Der Klosterwald - Petra Oelker - E-Book

Der Klosterwald E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Eine Klosterfrau als Amateurdetektivin Skandal in der schläfrigen Kleinstadt Möldenburg: Der beliebte Arzt Dr. Mellert erschießt sich im Klosterwald. Die Gemüter beruhigen sich aber bald, sehr zur Erleichterung der neuen Äbtissin des evangelischen Klosters, Felicitas Stern. Doch dann wird noch eine Leiche gefunden, und diesmal ist es eindeutig Mord. Die Polizei tappt im Dunkeln. So macht sich die Äbtissin auf die Suche nach dem Täter.

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Petra Oelker

Der Klosterwald

Roman

Denn Gutes erhoffte ich, und Böses kam;

ich harrte auf Licht, und es kam Finsternis.

Hiob 30, 26

PROLOG

An einem dieser späten Junitage, deren milde Wärme und üppige Schönheit vergessen lassen, dass die Welt bei genauerem Hinsehen noch immer das alte Jammertal ist, öffnete Dr.Andreas Mellert die Terrassentür seines Hauses und ging in den Garten hinaus. Es duftete nach Phlox und Rosen, in die friedvolle Stille mischten sich nichts als die behaglichen Geräusche eines späten Sonntagvormittags in einer ruhigen Wohnstraße. In einem der hinteren Gärten brummte ein Rasenmäher, jemand lachte verhalten. Im Nachbarhaus zur Linken übte ein Kind auf dem Klavier, und aus dem Garten zur Rechten zischelte ein sich rhythmisch drehender Rasensprenger. Die Schwalben flogen hoch, ein Kuckuck rief, und der Wind, nicht mehr als ein Hauch, streichelte tiefblaue Rittersporndolden und die leuchtenden Köpfe gelber Margeriten.

Dr.Mellert schlenderte über den Rasen und sah in die Krone der uralten Blutbuche hinauf. So berichtete es später einer seiner Patienten, der mit dem Fahrrad vorbeigefahren war, über die Hecke gesehen und seinem Arzt einen Gruß zugerufen hatte, der allerdings unerwidert blieb. In diesem Moment zerriss der Lärm des Rettungshubschraubers, der auf dem Weg zu einem Unfall an der Autobahnauffahrt über die Lilienstraße donnerte, die Stille der Gärten. Das Klavier spielende Kind im Gartenzimmer des Hauses Lilienstraße Nummer sechs begann vor Schreck zu weinen, und seine Mutter erließ ihm zum Trost und zur eigenen Erleichterung den Rest der Übung. Der Terrier in Nummer fünf gegenüber dem Mellert’schen Haus bellte hysterisch auf.

Dr.Mellert lauschte dem Lärm nach, dann kehrte er mit langen Schritten und ohne sich noch einmal umzusehen in sein Haus zurück. Er schloss die Terrassentür hinter sich und zog die Vorhänge zu, sorgsam, als wolle er für einige Zeit verreisen. Das beobachtete die Nachbarin von Nummer zwei, die, vom Lärm des Hubschraubers in ihrem Liegestuhl geweckt, aufgestanden war, um den Rasensprenger abzudrehen.

Was dann geschah, kann nur vermutet werden: Er stieg in den Keller hinunter, nahm dort eines seiner Gewehre und einige Patronen aus dem Waffentresor. Womöglich setzte er sich erst jetzt an den Sekretär im Wohnzimmer und schrieb die wenigen Zeilen, vielleicht hatte er das aber auch schon früher getan. Dann, es muss etwa 11Uhr 30 gewesen sein, öffnete er die Garage, verstaute die Waffe auf dem Rücksitz des BMW und fuhr in das Waldgebiet nördlich der Stadt hinaus, das von alters her Klosterwald genannt wurde. Dort kletterte er die Leiter zu dem Hochsitz hinauf, von dem aus er am liebsten und an vielen Abenden das Wild beobachtet hatte, lud sein Gewehr und setzte seinem Leben ein Ende.

Vielleicht hatte er gezögert und seinen Entschluss noch einmal überdacht, vielleicht hatte er gleich abgedrückt. Das wusste niemand. Und niemand, der ihn gekannt hatte, verstand, warum er es getan hatte. Dr.Mellert war ein beliebter Arzt und angesehener Bürger, seine Ehe galt als gut, jedenfalls nicht schlechter als andere, seine beiden Kinder empfand jeder als wohlgeraten. Auch von Schulden oder Lastern jeglicher Art, die doch in einer kleinen Stadt wie Möldenburg kaum verborgen geblieben wären, war nichts bekannt. Das Gerücht, er sei an diesem Vormittag nicht alleine im Haus Lilienstraße Nummer vier gewesen, sondern habe einen Unbekannten zu Besuch gehabt und auch mit in den Wald genommen, blieb eines dieser Gerüchte, die stets auftauchen, wenn etwas Beunruhigendes, etwas Unerklärliches geschieht.

KAPITEL 1

Der Fahrtwind zerrieb die letzten Regentropfen auf der Glasscheibe zu einem diffusen Muster. Irgendwann früher am Tag hatte ein Kind aus diesem Fenster auf die vorbeisausende Landschaft gesehen und die Abdrücke klebriger kleiner Finger hinterlassen. Schokolade, dachte Felicitas Stern. Vollmilch. Oder Nougat. Vielleicht hatte das Kind, wie sie selbst vor vielen Jahren, aufgeregt auf ein Auto oder einen Trecker gezeigt, der vor einem der schmalen Bahnübergänge wartete. Oder auf die Rehe, die an dieser Stelle der Strecke oft in der Dämmerung aus dem Wald traten und auf den Feldern ihr Abendessen suchten. Inzwischen war es längst dunkel und die Scheibe nichts als ein schwarzer Spiegel, nur hin und wieder von beleuchteten Fenstern eines der geduckt in den Äckern liegenden Gehöfte unterbrochen.

Sie widerstand dem Impuls, ein Taschentuch hervorzuholen, um die fettigen Fingerspuren abzuwischen, und lehnte sich zurück. Ein Blick auf die Uhr war überflüssig. Gerade hatte der Zug die Brücke über die Mölde passiert, gleich würde er an den lang gestreckten, in gelbes Licht getauchten Hallen und den beiden hoch aufragenden Getreidesilos der Großbäckerei vorbeirattern. Also war es Viertel nach zehn, möglicherweise zwei oder drei Minuten später oder früher.

Heute, so überlegte sie, würde sie an der Bürotür vorbei und gleich in ihre Wohnung gehen. Gab es etwa irgendetwas, das nicht bis morgen Zeit hatte? Die Pläne und Anträge für die Reparatur des alten Backhauses waren geschrieben und abgeschickt, bis zur Entscheidung würde es Wochen dauern. Oder Monate. Vielleicht fand sie inzwischen doch noch einen Sponsor, so wie für die Finanzierung der Rettung der Wandmalereien im Refektorium. Die Saison war so gut wie vorüber – nein, was immer auf ihrem Schreibtisch wartete, hatte bis morgen Zeit. Der lange, ruhige Winter konnte beginnen. Für ein halbes Jahr war es vorbei mit Nachrichten aus dem Faxgerät, mit aufgeregten Stimmen auf dem Anrufbeantworter. Oder mit Katastrophenmeldungen wie einer neuen Rostepidemie im Rosengarten, einem neuen Riss in der Wand der Barbara-Kapelle oder der kurzfristigen Ankündigung dreier Touristenbusse, deren plappernde Fracht gleichzeitig eine Führung erwartete.

Der Zug tauchte in den Wald wie in einen Tunnel und fuhr nun wieder durch absolute Dunkelheit.

«Bitte?»

In der Scheibe spiegelte sich das Bild ihrer einzigen Mitreisenden. Felicitas Stern drehte sich um und sah in das blasse Gesicht der jungen Frau, die, die rechte Hand gegen das Schaukeln des Zuges fest um die Gepäckablage geklammert, neben ihrem Sitz stand und sie fragend ansah.

«Bitte, ist der nächste Bahnhof Möldenburg?»

«Ja, Möldenburg.» Nun sah Felicitas doch auf ihre Uhr. «In zehn Minuten sind wir da.»

Die Frau schaute sie verständnislos an, so hob Felicitas beide Hände mit weit gespreizten Fingern und wiederholte: «In zehn Minuten.»

Die Fremde nickte, kehrte zu ihrem Sitz auf der anderen Seite des Ganges zurück, blieb aber stehen, nun die Hände um die Griffe des Fensters geklammert. Sie starrte in die Dunkelheit hinaus, ihre rechte Hand löste sich und tastete nach der Reisetasche auf der gepolsterten Bank. Die Hand, schmal und gebräunt, erschien wie ein kleines ängstliches Tier auf der Suche nach etwas Wertvollem, etwas Warmem, das es zu sichern galt.

Schon als sie auf dem Bahnsteig in Lüneburg auf und ab gehend auf das Einlaufen des Zug gewartet hatte, war Felicitas die schmale Gestalt im zerknitterten Staubmantel aufgefallen. Nicht nur, weil ihr noch sommerlich gebräuntes Gesicht große Erschöpfung verriet. Vielmehr, weil sie so ungewöhnlich kerzengerade auf einer der Bänke unter dem Vordach saß und trotz ihrer billigen Kleidung auf eine unbestimmte Art würdig wirkte. Außer ihr und dieser jungen Frau war nur noch ein dicker Mann auf dem Bahnsteig gewesen. Der hatte, eine geöffnete Bierdose in der Hand, auf der zweiten Bank gehockt, eine abgewetzte Aktentasche zwischen den Füßen. Sein glasiger Blick klebte an der jungen Gestalt, schließlich murmelte er etwas von ‹dunkler Nacht› und ‹so allein› und hielt ihr mit schwankender Hand seine Zigarettenschachtel entgegen. Sie beachtete ihn nicht, drehte nicht einmal den Kopf weg, und er ließ die Hand sinken.

Dann kam der Zug von seiner Warteposition auf einem toten Gleis, nur zwei leere und kalte Wagen, und die beiden Frauen stiegen ein. Sonst niemand. Der Dicke blieb sitzen. Der Zug fuhr ab und tauchte in die Dunkelheit der Heidelandschaft.

Verstohlen betrachtete Felicitas den schmalen, mit der Bewegung des Zuges schwankenden Rücken. Sie sah das in der Höhe des Kinns gerade abgeschnittene glatte braune Haar, die regenfeuchten Flecken auf den Schultern des Mantels. Auf dem Sitz neben der Reisetasche lag eine zusammengefaltete Zeitung in einer fremden, mit flüchtigem Blick nicht erkennbaren Sprache. Sie hatte mit einem weichen Akzent gesprochen, der schwer zuzuordnen war. Wahrscheinlich gehörte sie zu den Aussiedlerfamilien, die in der neuen Siedlung beim Gewerbegebiet lebten.

Felicitas wandte ihren Blick wieder zum Fenster. Die schwarze Scheibe spiegelte nun den Rücken des Mädchens, und sie bemühte sich, durch ihn hindurch in die Nacht hinauszusehen. Die Bahntrasse verlief jetzt nahe der Landstraße, ein Paar einsamer Scheinwerfer zerschnitt im Vorbeifahren kurz die Finsternis, der Zug fuhr langsamer in eine lang gezogene Kurve, und bald darauf beleuchteten die ersten Straßenlaternen kleine Einfamilienhäuser am Stadtrand.

Vier-, vielleicht fünfmal war sie diese Strecke gefahren, seit sie wieder in Möldenburg lebte. Nach Lüneburg fuhr sie für gewöhnlich mit dem Auto, für die Besuche bei ihrer Tochter in Hamburg zog sie die Bahn vor. Hin und wieder erschien es ihr noch seltsam, in Verena nicht mehr den staksigen Teenager, nicht mehr die vor Energie übersprudelnde Studentin zu treffen, sondern eine ernsthafte Stationsärztin mit von den langen Dienstzeiten müden Augen. So wie es ihr auch noch seltsam erschien, manchmal, von Tag zu Tag weniger, am Morgen nicht mehr in ihrer Heidelberger Wohnung aufzuwachen.

Im vergangenen März war sie nach mehr als dreißig Jahren nach Möldenburg zurückgekehrt. Der Ort war klein, alt und idyllisch. Sie war hier geboren und aufgewachsen, hatte jede Ecke, jedes Haus, jeden Baum, vor allem jedes Gesicht gekannt. Und sie war damals, als sie mit neunzehn Jahren fortging, glücklich gewesen, ihn endlich gegen die große Welt einzutauschen. Sie hatte nicht Medizin studiert, wie es ihr Vater gewünscht hatte, sondern es mit Jura versucht. Keine kluge, sondern eine trotzige Entscheidung. Das erkannte sie jedoch erst viel später, als sie darüber nachdachte, warum es ihr so leicht fiel, für ihr erstes Kind, Verena, das Studium abzubrechen. Lorenz hatte das ganz selbstverständlich gefunden. Er stand damals kurz vor der Habilitation, zudem war er immer ein altmodischer Mensch gewesen; liebevoll, verantwortungsbewusst, aber fünfzehn Jahre älter als sie und um vieles konventioneller. Er verstand nicht, warum sie später darauf bestand, wenigstens bis zum ersten Examen weiter zu studieren. Schließlich zuckte er mit den Achseln und murmelte: ‹Wenn du dir das zumuten willst.›

Jasper wurde vier Jahre nach seiner Schwester und acht Wochen nach Felicitas’ Examen geboren. Und fünfzehn Jahre vor Lorenz’ Tod. Fünfzehn Jahre, das klang wie eine lange Zeit. Die darauf folgenden dreizehn Jahre ohne ihn erschienen ihr jedoch sehr viel länger.

Es begann wieder zu regnen, sanft und nieselig, als falle nasser Staub auf die Stadt. Als der Zug bremste, unvermutet und hart, fiel die junge Frau stolpernd auf ihren Sitz. Sie warf Felicitas ein schüchternes Lächeln zu, als müsse sie sich für die Ungeschicklichkeit des Lokführers entschuldigen, griff mit beiden Händen ihre Tasche und ging behutsam wie auf einer über einem Abgrund schwankenden Brücke zur Tür.

Der Möldenburger Bahnhof war noch verlassener als der Lüneburger. Die Fenster des kleinen Stationsgebäudes aus rotem Backstein waren unbeleuchtet, ein paar struppige Astern hingen regenschwer über den Rand des Betonkübels. Neben dem Fahrkartenautomaten spendete eine Laterne kärgliches Licht, eine andere brannte über der verschlossenen Eingangstür. Auf eine dritte über dem Durchgang zur Straße hatte jemand mit einem Stein gezielt und getroffen.

Felicitas schlug den Mantelkragen hoch. Obwohl es für eine Nacht Mitte Oktober warm war, ließ ihre Müdigkeit sie frösteln, und sie begann sich auf ein Glas Rotwein und eine Zigarette auf ihrem Sofa zu freuen, auf den Moment des Tages, an dem sie die Zügel der Disziplin losließ und ihr Lieblingsritual vor dem Schlafengehen nach einem zu lang geratenen Tag genoss. Sie fand den Schirm auf dem Grund ihrer großen Tasche und eilte, während sie ihn noch öffnete, zwischen dem Fahrradhäuschen und dem tropfenden Holunderbusch hindurch zum Parkplatz. Am Morgen war ihr froschgrünes Auto eines von vielen gewesen, nun stand es allein unter der einzigen Laterne.

Ein aufgeweichter Reklamezettel klebte unter dem Scheibenwischer. Sie ließ was von ihm übrig geblieben war auf den Boden fallen und öffnete die Autotür. Auch auf dem Bahnhofsvorplatz regte sich nichts. Öd und leer, dachte sie mit plötzlichem Vergnügen, öd und leer, Raum genug für die guten Gerüche des Herbstes.

Erst als sie den Wagen langsam auf die Straße rollen ließ, fiel ihr auf, dass das Mädchen immer noch auf dem Bahnsteig war. Im Davoneilen hatte Felicitas gesehen, wie sie sich auf die Bank unter dem Vordach gesetzt hatte. Nein, das stimmte nicht. Sie hatte sich auf die feuchten Holzplanken fallen lassen, als sei sie den ganzen Weg von Lüneburg – oder woher sonst sie kommen mochte – zu Fuß gegangen, hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt und die Augen geschlossen.

Ein Bild einsamen Jammers. Felicitas seufzte. Ja, aber nicht ihres Jammers. Gewiss wartete sie nur, bis sie abgeholt wurde. Sicher würde gleich jemand kommen. Ganz sicher.

Sie stoppte an der roten Ampel vor der Brücke, an deren Ende der alte Teil der Stadt begann. Die knorrigen Bäume am Ufer umschlossen ihn in der diesigen Dunkelheit wie eine Mauer, nur durchbrochen vom gelben Licht der Laternen entlang der Straße. Immer, wenn Felicitas in der Nacht diese Brücke passierte, fiel ihr ein, dass seit Jahrhunderten genau an dieser Stelle Menschen den Fluss überquert hatten, um die kleine Stadt, die einmal als groß und bedeutend gegolten hatte, zu erreichen. Seltsamerweise dachte sie nie bei Tag daran.

Sie lächelte, rieb mit dem Zeigefinger über ihr Kinn und dachte, dass wer hier geboren war, ohne Zweifel näher an den Mysterien der Dunkelheit lebte als Menschen in großen Städten. Und dass das offensichtlich auch nicht verging, wenn man mehr als das halbe Leben fort gewesen war. Besonders nicht, wenn man dann zurückkehrte, um in jahrhundertealten Mauern zu leben. Spökenkiekerei, dachte sie weiter, und: Wenn die Ampel nicht bald auf Grün springt, fahre ich einfach los.

Nur noch über den Fluss, durch die Stadt und den Park, dann war sie zu Hause. In zehn Minuten. Höchstens.

Zuerst sah sie nur den Hund, ein dickes weißbraunes Muskelpaket mit vor Kraft krummen Beinen. Dann erkannte sie die drei Männer, schwarz gekleidet und kahlköpfig, die Hände tief in den Taschen ihrer kurzen Jacken. Einer hielt den Hund an einem Lederriemen. Ihre Füße in schweren geschnürten Stiefeln bewegten sich wie im Gleichschritt. Sie kamen schnell näher, gingen vorbei, ohne ihr auch nur einen Blick zuzuwerfen, und bogen in die Straße zum Bahnhof ein.

Bahnhof? Die Ampel sprang endlich auf Grün, und ohne noch eine Sekunde an überflüssiges Abwägen zu verschwenden, wendete sie ihren Wagen quer über die Kreuzung und fuhr zurück.

Die junge Reisende saß immer noch auf der Bank, immer noch allein und mit geschlossenen Augen, die Tasche auf dem Schoß umklammert. Sie erschrak nicht, als Felicitas behutsam ihre Schulter berührte, sie hob nur müde die Lider.

«Ich war mit Ihnen im Zug», sagte Felicitas. «Erinnern Sie sich? Ich will nicht stören, aber ich dachte, vielleicht kennen Sie sich hier nicht aus. Werden Sie denn nicht abgeholt?»

Die Frau richtete sich auf, wieder blieb ihr Blick fragend.

«Abgeholt. Ich meine, kommt jemand und holt sie?»

«Holen.» Nun verstand sie. Sie zog die Augenbrauen zusammen, suchte nach dem richtigen Wort und fuhr mit ihrer sanft singenden Stimme fort: «Mich holt niemand.»

«Aber jetzt fährt kein Bus mehr. Wo wollen Sie denn hin? Hier können Sie doch nicht bleiben.»

«Ist es verboten?»

«Verboten? Du meine Güte, nein. Natürlich nicht. Aber es ist Nacht, es regnet, und wer weiß, wer sich hier rumtreibt.»

Die Frau griff in ihre Tasche und zog ein kleines Wörterbuch heraus. Aber sie schlug es nicht auf. «Rumtreibt?»

«Rumtreibt, ja. Leute, die nachts in der Gegend herumlaufen und – na ja, Unfug machen.»

Wieder zogen sich die Brauen zusammen, doch Felicitas hatte keine Geduld zu erklären, was Unfug bedeutet, erst recht nicht, was sie in dieser Nacht damit meinte. «Sie kennen doch sicher jemanden hier. Wollen Sie telefonieren? Möchten Sie meine Telefonkarte benutzen?»

Nun hob die Fremde ihre Tasche auf die Bank, öffnete den Reißverschluss, zog ein Notizheft heraus und hielt es ins Licht. «Kein Telefon», sagte sie und las vor: «Ich möchte meinen Bräutigam besuchen. Gut Waldneuburg, Spargelernte.»

«Spargelernte? Das ist keine Adresse. Aber Waldneuburg. Da wird tatsächlich Spargel geerntet. Gemüse, verstehen Sie? Aber nur im Frühsommer, die Ernte ist seit Monaten vorbei. Arbeitet er denn immer noch auf dem Gut?»

Die Frau beugte sich wieder über ihren Zettel und las weiter: «Bitte, wo ist der Weg nach Waldneuburg?»

«Das ist jetzt viel zu weit», Felicitas breitete die Arme aus wie ein angebender Angler. «Bis dort können Sie jetzt nicht mehr laufen. Durch die Dunkelheit und bei diesem Wetter.»

Ein Glas Rotwein und eine Zigarette, dachte sie, seufzte ergeben und setzte sich neben die Fremde auf die feuchte Bank. «Wie wollten Sie da hinkommen?»

«Ich kann weit gehen.»

«Sicher können Sie das. Aber nicht mehr heute Nacht. Es ist zu spät, verstehen Sie? Zu spät. Da schläft jetzt schon alles, und das Telefon nimmt auch niemand mehr ab. Waldneuburg ist nicht irgendein Bauernhof, sondern ein sehr großes Gut. Die reinste Agrarfabrik. Was machen wir nun?»

Die Fremde senkte den Kopf und schwieg.

«Na gut.» Felicitas Stern stand auf und zog ihren Autoschlüssel aus der Manteltasche. «Hier können Sie nicht bleiben, und dort können Sie heute nicht mehr hin. Wie heißen Sie eigentlich? Wie ist Ihr Name?»

«Valeria Dimitrescu.»

«Ich bin Felicitas Stern. Für eine Nacht können Sie bei uns bleiben, Frau Dimitrescu, morgen früh sehen wir weiter. Wir finden schon eine milde Seele, die Sie zum Gut hinausfährt. Also los. Sie sind hundemüde und ich auch. Müde», wiederholte sie und neigte den Kopf über die zusammengelegten Hände, «schlafen. Sie haben doch nicht etwa Angst vor mir? Das ist völlig überflüssig, ich bin eine ganz und gar langweilige Person. Und in meinem Gästezimmer sind Sie allemal sicherer als auf diesem gottverlassenen Bahnhof.»

Sie griff entschlossen nach der Tasche, und Valeria Dimitrescu blieb nichts anderes übrig, als der mit ihrem kargen Gepäck vorauseilenden Fremden nachzulaufen.

Von den drei Männern mit ihrem ungemütlichen Hund war weit und breit nichts zu sehen.

Zehn Minuten später lenkte Felicitas ihren Wagen von der Mühlbachstraße in eine schmale, von knorrigen Kastanien gesäumte Straße, und das Licht der Laternen versickerte hinter ihnen in plötzlicher Dunkelheit. Die Scheinwerfer schnitten einen schmalen Tunnel von dunstiger Helle in die Nacht, ein kleines Tier flitzte erschreckt über die Straße, ein Wiesel oder ein Marder. Die konnte Felicitas nie auseinander halten und hoffte stets, dass es wenigstens keine Ratte aus den alten Wassergräben war. Sie fuhr nun sehr langsam, die Frau neben ihr rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz herum und sah sich nach der verschwundenen Stadt um. Der Wagen rollte um eine letzte Biegung, und im Scheinwerferlicht tauchte inmitten einer hohen, von Efeu überrankten Backsteinmauer ein schmiedeeisernes Tor unter einem steinernen Bogen auf.

Felicitas öffnete das Autofenster, drückte auf die Fernbedienung, und das Tor öffnete sich mit leisem Quietschen, um sich gleich darauf hinter ihnen wieder zu schließen.

«Toll, was? Das ist unsere neueste Errungenschaft. Ich war es leid, immer zweimal aus dem Auto zu steigen, wenn ich mal spät nach Hause komme.»

Ihre Begleiterin sah sich nach dem zugleitenden Tor um und lehnte sich steif in den Sitz zurück. Sprungbereit, dachte Felicitas und ließ den Wagen bis zum Parkplatz weiterrollen. Die Scheinwerfer beleuchteten durch den Dunst eine mächtige Holztür in einer uralten Backsteinwand. Darüber brannte eine Laterne, von den zahlreichen Fenstern des großen Gebäudes waren nur zwei im oberen Stockwerk erhellt.

Valeria Dimitrescu beugte sich vor und blinzelte durch die Windschutzscheibe auf das lang gestreckte Gebäude. «Ein Schloss?»

«Nein.» Felicitas lachte leise. «Kein Schloss, nicht einmal ein bescheidenes. Das ist ein Kloster.»

«Sie sind eine…» In Ermangelung des richtigen Wortes machte sie das Kreuzzeichen.

«Eine Nonne? Du lieber Himmel, nein, hier leben keine Nonnen. Schon seit vierhundertfünfzig Jahren nicht mehr. Hier leben jetzt evangelische Klosterfrauen. Ich bin die Äbtissin. Habe ich Ihnen das nicht gesagt?»

Die Sonne gab sich alle Mühe, den Nebel zu besiegen. Sie hatte es fast geschafft, nur ein leichter Dunst und die auf Gras, Bäumen und Büschen glitzernde Nässe erinnerten noch an den trüben Morgen. Es war immer noch kühl, aber das intensiver werdende Licht des Vormittags brachte diese sanfte Wärme, die milden Oktobertagen ihre einzigartige Melange aus Melancholie und Sehnsucht gibt. Stimmungen, die der Äbtissin von Möldenburg durchaus vertraut waren, in diesen Wochen allerdings keine Chance hatten. Sie fühlte Neugier und Unternehmungslust, hin und wieder auch Ärger, oft Ungeduld, aber für Melancholie gab es zurzeit keinen Raum auf ihrer Gefühlsskala. Auch keinen Grund.

Die Äbtissin umrundete den Rasen im Innenhof des Klosters, blinzelte in das diffuse Licht und freute sich an den ersten roten und gelben Blättern, die den Rasen zu einem bunten Teppich machten. Von der Haube des Dachreiters in der Mitte der Kirche schimmerte es matt kupfergrün, die Konturen zeichneten sich scharf und dunkel gegen den Himmel ab. Die Kirche ohne Turm erschien ihr immer noch seltsam. Den Zisterzienserinnen waren Türme nicht erlaubt gewesen, schon der bescheidene Dachreiter bedeutete eine frivole Lockerung der Ordensregeln. Das Gotteshaus gehörte seit Jahrhunderten nicht mehr zum Kloster, sondern war Gemeindekirche wie andere auch. Und weil so eine Kirche nun einmal eine größere Glocke braucht als das kleine Glöckchen unter dem Dachreiter, hatten die Möldenburger ein wenig abseits der Kirche einen eigenen Glockenturm gebaut. Klein und viereckig glich er eher einem alten Speicher, er überragte keines der Klosterdächer und war vom Innenhof nicht zu sehen.

Heute läutete das Glöckchen im Dachreiter nur noch bei besonderen Anlässen des Klosters, zweimal, seit Felicitas nach Möldenburg zurückgekehrt war. Zuerst bei ihrer Einführung als neue Äbtissin vor einem guten halben Jahr, zuletzt im August bei der Totenfeier für ihre Vorgängerin. Sie hatte die alte Hermine von Klöpper nicht lange gekannt, dennoch hatte deren plötzlicher Tod sie sehr getroffen. Aus anderen Konventen kannte sie unerfreuliche Geschichten von Alt-Äbtissinnen, die der neuen das Leben schwer machten. Sie hingegen hatte Glück gehabt. Frau von Klöpper hatte ein strenges Regiment geführt, aber sie war eine kluge Frau gewesen und hatte ihre um nahezu dreißig Jahre jüngere Nachfolgerin unterstützt. Auch wenn es ihr nicht immer leicht gefallen war.

Felicitas liebte diesen friedvollen Ort in der Mitte des Klosters, es störte sie nicht, dass er einst ein Friedhof gewesen war. Inzwischen, schon seit Generationen, fanden die Klosterdamen in dem von einer Eibenhecke umfriedeten Karree auf dem Gemeindefriedhof ihre letzte Ruhe. In den schräg einfallenden Sonnenstrahlen glitzerten taubenetzte Spinnweben in den Thujen und der Gruppe struppiger Wacholder. Es roch nach Laub, feuchter Erde und Holzfeuer, nicht einmal das Gurren der Ringeltauben unterbrach an diesem Vormittag die Stille des Hofes.

Es gab Momente, in denen sie an ihrer Entscheidung, nach Möldenburg zurückzukehren, besonders als Äbtissin zurückzukehren, zweifelte. Doch immer, wenn sie die Geborgenheit dieses zum Garten und Ort der Besinnung gewordenen Hofes spürte, wusste sie, dass sie richtig entschieden hatte. Gerade vor dieser Ruhe und Abgeschiedenheit hatte sie sich gefürchtet, vor diesem Leben in einer genau definierten Rolle. Obwohl sie bei ihrem Amtsantritt sehr wohl wusste, dass die Äbtissin eines solchen Klosters alles andere als eine weltferne Betschwester, sondern vor allem die moderne Managerin eines bewohnten Museums von großer Besonderheit sein musste, hatten tief in ihrem Hinterkopf die gleichen Sätze geraunt wie bei allen anderen, die nichts von diesem ‹seltsamen Job›, wie ihr Sohn es nannte, wussten.

Inzwischen genoss sie gerade das, was sie zuvor gefürchtet hatte. Und sie genoss ebenso, wenn auch nur heimlich, dass es in ihrer Macht stand, wem sie Einlass gewährte oder nicht.

Im Vorübergehen registrierte sie die hinterlistige Flechte, die sich auf dem würdigen, dreihundert Jahre alten Grabmonument der seligen Äbtissin Walburga ausbreitete, zupfte von einem der noch üppig blühenden Büsche eine violette Asternblüte für ihr Revers und blieb stehen, um ihr Gesicht für einen Augenblick in die Sonne zu halten. Sie wusste nicht, ob es den frommen Jungfrauen längst vergangener Jahrhunderte erlaubt gewesen war, so müßig herumzustehen, doch sie war sicher, dass sie es getan hatten. Gewiss mit gefalteten Händen. Gegen ein Gebet an diesem Ort konnte, egal in welchem Jahrhundert, niemand etwas einzuwenden haben.

Sie öffnete die Tür zum Kreuzgang und lauschte. Kein Gemurmel, keine Schritte, keine Besuchergruppe, die sich von einer der Konventualinnen durch das Kloster führen ließ. Jetzt zum Ende der Saison kamen nicht mehr viele, in wenigen Tagen schlossen die Heideklöster ihre Pforten für die Öffentlichkeit. Sie blickte zurück durch den Gang und seufzte zufrieden. Noch fiel das Licht durch die Fenster mit den gläsernen Wappen der Äbtissinnen, der Familien der Stifter und Stifterinnen, der Pröbste vergangener Jahrhunderte, durch die biblischen Szenen und malte bunte Muster auf die weiß getünchten Wände unter dem Kreuzrippengewölbe. Bald, wenn die Sonne noch tiefer stand, würden ihre Strahlen den Gang nicht mehr erreichen.

Jedes der Heideklöster war sehenswert, jedes eine Fundgrube für mittelalterliche sakrale Kunst, jeder Konvent stolz auf einen besonderen, einzigartigen Schatz. Auch Kloster Möldenburg war ein Schmuckstück. Selbst wenn es nicht über einen so ungewöhnlich prächtig ausgemalten Nonnenchor wie das Kloster Wienhausen verfügte, nicht über die einzigartige Teppichsammlung des Klosters Lüne, nicht über die seltenen spätromanischen Bauplastiken in der Kirche und die berühmte Weltkarte des Klosters Ebstorf, wurde es für seine Besucher zu keiner geringeren Entdeckung.

Der Zustand seiner zum großen Teil nahezu achthundert Jahre alten Backsteinmauern war tadellos, die sakralen Kunstwerke, von den seit der Stiftung des Klosters erhaltenen Glasfenstern im Kreuzgang über die Heiligenstatuen zur Kirche mit dem von einer Fülle geschnitzter Figuren besetzten Altar-Triptychon, gehörten zu den schönsten Norddeutschlands.

Andere Klöster, besonders in südlicheren Regionen und von barocken Landesherren und Fürstbischöfen als prunkvolle Schlösser gestaltet, mochten prächtiger sein. Vielleicht gab es auch in den Kirchen und Domen der großen Städte bedeutendere Kunstwerke. Die Geschlossenheit der uralten Klosteranlagen jedoch, die einzigartige Atmosphäre aus der Verbindung von Stille und Lebendigkeit hatten ihren ganz eigenen Zauber.

Am Ende des Ganges trat die Äbtissin durch eine weit offen stehende Tür in den Gartenhof zwischen Klostergebäuden und der Mauer zum Wassergraben hinaus und sah sich suchend um.

Obwohl sie nicht so aussah, war die Mauer beinahe so ehrwürdig wie die übrigen Gebäude. Und auf ihre Art ein Denkmal für die Stärke der Klosterfrauen. Das Möldenburger Kloster war im frühen 13.Jahrhundert von der Pfalzgräfin Agnes, Schwiegertochter Heinrichs des Löwen, gestiftet und im geschlossenen Karree für ein Leben in strenger Klausur erbaut worden, wie es die Regeln der Zisterzienserinnen erforderten. Der Westflügel und das ihn schützende Stück der Klostermauer fielen in den ersten Jahren der Reformation dem religiösen Eifer des Celler Herzogs Ernst zum Opfer. Der wurde ‹der Bekenner› genannt, weil er sich als einer der ersten Landesherren zu Luthers neuer Lehre bekannte und sich eifrig daranmachte, die Klöster in seinem Herrschaftsbereich aufzulösen. Die Aussicht, deren damals noch reiche Besitztümer in die herzogliche Tasche stecken zu können, mag seine Frömmigkeit beflügelt haben. Die Möldenburger Nonnen leisteten entschlossenen, geradezu unweiblichen Widerstand. Aus Treue zu ihrem Glauben – und wo sonst hätten diese Frauen, die sich mit Christus vermählt hatten und die Gottesmutter heiligten, leben können? So dauerte es auch trotz des rabiaten Abrisses des Westflügels und der Zerstörung vieler sakraler Kunstwerke noch Jahrzehnte, bis sich auch hinter den Möldenburger Klostermauern die Reformation vollständig durchsetzte.

Dennoch blieben in der Lüneburger Region bis ins Hannöversche Frauenklöster erhalten. Herzogin Elisabeth von Calenberg-Göttingen, eine kluge Frau und Regentin für ihren minderjährigen Sohn, setzte ihre Umwandlung in evangelische Stifte mit einer neuen Klosterordnung durch. So verloren sie einen Teil, aber nicht ihr gesamtes Vermögen, und das gemeinsame Leben frommer Frauen (und überzähliger adeliger und großbürgerlicher Töchter) in einem respektablen Stand blieb weiter möglich. Zwar waren die Zeiten des ewigen Gelübdes vorbei, ein klösterlich geregelter Alltag wurde trotzdem noch lange beibehalten.

Die erste evangelische Äbtissin in Möldenburg setzte durch, dass der verheerte Westflügel wieder aufgebaut wurde, anstatt durch einen Gemüsegarten ersetzt zu werden, und ließ auch die Mauer wieder schließen. Allerdings mit vorgesetzten Rundbögen und deutlich höher als die zuvor niedergerissene. Davor pflanzte sie zwölf Rosenstöcke, einen für jeden Monat des Jahres. Es hieß, sie hätten sogar im Winter geblüht.

Kein Rosenstock überlebt vierhundertfünfzig Jahre, doch auch die nun über die Mauer kletternden Wildrosen erinnerten mit üppigem Wuchs und zartem Duft an die Zeit, in der alles anders wurde.

«Hier bin ich!», rief eine Frauenstimme aus einem Gebüsch nahe der Mauer. «Bei den Dahlien.» Niemand war zu sehen als Barbarossa, ein dicker roter Kater, der auf einem umgestülpten Eimer saß, hingebungsvoll seine weiße Brust leckte und tat, als beachte er die Spatzenfamilie beim Rosenrondell nicht im Mindesten.

«Untersteh dich, Barbarossa», murmelte die Äbtissin. Die strenge Warnung war nicht mehr nötig. Die Vögel hatten die reale Gefahr scharfer Katzenzähne ignoriert, die leichten Schritte der Äbtissin jedoch ließen sie mit empörtem Tschilpen auf und davon fliegen.

«Machen Sie sich keine Sorgen wegen Barbarossa. Der weiß genau, dass Vögel für ihn tabu sind.»

Eine kurze rundliche Gestalt zwängte sich zwischen den Jasmin- und Schneeballbüschen hindurch. In der Arbeitshose, dem dicken Pullover und den erdverkrusteten Gummistiefeln sah sie nicht aus, wie sich Touristen, die während der Sommermonate das Kloster besuchten, eine Konventualin, die Priorin gar, vorstellten. Erdige Schmutzstreifen in dem geröteten Gesicht und der eisgraue, über den Ohren mit zwei quittegelben Kämmen zurückgesteckte Pagenkopf verrieten niemanden als eine eifrige Gärtnerin. Mit einem kleinen Ächzer setzte Elisabeth Möller die Stiege voller frisch ausgegrabener Dahlienknollen ab und rieb sich in die Sonne blinzelnd die nächste Schmutzspur über die Stirn.

«Sie hätten mich nicht extra suchen müssen, Frau Äbtissin», sagte sie. «Ich habe den Zettel nur in Ihr Büro gelegt, damit Sie sich schon mal Gedanken machen können.» Sie wischte ihre erdschwarzen Hände an einem kaum weniger schwarzen Tuch ab und schob es umständlich zurück in die ausgebeulte Hosentasche. «Der olle Brandes findet meine Idee zwar nicht gut, unnütze Arbeit, hat er gemurmelt, aber er meinte, ich solle Sie fragen. Sie ist der Boss, hat er gesagt, ich bin nur der Gärtner. Na ja, das hätte ich sowieso getan. Wie finden Sie die Idee?»

«Sie müssen verzeihen, Frau Möller, ich bin nicht sicher, ob ich Ihre Notiz richtig entziffert habe. Sie wollen einen Kräutergarten anlegen?»

«Ja.» Elisabeth Möller, für gewöhnlich eine zu ernster Behäbigkeit neigende Frau, die wenige Worte und kurze Sätze bevorzugte, nickte eifrig. «Bei dem Gemüsegarten außerhalb der Mauer. Es hat hier immer einen gegeben, jedenfalls bis vor zweihundert Jahren, zweihundertdreizehn, genau gesagt. Ich habe Notizen darüber im Archiv gefunden und gedacht, es wäre doch sehr hübsch, wenn wir wieder einen hätten. Es gibt sogar noch Listen von Pflanzen, die hier gezogen wurden, der Garten war die reinste Apotheke, eine ganz wundervolle kleine Anlage. Die frommen Schwestern sollen früher sogar einen eigenen Likör gebraut haben. Natürlich nur gegen Husten und ähnliche in dieser Hinsicht praktische Wehwehchen. Es ist gar nicht schwer, so einen Garten anzulegen, und die Pflanzen kann man im Großhandel bekommen, die sind nicht mal teuer. Es würde auch eine neue Attraktion für unsere Besucher sein, wo doch heute alle wieder so viel Kräuter verwenden, und die Naturheilmedizin…»

Sie verstummte, besah sich ihre schwarzen Finger und fuhr zögernd fort: «Sicher gibt es überall viel bessere Kräutergärten, und ich verstehe auch nichts davon. Vielleicht ist so eine Idee kindisch.»

«Überhaupt nicht, Frau Möller. Die Idee ist wundervoll. Im Übrigen stimmt es nicht, dass Sie nichts davon verstehen. Ich bin es, die eine Sonnenblume kaum von einem Enzian unterscheiden kann. Wenn sich hier so ein Garten anlegen lässt, dann machen wir das. Die letzte Entscheidung hat natürlich der Konvent, aber die Kräuter werd en hübsch aussehen und gut riechen, niemand wird dagegen sein. Sie sollten sich nur mit Barbarossa einigen, ob Sie auch Baldrian pflanzen dürfen oder ob er den gleich wieder ausbuddelt. Der Duft wird doch alle seine Konkurrenten aus dem Dorf anlocken.»

Elisabeth Möller grinste und rieb zärtlich einen schmutzigen Zeigefinger über die Nase ihres Katers, der sich mit wie stets vorwurfsvollem Blick an ihre Beine drängte.

«Das kann ihm nicht schaden, dem eitlen Kerl. Vielleicht können wir die Beete mit Buchsbaum einfassen? Genau so, wie es früher war. Das sieht ordentlich aus und riecht auch gut. Wenn wir schon den alten Garten wieder auferstehen lassen, sollten wir alles so machen, wie es mal war.»

«Guten Morgen, guten Morgen. Ich störe doch nicht? Ich habe Sie schon im Büro gesucht, Frau Äbtissin. Aber es ist richtig, an einem so schönen Tag sollte man in Gottes freie Natur gehen. Ein wenig Muße unter Seinem Himmel ist auch ein Gebet, nicht wahr?»

Die beiden Frauen hatten weder bemerkt, dass sie nicht mehr allein waren, noch das diskrete Hüsteln gehört. Lieselotte von Rudenhof, eine zarte Dame im eleganten dunkelblauen Strickkostüm, stand auf schleifenbesetzten grauen Wildlederpumps nur drei Schritte hinter ihnen. Wie keine andere verstand sie sich geräuschlos zu bewegen. Selbst auf den alten hölzernen Fußböden der oberen Gänge, die schon knarrten, wenn man sie nur scharf ansah, waren ihre Schritte kaum zu hören. Was als äußerst unhöfliche Anschleicherei oder als Beweis ihrer schon nahezu schwebenden Vornehmheit bewertet werden konnte. Eine Frage, die unter den Bewohnerinnen des Klosters noch nicht endgültig entschieden war. Elisabeth Möller allerdings hatte in einem ihrer seltenen boshaften Momente eine weitere These aufgestellt. Die von Rudenhof schwebe herum wie ein Engel, und das sei wirklich ein einzigartiges Beispiel für eine arglistige Täuschung. Von der Fragwürdigkeit der ganzen Engelei mal abgesehen. Da sie diese Idee jedoch nur Barbarossa anvertraut hatte, konnte auch hierüber nicht endgültig entschieden werden.

«Und Sie, Frau Möller? Immer tätig. Was wäre unser Garten ohne sie.»

Frau von Rudenhof fand Namen wie Möller nicht besonders bemerkenswert. Da sie jedoch herausgefunden hatte, dass die Priorin als Elisabeth Theresia Leopoldine Louise von Pengesbart geboren und (wenn man die Stammbäume ganz genau und bis zu den unteren Ästen plünderte) über die eine oder andere Seitenlinie mit den Habsburgern verwandt war, sah sie generös darüber hinweg. Natürlich war es leichtfertig gewesen, einen Masseur zu heiraten, selbst wenn der über zweiundzwanzig Angestellte regierte und man das heutzutage Physiotherapeut nannte, und in diesem Unternehmen auch noch als Empfangsdame zu arbeiten. Ob die Scheidung dieser Ehe unter solchen Vorzeichen einen Sieg oder eine doppelte Niederlage bedeutete, hatte sie noch nicht entschieden. Auf alle Fälle, so fand sie, wäre es für die Reputation wie die Seelenruhe der Priorin von Vorteil, wäre ihr Gatte anständig verschieden, anstatt sich mit seiner Anlageberaterin zu vergnügen.

«Ich», Frau von Rudenhof richtete zierlich ein silbrigblondes Löckchen über ihrer rechten Schläfe, «bin im Garten zu gar nichts nutze. Wenn man sein Leben lang Personal gewöhnt war, hervorragend geschultes Personal, versteht man sich nicht auf diese Dinge. Leider. Aber meine Mutter hätte nie erlaubt… nun ja, das tut hier nichts zur Sache. Liebe Frau Äbtissin», sie wandte sich wieder der Äbtissin zu. Ihre blaubeerdunklen Augen hefteten sich für den Bruchteil einer Sekunde auf den winzigen Kaffeefleck auf Felicitas’ T-Shirt, glitten über die Asternblüte am Revers des Jacketts und zurück zu ihrem Gesicht: «Es ist ein herrlicher Tag. Dennoch. Ich muss Sie daran erinnern, dass der Seifenspender im Besucher-Waschraum immer noch wackelt. Diese kleine Reparatur mag nicht so bedeutend sein wie die Arbeit an den Wandmalereien im Refektorium, gewiss nicht, aber letztlich sind es doch immer die kleinen Dinge, die über das große Ganze entscheiden, nicht wahr? Der erste Eindruck…»

«Natürlich, Frau von Rudenhof.» Tausendmal hatte Felicitas sich vorgenommen, auch die umständlichste Rede anderer nicht mehr zu unterbrechen. In diesem Fall verzieh sie sich. Frau von Rudenhof nicht ab und zu ins Wort zu fallen hätte die Selbstbeherrschung einer Märtyrerin erfordert, die ihr nicht einmal annähernd gegeben war. «Der Seifenspender. Den habe ich tatsächlich vergessen. Eine unverzeihliche Schlamperei. Gut, dass Sie mich erinnern, sobald Herr Brandes aus Lüneburg zurück ist, werde ich ihn bitten, sich darum kümmern.»

«Ach? Er ist nicht da? Gerade jetzt, wo doch im Garten so viel zu tun ist? Sonst ist der gute Brandes doch immer hier, im Garten oder im Haus, wo und wann immer er gebraucht wird.»

«Ja, immer», brummte Elisabeth Möller und beugte sich über die Stiege mit den Dahlienknollen. «Wenn er nicht gerade einen wichtigen Termin in Elsis Tränke hat.»

Brandes lebte seit nahezu einem Vierteljahrhundert als Gärtner und Hausmeister des Klosters im ehemaligen Gesindehaus. Felicitas hatte sich geirrt, als sie annahm, ein Leben als Gärtner, der tägliche Umgang mit Blumen und anderen lieblichen Gewächsen führe zu Heiterkeit und Sanftmut. Brandes war ein echter Misanthrop und glich eher einer Bulldogge als einem sanften Lamm. Dennoch hatte er treue Anhängerinnen unter den Konventualinnen. Seine kleinen, tatsächlich mit den Jahren immer länger werdenden Pausen am mit Plastikblumen und Fußballwimpeln dekorierten Tresen der Kneipe wurden allgemein ignoriert. Von der Äbtissin umso bereitwilliger, als er in absehbarer Zeit in Pension gehen und einem neuen Gärtner Platz machen würde. Was seine Anhängerinnen schon jetzt beklagten. Die Äbtissin sah diesem Termin fröhlich entgegen. Brandes konnte ihr nicht verzeihen, dass sie den Platz ihrer Vorgängerin eingenommen hatte, ohne deren Langmut zu beweisen, ohne ihm seine bis dahin unangefochten einsamen Entscheidungen zu lassen.

Die Debatte Anfang der letzten Woche hatte seinen Grimm ein für alle Mal zementiert. Dabei war es nur um das nach der Saison übliche Großreinemachen gegangen. Eine Aktion, die Brandes stets geliebt hatte, weil sie ihm die Gelegenheit gab, mit dem Gartenschlauch alle Gänge unter Wasser zu setzen. Er zeigte sich gerne als reinlicher Mensch. Die neue Äbtissin setzte ihm auseinander, dass dies der beste Weg zur Zerstörung der alten Steinplatten und eine Einladung für Schimmel und Schwamm sei, sich in den alten Mauern niederzulassen. Sie war nicht sehr diplomatisch gewesen. Brandes beharrte auf dem gründlichen Reinigungsritual, das sei schon immer so gewesen und habe nie geschadet, ob das Kloster etwa im Schmutz versinken solle? Darauf folgten das abrupte Ende der Debatte und ein striktes Verbot dieses Vergnügens. Punktum, hatte sie gesagt und, kaum dass Brandes mit düsterem Blick davongestapft war, die Wasseranschlüsse in den Gängen trockengelegt.

«Dann sind wir heute ja ganz verlassen.» Frau von Rudenhof lächelte milde. «Frau Keller ist auch nicht da. Ich sah sie heute Morgen mit einer, nun ja, einer jungen Dame wegfahren. Einer fremden jungen Dame. Ich habe sie jedenfalls nie zuvor gesehen. Natürlich mag sie Besuch haben, aber während ihrer Arbeitszeit? Finden Sie das richtig, Frau Äbtissin?»

«In diesem Fall ja, Frau von Rudenhof. Ich habe Frau Keller gebeten, die junge Dame nach Waldneuburg zu bringen.»

«Ach. Dann ist sie Ihr Besuch von gestern Abend? Nicht dass Sie glauben, ich stehe ständig hinter der Gardine und beobachte den Klostervorhof. Aber als ich gestern Nacht ein Auto kommen hörte, sehr spät kommen hörte, da habe ich doch nach dem Rechten gesehen, man weiß ja nie, wer sich im Dunkeln hier herumtreibt. Und da sah ich Sie aus dem Auto steigen, was mich natürlich sofort beruhigt hat, in Begleitung.» Sie hob die Hand vor den Mund und hüstelte. «Ich dachte, es sei Ihre Tochter. Aber Ihre Tochter hat sicher nichts auf dem Gut zu tun.»

«Sie haben völlig Recht, meine Tochter hat dort absolut nichts zu tun. Nein, sie ist», Felicitas stockte einen kaum merklichen Moment. Natürlich musste sie nicht erklären, wer da mitten in der Nacht aus ihrem Auto gestiegen war, aber es war doch unmöglich, es nicht zu erklären. «Sie ist eine Freundin meiner Tochter, die ich, wie Sie sicher wissen, gestern in Hamburg besucht habe. Die junge Dame wollte nach Waldneuburg, und ich habe sie mitgenommen.»

Sie fühlte sich unbehaglich. Weil sie – wieder einmal – Ungeduld bewiesen und einen falschen, zu harschen Ton getroffen hatte. Und weil sie gelogen hatte. Warum? Konnte sie nicht auf der Straße aufsammeln, wen sie wollte? Das konnte sie, natürlich, aber es war eine andere Sache, eine Wildfremde mitten in der Nacht mit in das Kloster zu bringen, das nicht ihr Haus war und in dem sie nicht allein wohnte. Keine der Konventualinnen, nicht einmal die großzügige Elisabeth Möller oder die leidenschaftlich mildtätige Philomena Baumeister hätten das gutgeheißen. Tatsächlich war sie nicht sicher, was sie selbst gedacht hätte, wenn eine der anderen Damen in tiefer Nacht einer so seltsamen Zufallsbekanntschaft die Klosterpforte geöffnet hätte.

«Nach Waldneuburg, so. Wer hätte gedacht, dass jemand aus Hamburg unser Gut besuchen will? Aber die Zechaus sind ja auch ganz reizende Leute, immer gastfreundlich. Aber wegen des Seifenspenders. Er ist übrigens nicht das Einzige, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte, Frau Äbtissin. Da sind auch wieder Staubflocken zu Füßen der Thronenden Madonna auf dem Nonnenchor. Ein ganzes Nest! Der Respekt vor der Heiligen und vor dem Kunstwerk an sich sollte so etwas nicht erlauben. Früher…»

«Früher», sagte Elisabeth Möller und wischte energisch die Erdkrümel fort, die von ihrer gerunzelten Stirn fielen, «war oft die ganze Madonna staubig. Sicher haben Sie die Staubnester schon beseitigt, Frau von Rudenhof, damit die bei den Nachmittagsführungen keine Schande über unser Kloster…»

Die sanfte Debatte der Damen von Rudenhof und Möller über die Schande von Staubflocken und wackelnden Seifenspendern hätte ohne Zweifel noch geraume Zeit in Anspruch genommen, wäre nicht plötzlich eine rotwangige Gestalt in einer flatternden grasgrünen Bluse und violetten Samthosen über den Rasen herangestürmt.

«Verzeihung, Frau Äbtissin, ich hab gerufen, aber Sie haben mich nicht gehört, und gerade ist die Karosse von Mühlberg vorgefahren, der Alte und der Junge sind ausgestiegen, und ich glaube, sie gehen ins Refektorium, und ich dachte, Sie wollen das wissen, und sicher wollen Sie die mit Frau Rehland nicht allein lassen, und ich weiß nicht…»

«Danke, Margit», unterbrach die Äbtissin den wie üblich haltlos sprudelnden Redefluss ihrer Sekretärin und sah amüsiert in das junge Gesicht unter dem karottenroten widerspenstigen Haar. Margit Keller errötete, was nichts zu bedeuten hatte, sie errötete bei den nichtigsten Anlässen, und presste beide Hände auf die Lippen.

«Also! Die Mühlbergs sind da», nuschelte sie durch die Finger, «ich glaube, es ist besser, Sie gehn mal ins Refektorium, Frau Äbtissin.»

«Da können Sie mal sehn, Frau Rehland, ich habe wirklich keine Ahnung von Ihrem Metier.» Die sonore Stimme klang der Äbtissin schon entgegen, als sie sich durch den Kreuzgang dem Sommerrefektorium näherte. Johannes Mühlberg stand in der Mitte des etwa zwanzig Meter langen Raumes, entspannt gegen einen der drei langen Tische gelehnt, an denen Generationen von Klosterfrauen gegessen und gearbeitet hatten. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah er zu der schmalen Gestalt hinauf, die auf einer Leiter vor der den Fenstern gegenüberliegenden Wand hockte.

Sie war dort nicht allein. Von der Ostwand des Refektoriums blickte eine Reihe würdiger Gestalten inmitten üppiger Ranken und Blüten auf die Besucher hinunter. Im Zentrum der Malerei Anna-Selbdritt, links von ihr Antonius mit Stab und Schwein, die Kirchenväter Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Papst Gregor, ein Bischof und Christopherus mit dem Christusknaben. Zu ihrer Rechten Katharina mit dem Schwert, Barbara mit dem Turm und fünf weitere, nur noch rudimentär erhaltene und deshalb nicht mehr identifizierbare heilige Damen.

Zu Füßen dieser Versammlung brach die vor allem in Grüntönen gehaltene Malerei wie mit dem Strich gezogen ab, von dort bis zum Boden schmückten erheblich schlichtere bräunliche Palmwedel und vereinzelte mattrote Blüten die getünchte Mauer.

Das Bild war nur der Rest der Malereien, die einst alle Wände des Refektoriums bedeckten. Während die Palmwedel zur ältesten, vor sechshundert Jahren gemalten Schicht gehörten, war der Aufmarsch der heiligen Männer und Frauen einige Jahrzehnte jünger. In der Mitte des 16.Jahrhunderts verschwanden sie alle unter dichtem Putz, die Reformation mochte keine Heiligenbilder an evangelischen Wänden. Doch die Mode der Renaissance brachte neue Dekorationen, schlichte mit zierlichen Knospen geschmückte Rahmen, in die – wahrscheinlich – Sinnsprüche und Bibelzitate gemalt waren. Ein Meister des Barock schließlich übertünchte auch die und dekorierte die Wand mit gemalten, in sich gedrehten Säulen.

Auch die überlebten nicht lange. Im 18.Jahrhundert siegte die Erinnerung an klösterliche Schlichtheit, nun verschwanden auch die Säulen unter weißem Putz, die Wand hinter der beinahe deckenhohen Rückenlehne einer langen Bank. Seit der kunsthistorische Schatz vor fünfzig Jahren entdeckt und von den Putzschlämmen befreit worden war, hatten sich schon zweimal Restauratoren seiner angenommen. Mit unterschiedlichem Erfolg. Nicht die Zeit, so eine alte Restauratorenweisheit, vor allem der Mensch zerstört die Schätze der Kulturen.

Die grundlegende Restaurierung der Wandmalerei war lange geplant gewesen, als sie durch das überraschende Auftauchen eines ungewöhnlich großzügigen Mäzens schneller als erwartet in Angriff genommen werden konnte.

«Spätgotik», sagte Mühlberg, «aha. Wann war das doch noch? Fünfzehnhundertirgendwas? Ich glaube, so stand es in den Unterlagen.»

«Eher vierzehnhundertirgendwas», antwortete die rotblonde Frau auf der Leiter. Judith Rehland hatte heruntersteigen wollen, als Johannes Mühlberg in das Refektorium gefegt kam, seinen etwas gemächlicheren Sohn im Gefolge, doch Mühlberg hatte ihr energisch befohlen, oben zu bleiben. Er wolle nicht stören, nur mal schnell guten Tag sagen und sehen, ob etwas gebraucht werde. Sie solle sich nicht von ihrer Arbeit abhalten lassen, er sei gleich wieder fort, er und sein Sohn, und dann hatte er begonnen zu fragen. Nach den Namen der dargestellten Figuren, nach ihren Legenden, schließlich nach dem Künstler, der sie vor mehr als einem halben Jahrtausend an diese Wand gemalt hatte.

«Über den Maler können wir nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich, sogar ziemlich sicher, gehörte er zur Werkstatt des Lüneburgers Hinrik Levenstede des Jüngeren. Im Lüneburger Rathaus gibt es Parallelen zu dieser Malerei, die nachweislich von ihm sind. Auch die Zusammensetzung der verwendeten Farben spricht dafür. Leider gibt es im Klosterarchiv keine Unterlagen darüber, auch nicht über die Entstehungszeit dieser Malereien. Aber wir gehen davon aus, dass sie mit dem Umbau des Refektoriums etwa 1480 entstanden sind. Vielleicht auch einige Jahre später.»

Judith sprach nur zögernd. In den letzten Monaten war sie oft nach ihrer Arbeit gefragt worden, und zu Anfang hatte sie gerne und ausführlich geantwortet, um zu erleben, wie sie ihre Zuhörer ermüdete. Einer war Johannes Mühlberg gewesen, der unter der Fülle von Informationen – das zeigten nun seine Fragen – fast alle wieder vergessen hatte. Wenn sie erst einmal begann, vergaß sie schnell, dass sich Worte wie Lampenschwarz, Eisenoxidrot, Terra di Siena, wie Fassungsbestand, Notsicherung, Rankenwerkornamentik oder Firnisabnahme und Zwischenputzschlämme für die meisten Menschen erheblich weniger spannend anhörten als für eine Restauratorin.

Die Äbtissin blieb in der Tür stehen und betrachtete ihren großzügigen Geldgeber. Sie war sicher, dass er ihre Schritte gehört hatte, der Steinfußboden vervielfachte jeden Tritt, aber warum sollte sie ihm seine kleine Inszenierung verderben?

«Wirklich interessant», fuhr er dröhnend fort. «Da geht man durch alte Gemäuer, freut sich an der Kunst und hat keine Ahnung, was für Geschichten dahinterstecken. Sie haben tatsächlich alles fotografiert? Jeden Quadratzentimeter? Ich meine, jedes Bröckchen dieser abblätternden Farbe?»

«Überhaupt jedes Bröckchen, Herr Mühlberg. Wir dokumentieren ständig mit Zeichnungen und Fotos den Zustand der Objekte in allen ihren Schichten. Bevor und während wir an ihnen arbeiten bis zur letzten Retusche und Fixierung. Die Feinarbeit findet im Labor statt. Dort wird analysiert, welche Farben verwendet wurden, wie die Schäden der einzelnen Farbschichten aussehen oder ob sich darin zum Beispiel Bakterien niedergelassen haben. Und wenn wie hier mehrere Farbschichten übereinander liegen, untersuchen wir jede. Bevor diese Wand mit einer Putzschlämme abgedeckt wurde, sind die Malereien einige Male verändert worden, je nach dem Geschmack der Zeit. Und hier», sie schob die Ärmel ihres dicken schwarzen Pullovers hoch, griff nach einem Glasfaserstift und zeigte auf eine dunklere Stelle in der Nähe der Schulter des Ambrosius, «bei dieser Ranke kann man es deutlich sehen, hier sitzt Schimmel. Das muss behutsam, aber nachhaltig behandelt werden.»

«Schimmel. Aha. Damit kennen wir uns besser aus als mit der Kunst. Was, Karsten? Unser Brot darf auch nicht schimmeln.»

Er drehte sich nach seinem Sohn um, der an einem der Fenster stand, höflich um ein interessiertes Gesicht bemüht. Karsten Mühlberg überragte seinen Vater um einen halben Kopf, er war schlank, sein modisch geschnittenes Haar voll und dunkelblond, und auch wenn die breiten Schultern in dem eleganten dunkelgrauen Jackett den Sportler verrieten, wirkte er neben seinem nur mittelgroßen, kompakten Vater blass und unbedeutend. Dessen kantiger Kopf mit dem kurzen, nur an den Schläfen ergrauten dunklen Haar, der stets wache Blick und das kräftige Kinn ließen keinen Zweifel an seiner nie ermüdenden Tatkraft.

«Sicher nicht», murmelte der jüngere Mühlberg, als sei ihm die muntere Leutseligkeit seines Vaters peinlich, «aber ich denke, wir verwenden andere Methoden als Frau Rehland.»

Karsten Mühlberg schien im Gegensatz zu seinem Vater ein Muster an Humorlosigkeit zu sein.

«Und da kommt die Chefin.» Johannes Mühlberg schaltete schlagartig jedes Interesse an Schimmel und Klosterkunst ab und eilte der Äbtissin entgegen, die sich nun doch mit diskretem Räuspern bemerkbar gemacht hatte. «Entschuldigen Sie unseren Überfall, Äbtissin. Karsten sollte endlich mal sehen, was hier so passiert. Wir sind nur Bäcker und die reinsten Banausen, aber wenn wir schon mal eine solche Attraktion in der Stadt haben, wollen wir auch dabei sein.»

Die schlichte Berufsbezeichnung Bäcker war so richtig wie schamlos untertrieben. Johannes Mühlberg stand schon seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr am Backtrog, aus der passablen, aber doch kleinen Bäckerei seines Vaters hatte er einen florierenden Industriebetrieb gemacht.

Mühlberg senior lief stets auf Hochtouren. Auch wenn er längst keinen Teig mehr knetete, ging das Gerücht, er stehe Tag für Tag schon um fünf Uhr auf und stehe bald darauf hinter der Gardine seines Büros, um zu beobachten, wie die Männer und Frauen der Frühschicht durch das Hoftor seiner Brotfabrik kamen und in den Hallen verschwanden. Die Produkte der Großbäckerei Mühlberg wurden in mehr als zweihundert eigenen Filialen in jedem größeren Supermarkt Norddeutschlands verkauft. Karsten Mühlberg, sein einziger Sohn und Nachfolger, hatte nach dem Abitur zwar auch eine Bäckerlehre absolviert, allerdings nur, um so schnell wie möglich mit dem Betriebswirtschaftsstudium zu beginnen. Beide Mühlbergs mochten den Geruch von Mehl und Hefe lieben, doch zumindest der jüngere nur, wenn der durch die Fenster seines komfortablen Büros hereindrang.

«Gegen Banausen wie Sie, Herr Mühlberg, ist absolut nichts einzuwenden», sagte Felicitas. «Sie sind hier stets willkommen, das wissen Sie hoffentlich, und wir geben Ihnen immer gerne Auskunft. Das heißt», sie lächelte der Frau auf der Leiter zu, «Frau Rehland. Ich verstehe nicht mehr vom Restaurieren als Sie.» Sie entzog ihm sanft ihre Hand, die er immer noch in der seinen hielt. «Ohne Ihre schnelle Hilfe hätte es ewig gedauert, bis wir das Geld für die Restaurierung aufgetrieben hätten, und Frau Rehland hätte längst einen anderen Auftrag gehabt.»

Mühlberg nickte und wandte den Blick wieder der Restauratorin zu. Einen wohlgefälligen Blick, der nicht eindeutig verriet, ob er der schmalen Frau mit dem rötlich blonden Haar oder den von der Zeit arg ramponierten Secco-Malereien an der Wand hinter ihr galt.

«Reine Selbstsucht, Frau Äbtissin», sagte er fröhlich. «Es ist immer schön, wenn man helfen kann, ganz besonders der eigenen Stadt. Wie lange wird es dauern, bis die Wand wieder genug hergibt, um sie vorzuzeigen, Frau Rehland? Wir wollen ordentlich trommeln, wenn der alte Glanz wieder neu ist. Büfett, Presse, bisschen Prominenz, und der Bischof und irgendein Minister werden sich bei so einer Gelegenheit auch gerne in die Provinz bemühen.»

Johannes Mühlberg, das wusste jeder und fürchtete mancher in Möldenburg, war dabei, seine Geschäfte an seinen Sohn zu übertragen. Nicht, um sich dem Wohlleben und Vergnügen der späten Jahre reicher Männer hinzugeben, sondern um sich endlich und grundsätzlich in die Möldenburger Politik einzumischen. Er wollte Bürgermeister werden, und kaum jemand zweifelte an seinem Erfolg. Er hatte aus einer kleinen Bäckerei einen profitablen Industriebetrieb gemacht, er würde auch aus einem Bäcker einen Bürgermeister machen.

«Das Fest muss noch warten, Herr Mühlberg», sagte Judith. «Etwa drei Monate wird es sicher dauern, bis Sie die Wand vorführen können.»

Mühlberg sah enttäuscht aus, aber er nickte jovial. «Dann haben wir noch viel Zeit. Aber so eine Art Bergfest wäre auch gut, zumindest für die Presse. Es fuchst mich schon lange, dass unser prachtvolles Kloster nicht so bekannt ist wie die anderen in der Region. Höchste Zeit, dass wir das ändern. Aber nun ruft die Pflicht. Karsten!»

Wieder sah er sich nach seinem Sohn um, doch der blickte aus dem Fenster und hörte nicht zu. «Mühlberg junior. Was gibt es da draußen so Spannendes?»

«Nichts, Vater.» Karsten Mühlberg drehte sich hastig um. «Entschuldige. Ich habe nur an unseren Termin gedacht. Wenn wir nicht zu spät kommen wollen, müssen wir jetzt wirklich gehen.»

«Richtig, beeilen wir uns. Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige. Wenn Sie was brauchen, Frau Rehland, rufen Sie an, Sie werden immer gleich zu mir durchgestellt. Oder zu meinem Sohn, falls ich mal nicht im Büro bin. Für das neue Gerüst schicken wir Ihnen unsere Handwerker, die arbeiten solide und kosten das Kloster nichts. Dieses Wackelding von Leiter ist viel zu gefährlich. Nun komm endlich, Karsten.»

Ehe die Äbtissin auch nur Anstalten machen konnte, die beiden Mühlbergs zur Tür zu begleiten, waren sie schon verschwunden, der ältere mit grüßend wedelnder Hand dem jüngeren immer drei Schritte voraus.

«Du meine Güte.» Judith Rehland sprang von der Leiter und lachte spröde. «Ihr Mäzen ist eine echte Dampfwalze.»

«So präsent, meinen Sie?»

«So kann man es nennen, ja. In der Haut seines Sohnes möchte ich nicht stecken. War er schon immer so?»

«Der Senior? Keine Ahnung. Ich bin zwar hier aufgewachsen und kannte mal die halbe Stadt, aber die Mühlbergs gehörten damals nicht dazu. Solange er Ihre Arbeit bezahlt, ist mir allerdings egal, ob er seinen Sohn zu Wort kommen lässt. Und dessen Blässe täuscht, Karsten steht in dem Ruf, ein ungewöhnlich tüchtiger Manager zu sein. Es heißt, er sei dabei, mit ‹Mühlberg-Brot› die Börse und den Rest der Welt zu erobern. Mir konnte jedenfalls nichts Schöneres passieren, als so schnell jemanden zu finden, der bereit ist, sein kostbares Geld für unser Projekt herzugeben. Und das, ohne unser Klostersiegel als neues Firmenzeichen oder sonst eine unpassende Gegenleistung zu verlangen. Ich bin Johannes Mühlberg einfach dankbar.»

«Er Ihnen auch. Hat er ja gesagt: Sie geben ihm ein gutes Gefühl. Allerdings glaube ich nicht, dass er zu denen gehört, die die Rechte nicht wissen lassen, was die Linke tut. Oder war es umgekehrt? Sie sind doch sicher bibelfest.»

«Sicher», log die Äbtissin. Mit ihrer Bibelfestigkeit war es längst nicht so weit her, wie sie bis zu ihrem Amtsantritt gedacht hatte. «Aber warum soll er sich nicht wohlgefällig den Bauch reiben? Jedenfalls ist er nicht bigott. Er ist einfach reich genug und in dem Alter, in dem man überflüssiges Geld, wenn man denn welches hat, gerne verteilt. Solange er es uns gibt – wunderbar. Ich werde ihn in meine Gebete einschließen.»

«Uns gibt?» Judith versuchte vergeblich, einen langen Kalkstreifen von ihrem Overall zu klopfen, griff nach ihrer Kamera und kletterte wieder auf die Leiter. «Ich habe in der Stadt gehört, der ältere Mühlberg habe sich früher nie um das Kloster gekümmert, er habe kaum gewusst, wo es steht. Es heißt, seit die neue Äbtissin hier sei, solle er seine Schwäche für die alten Mauern entdeckt haben.»

Felicitas machte ein frommes Gesicht. «Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist», sagte sie. «Doch nun entschuldigen Sie mich, ich fürchte, ich muss einen Schraubenschlüssel auftreiben. Sie haben nicht zufällig einen zwischen Ihren Pinseln?»

KAPITEL 2

Wenn Charlotte aus der Schule kam und das Fahrrad durch die Einfahrt und über den Gartenweg schob, erwartete sie immer noch, ihren Vater auf der Terrasse zu sehen. Als sei er gerade von seinen mittäglichen Hausbesuchen heimgekommen und halte nach ihr Ausschau. Wenn sie auf dem Weg zum Schuppen um die Ecke gebogen war, hatte er gelächelt, auf seine ganz eigene Weise die Hand gehoben, nah am Körper und nur bis zur Höhe des Herzens, als gebe er ein geheimes Zeichen, und gesagt: ‹Na, Charly, geschafft für heute?› Oder: ‹Endlich. Ich dachte schon, ich muss allein essen.› Manchmal hatte er auch ‹Meine Kleine› gesagt, so wie früher, als sie tatsächlich noch klein gewesen war. Bei ihm hatte sie das nie gestört. Dann hatten sie gemeinsam gegessen, immer in der Küche, und er war in seine Praxis in der Altstadt zurückgekehrt.

Tatsächlich waren diese gemeinsamen Mittagessen selten gewesen. Doch je mehr Zeit seit seinem Tod verging, umso mehr wurden auch diese eiligen Mahlzeiten, nur sie beide, ohne die anderen, in ihrer Erinnerung zum nahezu täglichen Ritual.

Andreas Mellert war nun seit vier Monaten begraben, und es kam vor, dass Charlotte ihr Fahrrad zum Schuppen schob und an etwas ganz anderes dachte. Sie war nicht sicher, ob sie sich deswegen schuldig fühlen oder, wie Frau Marcks ihr versichert hatte, dieses Vergessen als ein gutes Zeichen annehmen sollte. Ihr Leben müsse nun mal ohne ihren Vater weitergehen, hatte die Psychologin versichert, das sei kein Beweis für Lieblosigkeit und Untreue. Er lebe dennoch in ihr weiter. Charlotte mochte Frau Marcks, auch wenn sie nicht immer einer Meinung mit ihr war.