Der Klub zur weißen Katze - Mary Roberts Rinehart - E-Book

Der Klub zur weißen Katze E-Book

Mary Roberts Rinehart

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Beschreibung

Die englische Originalausgabe von ›Der Klub zur weißen Katze‹ erschien 1910 (›The Window at the White Cat‹). Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Homepage www.fischerverlage.de

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Seitenzahl: 262

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Mary Roberts Rinehart

Der Klub zur weißen Katze

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Karl Helwig

FISCHER Digital

Inhalt

I Fünfunddreißig weniger neunzehnII In der Monmouth AvenueIII Achtundneunzig PerlenIV Ein Dieb in der NachtV Wo ist Miß Jane?VI Ein FüllfederhalterVII Die alte WaschkücheVIII Zu spätIX Nur ein Auge geschlossenX Der vertauschte KofferXI Eine Nacht in Flemings HauseXII Mord oder SelbstmordXIII Ein Spaziergang im ParkXIV Wer gab den Schuß ab?XV Die zweite FrauXVI Ediths KusineXVII Wieder in BellwoodXVIII In der ProszeniumslogeXIX Im Zimmer gegenüberXX Wardrop erzähltXXI Maß für MaßXXII Ein erstaunlicher Brief

I Fünfunddreißig weniger neunzehn

In meiner Anwaltspraxis ist alles, was einen Rock trägt, eine Dame – solange nicht ein gerichtliches Verfahren bewiesen hat, daß sie keine ist. Von dem schlampigen, ausgefransten Unterrock der Frau, die auf dem Marktplatz einen Geflügelstand besitzt und reich geworden ist, weil sie ihre Hühner mit erheblichem Untergewicht verkauft hat, bis zur seidenen Schleppe der Madam Tracy, die sich von ihrem Mann scheiden lassen will, weil er sie, wie sie behauptet, alle Augenblicke mit einer anderen Frau betrügt – kurz alle meine Klientinnen sind Damen und werden von Hawes als solche tituliert. Mir scheint freilich, er übertreibt ein wenig. So nannte er eine Waschfrau, die sich kürzlich an mich wandte, um meinen Rat einzuholen, eine Waschdame. Und eines Tages teilte er mir ziemlich aufgeregt mit, die Dame, die gerade fortgegangen sei, habe sich alles Kleingeld angeeignet, das sich in seiner Manteltasche befunden habe.

Als Hawes also eine Dame anmeldete, nahm ich meine Füße vom Schreibtisch, legte das Aktenstück, in dem ich gerade gelesen hatte, aus der Hand, machte mein Berufsgesicht und stand auf. Als ich aber einen Blick aüf die Besucherin geworfen hatte, legte ich meine Zigarre auf den Aschenbecher und zupfte meinen Schlips zurecht. Daß ich es hier mit einer Klientin zu tun hatte, die wirklich eine Dame war, sah ich schon an der Art und Weise, wie sie ins Zimmer trat. Trotz einer gewissen Verlegenheit hatte sie eine würdevolle Haltung, und als sie den Schleier hob, sah ich, daß sie ein weißes, vornehmes und junges Gesicht hatte.

«Ich habe meine Karte nicht abgegeben», sagte sie, als ich vergebens nach der Visitenkarte Ausschau hielt, die Hawes bei der Anmeldung eines Klienten auf meinen Schreibtisch zu legen pflegt. «Ich möchte Sie um einen Rat bitten und dachte, der Name sei nicht so wichtig.»

Ich hatte den Eindruck, daß ihre Verwirrung sich etwas legte, als sie die Feststellung machte, daß ich beträchtlich älter war als sie selber. Ich sah sie verstohlen nach den grauen Stellen über meinen Ohren blicken. Ich bin allerdings erst fünfunddreißig Jahre alt, aber in meiner Familie pflegt das Haar ziemlich früh grau zu werden. In geschäftlicher Hinsicht ist das zweifellos von Vorteil, in gesellschaftlicher aber eher ein Nachteil.

«Wollen Sie nicht Platz nehmen?» fragte ich, indem ich ihr einen Stuhl hinschob, und zwar so, daß ihr Gesicht dem Licht zugekehrt war, während ich selber im Schatten blieb. Jeder Arzt und jeder Rechtsanwalt kennt diesen kleinen Trick. «Erzählen Sie vielleicht einmal, was Sie zu mir führt. Sollte ich es für unbedingt notwendig halten, können Sie mir Ihren Namen dann später noch sagen.»

Sie schien sich damit zufrieden zu geben und nahm Platz. Einen Augenblick saß sie schweigend da und blickte gedankenvoll nach dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses. In dem hellen Vormittagslicht bestätigte sich mein erster Eindruck. Nur zu oft entdecke ich in dem Gesicht einer Frau, die in meinem Büro den Schleier lüftet, die Verheerungen, die vieles Weinen oder auch ein ausschweifendes Leben oder ein zu reichlicher Gebrauch von Schönheitsmitteln angerichtet haben. Meine neue Klientin wandte ein jugendfrisches, gesund aussehendes Gesicht ohne die peinlichen Spuren eines aus den Geleisen geratenen Lebens und ohne jedes Zeichen von Verlegenheit dem Licht zu. Ihr Profil war ausgesprochen schön, obwohl man ihr anmerkte, daß irgend etwas sie bedrücken mußte. Nachdem ihre erste Verwirrung verflogen war, schien sie jetzt den Wunsch zu verspüren, so bald wie nur möglich auf ihr Anliegen zu sprechen zu kommen.

«Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll», sagte sie. «Aber nehmen Sie einmal an, ein Mann, ein sehr bekannter Mann, verläßt sein Haus, ohne zu sagen, weshalb, und ohne irgend etwas mitzunehmen, außer dem, was er am Leibe trägt. Nehmen Sie weiter an, er sagt, er würde zum Abendessen nach Hause kommen, und er – er –»

Sie brach ab, weil ihre Stimme versagte.

«Und er kommt nicht nach Hause?» half ich ihr weiter.

Sie nickte stumm und suchte nach dem Taschentuch in der Handtasche.

«Wie lange ist er schon fort?» fragte ich. Was ich da gehört hatte, war für mich natürlich nichts Neues. Ich hatte genau dieselbe Geschichte schon oft gehört. Unverständlich war mir nur, wie man eine Frau wie diese hier, die eigentlich noch nicht viel mehr als ein Mädchen war und ein so reizvolles obendrein, einfach verlassen konnte.

«Zehn Tage.»

«Ich meine, da müßte man nun wohl Nachforschungen anstellen», sagte ich entschlossen und stand auf. Ich weiß nicht, warum, aber ich konnte nicht länger stillsitzen. Ein Anwalt, der wirklich einer ist, wird meiner Meinung nach immer Partei ergreifen. Ich jedenfalls kann nie von einem Mann hören, der seine Frau verläßt, ohne empört zu sein. Vielleicht ist es der tugendhafte Zorn des unverheirateten Mannes. «Aber Sie werden mir doch noch mehr sagen können», fuhr ich fort. «Hat der betreffende Herr schlechte Gewohnheiten? Ich meine – trinkt er?»

«Nicht übermäßig viel. Sein Arzt hatte ihm den Alkohol verboten. Übrigens spielte er gern Bridge, und ich glaube, er gewann dabei viel Geld.» Sie errötete, wieder leicht verwirrt.

«Verheiratet, nehme ich an?» fragte ich beiläufig.

«Er war es. Seine Frau starb, als ich –», sie brach ab und biß sich auf die Lippen.

Dann war er also doch nicht ihr Gatte! Merkwürdig. Genau in diesem Augenblick trat die Sonne hinter einer Wolke hervor. Auf dem staubigen Vorleger mit den Tabakspuren, der zu ihren Füßen lag, bildete sich ein heller Sonnenfleck.

«Es ist mein Vater», sagte sie einfach.

Es war verrückt, aber ich fühlte mich tatsächlich erleichtert.

Da ich aber jetzt wußte, daß es sich um keine Scheidungssache handelte, mußte ich den Fall von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten.

«Und Sie haben absolut keine Erklärung für sein Verschwinden?»

«Keine.»

«Er hat nichts von sich hören lassen?»

«Nichts.»

«Und er ging niemals auf längere Zeit fort, ohne Ihnen etwas zu sagen?»

«Nein. Niemals. Er war sehr viel fort. Aber ich wußte immer, wo er zu finden war.» Ihre Stimme brach wieder, und ihre Lippen zitterten.

Ich hielt es für weise, sie zu beruhigen.

«Wir wollen uns nicht nutzlos Gedanken machen, solange wir nicht wissen, ob es sich um etwas Ernstes handelt», sagte ich. «Oft finden Dinge, die äußerst geheimnisvoll erscheinen, eine sehr einfache Erklärung. Er kann geschrieben haben, und der Brief kann aus irgendeinem Grunde nicht angekommen sein. Auch ein leichter Unfall wäre ja nicht unmöglich.»

Ich merkte, daß ich eine Dummheit gesagt hatte. Sie wurde ganz weiß, und ihre Augen weiteten sich.

«Aber das ist natürlich höchst unwahrscheinlich», beeilte ich mich, meinen Fehler wiedergutzumachen. «Er hatte natürlich Papiere bei sich, aus denen hervorging, wer er war.»

«Seine Taschen waren immer voll von alten Briefen und dergleichen», stimmte sie eifrig zu.

«Meinen Sie nicht, ich sollte seinen Namen wissen?» fragte ich. «Es braucht ja nicht über die Wände meines Büros hinaus zu gelangen. Mein Arbeitszimmer ist eine Art Beichtstuhl oder sogar noch mehr. Die Leute erzählen ihrem Rechtsanwalt Dinge, die sie niemals dem Pfarrer sagen würden.»

Ihre Farbe kehrte langsam zurück. Sie lächelte.

«Mein Name ist Fleming, Margery Fleming», sagte sie nach kurzem Zögern. «Mein Vater, der verschwunden ist, dürfte Ihnen dem Namen nach bekannt sein. Ach, Mr. Knox, was sollen wir tun? Er ist nun schon länger als eine Woche fort.»

Ich wunderte mich durchaus nicht, daß sie den Namen des Verschwundenen geheimzuhalten wünschte. Allan Fleming also war es! Sehr viele recht angesehene Bürger wären sicher froh gewesen, wenn sie gewußt hätten, er sei verschwunden. Allan Fleming, der Staatsschatzmeister, war zweifellos ein angenehmer Gesellschafter und besaß die besten Umgangsformen. Er war auch ein recht erfolgreicher Politiker, aber einer von denen, die vor nichts zurückscheuen. Natürlich hatte er viele Feinde und das sicherlich nicht ohne Grund. Er gehörte zu dem kriminellen Typ des Politikers.

«Es tut mir aufrichtig leid», sagte ich. Es tat mir auch tatsächlich leid, denn, er mochte im übrigen sein, was er wollte, so war er doch auf jeden Fall ihr Vater. «Natürlich ist es aus verschiedenen Gründen besser, wenn sein Verschwinden, jedenfalls vorläufig, nicht allgemein bekannt wird. Wie ich schon sagte, lassen sich eine ganze Menge Erklärungen für sein Verhalten denken – zumal in der Politik gibt es so manches –»

«Ich hasse die Politik!» unterbrach sie mich leidenschaftlich. «Ich werde schon krank, wenn ich bloß das Wort höre. Lese ich, daß es Frauen gibt, die durchaus wählen wollen und dergleichen, dann frage ich mich, ob sie wohl eine Ahnung haben, was es bedeutet, wenn man zu ganz schrecklichen Menschen, sogar zu solchen, die im Zuchthaus gesessen haben, um der Politik willen höflich sein muß. Wissen Sie auch, daß unser letzter Butler ein Berufsboxer gewesen ist?» Sie stützte ihre Hände auf die Armlehnen ihres Stuhles und richtete sich auf. «Da fällt mir noch etwas ein, Mr. Knox. An dem Tage nach Vaters Verschwinden verschwand Carter ebenfalls. Und er ist nicht zurückgekommen.»

«Carter war wohl der Butler?»

«Ja.»

«Ein Weißer?»

«O ja.»

«Und er ging fort, ohne etwas zu sagen?»

«Ja. Am Tage nach Vaters Verschwinden servierte er noch beim zweiten Frühstück. Die Mädchen sagen, sofort hinterher sei er fortgegangen. Am Abend war er nicht mehr da. Eines der Mädchen mußte statt seiner bei Tisch aufwarten. Aber er kam spät in der Nacht zurück. Er besaß einen Schlüssel zu dem Eingang für Lieferanten. So kam er ins Haus und schlief die Nacht in seinem Zimmer. Aber die Mädchen sagten, bevor sie selber aufgestanden wären, hätte er das Haus wieder verlassen. Und seither haben wir ihn nicht mehr gesehen.»

«Wir werden auf Carter noch zu sprechen kommen», sagte ich. «Ist Ihr Vater in der letzten Zeit krank gewesen?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Ich wüßte nicht», sagte sie. «Er ließ sich einen Zahn ziehen.» Als sie mich lächeln sah, sagte sie, etwas gekränkt: «Ich weiß wohl, daß Sie von mir wenig Hilfe bekommen. Aber ich habe über alles soviel nachgedacht, daß ich überhaupt nicht mehr denken kann. Ich ende immer da, wo ich begonnen habe.»

«Ist Ihnen nicht sonst etwas bei ihm aufgefallen?» fragte ich. «Vielleicht eine leichte Gedächtnisschwäche?»

Ihre Augen wurden feucht.

«Vor vierzehn Tagen hat er meinen Geburtstag vergessen», sagte sie. «Es war das erste Mal. Er hat nie einen vergessen, und es waren doch neunzehn.»

Neunzehn! Fünfunddreißig weniger neunzehn macht sechzehn …

«Was ich meinte, ist dies», erklärte ich. «Menschen haben manchmal ganz plötzlich und ohne erkennbare Ursachen eine Gedächtnisschwäche. Und wenn das geschieht, dann kommt es vor, daß sie ihr Haus verlassen. Und irgendwo herumstreifen. Hat Ihr Vater in der letzten Zeit größere Aufregungen gehabt?»

«Er ist gar nicht mehr der alte gewesen. Er war auffallend reizbar. Selbst mir gegenüber. Und zu den Dienstboten war er einfach fürchterlich. Nur Carter machte eine Ausnahme. Zu Carter war er nie häßlich. Aber ich glaube nicht, daß es sich um Gedächtnisschwäche handelt. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, wie er an jenem Morgen aussah, glaube ich, er hatte die Absicht, wegzugehen. Und es zeigt, wie er sich verändert hatte, daß er daran denken konnte, wegzugehen, ohne ein Wort zu sagen, und mich allein zurückzulassen.»

«Dann haben Sie also keine Geschwister?»

«Keine. Ich kam zu Ihnen –» sie brach wieder ab.

«Bitte, sagen Sie mir, warum Sie gerade zu mir gekommen sind», bat ich neugierig. «Sie können sich wohl denken, daß ich mich sehr geehrt fühle und freue.»

«Ich wußte nicht, wohin ich gehen sollte», gestand sie. «Da habe ich das Telephonbuch genommen und aufgeschlagen, wo die Anwälte verzeichnet stehen. Dann habe ich die Augen zugemacht und meinen Finger irgendwo auf die Seite gelegt. Und da zeigte mein Finger auf Ihren Namen.»

Ich fürchte, ich wurde rot, als ich das hörte. Aber es war eine sehr gesunde Dusche. Ich brachte es sogar fertig zu lachen.

«Wir wollen es als ein gutes Vorzeichen nehmen», sagte ich. «Ich verspreche Ihnen, alles zu tun, was ich kann. Aber ich bin kein Detektiv, Miß Fleming. Glauben Sie nicht, wir sollten einen Detektiv hinzuziehen?»

«Nicht die Polizei!» sagte sie mit einem Schauder. «Ich dachte, Sie könnten etwas tun, ohne einen Detektiv einzuweihen.»

«Vielleicht erzählen Sie mir einmal, was am Tage nach dem Verschwinden Ihres Vaters geschah. Und erzählen Sie mir auch genau, wie es war, als er fortging. Ich möchte jede Kleinigkeit wissen. Vielleicht ergeben sich daraus einige Fingerzeige, die in eine ganz bestimmte Richtung deuten.»

«Wir wohnen in der Monmouth Avenue», begann sie. «Wir sind allein im Hause. Und natürlich die Dienstboten. Es sind eine Köchin, zwei Hausmädchen, eine Waschfrau, ein Butler und ein Chauffeur. Mein Vater ist oft längere Zeit in der Hauptstadt. Seitdem meine alte Erzieherin nach Deutschland zurückgekehrt ist, gehe ich, wenn mein Vater längere Zeit abwesend ist, meistens zu den Schwestern meiner Mutter, Miß Letitia und Miß Jane Maitland, in Bellwood.»

Ich nickte. Ich kannte die alten Damen sehr gut. Im letzten Jahr hatte ich für Miß Letitia vier verschiedene Testamente aufgesetzt.

«Mein Vater ging am zehnten Mai fort. Sie sagen, ich soll Ihnen alles erzählen, was ich davon weiß. Aber da ist nichts zu erzählen. Wir haben einen Wagen; aber er war gerade in der Reparaturwerkstätte. Vater stand nach dem Frühstück auf, nahm seinen Hut und verließ das Haus. Er war sehr erregt über einen Brief, den er bei Tisch gelesen hatte –»

«Könnten Sie diesen Brief wohl finden?» fragte ich schnell.

«Er nahm ihn mit. Ich wußte, daß er sehr aufgeregt war, denn er sagte nicht einmal, daß er fortginge. Ich dachte, er wolle sich in sein Büro begeben. Er kam am Abend nicht nach Hause, und ich ging am nächsten Morgen in sein Büro. Man sagte mir, er wäre nicht da gewesen. Er ist auch nicht in Plattsburg, denn sie haben jeden Tag versucht, ihn telephonisch zu erreichen.»

Trotz ihres aufrichtigen Gesichts war ich überzeugt, daß sie etwas verschwieg.

«Warum erzählen Sie mir nicht alles?» fragte ich. «Vielleicht halten Sie gerade das Wesentliche zurück.»

Errötend öffnete sie ihr Geldtäschchen und gab mir einen Papierstreifen. Darauf stand, schnell hingeworfen, die Zahl 1122 geschrieben. Das war alles.

«Ich fürchtete, Sie würden es albern finden, wenn ich davon spreche», sagte sie. «In der zweiten Nacht nach Vaters Verschwinden war ich nervös und konnte nicht schlafen. Ich erwartete, er könne jeden Augenblick nach Hause kommen, und ich lauschte immer, ob ich nicht seinen Schritt unten hörte. Ungefähr um drei Uhr glaubte ich in dem Zimmer unter mir etwas zu hören. Ich hatte den Eindruck, als ginge da jemand herum, der sich bemühte, leise zu sein. Ich atmete auf, denn ich dachte, Vater wäre nach Hause gekommen. Da ich aber nicht hörte, daß sich die Tür seines Schlafzimmers schloß, wurde ich immer wacher. Schließlich stand ich auf und ging über den Korridor zu seinem Zimmer. Die Tür stand um ein paar Zoll auf. Ich griff hinein und knipste das elektrische Licht an. Kurz bevor ich den Schalter berührte, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, als stünde jemand ganz in meiner Nähe. Als das Licht aber brannte, war das Zimmer leer und der Korridor auch.»

«Und dieses Papier hier?»

«Als ich sah, daß das Zimmer leer war, ging ich hinein. Der Papierstreifen war mit einer Nadel am Kopfkissen festgesteckt. Zuerst dachte ich, das Papier wäre zufällig dahingeweht worden. Als ich aber die Stecknadel sah, erschrak ich. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und läutete nach Annie, dem zweiten Hausmädchen. Es war halb vier Uhr morgens, als Anne herunterkam. Ich führte sie in Vaters Zimmer und zeigte ihr das Papier. Sie war sicher, daß es nicht da gewesen war, als sie um neun Uhr das Bett aufgeschlagen hatte.»

«Elfzweiundzwanzig», murmelte ich. «Zweimal elf ist zweiundzwanzig. Aber das erklärt nicht viel.»

«Nein», stimmte sie zu. «Ich dachte, es sei vielleicht eine Telephonnummer. Darum rief ich alle Telephonabonnenten in der Stadt an, deren Nummern mit 1122 beginnen.»

Ich mußte lachen, ob ich wollte oder nicht. Schließlich lächelte sie auch.

«Entschuldigen Sie, Miß Fleming», sagte ich. «Wenn ich glaubte, Ihrem Vater wäre etwas Ernstes zugestoßen, würde ich nicht lachen. Aber glauben Sie mir, es wird sich schon alles bald aufklären. Doch um auf diese geheimnisvolle Zahl und den Papierstreifen zurückzukommen – haben Sie die Dienstboten geweckt und das Haus durchsuchen lassen?»

«Annie sagte, Carter wäre zurückgekommen, und sie ging ihn wecken. Aber obgleich seine Tür von innen verschlossen war, antwortete er nicht. Annie und ich knipsten überall das elektrische Licht an und gingen durch alle Räume. Jedes Fenster und jede Tür waren geschlossen. Aber in Vaters Arbeitszimmer im ersten Stock waren zwei Schubladen seines Schreibtisches herausgezogen. Und mein Schreibtischkasten, wo ich mein Haushaltsgeld aufbewahre, war aufgebrochen worden, und das Geld war verschwunden.»

«Vermißten Sie sonst noch etwas?»

«Nein, nichts. Das Silberzeug im Speisezimmer und viele wertvolle Dinge im Wandschrank des Salons – alles war unberührt geblieben.»

«Es könnte Carter gewesen sein», überlegte ich. «Wußte er, wo Sie Ihr Haushaltsgeld aufbewahrten?»

«Das ist möglich. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Außerdem, wenn er etwas stehlen wollte, so hätte er doch viel wertvollere Dinge nehmen können. Die Juwelen meiner Mutter und meine eigenen waren in meinem Ankleidezimmer, und die Tür war nicht verschlossen.»

«Und sie waren nicht angerührt worden?» Sie zögerte.

«Meine Großmutter hinterließ jedem ihrer Kinder einige Perlen. Sie waren eine Liebhaberei von ihr. Tante Jane und Tante Letitia haben ihre Perlen niemals aufreihen lassen, aber meine Mutter hatte sie zu allerlei altmodischen Schmuckstücken verwendet. Ich bewahrte sie in einer Schublade in meinem Wohnzimmer auf. Am nächsten Morgen war die Schublade aufgeschlossen und stand etwas offen. Aber es fehlte nichts.»

«Alle Ihre Juwelen waren da?»

«Alle außer einem Ring, den ich selten vom Finger ziehe.»

Ich folgte dem Blick ihrer Augen. Unter ihrem Handschuh zeichnete sich ein Ring mit einem Solitär ab.

Fünfunddreißig weniger – – Ich nahm mich zusammen und stand auf.

«Das sieht nicht nach einem gewöhnlichen Einbruch aus», sagte ich nachdenklich. «Aber ich fürchte, ich habe keine Phantasie. Sicherlich würde das, was Sie mir erzählt haben, einem Menschen mit analytischer Geistesrichtung viel zu denken geben. Aber ich kann nun einmal keine Folgerungen ziehen. Fünfunddreißig weniger neunzehn macht sechzehn. Jedenfalls rechne ich es mir so aus. Aber ich kenne Leute, bei denen als Ergebnis Null herauskäme.»

Ich glaube, sie hielt mich für leicht verrückt, denn sie blickte mich ganz verzweifelt an.

«Wir müssen ihn finden, Mr. Knox», sagte sie und stand auf. «Wenn Sie einen Detektiv kennen, dem man vertrauen kann, dann setzen Sie sich, bitte, mit ihm in Verbindung. Aber Sie werden verstehen: die unerklärliche Abwesenheit des Staatsschatzmeisters muß geheimgehalgen werden. Eines ist ganz sicher. Er wird irgendwo festgehalten. Sie wissen gar nicht, was für gefährliche Feinde er hat. Da ist zum Beispiel Mr. Schwartz. Solche Leute haben keine Skrupeln und keine Grundsätze.»

«Schwartz?» wiederholte ich überrascht.

Henry Schwartz war der Boß seiner Partei. Er war der Mann, von dem einer seiner Gegner gesagt hatte, er stünde so tief auf der Stufenleiter der Menschheit, daß nur ein besonderer Gnadenakt des Himmels ihn bis zum Niveau absoluter Niedrigkeit erheben könne. Aber man nahm allgemein an, er und Fleming wären der Kapitän und der erste Steuermann des Seeräuberschiffs, das sich unser Staatsschiff nannte.

«Mr. Schwartz und mein Vater sind politisch Verbündete», sagte das Mädchen. «Aber sie sind keine Freunde. Mein Vater ist ein Gentleman.»

Ich tat, als begriffe ich nicht, was sie damit hatte sagen wollen. Meine Besucherin, die zu fürchten schien, sie habe schon zuviel gesagt, stand auf. Als sie ein paar Minuten später ging, hatte sie mir versprochen, sie würde das Haus in der Monmouth Avenue abschließen und sofort zu ihren Tanten in Bellwood übersiedeln. Ich hatte ihr dafür versprochen, ich würde sofort mit den Nachforschungen nach ihrem Vater beginnen.

Ich weiß nicht, was ich Hunter, dem Detektiv, alles erzählte, als er am Nachmittag zu mir kam, und ob mein berufliches Interesse oder mein Gefühl mehr daran beteiligt war.

Hunter war eine Weile still, nachdem ich meine Geschichte beendet hatte.

«Faul, durch und durch faul», bemerkte er schließlich. «Diese Regierung ist noch schlechter als die vorhergehende, und das will etwas heißen. In den letzten zehn Jahren hat es mehr Selbstmorde gegeben, als ich an meinen beiden Händen abzählen könnte. Ich warne Sie. Halten Sie sich lieber aus dieser Schweinerei heraus.»

«Was halten Sie von elfzweiundzwanzig?» fragte ich, als er aufstand und seinen Rock zuknöpfte.

«Das könnte alles mögliche heißen. Es könnte zweiundzwanzig Dollar bedeuten oder die Zeit, da ein Zug abfährt, oder es könnten der elfte und der zweiundzwanzigste Buchstabe des Alphabets sein, also: k – v …»

«K – v?» rief ich. «Vielleicht cave – hüte dich!»

Hunter lächelte.

«Bleiben Sie lieber bei Ihrer Rechtswissenschaft, Mr. Knox», sagte er. «Wir Detektive haben für das Lateinische keine Verwendung.»

II In der Monmouth Avenue

Plattsburg war nicht der Name der Hauptstadt unseres Staates. Aber für diese Geschichte können wir ihn verwenden. Auf den Staat kommt es auch nicht weiter an. Sagen wir, meine Heimatstadt hieße Manchester. Ich lebe bei meinem verheirateten Bruder, seiner Frau und zwei Buben. Fred ist älter als ich und ein ausgezeichneter Bruder. An dem Tage, an dem er von seiner Hochzeitsreise zurückkehrte, siedelte ich, wie vorher verabredet, zu ihm über. Fred und Edith nahmen mich an der Haustür in Empfang.

«Hier hast du deinen Hausschlüssel, Jack», sagte Fred, als wir uns die Hände schüttelten. «Ich stelle nur eine Bedingung. Vergiß nicht, daß wir hier fremd sind, und versuche nach Hause zu kommen, bevor die Nachbarn aufgestanden sind. Wir müssen an unseren Ruf denken.»

«Eine Frühstückszeit haben wir nicht», sagte Edith. «Du hast dein eigenes Bad. Und rauche nicht im Salon.»

Fred war schon immer ein richtiger Glückspilz.

Ich wohnte jetzt schon sechs Jahre bei ihm und Edith. Ich hatte ihnen geholfen, ihre beiden Buben groß zu ziehen. Es sind sehr lebhafte Buben. Der älteste konnte schon mit vier Jahren boxen.

An dem Tage, da Margery Fleming zu mir ins Büro kam, ging ich mit etwas gemischten Gefühlen nach Hause. Das gemeinsame Abendessen pflegte nicht gerade eine sehr ruhige Mahlzeit zu sein. Fred und ich sprachen für gewöhnlich von Politik, und da Fred auf der einen Seite stand und ich auf der andern, gerieten wir uns leicht in die Haare. «Und was hältst du von Fleming?» fragte ich schließlich, als Fred erklärt hatte, in diesen Zeiten der Korruption wäre er gegen jede Regierung, mochte sie nun rechts oder links stehen.

«Ein faules Ei», antwortete Fred, und er spießte eine Kartoffel auf, als wäre es ein Politiker gewesen. «Und gegen ein faules Ei kann man sich nur dadurch wehren, daß man sich die Nase zuhält. Das tut die Öffentlichkeit denn auch. Sie hält sich die Nase zu.»

«Hat er nicht eine Tochter?» fragte ich so nebenbei.

«Ja, übrigens ein hübsches Mädchen», mischte Edith sich ein. «Das ist das einzige Gute an ihm.»

«Fleming ist ein Schurke, Tochter hin, Tochter her», beharrte Fred. «Seitdem er und seine Bande den armen Butler in die Enge getrieben haben, so daß ihm schließlich kein anderer Ausweg blieb, als sich das Leben zu nehmen, habe ich das Gefühl, daß sie alle dran kommen werden – Fleming, Schwartz und die übrigen. Ich habe übrigens Fleming heute auf der Straße gesehen.»

«Was!» rief ich, von meinem Stuhl in die Höhe fahrend.

Fred warf mir über seine Kaffeetasse einen spöttischen Blick zu. «Hat er nicht eine Tochter?» wiederholte er meine Frage von vorhin. «Ja, Jack, ich habe ihn gesehen, und zwar heute, und zwar in einem höchst unromantischen Taxi. Er zankte sich mit einem Polizisten herum.»

«Wo war das?»

«An der Ecke Chestnut Street und Union Street. Sein Taxi war von einem Privatauto angefahren und etwas beschädigt worden. Er weigerte sich auszusteigen. Näheres wird dir der Polizist sagen können, der an der Ecke seinen Stand hat.»

«Hör einmal, Fred!» sagte ich ernst. «Willst du das, bitte, für dich behalten? Es liegt mir viel daran. Und du auch, Edith? Es ist eine merkwürdige Geschichte. Ich werde sie euch später einmal erzählen.»

Als wir das Speisezimmer verließen, legte mir Edith die/Hand auf die Schulter.

«Laß dich nicht mit diesen Leuten ein, Jack», riet sie mir. «Margery ist ein liebes Mädchen, aber ihr Vater hat Henry Butler tatsächlich auf dem Gewissen. Und Henry Butler war mit meiner Kusine verheiratet.»

«Du brauchst keine Familienaffäre daraus zu machen», protestierte ich. «Ich habe das Mädchen nur einmal gesehen.»

Aber Edith lächelte. «Ich weiß schon, was ich weiß», sagte sie. «Übrigens bist du ein Verschwender. Wie konntest du Bobby nur dieses riesige Schaukelpferd schenken!»

«Der Bub muß doch einmal anfangen, reiten zu lernen. In vier Jahren kann er ein Pony reiten, und ich werde dafür sorgen, daß er es auch wirklich bekommt. Er wird dann acht Jahre alt sein.»

Edith lachte.

«In vier Jahren!» sagte sie. «In vier Jahren wirst du selber –» sie brach ab.

«Was werde ich?» fragte ich, indem ich die Tür nach der Bibliothek blockierte.

«In vier Jahren wirst du vierzig sein, Jack, und es muß ein sehr wenig anziehender Mann sein, der über die vierzig hinauslangt, ohne daß eine Frau ihn entdeckt und gewonnen hat. Und dann wirst du, wenn du durchaus etwas kaufen willst –»

«Ich bin dann erst neununddreißig», sagte ich mit Würde. «Und was das anbetrifft, daß man von einer Frau entdeckt und gewonnen werden muß, wie du sagst, so kann ich darauf nur eins erwidern: Freds beklagenswertes Schicksal hat mich so niedergeschmettert, daß ich überhaupt nicht zu heiraten gedenke. Sollte ich es aber dennoch tun – ich sage: gesetzt den Fall – dann nur ein Mädchen, das jedesmal, wenn ich mich zeige, schleunigst in der entgegengesetzten Richtung davonläuft.»

«Haha!» spottete Edith. «Welch alter Trick! Wie pflegt Fred doch gern zu sagen? ,Eine Frau ist wie ein Schatten: Folge ihr, und sie flieht; laufe vor ihr davon, und sie folgt dir!‘»

«Das sagst du», erwiderte ich entrüstet, «und bist doch selber eine Frau.»

«Bei mir ist es etwas anderes», sagte sie. «Ich bin nur eine Gattin und Mutter.»

In der Bibliothek stand Fred von seinem Schreibtisch auf und sammelte seine Papiere zusammen.

«Ich kann nicht nachdenken, wenn ihr beide da flüstert», sagte er. «Ich gehe in mein Studio.»

Als er die Tür seines Arbeitszimmers einigermaßen geräuschvoll schloß, raffte Edith ihren Rock und eilte ihm nach.

«Was fällt dir ein?» rief sie. «Wie kannst du einfach wegrennen?»

«Du hast mir versprochen –» Die Tür schloß sich hinter ihr.

Ich rief durch das Schlüsselloch:

«,Folge ihr, und sie flieht; laufe vor ihr davon, und sie folgt dir‘ – oh, du teure Gattin und Mutter!»

«Du lieber Gott!» Freds Stimme klang zornig. «Wenn du mit Jack den ganzen Abend reden willst, dann setze dich doch auf sein Knie und laß mich zufrieden. Wie ihr beide vor meiner Nase flirtet, ist ein Skandal! Hörst du das, Jack?»

«Gute Nacht, Edith!» rief ich. «Ich habe für dich neben dem Schlüsselloch einen Kuß hinterlassen. Und dann mußt du mir noch eine Frage beantworten: Wie nun, wenn ich vor einer Frau davonlaufe und sie läuft mir nicht nach?»

«Dann danke Gott und sei zufrieden!» rief Fred mit einer halb erstickt klingenden Stimme. Ich ließ sie allein.

Ich hatte im Büro einiges zu erledigen. Hunter hatte mich mitten bei der Arbeit unterbrochen. Um halb neun Uhr abends saß ich an meinem Schreibtisch. Aber es wollte mir nicht gelingen, meine Gedanken auf die Papiere zu konzentrieren, die vor mir lagen. Nachdem ich mich eine Weile vergeblich bemüht hatte, gab ich es auf, und gegen zehn Uhr befand ich mich wieder auf der Straße. Etwas wie eine Vorahnung ergriff mich und zwang mich, fast gegen meinen Willen, nach der Monmouth Avenue zu gehen, und mir das Haus, wo Fleming wohnte, anzusehen. Es war mir nämlich in den Sinn gekommen, Miß Fleming könnte vielleicht nicht, wie sie versprochen hatte, zu ihren Tanten übergesiedelt sein. Wenn sie noch immer im Hause war, konnte es ja leicht geschehen, daß das geheimnisvolle Individuum, das einen Schlüssel zu dem Hause besaß, diesem einen neuen Besuch abstattete.

Als ich das an einer Ecke gelegene Haus erreichte, stellte ich zu meiner großen Beruhigung fest, daß nirgends im Hause Licht zu sehen war. Das Mädchen hatte also Wort gehalten. Ich benutzte die Gelegenheit, um mir das Haus einmal richtig anzusehen.

Es war eins der größten Häuser in der Stadt. Neben dem Hause befand sich eine Garage, und das Ganze war von einem niedrigen Eisengitter umgeben. Die vordere Seite war von den Straßenlampen erhellt, die Rückseite des Hauses aber lag im Schatten. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ein Irrtum war nicht möglich. Jemand machte sich an einem nach hinten gelegenen Fenster des Hauses zu schaffen. Kurz darauf hörte das Geräusch wieder auf, und ich hörte, daß jemand um die Ecke des Hauses herumbog. Seine Schritte klangen gedämpft, obwohl der Erdboden zementiert war. Ich nahm schnell hinter einem Baum Deckung und wartete. Plötzlich sah ich den Eindringling kommen. Er machte keinen Versuch, die eiserne Pforte zu öffnen, sondern hob erst das eine Bein, dann das andere über das niedrige Gitter. Dann sah ich ihn die Straße hinuntergehen. Er mußte Gummisohlen haben, denn sein Schritt klang merkwürdig gedämpft. Er war ziemlich klein und breitschultrig und trug eine Mütze.

Ich folgte ihm, begreiflicherweise in ziemlicher Aufregung. In Gedanken sah ich mich schon ihn von hinten packen und triumphierend auf eine Polizeiwache schleppen. Ich sah aber auch in Gedanken – und das war ein weniger erfreuliches Bild – wie ich von einem Passanten bewußtlos auf dem Pflaster gefunden wurde. Aber Angst hatte ich nicht. Ich fragte mich – ich mußte unwillkürlich bei diesem Gedanken lächeln –, ob ich mich ihm nicht von hinten nähern, ihm das metallene Ende meines Füllfederhalters in den Nacken drücken und ihn auffordern sollte, die Hände hochzuheben. Ich hatte irgendwo gelesen, daß jemand einen Einbrecher auf ähnliche Weise mit einem Schuhanzieher überrumpelt hatte.

Der Mann, den ich verfolgte, ging ziemlich gemächlich. Einmal blieb er kurz vor mir stehen und zündete sich eine Zigarette an. Dabei warf er einen Blick über die Schulter und ging dann weiter, ohne den Schritt zu beschleunigen. Wir begegneten keinem Polizisten. Als wir etwa fünf Minuten unterwegs waren, und in meinem Gehirn schon die wildesten Entschlüsse reiften, bog der Herr Einbrecher mit den Gummisohlen an den Schuhen scharf nach links ab und – verschwand in einer Polizeiwache!

Ich hatte Gelegenheit, Davidson später noch viele Male im Zusammenhang mit der seltsamen Entwicklung des Falles Fleming zu sehen, und ich hatte auch einmal das eigenartige Vergnügen, von ihm verfolgt zu werden, wie ich an diesem Abend ihn verfolgt hatte. Aber jedesmal, wenn ich ihn sah, mußte ich wieder daran denken, wie blöde ich mir vorgekommen war, als ich ihn in die Wachstube eintreten und sich mit dem Mann hinter dem Pult gemütlich hatte unterhalten sehen.

Da die Fenster offen standen, konnte ich deutlich Davidsons Stimme hören.

«Das Haus ist geschlossen», berichtete er. «Aber eines der Hinterfenster im Erdgeschoß läßt sich ohne große Schwierigkeit öffnen. Ich habe Shields nicht finden können. Er wird gut tun, das Fenster im Auge zu behalten.» Er angelte ein Blatt Papier aus einer seiner Taschen heraus. «Das hier war am Knopf der Küchentür angebunden», sagte er grinsend und schwenkte das Papier. «Eine Nachricht für Shields!» erklärte er. «Unterschrift: ,Delia.‘»