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Seitenzahl: 93
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Dieses Buch wurde bei F. A. Lattmann in Goslar gedruckt in einer Auflage von 600 handschriftlich numerierten Exemplaren, davon dieses Nr.
DRAMA IN DREI AKTENVON ANDRÉ GIDE
DEUTSCHE UMDICHTUNGVON FRANZ BLEI
ERSCHIENEN 1905 IM INSEL-VERLAG LEIPZIG
Die Entwicklung der dramatischen Kunst aufzuweisen, ist ein Gegenstand von eigentümlicher Schwierigkeit. Das dramatische Kunstwerk findet und kann seinen hinreichenden Zweck nicht in sich selber finden; der Dramatiker richtet es vielmehr sozusagen zwischen dem Zuschauer und dem Schauspieler auf, und so nehme ich mir vor, mich einmal auf den Standpunkt des Dichters, dann auf den des Schauspielers und schließlich auf den des Zuschauers zu stellen.
Eine andere Schwierigkeit, und keine geringe, kommt daher, daß zu dem Erfolg eines Stücks oder selbst einer ganzen Gattung von Stücken, manches in Betracht kommt, das mit der Literatur gar nichts zu tun hat. Ich meine damit nicht nur diese vielfachen Elemente, die das dramatische Kunstwerk zu seiner Darstellung und zu deren Erfolg braucht, wie Dekoration, Kostüm, Frauenschönheit, Talent und Berühmtheit der Schauspieler; ich meine damit vielmehr besonders die sozialen, patriotischen, pornographischen oder pseudokünstlerischen vorgefaßten Meinungen des Autors. Die erfolgreichen Stücke unserer heutigen Bühne sind zumeist in solchem Maße aus solchen vorgefaßten Meinungen fabriziert, daß man, läßt man eine nach der anderen fallen, fast vom ganzen Stück nichts übrig behält.
In den meisten Fällen dankt eben diesen vorgefaßten Meinungen und Anschauungen das Stück seinen Erfolg; und der Autor, der ihnen nicht gehorcht, dem bloß und nichts als die Kunst seine vorgefaßte Meinung ist, riskiert meistens, nicht nur nicht beliebt zu sein, sondern gar nicht aufgeführt zu werden.
Da aber das Drama nur virtuell im Buche, völlig nur auf der Szene lebt, sieht sich der Kritiker, der sich heute mit der Entwicklung des Theaters und der hierzu parallelen der Schauspieler und des Publikums beschäftigt, verpflichtet, von Werken zu sprechen, die nur eine sehr entfernte Beziehung zur Kunst haben, und Werke von rein künstlerischem Wert hinwider zu ignorieren oder von ihnen nicht anders zu sprechen, als von Buchdramen, deren Entwicklung weit verschieden von jener anderen des gespielten Dramas ist, zu dem sie außerdem in Opposition steht.
«Bei den in Gesellschaft lebenden Tieren, schreibt Darwin, ändert die natürliche Zuchtwahl die Formation eines jeden Individuums in der Richtung seines Nutzens für die Gemeinschaft, – immer unter der Bedingung, daß die Gemeinschaft von der Änderung profitiert.» – In unserm Falle profitiert die Gemeinschaft nicht … Der nicht aufgeführte Dramatiker schließt sich in seinem Werke ein, entzieht sich der allgemeinen Entwicklung und endet damit, sich ihr zu widersetzen. Diese Werke sind alles solche der Reaktion.
Reaktion gegen was? – Ich könnte sagen: gegen den Realismus, aber dieses bereits so vielsinnige Wort würde mich selbst sehr bald in große Verlegenheit bringen. Der schlimmste Sinn, den ich dem Worte gegen könnte, reichte nicht hin, die Werke des Herrn Rostand etwa des Realismus zu überführen, oder des Antirealismus die Komödien Molières oder die Dramen Ibsens. Ich möchte lieber von einer Reaktion gegen den Episodismus sprechen, in Mangel eines besseren Wortes. Denn die Kunst besteht nicht im Verbrauch heroischer, historischer oder legendärer Personen, wie es nicht notwendig unkünstlerisch ist, die Bourgeois von heute auf die Bühne zu bringen. Gleichwohl etwas Wahres in dem Worte ist, das ich in Racine's Vorrede zum «Bajazet» lese: «Die tragischen Helden wollen mit einem andern Auge angesehen sein als wir für gewöhnlich die Leute aus unserer Nähe betrachten. Man kann sagen, unser Respekt vor dem Helden wächst in dem Maße seiner Entfernung von uns.» Ich möchte noch hinzufügen, daß dieser Respekt vor den dargestellten Personen vielleicht nicht nötig ist. Daß der Künstler seine Wahl in einer ferneren Zeit trifft, kommt wohl daher, daß die Zeit zu uns nur ein Bild kommen läßt, das schon alles Episodische, Bizarre und Vorübergehende verloren und nichts sonst behalten hat als sein Teil der tiefen Wahrheit, auf der die Kunst schaffen kann. Und die Fremdhaftigkeit, die der Künstler hervorzubringen sucht, indem er seine Menschen von uns entfernt, zeigt eben dies sein Verlangen an: um sein Kunstwerk als ein Kunstwerk zu geben, als nichts sonst, und nicht hinter der Illusion einer Realität herzulaufen, die selbst wenn sie glückte nur eine Realität noch einmal wäre: ein Pleonasmus. Und ist es nicht, und fast mit Wissen dieses selbe Verlangen, das unsere Klassiker an den drei Einheiten festzuhalten trieb: aus dem Drama kühn und offensichtlich ein Kunstwerk zu machen?
Wenn immer die Kunst ermattet ist, verweist man sie auf die Natur, wie man einen Kranken ins Bad schickt. Aber die Natur kann da nichts – es ist ein Quiproquo. Ich gebe zu, daß es manchmal ganz gut ist, wenn sich die Kunst auf die Weide treibt und sie, blaß von Erschöpfung, auf freiem Feld, im Leben die Hoffnung auf neue Kraft sucht. Aber die Griechen, unsere Meister, wußten ganz gut, daß Aphrodite nicht aus einer natürlichen Befruchtung geboren ward. Die Schönheit wird niemals eine natürliche Schöpfung sein: man erreicht sie nur durch künstlichen Zwang. Kunst und Natur sind Rivalen auf der Erde. Gewiß: der Künstler umfaßt die Natur, die ganze Natur, drückt sie in seine Brust, aber er könnte in Erinnerung an den berühmten Vers sagen: «Ich umarme meinen Rivalen – um ihn zu erdrücken.»
Die Kunst ist immer das Resultat eines Zwanges. Glauben, daß sie sich um so höher erhebe je freier sie sei, das ist zu glauben, das was den Papierdrachen am Steigen verhindere, sei die Schnur. Aber ohne Schnur könnte er sich nicht erheben. Kant's Taube denkt, sie flöge besser ohne den Widerstand der Luft, der ihrem Flügel lästig ist, aber sie weiß nicht, daß ihrem Fliegen dieser Widerstand der Luft Bedingung ist, auf die sie ihren Flügel stützen kann. Auf gleichen Widerstand muß sich die Kunst stützen, um steigen zu können. Ich sprach von den drei dramatischen Einheiten, aber was ich nun sagen will, gilt ebenso für die Malerei als für die Plastik, für die Musik wie für das Gedicht. Die Kunst wirbt um die Freiheit nur in Zeiten der Krankheit: sie möchte mühelos sein. Aber wenn sie in starker Kraft ist, sucht sie den Kampf und das Hindernis. Sie liebt ihre Blattscheiden platzen zu machen, und deshalb wählt sie diese eng und knapp. Ist es nicht in Zeiten des starken Überschäumens von Leben, daß die pathetischesten Geister den Genuß der striktesten Form fühlen? Daher das Sonnet, aus der üppigen Renaissance heraus, bei Shakespeare, bei Ronsard, Petrarca, selbst bei Michel-Angelo; die Verwendung der Terzine durch Dante; die Liebe zur Fuge bei Bach; dieses unruhige Bedürfnis nach dem Zwang der Fuge in den letzten Werken Beethovens. Gibt es ein Staunen darüber, daß die Expansionskraft des lyrischen Atems im Verhältnis zu seiner Kompression steht, oder daß es die zu überwindende Schwere ist, welche die Architektur ermöglicht?
Der große Künstler ist der, den die Hinderung erregt, dem das Hindernis als Sprungbrett dient. Es wird erzählt, daß es ein fehlbehauener Marmorblock war, der den Michel-Angelo diese starke Geste seines Moses zu erfinden veranlaßte. Es ist die beschränkte Zahl von Stimmen, über die er gleichzeitig auf der Szene verfügen konnte, die dem Äschylos der Zwang war, das Schweigen des Prometheus zu erfinden, da man ihn an den Kaukasus kettet. Griechenland schickte den in die Verbannung, der der Lyra eine neue Saite gab. Die Kunst aus dem Zwang geboren, lebt vom Kampfe, stirbt an der Freiheit.
Der Künstler freute sich sonst darüber, das Drama an Ausdruck gewinnen zu lassen, was es alsbald an Schönheit verlor und er verminderte nach und nach den Raum, der Bühne und Theatersaal trennt. Eine verhängnisvolle Entwicklung, scheint es. Diese «Distanz» zwischen Zuschauer und dargestellter Person zu vermindern, den Helden zu vermenschlichen, daran arbeitete auch der Schauspieler nach Kräften. Eins nach dem andern gab er auf, Maske, Kothurn, alles was aus ihm etwas Fremdartiges machte und das man nach dem zitierten Wort Racine's «mit einem andern Auge betrachten solle als wie wir gewöhnlich die Personen betrachten, die wir aus nächster Nähe kennen.» Er unterdrückte alles, bis auf das konventionelle Kostüm sogar, das er sozusagen abstrakt machte und der Person nichts sonst ließ, als was ihr allgemein und menschlich war. Wenn es darin vielleicht einen Fortschritt gab, so war der doch gefährlich und nicht wenig. Unter dem Vorwande der Wahrheit suchte man die Exaktheit. Kostüme, Requisiten, Dekorationen strengten sich an, Ort und Zeit des Dramas zu präzisieren, unbekümmert darum, ob sich Racine nicht vielleicht um das direkte Gegenteil gekümmert hatte.
Bevor Talma den «Mahomet» des Voltaire spielte, glaubte er gut daran zu tun, zuvor den Mahomet der Geschichte einen ganzen Monat lang zu studieren. Er erzählte es selbst, wie er «zu große Verschiedenheiten zwischen seiner Auffassung des Mahomet und der des Voltaire gefunden und daher sofort die Rolle abgegeben habe, die zu spielen ihm unmöglich gewesen wäre ohne der Wahrheit Gewalt anzutun.» Der Fall zeigt besser als man es erfinden könnte, wie der Autor den Akteur gegen sich hat. Hier mag es ja hingehen, denn Voltaires «Mahomet» ist kein gutes Stück, aber … Nach einer Darstellung des «Britannicus» hielt man einem unserer größten Schauspieler vor, daß er seine Rolle nicht so auffasse, wie es Racine vielleicht verlangt habe. «Racine?… wer ist das?» antwortete er. «Ich, ich kenne nur Nero.»
Die unvermeidliche Mitarbeit des Schauspielers partikularisiert dort wo der Autor generalisiert. Ich kann darob den Schauspieler nicht anklagen; das Drama ist kein Abstraktes; die Charaktäre sind Vorwand für Generalisierung, aber immer Wesen von besonderer, partikularer Wahrheit; und das Drama ist wie der Roman der Schauplatz der Charaktäre.
Das Theater ist eine merkwürdige Sache. Wir Zuschauer kommen da des Abends zusammen, um von andern Leidenschaften gemimt zu sehen, die wir selbst zu haben kein Recht besitzen, – weil sich Gesetz und Sitte dem entgegenstellt. Ich möchte an ein außerordentliches Wort Balzac's erinnern; es steht in der «Physiologie der Ehe»: «Die Sitten, das ist die Hypokrisie der Nationen.» – Will er vielleicht damit sagen, daß diese Leidenschaften, die der Schauspieler darstellt, in uns nicht von der Sitte unterdrückt, sondern nur versteckt