„Ich bin nicht halb so neugierig wie du, Opa.“

Johann rieb sich den Nacken. Ja, das würde ihm eines Tages womöglich zum Verhängnis werden. Zumindest heute war es ein eklatanter Fehler gewesen, dieser Neugierde nachzugeben.

„Aber du magst Apfelkuchen mehr als ich“, verteidigte sich Johann, wobei seine Worte der Wahrheit entsprachen. Er selbst liebte vor allem Charlottes Träublekuchen.

„So sehr dann doch nicht“, wiegelte Ralf ab. Offenbar sah er wirklich keine Veranlassung, die Gäste seiner Mutter zu begrüßen.

„Du musst ja nicht gleich Ja sagen.“ Bei der Vorstellung, dass sich eine der Damen dort drin für Ralf erwärmen könnte, hatte Johann Mühe, seine vorgetäuschte schlechte Laune weiterhin beizubehalten. Allerdings war Ralf ein Sonnenschein, beliebt bei jedermann. Vermutlich flogen ihm die Frauenherzen nur so zu.

„Warum soll ich Mamas Gäste begrüßen, nur um ein Stück Apfelkuchen angeboten zu bekommen, das ich dann wiederum ablehnen soll?“ Ralf schien überfordert zu sein, was Johann freute.

„Natürlich sagst du zu dem Angebot Nein, dummer Junge.“ Johann schüttelte gespielt aufgebracht den Kopf. Es gelang ihm nach wie vor, den leicht senilen Großvater zu mimen und seine Familie damit gelegentlich ein klein wenig in die richtige Richtung zu schubsen. „Aber du könntest dich einfach … deiner Mutter zuliebe zur Verfügung stellen.“

Je länger er darüber nachdachte, desto erfreulicher fand Johann die Aussicht, dass Ralf ebenfalls bald eine reizende Frau finden könnte. Diesmal würde er die Auswahl sogar großzügig Charlotte überlassen. Denn damit, ihren Jüngsten zu verkuppeln, hätte sie genug zu tun, sodass Johann vorerst vor ihren Plänen – ihn betreffend – sicher wäre. Dies umso mehr, da ihm keine passende Anwärterin in der näheren Umgebung in den Sinn kam. Somit wäre Charlotte über einen längeren Zeitraum hinweg damit beschäftigt, eine zukünftige Ehefrau für Ralf aufzutreiben. „Ich wäre dir jedenfalls zu großem Dank verpflichtet“, fügte er deshalb hinzu.

Ralf, weiterhin auf der Treppe stehend, blickte misstrauisch zu ihm herunter. Johann verschränkte die Arme vor der Brust. Ob er vielleicht stärkere Geschütze auffahren musste?

„Reden wir eigentlich immer noch über den Apfelkuchen?“, wollte sein Enkel wissen.

„Du hast doch studiert? Ich dachte, du bist ein gescheiter Kerl!“, polterte Johann. Es ärgerte ihn, dass Ralf nicht auf ihn hereinfiel. Bisher hatte nur Lisa durchschaut, wie gern er den verschrobenen alten Mann spielte, um sich entweder aus einer unangenehmen Situation zu manövrieren oder etwas zu sagen, ohne es direkt auszusprechen. Wobei das nicht ganz stimmte. Dieser Pfarrer, der sich seine Enkelin Ellen geschnappt hatte, hatte ebenfalls das eine oder andere Mal erfasst, was Johann zu bezwecken versuchte … Und nun gelang das auch Ralf? Das wäre bedauerlich.

„Was denkst du denn, worüber wir hier sprechen? Vielleicht übers Heiraten?“, brummte Johann in gewohnter Vogel-Manier, blickte dabei aber ängstlich zur offenen Stubentür. Nicht dass eine der Frauen dieses verfängliche Wort hören konnte …

„Aha“, meinte Ralf nur. Johann verdrehte darüber die Augen. Was sollte er denn mit dieser Äußerung anfangen? Es war schwer, eine vermeintlich wirre Aussage zu machen, die einen gewissen Kern traf, wenn ihm als Vorlage nicht mehr als drei nichtssagende Buchstaben zur Verfügung gestellt wurden.

Offenbar dauerten dem Jungspund seine Überlegungen zu lange, denn Ralf beugte sich weit über den Handlauf und raunte ihm zu: „Mama hat die Frauen also deinetwegen eingeladen? Das könnte lustig werden.“

„Sie denkt, sie hat deine Brüder und Ellen mit ihren Partnern zusammengebracht. Dabei war ich das“, gab Johann zurück – nicht ohne eine deutliche Spur Stolz in der Stimme.

„Und weil du ihr das ständig unter die Nase reibst, hat sie jetzt dich alsOpfer auserkoren?“

Johann hob beide Hände und zuckte hilflos mit den Schultern. So hatte er das noch gar nicht gesehen. „Was machen wir denn da?“

„Wir?“ Ralf lachte laut auf. „Halt mich da bitte raus.“

„Du bist kein Freund“, brummte Johann.

„Nein, sondern dein Enkel.“

„Was würdest du denn tun?“

Ralf musterte ihn mit einem Grinsen, das Johann überhaupt nicht gefiel. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass sie im Laufe des Gesprächs die Rollen getauscht hatten.

„Ich denke“, begann Ralf und legte eine Kunstpause ein, die Johann nur noch mehr aufregte, „ich würde ihr einen Hund schenken.“ Mit diesen Worten stapfte er die Stufen hinauf und ließ einen verdutzten Johann zurück.

Ja, diesmal war er wirklich verwirrt!

Kapitel 3

Joe Frazier war natürlich die Attraktion in der Schule. Die Schüler würden traurig sein, wenn Bärbel ihn an diesen dreisten Tierarzt zurückgab. Sie hatte den Welpen aus der winzigen Dachgeschosswohnung im Schulhaus holen müssen, weil er dort oben eine Menge Lärm veranstaltet hatte. Nun lag er in einer mit einem Handtuch ausgepolsterten Zinkwanne neben dem Pult und schlief.

Die Köpfe der fünf jüngsten Schüler waren gesenkt, da sie damit beschäftigt waren, in Schönschrift die ersten erlernten Buchstaben zu schreiben. Lächelnd betrachtete Bärbel sie, dann erhob sie sich, um nach nebenan zu gehen. Dort ging es deutlich unruhiger zu.

Im Flur blieb sie stehen und atmete tief durch. Verdrängte die Angst und das Gefühl von Überforderung, das sie jeden Tag aufs Neue verspürte, sobald die Schüler ins Schulhaus drängten. Bärbel wusste inzwischen, woher diese Empfindungen kamen. Schließlich hatte sie diese vor einigen Monaten noch nicht gekannt – zumindest nicht in dem jetzigen Ausmaß. Wirklich schlimm waren sie erst seit jenem Tag, als sie mit einer Gruppe Kindern aus der Kirchengemeinde einen Nachmittag in den bewaldeten Bergen verbracht hatte und dort von einem rasch aufziehenden Unwetter überrascht worden war. Damals hatte sie versehentlich eines der Mädchen im Wald verloren …

Bärbel schickte ein Stoßgebet zum Himmel, ehe sie über die Türschwelle trat. Ihr erster Blick galt ebenjenem Mädchen, Claudia. Mit ihren zehn Jahren war sie die Älteste in der Schule, ein aufgewecktes Kind mit rotem Haar, einer Menge Sommersprossen in ihrem runden Gesicht und klaren blauen Augen. Genau diese sahen nun zu ihr auf, als Bärbel eintrat. Ein zurückhaltendes, seltsam verunsichertes Lächeln zupfte an Claudias Mundwinkeln, ehe sie den Kopf wieder senkte.